Freitag, 27. Juli 2012

Doppelselbstmord mit Puppenspielern

DOUBLE SUICIDE (SHINJŪ: TEN NO AMIJIMA)
Japan 1969
Regie: Masahiro Shinoda
Darsteller: Kichiemon Nakamura (Jihei), Shima Iwashita (Koharu/Osan), Hōsei Komatsu (Tahei), Yūsuke Takita (Mogoemon), Yoshi Katō (Osans Vater), Shizue Kawarazaki (Osans Mutter)


Bunraku, das klassische japanische Figurentheater, ist eine ehrwürdige Literatur- und Aufführungsform für Erwachsene. Die Puppen sind ungefähr ein bis eineinhalb Meter groß, und die Stücke werden auf einer ebenen, flächigen Bühne aufgeführt. Die Puppenspieler, meist drei pro Puppe, sind also nicht wie im europäischen Handpuppen- oder Marionettentheater verborgen, sondern für die Zuschauer zu sehen. Damit man sie sich leichter wegdenken kann, sind sie schwarz verhüllt, meist einschließlich des Kopfs, und sie sprechen kein Wort (stattdessen gibt es einen Rezitator). Chikamatsu Monzaemon, der bedeutendste japanische Bühnendichter überhaupt, schrieb sowohl für Kabuki als auch für Bunraku, und von ihm stammt die Vorlage des hier besprochenen Films (der keinen deutschen Titel hat, weshalb ich den englischen verwende): "Der Freitod aus Liebe, die himmlische Strafe in Amijima" von 1720. Bunraku-Verfilmungen gab es schon vor DOUBLE SUICIDE, z.B. Kenji Mizoguchis CHIKAMATSU MONOGATARI (DIE LEGENDE VOM MEISTER DER ROLLBILDER). Wie der Originaltitel schon andeutet, stammt auch hier die Vorlage von Chikamatsu. Dessen erstes Bunraku-Drama über einen Doppelselbstmord, "Der Freitod aus Liebe in Sonezaki" von 1703, wurde 1978 von Yasuzo Masumura verfilmt. 2002 verwendete Takeshi Kitano für DOLLS eine Bunraku-Aufführung als Rahmenhandlung. Masahiro Shinoda kam jedoch auf die kühne und faszinierende Idee, ein Bunraku-Stück zwar mit Schauspielern zu inszenieren, die Puppenspieler aber beizubehalten. Was unter einem weniger begabten Regisseur ein prätentiöser Schmarrn hätte werden können, geriet Shinoda zu einem Meisterwerk.

Eine Aufführung wird vorbereitet
Der Film beginnt mit einem Prolog in einem modernen Puppentheater in Osaka. Die Puppenspieler bereiten sich und ihre Puppen auf den Auftritt vor. Gleichzeitig ist die Verfilmung dieses Stücks im Gang - jemand, offenbar Shinoda selbst, telefoniert mit Taeko Tomioka, der Hauptautorin des Drehbuchs von DOUBLE SUICIDE (eine Schriftstellerin, die öfters mit Shinoda zusammenarbeitete), und bespricht mit ihr einen passenden Schauplatz und Details der Selbstmordszene, mit der das Stück und der Film enden werden. Nach den Credits beginnt die Handlung, die im frühen 18. Jahrhundert angesiedelt ist: Jihei, der tragische Held, geht über eine Brücke, und er sieht unter sich zwei Leichen wie aufgebahrt am Boden liegen. Am Ende werden er selbst und seine Geliebte Koharu, eine Prostituierte, auf dieselbe Art unter derselben Brücke liegen. Jihei ist Papierhändler, er und Koharu sind schon seit Jahren ein Liebespaar, und er hat schon lange versprochen, sie aus ihrem Bordell freizukaufen, damit sie zusammen leben können. Doch die Geschäfte gehen schlecht, und seit er regelmäßig Koharu besucht, vernachlässigt er zunehmend seinen Laden, so dass er das nötige Geld nie zusammenkratzen kann. Für den Fall, dass es ihm nicht gelingt, Koharu auszulösen, haben die beiden ihren gemeinsamen Selbstmord vereinbart. Nun drängt die Zeit, denn Tahei, ein arroganter älterer Kaufmann, den Koharu nicht ausstehen kann, hat angekündigt, sie freikaufen zu wollen, und im Gegensatz zu Jihei hat er das nötige Kleingeld dazu.

Kichiemon Nakamura und Shima Iwashita (links Koharu, rechts Osan)
Jihei hat noch ein weiteres Problem: Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Osan, seine Frau, erduldet das Verhältnis, das ein offenes Geheimnis ist, schweigend, doch ihre Eltern intervenieren bei Jihei. Mehr noch als Osans persönliches Unglück erzürnt sie die Tatsache, dass Jiheis Finanzen durch seine Eskapaden den Bach runter gehen und dass Osan dadurch verarmen und Schande über die ganze Familie bringen könnte. Als sich Jihei gerade im Bordell aufhält, erscheint dort ein vermummter Samurai, der Koharu treffen will. Er verwickelt sie in ein Gespräch und entlockt ihr vor dem heimlich mithörenden Jihei das Geständnis, dass sie sich gar nicht umbringen will, und sie bittet den Samurai, ihr dabei zu helfen, sich davor zu drücken. Jihei ist entsetzt und tief verletzt, dass Koharu den Pakt brechen und ihn damit verraten will, und er versucht, Koharu zu erstechen, was der Samurai verhindert. Dieser enthüllt nun seine Identität: Er ist gar kein Samurai, sondern Jiheis älterer und seriöserer Bruder Mogoemon. Er hat den ganzen Mummenschanz nur aufgeführt, um Jihei vor Augen zu führen, wie treulos und minderwertig eine Kurtisane wie Koharu ist, und er nimmt dem völlig aufgelösten Jihei das Versprechen ab, sich von ihr loszusagen und sich wieder um Osan und sein Geschäft zu kümmern. Mogoemon glaubt sein Ziel erreicht, und er verachtet jetzt Koharu, weil sie sich so leicht und schnell von ihm beschwatzen ließ.

