Dienstag, 27. April 2010

Wenn ein Schauspieler Schrott adelt

Der Unverdächtige
(The Unsuspected, USA 1947)

Regie: Michael Curtiz
Darsteller: Claude Rains, Joan Caulfield, Audrey Totter, Constance Bennett, Ted ("Michael") North,  Hurd Hatfield u.a.


Vor einiger Zeit schrieb ein versierter und von mir sehr geschätzter Blogger, er habe Michael Curtiz’ “Casablanca” (1942) eben zum ersten Mal in seinem Leben gesehen - ein unvorstellbares Privileg, vermag man doch nach vielen sezierenden Sichtungen die Faszination des Films gar nicht mehr vollständig zu erfassen. Das “Geständnis” weckte  Erinnerungen an meine erste Begegnung mit dem Film und führte mich augenblicklich zu der Frage, wie er denn Claude Rains als Polizeichef Captain Renault empfunden habe.  Es waren nämlich weniger dieser desillusionierte Rick und seine Angebetete, um die ich mich als 9-jähriger Knirps gekümmert hätte; vielmehr packte mich das undurchschaubare Etwas im Verhalten von Rains, in dessen Händen  das Schicksal aller Figuren lag. Und nie zuvor hatte es ein Schauspieler geschafft, mich mit seinem seltsamen Gesichtsausdruck und seiner strengen, scheinbar unbestechlichen Stimme bis zum Ende derart in seinen Bann zu ziehen. - Von diesem Moment an war ich ein Fan von Claude Rains, hoffte, er würde sich in “Notorious” (1946) am Ende doch noch seiner tyrannischen Mutter widersetzen und atmete erleichtert auf, als er in dieser eine halbe Ewigkeit währenden Szene in “Mr. Skeffington” (1944) eine durch Krankheit hässlich gewordene, auf der Treppe wartende Bette Davis wissen liess, dass eine Frau nur schön ist, wenn sie geliebt wird. --- Es hing alles mit dem Gesicht und der Stimme dieses einzigartigen Schauspielers zusammen, die so vieles an letztlich nicht ganz Vertrauenswürdigem, vielleicht Unentschlossenem  auszudrücken vermochten: scheinbare Unbestechlichkeit, Gutmütigkeit oder brilliant ausgespielte väterliche Sanftmut. Und er verstand es, mit dieser Fähigkeit, im Zuschauer Unsicherheit  zu erzeugen,  umzugehen!

Claude Rains war wie etwa John Gielgud überdurchschnittlich begabt, vom Aussehen her aber nicht zum konventionellen Hauptdarsteller (heldenhafter Schönling) geeignet. Es verwundert deshalb wohl auch nicht, dass er durch seine Rolle in “The Invisible Man” (1933) berühmt wurde, in der er die Zuschauer mehr mit seiner Stimme als mit seinem Äusseren zu beeindrucken vermochte. Und es scheint beinahe selbstverständlich: er war nie als Hauptdarsteller, jedoch viermal als bester Nebendarsteller für den Oscar nominiert.

Rains galt als “treuer” Schauspieler und war seit 1936 bei Warner Brothers unter Vertrag, wo er bereits neunmal - z.T. höchst erfolgreich - unter dem “Tyrannen des Hauses”, Michael Curtiz, gespielt hatte. Vielleicht war diese fruchtbare Zusammenarbeit mit ein Grund, weshalb er die Hauptrolle in Curtiz’ erstem zaghaften Versuch, sich als  unabhängiger Produzent zu betätigen, akzeptierte. Curtiz war jedoch bekannt dafür, dass er für seine besten Filme ein wirklich gutes Script benötigte, ansonsten aber oft nur durchschnittliche Produktionen zustande brachte --- und “The Unsuspected” sollte sogar regelrechter Schrott werden:


Jede Woche erzählt Victor Grandison in seiner populären Radiosendung von ungeklärten Mordfällen, wobei er seine Stimme effektiv einzusetzen vermag und mit Vorliebe auf den “Unverdächtigen” verweist, dem der Hörer jederzeit - sei es im Zug, in einem Café oder auf der Strasse - begegnen könnte. Bald schon soll jedoch das schlossartige Anwesen seines Mündels Matilda, das der Moderator zusammen mit seiner “dekadenten” Verwandtschaft bewohnt, selber zum Schauplatz unheimlicher Morde werden. Und alle Welt - mit Ausnahme des Zuschauers, der schon viel zu früh informiert wird - fragt sich: Wer ist der Unverdächtige? --- Ein Fremder namens Steve taucht auf und behauptet, der Mann der vermissten, vermutlich bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommenen Matilda zu sein. Er verbringt seine Zeit aber hauptsächlich damit, diverse Bewohner vor Unheil zu warnen. Und als dann  Matilda doch unerwartet wieder zurückkehrt, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen - dies nicht zuletzt, weil sich die Schönheit nicht daran erinnern könnte, verheiratet zu sein...