Jihei und Koharu im Bordell
Doch weder Jihei noch Mogoemon kennen den wahren Grund für Koharus Verhalten: Osan hatte Koharu einen Brief geschrieben, in dem sie sie bittet, Jihei aufzugeben - nicht um ihn wieder für sich zu haben, sondern nur um sein Leben zu retten, denn sie weiß oder ahnt, dass sich das Liebespaar töten will. Und Koharu hat in einem Akt von Edelmut und Verzicht Osans Bitte erfüllt, indem sie auf Mogoemons Spiel einging. Am Ende des ersten Akts (der Film lässt sich klar in drei Akte einteilen) erhält Mogoemon den Brief und liest ihn, doch er sagt Jihei nichts davon, um seinen Erfolg nicht zunichte zu machen. Der zweite Akt spielt in Jiheis Wohnung. Osan ist froh, dass er wieder bei ihr ist. Doch dann erscheint Mogoemon mit Osans Mutter, und sie machen Jihei heftige Vorwürfe: Ein Gerücht macht die Runde, dass ein Kaufmann direkt davor steht, Koharu freizukaufen, und sie sind überzeugt, dass nur Jihei dieser jemand sein kann. Jihei ist entsetzt und kann die anderen nur mit großer Mühe davon überzeugen, dass er nicht derjenige ist, und dass nur sein alter Widersacher Tahei dafür in Frage kommt. Als Jihei und Osan wieder allein sind, überfällt Osan jäh die Erkenntnis, dass sich Koharu jetzt, wo sie Tahei ausgeliefert sein wird, wahrscheinlich das Leben nehmen will, und jetzt ist sie es, die in einem Anflug von Edelmut und Mitleid die frühere Konkurrentin retten will. Um Jihei die Situation zu verdeutlichen, erzählt sie ihm nun von ihrem Brief, und sie drängt ihn, Tahei zuvorzukommen und Koharu selbst freizukaufen.


Jihei ist hin- und hergerissen. Wie soll es weitergehen, wenn er Koharu tatsächlich freikauft? Und woher soll er überhaupt die dafür nötigen 150 Goldstücke nehmen? Osan löst dieses Problem teilweise, indem sie heimlich angesparte 80 Goldstücke hervorholt, und sie will den Rest aufbringen, indem sie ihre sämtlichen Kimonos versetzen und notfalls noch ihr Haar verkaufen will. Die beiden verpacken die Kimonos, doch ausgerechnet jetzt, im denkbar schlechtesten Moment, erscheint Osans Vater. Er erkennt sofort, dass das geschnürte Paket für den Pfandleiher bestimmt ist, doch er glaubt natürlich, dass das Geld wieder für Jiheis übliche Bordellbesuche gedacht ist. Obwohl Jihei und Osan verzweifelt protestieren, zwingt der Vater seine Tochter, sich auf der Stelle von Jihei zu trennen. Im dritten Akt sind Jihei und Koharu wieder vereint. Nach der erzwungenen Scheidung ist Jihei, abgesehen von seiner wieder aufgeflammten Liebe zu Koharu, ohne jegliche soziale Bindung. Und Tahei hat inzwischen das Geld für Koharu bezahlt. Sie wäre somit gezwungen, ihn zu heiraten, was sie keinesfalls akzeptieren kann und will. So wird der ursprüngliche Plan eines Doppelselbstmords aus Liebe wieder aufgegriffen und in die Tat umgesetzt. Ausgerechnet auf einem Friedhof verbringen Jihei und Koharu ihre letzte Nacht und schlafen miteinander. Im Morgengrauen lässt sich Koharu von Jihei mit dem Schwert töten, dieser erhängt sich daraufhin - unter Beihilfe gleich einer ganzen Schar von Puppenspielern. Die letzte Einstellung zeigt Jihei und Koharu, wie sie nebeneinander unter der Brücke liegen - diesmal nicht von Jihei, sondern nur noch von der Kamera beobachtet.

Tod im Morgengrauen
Die Puppenspieler (kuroko) sind keineswegs ständig, aber immer wieder mal im Bild. Ihr Bewegungszustand ist dabei gegenläufig zu dem der Protagonisten: Wenn diese in Aktion sind, dann stehen oder kauern die kuroko bewegungslos im Hintergrund. Und wenn die kuroko in die Handlung eingreifen, dann verharren die Protagonisten oder führen rein passiv wirkende, von den kuroko gelenkte Bewegungen aus. Das verdeutlicht immer wieder, dass die Protagonisten Gefangene ihres Schicksals sind, dem sie nicht entkommen können, so sehr sie sich auch abstrampeln - ein Fatalismus, der bereits in Chikamatsus Stücken angelegt ist, und den Shinoda teilt. Aber auch die kuroko sind nicht die Herren des Schicksals. Sie sind keine Individuen, sondern anonyme Schemen, die allenfalls Mitleid mit den Protagonisten haben können, aber letztlich sind sie selbst auch nur Marionetten des Bühnenautors - und in diesem Fall des Filmregisseurs. Gelegentlich räumen die kuroko auch am Ende einer Szene die Utensilien beiseite, machen damit deutlich, dass sich das Geschehen auf einer Bühne abspielt, und unterstreichen damit ebenso wie der Prolog die "Theatralizität" der Ereignisse (der Rezitator mit seiner typischen, übermäßig betonten und etwas gepresst klingenden Sprechweise ist an wenigen Stellen im Film auch zu hören). Chikamatsus Stück beruht angeblich auf einem wahren Ereignis (allerdings konnten die Historiker wohl keine Belege für den Vorfall ausfindig machen), aber das Stück und seine Inszenierungen sind Kunstprodukte. Im Grenzbereich von Realität und Fiktion lassen sich Wahrheiten finden, so lautet eine von Shinodas Überzeugungen. Die genannten Interpretationen der Rolle der kuroko in DOUBLE SUICIDE drängen sich großteils beim Sehen des Films unmittelbar auf, wurden aber auch von Shinoda in Interviews bestätigt, z.B. im Interview-Buch von Joan Mellen:
Mellen: Let's speak for a moment about DOUBLE SUICIDE. Why did you use the kuroko, those stagehands in black who change the sets in the Kabuki theater [hier hätte sie statt "Kabuki" besser "Bunraku" sagen sollen], as part of the action of an otherwise realistic film? Why are they mixed into the action?
Shinoda: One of the reasons is that I believe that truth can be obtained somewhere between fiction and reality. The use of kuroko is also one way of expressing the author's will; the author is both Chikamatsu and myself, the director.
Mellen: Do the kuroko, like Chikamatsu, help the characters to fulfill their destiny?
Shinoda: Right. And the director's willingness keeps the kuroko on the scene. The kuroko then become fate itself. They become the hands of the authors.
Puppenspieler
Stark stilisiert sind auch die Sets. Sie werden dominiert von graphischen Elementen, vor allem ornamentalen und geometrischen Linienmustern. Die in der traditionellen japanischen Architektur verwendeten Latten- und Gitter-Roste, Muster auf Kimonos und sonstigen Kleidungsstücken, Muster auf den von Jihei hergestellten Papierbahnen - viele Szenen wurden von Shinoda und seinem Kameramann Toichiro Narushima geradezu vollgestopft damit. Riesenhaft vergrößerte Kalligraphie oder Tuschezeichnungen erinnern gleichzeitig an bei einem Gemetzel verspritztes Blut. Nach seiner erzwungenen Scheidung demoliert der verzweifelte Jihei seine Wohnung und reißt dabei ganze Wände ein. Natürlich sind die traditionellen japanischen Papierwände ohnehin nicht stabil, aber man hat den Eindruck, dass die Einrichtung hier besonders fragil gestaltet wurde, um wiederum darauf hinzuweisen, dass es sich letztlich nur um Bühnendekoration handelt.

Gitterstäbe
Einen weiteren Beitrag zur frappierenden Wirkung des Films leistet der Soundtrack des schlichtweg genialen Tōru Takemitsu, der sich hier wieder einmal selbst übertraf. Takemitsu arbeitete 16 Mal mit Shinoda zusammen, öfters als mit jedem anderen Regisseur (auf den nächsten Plätzen folgen Hiroshi Teshigahara und Masaki Kobayashi). Der Score wird sparsam eingesetzt, aber mit seinem phänomenalen Gespür für Timing und Instrumentierung setzt Takemitsu sehr wirkungsvolle Akzente.


Aller Verfremdung und Stilisierung zum Trotz ist DOUBLE SUICIDE ein emotional ungemein dichter Film, was vor allem den beiden hervorragenden Hauptdarstellern zu verdanken ist, die die zunehmende Verstrickung und Verzweiflung der drei Protagonisten eindrücklich verkörpern. Kichiemon Nakamura, eigentlich Kichiemon Nakamura II (es handelt sich dabei um seinen Bühnennamen), ist ein hoch geachteter und geehrter Kabuki-Schauspieler, der einer ganzen Dynastie von Kabuki-Darstellern entstammt (Kichiemon Nakamura I war sein Großvater). Er spielte nur in wenigen Filmen (bis 1962 unter seinem ersten Bühnennamen Mannosuke Nakamura), dann aber meist für arrivierte Regisseure wie Masahiro Makino, Tadashi Imai, Keisuke Kinoshita, Hiroshi Inagaki, Kaneto Shindō, Kei Kumai und Teshigahara. Shima Iwashita dagegen ist reinrassige Filmschauspielerin, sie ist seit 1967 mit Shinoda verheiratet, spielte in vielen seiner Filme die weibliche Hauptrolle, arbeitete aber auch für viele andere Regisseure. Mit Nakamura spielte sie schon 1960 gemeinsam in Kinoshitas DER FLUSS FUEFUKI. Zur Unterscheidung ihrer beiden Rollen in DOUBLE SUICIDE nahm sie nicht nur die Dienste des Maskenbildners in Anspruch, sondern sie benutzte auch unterschiedliche Stimmlagen - Koharu spricht mit höherer Stimme und schneller als Osan. Aber, wie sie in einem Interview verriet, am Ende des Films gleicht sie die Stimmen an, so dass der Unterschied zwischen den beiden Frauen schwindet. Wenn man die Handlung noch etwas abstrakter sieht, kann man schließlich Koharu und Osan als gegensätzliche Aspekte einer einzigen Persönlichkeit betrachten (ein Gedanke, den Claire Johnston schon 1970 in einem kurzen Text äußerte, der der DVD als Bonus beiliegt).


Shinoda, dem oft Nihilismus und ein Vorrang der ästhetischen Oberfläche vor inhaltlicher Tiefe vorgeworfen wurde, ist einer der Hauptvertreter der japanischen "neuen Welle" der 60er Jahre, aber er war auch in den Jahrzehnten danach aktiv und erfolgreich. Die genannten Vorwürfe mögen vielleicht insgesamt nicht unbegründet sein, aber mit Meisterwerken wie PALE FLOWER, ASSASSINATION oder DOUBLE SUICIDE lässt er sie als unerheblich erscheinen. DOUBLE SUICIDE ist in den USA bei Criterion auf DVD erschienen.

Kein Blut an der Wand, sondern nur Farbe

Sonntag, 22. Juli 2012

Ein Senator sieht rot: politische Unkultur in Washington

ADVISE & CONSENT
USA 1962
Regie: Otto Preminger
Darsteller: Charles Laughton (Senator Seab Cooley), Don Murray (Senator Brig Anderson), Walter Pidgeon (Senat-Mehrheitsführer Robert Munson), George Grizzard (Senator Fred Van Ackerman), Burgess Meredith (Herbert Gelman), Henry Fonda (Robert Leffingwell)

Von wegen mächtigster Mann der Welt! Der US-amerikanische Präsident muss die Amtsernennungen, die er vornimmt, vom Senat beraten und absegnen („advice and consent“) lassen. So sieht es der Artikel 2, Abschnitt 2, Paragraph 2 der US-Verfassung vor. Das gilt auch für die Ernennung seines Staatssekretärs — des Außenministers der USA.
Als der Präsident einen gewissen Robert Leffingwell (Henry Fonda) zu seinem Staatssekretär nominieren möchte, kommt es im Senat zu einer Kontroverse. Der designierte Kandidat ist ein selbstbewusster Vertreter einer Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock. Vielen Senatoren ist er zudem auch unbequem, da er als Universitätsprofessor kein Berufspolitiker ist, sondern ein Intellektueller mit eigensinnigen Ideen und Umgangsformen. Er ist die absolut ideale Projektionsfläche bzw. der ideale Sündenbock in einer politischen (Un-)Kultur, bei der sich politische Argumente mit persönlichen Egoismen, Machtphantasien und Rachegelüsten zu einer unappetitlichen Brühe vermischen. In „Advise & Consent“ geht es nicht so sehr um die „Person Leffingwell“ als um den „Diskurs Leffingwell“: daher ist seine Figur in Henry Fondas Verkörperung in 135 Minuten für gerade mal eine knappe halbe Stunde zu sehen.

Um sich Klarheit über den Kandidaten und seine Eignung oder Nicht-Eignung zu verschaffen, richtet die Senats-Abteilung für auswärtige Beziehungen ein Unterkomitee ein. Dieses soll für das Senats-Plenum eine Wahlempfehlung erarbeiten. Die Leffingwell-Unterstützer sind scheinbar in der Mehrheit: der Vize-Präsident (verfassungsmäßig auch der Senatsvorsitzende), und der Führer der Mehrheitspartei im Senat schaffen es schnell, einen freundlich gesinnten Unterkomitee-Vorstand zu bilden. An der Spitze steht der junge Senator Brig Anderson aus Utah, der eine neutrale Position einnimmt. Die schärfste Gegenposition zu Leffingwell nimmt der Senatsälteste aus Süd-Carolina Seab Cooley (Charles Laughton) ein: ein rechter Konservativer, den Leffingwell vor Jahren öffentlich als Lügner enttarnt und lächerlich gemacht hatte und der diesem heute vor allem deshalb eins auswischen möchte. Senator Van Ackerman, ein radikaler Befürworter Leffingwells, entwickelt schnell eine Abneigung gegen Anderson, der bei der Besetzung des Komitee-Vorsitzes bevorzugt worden ist.