“The Unsuspected”  hat durchaus seine Verteidiger. Diese vergleichen den Film  gerne im positiven Sinne mit Preminger’s “Laura” (1944) und werten ihn als eines der herausragenden Werke des “Film noir”. Nun ist es tatsächlich schwierig, sich in jenem Genre oder jener Stilrichtung, die als “noir” bezeichnet wird, auf Kriterien festzulegen; und wenn man  lediglich  die Kameraarbeit
von Elwood Bredell in Betracht zieht, lässt sich  eine Verwandtschaft mit der in den 40er Jahren aufgekommenen Gegenbewegung zum klassischen Hollywood-Film zweifellos erkennen:  Grandison’s Awesen mit seiner opulenten Gesellschaft scheint regelrecht von immerwährender Dunkelheit überzogen zu sein, ein riesiger Kronleuchter gerät öfters  unheilvoll  ins Bild, Schatten tauchen auf - und der von - wem wohl? - engagierte  Mörder liegt in seinem finsteren Motelzimmer, während von einem Neon-Licht die Buchstaben “KILL ... KILL ... KILL” aufleuchten.

Der “Film noir” zeichnet sich jedoch nicht zuletzt durch seine Themen und Figuren aus; und in “The Unsuspected” fehlen  sowohl die von John Huston und Billy Wilder ins Leben gerufene desillusionierte männliche Hauptfigur, die einer “femme fatale” erliegt, als auch die populärpsychologischen Elemente,  die in  den in jenen Jahren mit den Stilmitteln des “Film noir” fotografierten Meisterwerken von Robert Siodmak ("The Spiral Staircase”, 1945) oder Fritz Lang (“Secret Beyond the Door”, 1947) eingesetzt wurden, um den Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes das Fürchten zu lehren. - Vielmehr könnte der Film zu den bewährten englischen “Landhaus-Mysteries” gezählt werden, wimmelt es doch von gar zu offensichtlich und konventionell daherkommenden Figuren (man kann regelrecht erahnen, wer als nächstes dran glauben muss): einer misstrauischen Sekretärin, einem Säufer, der mit einer Frau, die vor nichts zurückschreckt und höchstens als Karikatur durchgeht, verheiratet ist, dem blonden Unschuldsengelchen, dem Fremden - und einem Mörder, der nun mal aussieht wie ein Mörder. - Für solche Rollen kamen nur Schauspieler in Frage, die wie Audrey Totter zur zweiten Garde gehörten oder - ich denke an Constance Bennett, einst bestgekleidete Frau der Welt - sogar den absteigenden Ast schon hinter sich hatten.  Matilda wurde vom Starlet Joan Caulfield 
gespielt, und Schönling Ted (“Michael”) North erwies sich als derart untalentiert, dass möglichst viele der Szenen, in denen er als Grandison's Gegenspieler Steve auftrat, rausgeschnitten werden mussten. Diese Schnitte - sie betrafen auch Szenen mit Caulfield - dürften mit dazu beigetragen haben, dass diverse offenbar im Roman vorkommende Informationen dem Zuschauer im Film vorenthalten werden, was “The Unsuspected”  zunehmend zu einem verwirrenden, unübersichtlichen Ding macht. Vermutlich taugte jedoch auch die literarische Vorlage nicht viel. Michael Curtiz gestand zumindest später selber ein: “It looks as though  I tried to make a great picture out of a story that wasn’t basically a great story.”  - Verbietet sich da nicht jeder Vergleich mit “Laura”?

Doch dann betritt Claude Rains als Victor Grandison das Radiostudio, schaut während der Ankündigung seiner Sendung wie ein strenger  Dirigent im Raum umher und legt  (wie weiland Eduard Zimmermann) seine Stirn  in ernsthafte  Falten, als er mit seiner "True Crime"-Geschichte  beginnt. Und je mehr er den Radiohörer auf den Uverdächtigen aufmerksam macht, ihn regelrecht in den Mittelpunkt zu stellen beginnt, desto eindringlicher wird seine Stimme. - Wer käme da auf die Idee, dass der grosse Moderator selber Blut geleckt haben könnte, ja der inszenierende "Unverdächtige" für seine Mordgeschichten ist? -  Wir erleben Grandison in der Folge als gütigen und umsichtigen Meister des Hauses, als kühlen Erpresser des von ihm benutzten Mörders, und sein Ausdruck bleibt auf unterschiedliche Weise stets ruhig, siegesgewiss; dies auch, wenn er aus der Dunkelheit jenen Fremden beobachtet, der die Bewohner des Anwesens zu warnen versucht. Er tritt seinem Mündel, auf dessen Geld er es abgesehen hat, als liebevoller Onkel mit Humor entgegen (“We missed you while you were dead”) und steht auf den ersten Blick sogar auf Matilda’s Seite, als er sie durchschüttelt und ihr einzureden versucht, sie sei dem Wahnsinn verfallen. - In solchen Momenten erkennt man, dass nicht nur Victor Grandison seine Verwandtschaft wie Marionetten einsetzt, sondern dass auch die zweit- bis drittklassigen Schauspieler  den grossen Claude Rains als letztlich unbedeutende, wenn auch nötige Figuren umgeben.  Man wartet förmlich auf den nächsten Auftritt des Stars, quält sich durch alberne und albern gespielte Szenen hindurch, weil man herausfinden möchte, wie diesem selbstsicher und mörderisch agierenden Drahtzieher doch noch das Handwerk gelegt werden soll - und weil Rains es wert ist, sich den von Fans als unterschätzt bezeichneten, in meinen Augen völlig missglückten Film von Curtiz bis zum Ende anzuschauen. Er trägt ihn.

Man möchte  gerne an die grossen Rollen grosser Schauspieler zu erinnern, bemerkt jedoch oft rasch, dass Filme wie (in unserem Fall) “Casablanca” oder “Notorious” bereits regelrecht zerredet sein können, dass man ihnen - zumindest im Augenblick - nichts Neues hinzuzufügen wüsste. - Lohnt es sich in einer  solchen Situation nicht, zur Abwechslung mal an einen wirklich schwachen Film zu erinnern, dem ein grosser Schauspieler mit seiner überzeugenden Präsenz zu  Glanz verhalf? Gerade vor einer solchen Aufgabe scheitert nämlich so mancher, der sich für "gross" hält...

Mittwoch, 21. April 2010

"Alzheimer"

An ihrer Seite
(Away From Her, Kanada 2006)

Regie: Sarah Polley
Darsteller: Gordon Pinsent, Julie Christie, Michael Murphy, Olympia Dukakis, Kristen Thomson, Wendy Crewson, Alberta Watson u. a.

Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die Filmindustrie warte lediglich darauf, dass sich ein bis anhin ängstlich gemiedenes Thema  doch als publikumswirksam erweist - um es dann geradezu inflationär auszuweiden. Dies scheint mir etwa beim Thema “Alzheimer” (der Zuschauer ist mit dem Begriff einigermassen vertraut und muss sich nicht mit der komplexen Differentialdiagnose im Bereich der Alters-Demenz auseinandersetzen)  der Fall zu sein. - Es begann wohl mit dem Erfolg von “Iris” (2001), dem Film über die berühmte britische Schriftstellerin Iris Murdoch, die im Alter von 74 Jahren an Alzheimer erkrankte und deren Verfall, der zugleich der Verfall einer seltsamen Liebe zwischen zwei Intellektuellen war, schonungslos und hervorragend gespielt gezeigt wurde. Auf  “Iris” folgte 2004 die unerträglich kitschige Schnulze “The Notebook”, zu der sich Gena Rowlands wohl nur herabliess, weil ihr Sohn Nick Cassavetes Regie führte; der hierzulande nur wenig bekannte Film “Aurora Borealis” (2005) mit Donald Sutherland und die Tragikomödie “The Savages” (2007) setzten die Reihe fort, in der an Alters-Demenz leidende Menschen nicht einfach nur als komische oder die Hauptdarsteller belastende Nebenfiguren auftraten, sondern in den  Mittelpunkt gestellt wurden.

Besonders grosses, beinahe einhelliges Kritikerlob erntete der Regie-Erstling der kanadischen Schauspielerin Sarah Polley, “Away From Her”, dem man zubilligte, die Thematik ausserordentlich  nüchtern anzugehen. Da Julie Christie, die ich zu einer meiner persönlichen Göttinnen auserkoren habe und üblicherweise zuerst wegen ihrer englischen Filme rühme, in diesem Film ihre bislang letzte Rolle spielte, fällt es mir nicht unbedingt leicht, solchem Kritikerlob ähnlich nüchtern entgegenzutreten:

Fiona und Grant sind seit über 40 Jahren miteinander verheiratet, und obwohl es  auch schwierige Zeiten gab (der ehemalige Schulprofessor scheint früher “Freude” an seinen Studentinnen gehabt zu haben), zeugen die gleichmässigen Spuren zweier Skipaare im Schnee von einem mittlerweile harmonischen Zusammenleben in einer verschneiten kanadischen Landschaft.  Dann setzen bei Fiona erste Anzeichen von Vergesslichkeit ein, und eines Tages findet die immer noch rüstig wirkende  Dame von einem Skiausflug den Heimweg nicht mehr (Grant entdeckt sie völlig verwirrt auf einer Brücke). Die Diagnose: Alzheimer. - Fiona fordert ihren Mann auf, sie in ein Pflegeheim einzuweisen. --- Grant willigt zögernd ein und muss feststellen, dass er dort wegen einer “Karenzzeit” seine Frau dreissig Tage lang nicht besuchen darf. Nach Ablauf der Frist findet der entgeisterte Grant ein Wesen vor, das sich voll und ganz einem Mitpatienten, Aubrey, widmet und ihn nur noch als leicht aufdringlichen täglichen Besucher duldet. Fiona hat ihn vergessen. Und nun liegt es an Grant, sich zu entscheiden: Will er an der Veränderung seiner Frau  selber zerbrechen oder sich ihr anpassen und abwartend zuschauen?



Polley, die mehrere Male mit Atom Egoyan zusammengearbeitet hatte und ihn auch hier als Executive Producer im Hintergrund walten liess, macht es uns nicht leicht, weil sie auf eine chronologische Abfolge der Geschehnisse verzichtet. So erfahren wir erst mit der Zeit, dass es sich bei Marian, die Grant ziemlich zu Beginn des Films aufsucht, um die desillusionierte Frau von Aubrey handelt, die ihren Mann aus Kostengründen nicht länger im Heim lassen konnte - was zu einem Voranschreiten der Krankheit bei Fiona führte. - Man kann der jungen Regisseurin jedoch nicht vorwerfen, es gelänge ihr nicht, den Zuschauer zu packen,  beinahe schmerzhaft zu berühren. Bloss: Tut sie dies mit einer Liebesgeschichte oder einer Geschichte über Alters-Demenz? Ist es Grant’s Geschichte oder die von Fiona?