Bei den Anhörungen wird schnell deutlich, wohin die Reise gehen soll: Senator Cooley beschuldigt Leffingwell der Sympathie gegenüber Linken und Kommunisten. Anfänglich geht es nur um die Frage nach seinem politischen Absichten: der designierte Staatssekretär will die Säbelrassel-Mentalität des Kalten Krieges überwinden und zu einer Verständigungspolitik mit der kommunistischen Welt finden (was in Deutschland knapp zehn Jahre später unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ ebenso umstritten sein sollte). Leffingwells Gegner geben sich aber nicht mit der Zukunft zufrieden, sondern klopfen mit der Kommunisten-Keule auch die Vergangenheit jenes Mannes ab, der es wagt, sie dank seiner scharfen Eloquenz während den Anhörungen öffentlich als intellektuelle Nullen zu entblössen.
Tatsächlich findet sich ein „freundlicher“ Zeuge, der Leffingwell als ehemaliges Mitglied einer kommunistischen Zelle anschwärzt. Anschuldigungen, die formell falsch (der offensichtlich geschmierte Zeuge hat Adressen und einige Namen erfunden), inhaltlich aber richtig sind. Der designierte Staatssekretär sieht sich nolens volens gezwungen, trotz eidesstaatlicher Erklärung zu lügen und beichtet dies dem engsten Kreis seiner Unterstützer. Der Präsident, der Vize-Präsident und der Mehrheitsführer des Senats wollen trotzdem an seiner Nominierung festhalten. Doch der Komitee-Vorsitzende Anderson entwickelt aufgrund dieser Situation Gewissenskonflikte. Seine eigene weit entfernte Vergangenheit in Form einer kurzweiligen homosexuellen Beziehung wird jedoch von seinem Rivalen Van Ackerman zur Erpressung ausgenutzt. 

Klingt verwirrend und hochkompliziert, ist es aber nicht: „komplex“ trifft es eher. Langweilig? Kaum! Mit „Advise & Consent“ ist Otto Preminger vielmehr ein faszinierendes und eindringliches Werk über politische Unkultur gelungen, dessen 135 Minuten wie im Fluge vergehen. Das liegt nicht zuletzt an der überaus gelungenen Inszenierung: das Politdrama wird in ruhigen Bildern mit fließenden, eleganten Kamera-Bewegungen erzählt. Preminger weiß das Breitbildformat exzellent auszunutzen, um etwa im Senat verschiedene Personen und Personengruppen ohne plötzliche Schnitte zu kontrastieren, oder um die Einsamkeit einzelner Figuren zu verdeutlichen. Eine kolorisierte Fassung im 4:3-Format, die im US-Fernsehen tatsächlich im Umlauf gebracht worden sein soll, dürfte daher wohl eher die Wirkung eines überlangen und latent öden Films entfalten.
Die komplexen Intrigen, die in „Advise & Consent“ entfaltet werden, sind von Anfang bis Ende fesselnd, setzen aber wahrscheinlich ein minimales Interesse am Themenkomplex der politischen Kultur voraus. Denn der Film ist tatsächlich sehr „politisch“ und gibt sich mit einfachen „Macht korrumpiert eben Menschen“-Erklärungen keineswegs zufrieden. Er ist eindeutig als Plädoyer für mehr politische Kultur zu lesen. Erwähnenswert ist, dass Otto Preminger als lebenslanger liberaler Demokrat seine (kritische) Sympathie für die gemäßigte Pro-Leffingwell-Fraktion kaum verhehlt und damit die Bestsellervorlage „Advise & Consent“ von Allen Drury aus dem Jahre 1959 offensichtlich uminterpretiert hat. Dem ehemaligen Senats-Korrespondenten und radikal antikommunistischen Konservativen Drury ging es eher darum, eine real existierende Gefährlichkeit (pro-)kommunistischer Unterwanderung aufzuzeigen und anzumahnen.


„Advise & Consent“ zeigt, vielleicht nur unterbewusst, die theoretische Diskrepanz zwischen dem „real existierenden“ Kommunismus in den USA und dem Diskurs über den Kommunismus. Zwischen einer Splitterpartei, die in ihrer praktischen Bedeutungslosigkeit permanent an der Schwelle der Lächerlichkeit kratzte und einer „Red-Scare“-Massenhysterie, die heute befremdlich und fast lächerlich wirkt, hätte sie nicht zahlreiche Lebensläufe zerstört... und würden ihre Mechanismen nicht heute teilweise immer noch nachwirken. Premingers Werk ist daher auch eindeutig als Abrechnung mit der antikommunistischen Hexenjagd der frühen 1950er zu lesen, in der einfache Beschuldigungen à la „He‘s a communist!“, vorgestrige Parolen und einfache Verleumdungen die Debattenkultur aushöhlen und zerstören. Diese Unkultur — die heute in gewissen Teilen des politischen Spektrums immer noch quicklebendig ist — hatte gerade Hollywood mit voller Wucht getroffen. Hunderte Karrieren fielen den „black lists“ zum Opfer. Otto Preminger, der selbst verschont geblieben war, jedoch immer wieder gerne mit „heißen“ Themen aneckte, trug maßgeblich zur Aufweichung der „Listen“ bei, als er 1960 Dalton Trumbo (einer der berühmten „Hollywood Ten“) offiziell als Drehbuchautor für „Exodus“ ankündigte.

An „Advise & Consent“ wurden insbesondere zwei „blacklistees“ beteiligt. Der Komponist Jerry Fielding bekam hier seinen ersten Auftrag für einen Kinofilm, nachdem seine Karriere beim Radio vorzeitig beendet worden war. An bitterer Ironie jedoch kaum zu übertreffen ist die Besetzung des „freundlichen“ Zeugen Herbert Gelman, der Leffingwell anschwärzt, mit Burgess Meredith: nachdem er sich selbst bei Anhörungen im House Committee „unfreundlich“ verhalten hatte, kam in er in Hollywood auf die „schwarze Liste“ und erhielt jahrelang keinerlei Kinorolle. Die Zusammenarbeit mit Otto Preminger jedoch sollte auch nach „Advise & Consent“ andauern.