Zugegeben: “Away From Her” gehört ganz der grandiosen Julie Christie, deren Darstellung einer unter Alters-Demenz leidenden Fiona zu Recht erneut für einen Oscar nominiert wurde. Man glaubt beinahe so etwas wie zarte, ironische Liebenswürdigkeit im Gesicht dieser ihre Identität langsam verlierenden, ihre Würde aber behaltenden Dame zu erkennen. Es muss auch festgestellt werden, dass der kanadische Schauspieler Gordon Pinsent und Olympia Dukakis, die sonst allein schon durch ihre schiere Präsenz jeden Film an sich reisst, ihr Spiel im Sinne einer “Botschaft” zurückhalten, was ihre kleinen Gesten, ihre Blicke nicht weniger eindrücklich macht. - Es stechen denn auch einige Szenen hervor, in denen das bemerkenswerte Zusammenspiel der Hauptfiguren weniger ein “An ihrer Seite” als ein “Away From Her” betonen: Fiona erinnert auf dem Weg zum Heim ihren Mann sanft verzeihend daran, dass ihre Ehe nicht immer problemlos verlief; Grant sitzt - seine Augen nicht von seiner Frau lassend - auf dem Sofa und schaut zu, wie sie sich um Aubrey kümmert; er liest Fiona, deren Familie aus Island stammte, aus W.H. Auden’s “Letters from Iceland” vor, während sich das verwirrte Wesen neben ihm an nichts erinnern kann...

Dennoch  muss ich “MovieMaze”-Kritiker Harald Witz zustimmen: “Weil es Polley vor allem um die Darstellung der Liebe geht, fällt ihr Bild von der Alzheimer-Erkrankung und des Pflegeheims geradezu naiv und idyllisch aus.”  Ein Film, dem es um eine realistische und authentische Darstellung  ginge, müsste weniger appetitliche Aspekte im Umgang mit den immer schwerer zu pflegenden Patienten mit einbeziehen und auch  auf ein gewisses Pathos in Sachen Dialog (ich denke an den Pflegeheim-Engel Kristy: “It’s never too late to become what you might have been”) verzichten. - Was “Away From Her” und die meisten Filme über Alters-Demenz zeigen, ist nämlich bloss der - für schauspielerische Glanzleistungen “wie gemachte” - Beginn eines langen Prozesses, der Jahre der Stagnation beinhalten kann, aber zunehmend das Eingeben von Essen, die Unterstützung bei Gehübungen, Wechseln der Windeln, die Hilfe bei der Stuhlentleerung, intensivste Pflege und Verhinderung von Wundliegen - und Begleitung in einen vielleicht unwürdigen Tod hinein  erfordert. Diese Fortsetzung des Prozesses dürfte Schauspieler und Zuschauer weniger anziehen, kann aber vom Pflegenden (besonders wenn er einen nahe stehenden Menschen bis kurz vor dessen Tod bei sich behalten durfte) besonders dankbar in Erinnerung behalten werden. Anders ausgedrückt: Hier spricht einer, dem es vergönnt war und der deshalb “Alzheimer”-Filmen mit einem gewissen Verständnis, aber auch der nötigen Skepsis entgegentritt.

“Away From Her” gehört also wie auch die anderen erwähnten Filme über Alters-Demenz einem bestimmten, zur Genüge auf seine Publikumswirksamkeit hin abgetasteten Genre an: Er ist ein Liebesfilm, ein Film über einen Mann, der nur noch Liebe geben, sie aber nicht mehr von einer sich ihrer selbst entfremdenden Frau erwarten darf. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Grant mit der fordernden Marian ins Bett geht, weil er Fiona noch einmal ein - sich als vergeblich herausstellendes - Zusammentreffen mit Aubrey ermöglichen möchte.



Sicher: Julie Christie durfte noch einmal zeigen, wozu sie fähig ist, und sie durfte es in einem formal grandiosen, visuell durchaus an Egoyan erinnernden und jederzeit empfehlenswerten  Film tun (schliesslich wurde sie von der Halbwaisen Sarah Polley auch als eine Art Ersatzmutter betrachtet). Dennoch wünscht man sich gelegentlich einen Film, der das Thema “Alters-Demenz” schonungslos bis zum Ende illustriert. “Iris” mit einer sich in keiner Hinsicht zurückhaltenden Judi Dench hatte dazu Hand geboten. Keiner der nachfolgenden “Alzheimer”-Filme wagte es jedoch auch nur annähernd, den Applaus von Kritikern und Publikum der Wahrheit zuliebe aufs Spiel zu sezten.

Montag, 12. April 2010

In eigener Sache

Ich werde  ab dem 15. April für einige Tage abwesend sein und mich an einem Örtchen - es ist keine Südseeinsel! - aufhalten, an dem man ohne das "Fenster zur Welt" auskommen muss. Blogger-Freunde sollten deshalb nicht erstaunt sein, wenn ihre Mails mit Verspätung beantwortet werden und mein üblicher Senf zu ihren Einträgen ausbleibt. Eigentlich wollte ich - steinböckisch wie ich bin - noch etwas vorbereiten, um mich nach der Rückkehr gleich wieder bemerkbar zu machen. Aber es gibt allerhand zu erledigen, und ich leide - wie sicher viele von euch - unter Frühjahrsmüdigkeit.

Keine Angst (oder vorzeitige Freude): Man wird mich - wenn vielleicht auch erst in etwa zwei Wochen - wieder lesen! Und sollte ich als Zombie zurückkehren, dekonstruiere ich  sämtliche Filme von George. A. Romero. - Moment: ich bin ja bereits ein Zombie...

Whoknows

Freitag, 9. April 2010

Auch ein 100. Geburtstag

 Die Käserei in der Vehfreude
(Die Käserei in der Vehfreude, Schweiz 1958)
Regie: Franz Schnyder
Darsteller: Annemarie Düringer, Franz Matter, Heinrich Gretler, Ruedi Walter, Margrit Rainer, Margrit Winter, Max Haufler u.a.

Alle Welt - vor allem mein Blogger-Freund “mono.micha” vom “Schneeland“, der anlässlich dieses die Bedeutung des japanischen Regisseurs relativierenden Eintrags die Palme respektive den Bonsai hochgehen dürfte - gedenkt dieser Tage des 100. Geburtstags von Akiro Kurosawa. Darüber vergisst man ganz, dass am 5. März auch ein Schweizer Regisseur hundert Jahre alt geworden wäre. Sein Name war Franz Schnyder, und er wurde in einem Dokumentarfilm sogar als “das Kino der Nation” bezeichnet - allerdings im abwertenden Sinne...

Franz Schnyder gilt als der wichtigste Regisseur, der neben Kurt Früh nach einer Zeit, in der sich der Schweizer Film kritisch mit mit der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit auseinandergesetzt hatte * (als Höhepunkte wären etwa Leopold Lindtbergs “Die letzte Chance”, 1945,  Fred Zinnemann’s “Die Gezeichneten”, 1948, oder "Die Vier im Jeep", 1951, zu nennen),  in den 50er Jahren die geistige Enge als Ideal regelrecht zelebrierte. Während sich Früh vor allem um das Kleinbürgermilieu kümmerte, schloss sich   Schnyder  der erfolgreichen Heimatfilmwelle im deutschsprachigen Raum an - und fand in den Romanen des Emmentaler Pfarrers Jeremias Gotthelf (eigentlich Albert Bitzius, 1797-1854) scheinbar dankbare Vorlagen für Filme, die dem damaligen Selbst - und Heimatverständnis vieler Eidgenossen (“Schweizerart ist Bauernart”) entgegenkamen und ihn zum erfolgreichsten Schweizer Regisseur aller Zeiten machten.

Es wäre freilich ungerecht, Schnyder auf den rückständigen Heimatfilmer zu reduzieren: Gleich seine zweite grössere Arbeit, “Wilder Urlaub” (1943), nahm sich inmitten der Kriegswirren eines regelrecht heissen Eisens an, indem sie die Geschichte eines Soldaten schilderte, der seinen Vorgesetzten niederschlägt und seine Einheit verlässt, um ins Ausland zu fliehen (der Misserfolg des Films hatte zur Folge, dass man Schnyder praktisch zehn Jahre lang kalt stellte). Auch seinen Erfolgen mit den Gotthelf-Verfilmungen, die nie ganz ins gnadenlos Kitschige abrutschten, aber den grossen Romancier zu sehr aus christlich-moralischer Sicht angingen, versuchte er gelegentlich mit provokativeren Arbeiten (“Der 10. Mai”, 1957), die  sich der jüngeren Vergangenheit annahmen,  zu entfliehen. Er schlug diesen Weg der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Fragen im Gegensatz zu Kurt Früh, dem mit “Dällebach Kari” (1970) der Anschluss an den “Jungen Schweizer Film”  noch gelang,  jedoch nie konsequent ein, sondern buchstabierte sich immer wieder zu gefälligen Stoffen zurück, weshalb ihn der Historiker Felix Aeppli nach seinem Tod 1993 (Schnyder starb als verbitterter Mann, der neidisch auf die Erfolge einer jüngeren Generation schielte) in einem Artikel mit dem Titel “Die Konformität des Nonkomformisten” würdigte.

Nun könnte man versucht sein, im Jahr des 100. Geburtstags von Franz Schnyder seine erste Gotthelf-Verfilmung “Uli, der Knecht” (1954) zu besprechen,  begründete sie doch nicht nur den Ruhm von Liselotte Pulver, sondern dürfte sich auch heute noch im ganzen deutschsprachigen Raum (ausserhalb der Schweiz allerdings mit katastrophaler Synchronisierung!) einer gewissen Beliebtheit erfreuen. Als Literaturfreund muss ich jedoch meinen persönlichen Geschmack berücksichtigen; und von allen Romanen Gotthelfs las ich schon immer “Die Käserei in der Vehfreude”, den Schnyder 1958 verfilmte, mit besonderem Vergnügen, weil der grosse Schriftsteller, dessen wuchtige, von Dialektausdrücken durchsetzte Sprache wohl nur ein Schweizer ganz zu würdigen vermag, in diesem Spätwerk seiner kleinen Welt nicht nur wie gewohnt den etwas idyllisch abgeschwächten Spiegel vorhielt, sondern eine mit groteskem Humor durchsetzte Gesellschaftssatire schrieb, die ihresgleichen in der deutschen Literatur sucht. - Schnyders verharmlosende, die Probleme der schweizerischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert ausklammernde Filmversion wurde zwar von der Kritik längst nicht so gut aufgenommen wie vom Publikum und erhielt - was einiges über den Schwerpunkt, für den man sich entschieden hatte, aussagt - in Deutschland damals sogar den Verleih-Titel “Wildwest im Emmental”. - Trotzdem sei hier an die “Käserei” erinnert:

Die Bewohner des rückständigen Emmentaler Dorfes Vehfreude haben beschlossen, sich dem Befehl der Regierung aus Prinzip zu widersetzen und statt der Schule eine Käserei zu bauen, weil die genossenschaftliche Käseproduktion in Mode gekommen ist und langfristig Geld verspricht. Insbesondere Eisi vom Dürlufthof, ein boshaftes Weib, das jeden Sonntag - vergeblich - in einem anderen Dorf den Gottesdienst besucht, weil sie denkt, der Pfarrer würde dort ausnahmsweise nicht über ihre Sünden predigen, freut sich hämisch über den Entscheid, bedenkt aber nicht, dass die Frauen von nun an um ihr Milchgeld kommen und sich viele Bauern (auch ihr dümmlicher Mann Peterli) beim Kauf von milchträchtigen Kühen verschulden oder gar betrogen werden. Einzig das den Bauern vom Dürluft entgegengestellte Musterehepaar Sepp und Bethi vom Nägeliboden, das einen heruntergewirtschafteten Hof wieder hochbringen will, geht die Sache vernünftig an und spielt auch nicht mit, als viele Bauern plötzlich mehr Milch abliefern, weil sie sie mit Wasser strecken und die Produktion von anständigem Käse gefährden.  - Bald verschreit die neidische Eisi die anständige Bäuerin als Hexe und begegnet beim nächtlichen Versuch, sie hinter dem Miststock totzubeten, möglicherweise tatsächlich dem Teufel...

Am meisten hat Änneli, Bethis Schwester, unter den Intrigen zu leiden, muss es die Milch doch ins Dorf tragen und wird von Felix, dem Sohn des Amtmanns beschützt, was zu erneuten Gerüchten führt, weil Felix  als Schürzenjäger gilt - und  auch tatsächlich bald ans Fenster des Mädchens zu klopfen beginnt, weil er von ihm ein “Müntschi” (= Kuss) will (mehr war bei den kleinen Fenstern von Emmentaler Bauernhäusern auch nicht möglich). - Vorerst warten die Bauern jedoch hoffnungsvoll auf die Käsehändler, deren “König” ihnen vorschlägt, auf den Markt nach Langnau zu gehen, wo sie zweifellos auf einen satten Gewinn hoffen dürften.  In Langnau wird ihnen freilich viel weniger Geld geboten als erwartet, was zu einer regelrechten Prügelei unter rund zweihundert Männern führt. Ein hinterlistiger Dorfbewohner sorgt dafür, dass der Verkauf doch noch zustande kommt, sahnt dabei aber mächtig ab. Felix ist darüber so erzürnt, dass er sich auf der Heimfahrt mit ihm ein “Ben Hur”-würdiges Wagenrennen mit Peitschenhieben liefert, wobei er Änneli über den Haufen fährt und verletzt.


Am Tag der Auszahlung des ersten Gewinns stellt sich heraus, dass die Dürluftbauern der Käserei sogar noch Geld schulden, weil sich Eisi ständig Schleckereien kaufte und anschreiben liess. Bethi und Sepp dürfen hingegen eine anständige Geldsumme entgegennehmen.  Als eigentlicher Höhepunkt, der zu einem glücklichen Ende führen muss, ist jedoch ein Ereignis während eines Gottesdienstes zu werten, bei dem Felix, wie es einem frommen Kirchgänger wohl ansteht, einschläft und während eines Traums ein für alle Besucher laut vernehmliches “Änneli, gib mir ein Müntschi!” von sich gibt. --- Haben die Bauern aus dem ersten Jahr mit der Käserei ihre Lehren gezogen? Werden sie  zu vernünftigen Einsichten zurückfinden?

Diese Zusammenfassung der Handlung mag den Eindruck erwecken, es handle sich bei der “Käserei in der Vehfreude” um eine ausgesprochen kitschige, schablonenhafte Angelegenheit. Dem ist nicht so, werden doch Korruption und Betrug, aber auch die oft einer Boshaftigkeit entsprungene Dummheit selbst im Film heftig angeprangert. Trotzdem erweist sich Schnyders Versuch, die bäuerliche Welt des 19. Jahrhunderts wieder zum Leben zu erwecken, im Zusammenhang mit der “Käserei” als besonders problematisch, was jedem Leser des z.T. mit bitterer Häme geschriebenen Romans sofort auffällt. Schnyder kommt einfach nicht um Zugeständnisse an sein Publikum herum, muss eine derbe Schlägerei mit Volksmusik unterlegen und seiner Liebesgeschichte unverhältnismässig viel Platz einräumen.