Eine besondere Beachtung bekam „Advise & Consent“ jedoch nicht aufgrund seiner politischen Sprengkraft und seiner Abrechnung mit dem „Red Scare“, sondern weil er der erste US-amerikanische Film war, der eine Schwulenkneipe zeigte! Der Senator Brig Anderson, von Senator Van Ackerman und seinem Kreis mit der Kopie eines alten Briefs an seinen früheren Liebhaber Ray erpresst, fliegt nach New York, um herauszufinden, wie das Dokument in die Hände seiner Rivalen gelangen konnte. Bei der alten Adresse trifft Anderson einen Mann, der ihm Rays Aufenthaltsort nur nach Überreichung eines üppigen Obolus verrät — eine Andeutung, dass der ehemalige Liebhaber sich gelegentlich an reiche Männer prostituiert. Anderson fährt zur angegebenen Adresse und findet dort die besagte Schwulenkneipe. Voller Abscheu flieht der Senator in die Hauptstadt zurück... seinem Verderben entgegen. Ein Moment des Films, der knapp fünf Minuten dauert. Die Kneipe selbst ist eine Minute zu sehen. In seiner vierstündigen Dokumentation zum US-amerikanischen Film würdigte Martin Scorsese Otto Preminger als jener Regisseur, der mehr als alle anderen Filmemacher zur Zerschlagung des Production Codes beigetragen hat... und „Advise & Consent“ als Premingers größten Schlag.
Sicher ist die Darstellung von Homosexualität ambivalent und gehört in eine Zeit, in der man besonders als Amtsperson erpressbar war. Dass Ray seinen ehemaligen Liebhaber im betrunkenen Zustand für Geld „verraten“ hat, macht ihn nicht gerade sympathisch. Die Schwulenkneipe wird klassisch expressionistisch inszeniert: als schlecht ausgeleuchteter Ort. Ob dies Homosexuelle als latente Bedrohung darstellt oder aber sie als Gruppe präsentiert, die aus gesellschaftlichen Gründen „im Dunklen“ leben muss, wird heute noch genauso kontrovers diskutiert wie die Frage, wie sehr man den Film im Kontext seiner Zeit sehen muss. Andererseits ist deutlich, dass „Advise & Consent“ den Erpresser Van Ackerman als verächtliche, durchtriebene und durchweg korrupte Figur und seine Erpressungsintrige als erbärmlich und unwürdig darstellt. Ironischerweise wurde er von George Grizzard dargestellt, der bis zu seinem Tod 2007 über 40 Jahre lang mit dem selben Mann zusammen gelebt hatte.


Auch Charles Laughtons Homosexualität war trotz seiner langjährigen Ehe ein „offenes Geheimnis“. Besonders erwähnenswert ist jedoch, dass er in „Advise & Consent“ seine allerletzte Filmrolle spielte und knapp sechs Monate nach der Premiere verstarb. Auch wenn alle beteiligten Schauspieler hervorragend sind, spielt sie Laughton alle an die Wand. Subtil ist er dabei sicherlich nicht, aber sein völlig übertriebenes Overacting passt hervorragend zu einer Figur, die ihre schwere narzisstische Störungen mit Hilfe unablässlicher Theatralik und geschwungener Worte als Altersweisheit zu verstecken versucht. Auch andere Zuschauer werden es bestimmt lieben, den ehrenwerten Senator von Süd-Carolina zu hassen.

Hinweis:
Auch mit „Advise & Consent“ steht meinerseits nach wie vor die Besprechung eines Films aus, der in Deutschland auf DVD veröffentlicht worden ist. Das genutzte Exemplar, aus dem auch die Screenshots erstellt wurden, ist eine französische Ausgabe (OmfU), hier erhältlich. Als US-Exemplar ist der Film gelegentlich für akzeptable Preise hier und drüben erhältlich, ansonsten auch in einer Kollektion kontroverser Klassiker. Ich meinerseits habe meine DVD bei einer gängigen Internet-Auktionsplattform für den Wert einer Münze mit Silberrand erworben. Glück gehabt, aber der Film kann dem gepflegten Cinephilen durchaus auch mehr wert sein...

Samstag, 14. Juli 2012

Der zur Jahrhundertfigur erhobene Scharlatan

Hanussen
(Profeta, Ungarn/Deutschland/Österreich 1988)

Regie: István Szabó
Darsteller: Klaus-Maria Brandauer, Erland Josephson, Ildikó Bánsági, Walter Schmidinger, Károly Eperjes, Grazyna Szapolowska, Colette Pilz-Warren, Adrianna Biedrzynska, György Cserhalmi, Michal Bajor u.a.

"The movie is thick with period costumes, furniture and music, and thin on coherence and character", urteilte Vincent Canby in einer Kritik für die "New York Times". Ich stimme diesem Urteil vollumfänglich zu, würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und "Hanussen" als durch und durch verlogenes Machwerk bezeichnen, das als Abschluss einer Trilogie über die Konsequenzen des Aufstiegs von Figuren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geradezu eine Peinlichkeit ist. - Mein hartes Urteil hat nichts damit zu tun, dass der Regisseur 2006 zusammen mit Kardinal László Paskai als ehemaliger Stasi-Spitzel enttarnt wurde - obwohl ich als Schreiber, der auf die Nazi-Vergangenheit von Regisseuren hinweist, auch diesen "Flecken" in Szabós Vita nicht unerwähnt lassen darf. Es ist heute jedoch schwer zu beurteilen, was es bedeutete, in einem kommunistischen Land der 50er Jahre als IM für den Geheimdienst "Berichte" zu schreiben. Manche waren sich ihrer Tätigkeit gar nicht bewusst, andere übten sie aus purem Opportunismus aus und dachten, sie sei ihrer Karriere förderlich. Von Szabó lässt sich wenigstens sagen, dass er offenbar niemanden ans Messer geliefert hat. Er hielt aber auch ein Wort des Bedauerns nicht für nötig, sondern betonte: "Alles, was ich dazu sagen möchte, habe ich in meinen Filmen gesagt." - Seine ungarischen Verehrer gaben sich damit zufrieden.  Vielleicht enthalten seine frühen Filme tatsächlich bereits ausreichend versteckte Rechtfertigungsversuche, und die Filme, die ihn international bekannt machten, drehen sich ja immer wieder um Gesellschaften im Zeichen von Diktatur und Fremdbestimmung. "Hanussen" jedoch tut dies auf denkbar oberflächliche, lediglich scheinbare Art.