Mehr als beachtlich sind allerdings die Leistungen der profilierten Darsteller, die als “Volksschauspieler” in der Schweiz nicht zu Unrecht hohes Ansehen genossen. Sie wurden von Franz Schnyder, einem leicht tyrannischen Vollprofi, regelrecht zu gelegentlich etwas übertriebenen, an das expressionistische Theater erinnernden Grimassen angetrieben, mussten sich auch, was in einem Land, in dem die unterschiedlichsten Dialekte auf derart engem Raum aufeinanderprallen, alles andere als einfach ist, die Emmentaler Variante des Berndeutschen perfekt aneignen, so perfekt, dass selbst ein richtiger Emmentaler keinen Züricher- oder Basler-Akkzent mehr bemerkte. - Hervorragend auch die Fotografie von Konstantin Tschet, der man gar nicht anmerkt, wie schwer es bereits in den 50er Jahren war, im ländlichen Emmental noch Einstellungen zu finden, die die Illusion eines von Industrie und allgemeinem Fortschritt unberührten 19. Jahrhunderts zu erwecken vermochten.

Mein Tipp: Man schaue sich zuerst Franz Schnyders Film (wobei Filmfreunde aus Deutschland wohl die unsägliche Synchronisation in Kauf nehmen müssen) an und geniesse anschliessend - vorausgesetzt, man stammt nicht gerade aus dem hohen Norden - Gotthelfs gnadenlos mit dialektalen Wendungen durchsetztes boshaft-satirisches Meisterwerk. Auf diese Weise wird man wohl am ehesten Stärken und Schwächen der gelegentlich “volkstümelnden”, sich jedoch nie den schlimmsten deutschen Heimatfilmen der 50er Jahre annähernden Verfilmung erkennen.

Und mit dieser “Würdigung” bin ich hoffentlich dem “Kino der Nation” halbwegs gerecht geworden.

* Ich schrieb ursprünglich, es habe sich um eine Zeit gehandelt, in der man sich im Film kritisch mit der  Schweiz auseinandergesetzt habe, was im Falle von "Die Gezeichneten" und "Die Vier im Jeep" als unverzeihlicher Lapsus zu betrachten ist. Manfred Polak hat mich in einem Kommentar freundlicherweise darauf hingewiesen, wofür ihm auch an dieser Stelle gedankt sei.

Montag, 5. April 2010

Die Macht des Vollmonds


Vorbemerkung:
Dieser Text wurde von mir bereits in einem Film-Tagebuch veröffentlicht, das ich während einiger Zeit in einem Film-Forum  führte. Ich habe ihn  beinahe unverändert übernommen, da der Admin des betreffenden Forums mir auf meine Anfrage hin gestattete, meine seinerzeitigen Einträge als mein geistiges Eigentum zu betrachten.  "Whoknows Presents" wird nämlich z.T. von Leuten gelesen (man ahnt ja glücklicherweise nicht, wo ich es überall verlinkt habe), die das ehemalige Tagebuch nicht kennen, und es liegt mir am Herzen, ihnen manche  meiner früheren unmassgeblichen Betrachtungen zu Filmen nicht vorzuenthalten. Im Falle von zukünftigen "Übernahmen" werde ich auf diesen Hinweis verzichten und bitte “alte" Bekannte und Freunde, sich im Zweifelsfall  meinen Haftungsausschluss anzusehen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei meinem alten Kumpel Joe Ratzi dafür bedanken, dass er es mir erlaubt, im Osservatore Romano für neue Blog-Einträge Werbung zu betreiben. Die Rückmeldungen der Kurie fallen jedoch zum Teil noch spärlicher aus als die der Hustler-Leser.



So sind die Tage und der Mond
(Il y a des jours ... et des lunes, Frankreich 1990)
Regie: Claude Lelouch
Darsteller: Gérard Lanvin, Patrick Chesnais, Marie-Sophie L., Vincent Lindon, Annie Girardot, Gérard Darmon, Phillipe Léotard, Serge Reggiani, Anouk Aimée u.a.

Episodenfilme, die ganz auf ein grosses Ensemble bauen, haben es bei mir nicht leicht, weil ich sie automatisch an Robert Altman's Meisterwerk "Short Cuts" (1993) messe, zu dem sie entweder hinführen oder das sie nachahmen - und an dem sie, insbesondere wenn es wie in "Magnolia" (1999) zu allem Überfluss noch Frösche regnet, für gewöhnlich scheitern. Der Vergleich mit Altman scheint mir gerechtfertigt, gilt "Short Cuts" doch sozusagen als Mutter aller Ensemblefilme, als unerreichter Höhepunkt.

Claude Lelouchs "Il y a des jours ... et des lunes" ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme, was wohl nicht bloss mit dem Herkunftsland Frankreich, sondern vor allem mit der eigenartigen poetischen Stimmung, ja traumhaften Schwerelosigkeit, die den Film im Gegensatz zu Altman's bewusst auf dem Boden bleibendem Mix aus Erzählungen von Raymond Carver durchzieht, zu tun haben dürfte. Bereits am Anfang erfahren wir zu den Klängen eines seltsam unstimmigen Chansons, das eine an einem Tisch im Freien sitzende Hochzeitsgesellschaft singt, eine der Hauptfiguren des Films werde in 18 Stunden vor unseren Augen sterben. Dies der Ausgangspunkt eines heiter-melancholischen Werks, dem man gleich anmerkt, dass es nicht wie andere Filme ist und dessen Titel auf jene Tage anspielt, die man lieber vermeiden würde, weil das unsagbar Grosse (der Vollmond) sich über uns unbedeutende Wesen lustig macht, die wir schreien und flüstern, andere zum Lachen oder Weinen bringen - und eventuell sterben!