1981 präsentierte Szabó einem grösseren Publikum die Verfilmung des in der alten BRD lange Zeit verbotenen Romans „Mephisto“ von Klaus Mann, der trotz gegenteiliger Behauptungen des Autors natürlich eine Abrechnung mit dem Schauspieler Gustaf Gründgens war, an dem sich exemplarisch aufzeigen liess, wie ein lediglich an seinem Aufstieg interessierter Mann sich den Nazis auslieferte und am Ende erkennen musste, welche Konsequenzen diese Auslieferung hatte. Klaus Maria Brandauer, ein beinahe ausschliesslich durch seine Tätigkeit als Bühnenkünstler am Wiener Burgtheater bekannter Schauspieler, verkörperte die Titelrolle. Er hatte zwar nicht die geringste Ähnlichkeit mit Gründgens, wartete aber mit einer Leistung auf, die ihn weit über den deutschen Sprachraum hinaus berühmt machte. Der um Werktreue bemühte "Mephisto" erhielt – meines Erachtens zurecht – den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Denn was da über den Weg von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus in erlesene Bilder gepackt wurde, war schlicht überwältigend – und wenn man miterlebte, wie ein als Göring überragend agierender Rolf Hoppe dem „grossen“ Schauspieler zu verstehen gab, wie leicht er ihn zerquetschen könnte, wollte man einfach mehr von Szabó sehen. Tatsächlich entschloss sich dieser zu einer weiteren Zusammenarbeit mit Brandauer. Und wieder sollte es um einen Aufsteiger gehen, nämlich um Alfred Redl, der sich kurz vor dem Untergang der k. und k.-Monarchie aus ärmlichen Verhältnissen in die Oberschicht hinaufarbeiten wollte und an seiner Homosexualität scheiterte. „Oberst Redl“ (1985) – sich nicht detailliert an der Biographie der historischen Figur orientierend - wurde zwar wieder mit einer Oscar-Nomination belohnt, vermochte aber trotz Brandauers Leistung und der brisanten Story nicht an die erste Zusammenarbeit anzuknüpfen, weil er etwas arg von der k. und k.-Gemütlichkeit zerrte.

Ich vermag nicht zu sagen, ob die Idee, das Aufsteiger-Thema als Trilogie anzulegen, schon früh im Kopf des Regisseurs reifte. Auf jeden Fall wirkte die Ankündigung, man wolle die gemeinsame Zusammenarbeit mit einem Film über Hanussen beenden, mehr als verlockend. Hanussen, der Scharlatan, der sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vom Hokuspokus-Clown zum steinreichen Hellseher der Nazis mit dem für Orgien berüchtigten „Palast des Okkulten“ entwickelt hatte, um nach seiner Ankündigung des Reichstagsbrands von den Machthabern ermordet zu werden, schien wie gemacht für einen Film, der sich als abschliessender Höhepunkt des Themen-Zyklus eignete – und wer sollte die Hauptfigur besser verkörpern als Klaus Maria Brandauer? Zwar hatte sich O.W. Fischer, noch persönlich bekannt mit dem „Hellseher“, 1955 unter eigener Regie als Hanussen präsentiert; jetzt aber war es an der Zeit, die faulen Tricks und den unausweichlichen Aufstieg eines der berühmtesten Leute-Verführers des letzten Jahrhunderts filmisch festzuhalten. Schliesslich war er zu einer Legende geworden.  


Erik Jan Hanussen hiess eigentlich Hermann Chajm Steinschneider und wuchs als Sohn eines jüdischen Schmierenkomödianten im Varieté-Milieu auf. Schon früh interessierte er sich für das scheinbar Okkulte und schlich sich in das Vertrauen betrügerischer Hellseher ein. Deren Tricks entlarvte er anschliessend in der Öffentlichkeit, um sie sich später selber anzueignen. Im Ersten Weltkrieg verblüffte er seine Vorgesetzten und Kameraden mit angeblichen Zukuntsvoraussagen (er fing gegen Bezahlung Schreiben aus der Heimat ab und verkündete dann deren Inhalt unter grossem Getue). Bald darauf bewies er seine „Fähigkeiten“ als Wünschelrutengänger, um sich vor gefährlichen Einsätzen zu drücken. Nach dem Krieg rückte der Showman mit Sexappeal mit immer neuen Einfällen an und leistete sich Fehden mit seinen Rivalen. Die vorgespielten Hypnose-Akte und das Zettellesen brachten dem zum Dänen gewordenen Steinschneider aber mehrere Anzeigen wegen Betrugs ein. In dem berühmten Prozess von Leitmeritz gab er sogar zu, ein Hochstapler zu sein (ein Geständnis, das er in seiner ansonsten aus Flunkereien bestehenden Autobiographie „Meine Lebenslinie“, 1930, wiederholte). All dies tat dem Erfolg des als intelligent geltenden Mannes, der mehrere Zeitungen herausgab, keinen Abbruch. Selbst das Zerwürfnis mit seinem bisherigen Manager Erich Juhn, der bald alle seine Tricks verriet, schadete ihm nicht. Im Gegenteil: Die angeblichen Hellsehshows füllten zweimal täglich die Berliner Scala.  Als er in seinen astropolitischen Zeitschriften sogar den Aufstieg Hitlers zu unterstützen begann, spielte auch seine jüdische Herkunft keine Rolle mehr. Selbst Nationalsozialisten waren abergläubisch (es wird sogar gemunkelt, der Führer habe sich mehrmals persönlich von ihm beraten lassen), und der „Hellseher“ bot der Berliner Schickeria auf seiner Yacht willige Damen und Knaben an. Seine Voraussage des Reichstagsbrands wird mit den guten Kontakten zur SA erklärt, deren Chef Ernst Röhm an den für ihn reservierten Knaben seine grosse Freude gehabt haben dürfte. – Über die Gründe, die zu Hanussens Ermordung durch seine bisherigen Gönner führte, herrscht Uneinigkeit. Sein Tod ist vielleicht das einzige Rätsel, das der angebliche Hellseher hinterlassen hat.


Wer nun freilich erwartete, Szabó habe diese mehr als reichhaltige Vita tatsächlich zum Anlass genommen, den Aufstieg eines Scharlatans im Schatten eines noch weitaus gefährlicheren Scharlatans, Hitler, darzustellen, sah sich getäuscht. Das Gegenteil war der Fall. Denn was der Zuschauer da vorgesetzt bekam, war nicht nur die schamlos zusammengewürfelte Lebensgeschichte eines Märtyrers, die – wiederum in erlesenen Bildern - zum Teil sogar auf Hanussens Autobiographie basierte; es zeugte, und das macht das Lügengebilde weitaus schlimmer als die nicht ganz der Wahrheit entsprechende „Redl“-Geschichte, von einem unerschütterlichen Bemühen, die seherischen Fähigkeiten Hanussens als echt hervorzuheben, ein Bemühen, das so viel Raum in Anspruch nahm, dass zeitgeschichtliche Abläufe nur noch für den „Hellseher“ von Bedeutung waren, während die Angst eines Juden vor der Zukunft kurz mit einem vorübereilenden Trupp der SA abgetan wurde, den ein Blick aus dem Fenster zeigte. Denn im Mittelpunkt stand Erik Jan Hanussen, der hier vom Scharlatan in den Rang einer von ihren Visionen beherrschten Jahrhundertfigur erhoben wurde: 