"Il y a des jours ... et des lunes" beginnt in einer Frühlingsnacht, in der Vollmond, eine Mondfinsternis und die Zeitumstellung zusammenfallen. Eine solche Nacht habe es in sich, berichtet ein redseliger Rentner, in dessen Wohnung Dutzende von Fernsehapparaten aus unterschiedlichen Zeiten herumstehen, einer Meinungsforschern; und er warnt eindringlich vor dem Mond, dessen Macht unserem Leben eine katastrophale Wende zu geben vermöge. - Tatsächlich wirken die Erlebnisse der Hauptpersonen, von denen uns Lelouch temporeich und in rasch wechselnden Szenen (wodurch der Zuschauer regelrecht in den Sog des Geschehens hineingezogen wird) erzählt, auf den ersten Blick alltäglich, wenn auch leicht skurril: Ein Lastwagenfahrer, der seine Lieferung (Autos) wegen der fehlenden Stunde nicht rasch genug nach Paris bringen kann, schnappt sich einfach einen Wagen, mit dem er durch die Gegend fährt und eine junge Frau mitnimmt (sie ist ihrem Mann in der Hochzeitsnacht davongelaufen und möchte ans Meer); ein Arzt, der sich intensiv um seine Patienten kümmert, so intensiv, dass er sich nicht einmal Zeit für seine schwangere, noch verheiratete Geliebte nimmt; ein Restaurantbesitzer, der beim Glücksspiel alles verloren hat und von seiner Frau, mit der er noch um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter spielt, verlassen wird; eine mögliche Käuferin, die dem Koch nicht passt; ein einsamer Gast aus Rio, der ein Hotelmädchen zu sich aufs Zimmer bestellt, damit er mit jemandem reden kann; ein von einer jungen Frau umgarnter schwuler Priester, Komödianten, die mit dem Bus unterwegs sind (sie bereichern den Film mit beinahe surrealistisch anmutenden Chanson-Szenen). - Alle diese und andere Figuren scheint nichts zu verbinden, ausser der fehlenden Stunde, die sie an diesem Tag wohl brauchen könnten. Sie leben einfach ihr Leben, das aus Lieben, Weinen, Trennung, Trost, Hoffnung und ständiger Todesnähe besteht. Und doch hat Lelouch, der seine Geschichten immer wieder von einer zu Beginn auf einem unsichtbaren, scheinbar in der Luft hängenden Piano gespielten und sich zunehmend formenden Melodie  begleiten lässt, für das Ende (jemand kommt tatsächlich ums Leben) eine Überraschung bereit, die scheinbar banal wirkt, aber jedes "Konzept" von Zufall in Frage stellt.


Dem kleinen Meisterwerk, das - ohne die "Ikonen" des französischen Kinos (Deneuve, Huppert, Depardieu etc.) in Anspruch zu nehmen - mit einem hervorragenden Ensemble etwas völlig Eigenes auf die Beine stellt, haftet etwas Mystisches an. Es wirkt unwirklich und doch leicht zugänglich, erzählt wundersame Geschichten - und stellt Fragen: Weshalb hat der Mond angeblich solche Macht über uns? Warum beschert er uns diese Leidenschaften und Obsessionen? Muss er ein Menschenopfer fordern? Macht er sich über unsere nichtigen Zweifel lustig - oder ist alles doch bloss das, was auch immer wir unter "Zufall" verstehen mögen?

Lelouch, der sogar seine Darsteller (er arbeitet gerne immer mit den gleiche Schauspielern, die ihn wie eine Familie umgeben sollen) bis zum Ende über den Handlungsablauf im Unklaren liess, soll seinen 31. Film in 31 Tagen gedreht haben. Ich weiss nicht, ob diese Behauptung bloss in die Welt gesetzt wurde, um den mysteriösen Charakter von "Il y a des jours ... et des lunes" zu unterstreichen; auf jeden Fall fand der in Frankreich stets umstrittene Regisseur (ist er nun trivial oder genial?), dessen Anfänge mit der Nouvelle Vague in Verbindung gebracht werden und der schon für "Un homme et une femme" (1966) den Oscar für das beste Originaldrehbuch erhalten hatte, bei Kritikern und Zuschauern für einmal grossen Anklang - verdientermassen! - Ich schaue mir den Film gerne an einem Abend an, an dem ich weder Probleme wälzen noch unterhalten, sondern einfach von einer unaussprechlichen Leichtigkeit erfüllt werden möchte. Dass er diese Wirkung zu erzeugen vermag, ist einem Balanceakt zu verdanken, wie ihn sonst bloss ein Meister des Soufflés zustande bringt: Wäre eine "Zutat" falsch dosiert oder im ungünstigen Moment eingesetzt, würde das Kunstwerk in sich zusammenfallen. Erst am Ende, wenn die luftige Köstlichkeit aus dem Ofen genommen wird, darf ein Moment des wahrhaft Tragischen einsetzen. Lelouchs kleiner Triumph über das Medium Film mit all seinen Tücken ist in diesem Punkt mit Jim Jarmusch's "Night on Earth" (1991) vergleichbar, dessen Hang zur Schwerelosigkeit auch erst mit dem ächzend hervorgebrachten Wort "Helsinki" am Ende aufgehoben wird.


Was noch hinzuzufügen wäre: Für alle, die sich näher mit dem unterschätzten Poeten des französischen Films beschäftigen möchten, dürfte "Il y a des jours ... et des lunes" der ideale Einstieg sein.