Im Ersten Weltkrieg zieht sich der Österreicher Klaus Schneider bei einem Gefecht eine Kopfverletzung zu. Der ihn behandelnde Arzt Dr. Bettelheim erkennt rasch, dass sein Patient über aussergewöhnliche Fähigkeiten verfügt („Schneider ist in jeder Hinsicht ein interessanter Fall.“), und er möchte ihm mit Hypnose helfen. Tatsächlich erweist sich Schneider, der ständig von Ahnungen redet, nicht nur bald als Frauenheld (er spannt dem Doktor dessen Freundin, Schwester Betty, aus), er liefert auch einen Beweis seiner Macht zur „Willensübertragung“, indem er einen lebensmüden Soldaten davon abhält, sich und das ganze Lazarett mit einer Handgranate in die Luft zu jagen. Nowotny, ein Hauptmann, ist von diesem Ereignis begeistert und überredet Schneider, bei einem Fronttheater für Unterhaltung zu sorgen. – Nach dem Krieg wird Nowotny zum Manager des Mannes, der sich jetzt Hanussen nennt. Man klappert gemeinsam die Grenzstädte ab (die gelungene Aufnahme eines Spaziergangs durch Karlsbad zeigt, wie gefragt damals Varieté-Künstler und Hellseher waren), und als Hanussen eine Schiffskatastrophe voraussagt, erlangt er nicht nur Berühmtheit sondern zeigt sich auch ob seiner „Gabe“ völlig überwältigt. In einem Prozess führt er dem Staatsanwalt vor, dass er mit seiner Willenskraft sämtliche Zuschauer zum Aufstehen zu bewegen vermag. - Die Weltstadt Berlin, wo sich alles trifft, was sich schon vom Krieg her kannte, ruft. Von nun an splittert sich der Film vornehmlich in unzusammenhängende Episoden auf, die den Weg des „Hellsehers“ durch die esoterische Szene der 20er und frühen 30er Jahre nachzeichnen und dessen herausragende Fähigkeiten beleuchten sollen: Er setzt einen Störenfried unter Hypnose und fordert ihn auf der Stuhllehne zum Krähen auf, wandelt durch das dekadente Reich einer Inderin und betont in einem Gespräch mit Politikern: „Ich interessiere mich nicht für Politik“ – um dann doch Hitler als nächsten Reichskanzler zu „sichten“. Die politische Äusserung führt zum Bruch mit seinem Manager, was jedoch am Aufstieg des „Hellsehers“ nichts ändert: An seiner legendären „astrologischen Bar“ lässt er sein Medium verkünden, die neue Zeit bringe Ordnung. Und dann geht er einen Schritt zu weit. 

Es wäre eigentlich faszinierend, die Etappen des wiederbelebten Esoterischen zu verfolgen, spielte es doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine nicht unbedeutende Rolle (ich erinnere nur an den Kreis um den selbsternannten Dichter-Propheten Stefan George oder an Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie). Auch die Vereinnahmung dieses Esoterischen durch den ohnehin einem Mystizismus huldigenden Nationalsozialismus (der ältere irische Dichter W. B. Yeats, der sich sein esoterisches Weltbild aus verschiedenen Kulturen zusammengebastelt hatte, fühlte sich regelrecht geehrt, als man zu erkennen glaubte, er habe in seinem unverständlichen Gedicht „The Second Coming“ das Herannahen des „Dritten Reichs“ vorausgesehen) liesse sich an der Figur des Mannes, der als Hanussen in die Geschichte einging, eindrücklich darstellen. Was Szabó aber bietet, ist eine sich durch das gewohnt sanfte Licht der Bilder und belanglose Dialoge auszeichnende langatmige Huldigung an den Scharlatan der Nazis. Dabei versucht er dessen Glaubwürdigkeit („Der Reichstag wird in Kürze in Flammen stehen!“) noch zu erhöhen, indem er das Feuer als Motiv den ganzen Film durchziehen lässt (Höhepunkt: der Hellseher bringt in einer seiner Shows eine Zuschauerin dazu, den Bühnenvorhang in Brand zu setzen). 


Einzelne Szenen lassen durchaus erahnen, was ein solcher Film zu bieten hätte: Das Treffen mit der Männerkleidung tragenden Fotografin Henni Stahl, die zuerst nackte Arierkörper zu Riefenstahl’schen Pyramiden formiert und anschliessend am Hellseher herausfinden möchte, worin das Geheimnis des Charismas liegt (kurz darauf lässt sich Hitler in den Posen ablichten, die für Hanussen charakteristisch sind). Solche zeitgeschichtlich aufschlussreiche Momente (Hitler muss sich das Charisma aneignen!) sind allerdings eine Rarität in dem Film, von dem Szabó zwar sagte, er sei keine Dokumentation, sondern eine Modellgeschichte, dessen Verlogenheit aber nichts mehr mit der Devise zu tun hat: „Wenn wir über unsere Gegenwart sprechen wollen, müssen wir wissen, von wo wir gekommen sind“ (zitiert nach „Der Spiegel“, 42/1988). Dass statt Hanussen sein sich in Berlin ängstigender Arzt zum Juden gemacht wird oder der „Hellseher“ sein Geburtsdatum mit dem des Führers teilt, gehört zum harmlosen Teil der Flunkereien, die der angeblichen Devise des Ungarn widersprechen. Wichtiger ist: Es geht ihm einzig um die Verherrlichung des Scharlatans, er ist an der Vergangenheit gar nicht interessiert, weist nur am Rande - mit einem Propagandaminister, dessen sympathische Ausstrahlung geradezu pervers wirkt - auf sie hin. Und man kommt um die Frage nicht herum: Was macht diese Figur so faszinierend, dass für den letzten Teil der Aufsteiger-Trilogie sämtliche Grundsätze über Bord geworfen wurden, die man einem ehemaligen Stasi-Spitzel eigentlich hoch anrechnen würde?


Der Verdacht liegt nahe, es sei Szabó und Brandauer zum Abschluss der gemeinsamen Arbeit nicht nur um eine Verherrlichung der Hauptfigur, sondern vor allem um eine des Darstellers gegangen. Brandauer war kurz zuvor mit einer Oscar-Nomination geehrt worden („Out of Africa“, 1985), und der zum Weltstar avancierte Bühnenkünstler hatte offenbar seine „One Man Show“ verdient. Tatsächlich entdeckt man in „Hanussen“ (wie auch in einigen seiner späteren Filme) weniger das grosse Können des Schauspielers als die wohl unvermeidliche Eitelkeit, die mit dem Ruhm einhergeht. Und diese Eitelkeit führt zu unnötig eindringlichen Gesichtsausdrücken im falschen Augenblick, zu hysterischem Herumschreien, ja sogar zu einem regelrecht dämlichen Lächeln, wenn er seine Bettgefährtin auffordert, aus dem Fenster zu springen. Er mag gelegentlich galant wirken, überzeugend ist er nie als geschwätziger Alleinunterhalter. Und für diese verlogene Brandauer-Show wurden Schauspieler wie Erland Josephson verheizt, die wahrlich bessere Rollen in besseren Filmen verdient hätten. – Vielleicht wäre Klaus Maria Brandauer sogar eindrucksvoller gewesen, wenn er den Hellseher wirklich als Scharlatan hätte geben dürfen. So aber bleibt die letzte Zusammenarbeit mit Szabó eine Enttäuschung, ein schicker und belangloser Untergang des Abendlandes, für den sich wohl nur Leute begeistern können, die als Reinkarnation von Hanussen durchs Internet geistern. Soll uns so etwas helfen, wenn wir wissen wollen, von wo wir gekommen sind?

Samstag, 7. Juli 2012

Glauser

Glauser
(Glauser, Schweiz 2011)

Regie: Christoph Kühn

Der Dokumentarfilm galt lange Zeit als eine Kernkompetenz im Schweizer Filmschaffen. Er war billiger als die im Ausland ohnehin nie sonderlich erfolgreichen Spielfilme, und der Bund zog es, was weltweit einmalig war, vor, ihm einen Grossteil seiner Filmförderungsgelder zukommen zu lassen. Internationale Beachtung war die Folge; es entstanden bis in die Mitte dieses Jahrtausends hinein zum Teil in Zusammenarbeit mit anderen Nationen Perlen, von denen hier nur drei genannt seien: Christian Freis "War Photographer" (2001), für einen Oscar nominiert, "Elisabeth Kübler-Ross - Dem Tod ins Gesicht sehen" (2003) von Stefan Haupt und "Skinhead Attitude" (2003) unter der Regie von Daniel Schweizer. - Doch bereits 2005 sprachen Schweizer Dokumentarfilmer in einem Aufruf von einem Alarmzustand: Die Senkung der Kosten für Spielfilme und die Tendenz in Richtung Fernsehproduktionen verführten die Geldgeber einerseits zur Abkehr vom "Cinéma du réel"; andererseits standen immer mehr - talentierte - Dokumentarfilmer an und wollten auch ihre Projekte verwirklichen. Subventionen für das Genre wurden gekürzt, und es entstanden nur noch kleine, mit etwas Glück kurze Zeit in den Kinos einzelner Schweizer Städte laufende Dokumentarfilme, die kaum Aufsehen erregten und nach einer Fernsehausstrahlung vielleicht von wenigen Interessierten als kostspielige (!) DVD gekauft wurden. Von internationaler Ausstrahlung konnte keine Rede mehr sein, da sie sich aus Kostengründen vor allem Themen annehmen mussten, die nur für die Schweiz, oft sogar nur für eine bestimmte Region von Interesse waren.

Der Zuger Filmer Christoph Kühn erweckt den Eindruck, er habe mit seinen Dokumentarfilmen, die sich ausschliesslich aussergewöhnlicher Figuren der Schweizer Geschichte annehmen, gar nie internationales Ansehen angestrebt. Zu wenig „ambitioniert“ wirken auf den ersten Blick die – spannenden -  Versuche, sich in die von ihm gezeichneten Gestalten hineinzuversetzen, aber auch Zeitgenossen und Experten zur Sprache kommen zu lassen – eher fürs Fernsehen als für eine Kinoauswertung gemacht, die für Furore sorgen würde. Berühmt wurde 1985 sein „FRS – Das Kino der Nation“, ein filmischer Essay über den Schweizer Regisseur Franz Schnyder, der von mir an anderer Stelle „gewürdigt“ wurde. 1993 folgte eine Auseinandersetzung mit der Vielfältigkeit der Schweizer Künstlerin Sophie Taeuber-Arp – und 2007 eine Dokumentation über den Umweltaktivisten Bruno Manser, der mit seinen Vorträgen über das Schicksal der Urvölker des Regenwaldes von sich reden machte und seit dem Jahr 2000 als im indonesischen Teil Borneos verschollen gilt.

Im Januar dieses Jahres gelangte nun Kühns Dokumentarfilm über den Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser in wenige Kinos vor allem der Region Bern. Glauser ist als Vater des Schweizer Kriminalromans und als Vorläufer des (modernen) deutschen Krimis überhaupt in die Geschichte eingegangen. Seine erst in den letzten drei Lebensjahren entstandenen und zum Teil mehrfach verfilmten Werke „Wachtmeister Studer“, „Matto regiert“ und „Der Chinese“ haben in der Literaturgeschichte mittlerweile ihren festen Platz. Der Untertitel von Kühns Dokumentation „Das bewegte Leben des grossen Schriftstellers“ lässt aber erkennen, dass der Film weniger am Werk als am „Irrenhäusler“, am „Morphinisten“, der hinter ihm steht, interessiert ist.  

Der Film beginnt im Irrenhaus Münsingen, wo der ein Leben lang vor der Bürgerlichkeit und dem harten Vater fliehende Dadaist, Fremdenlegionär und Schriftsteller in einer Nacht des Jahres 1934 über sein Leben nachdenkt. Eine Stimme aus dem Off, die den Zuschauer 75 Minuten lang begleitet, zitiert aus dem Nachlass Glausers, der reichhaltiger ist, als oft angenommen wird, und der uns ein Leben im Fieberrausch zwischen Rebellion und Resignation vermittelt. Fiktive Szenen bieten Einblicke in die Kindheit des Schriftstellers, der sowohl zum Opfer seines Vaters (dieser liess ihn entmündigen und in eine Klinik einweisen, wo man fälschlicherweise Schizophrenie diagnostizierte) als auch seiner eigenen ständigen Unrast werden sollte. Der Stimme folgend entwickelt sich der Film zum ruhelosen, rauschhaften Mosaik, wechselnd zwischen Schriftdokumenten, Photos, Aufnahmen ehemaliger Aufenthaltsorte und Archivaufnahmen. Eine dem Wesen dieser irrenden, ständig die Brücke von der Anstalt und der Welt da draussen suchenden Stimme ("Ich bin von einer Mürbe, die bei einer Linzertorte vielleicht als Qualität aufgefasst werden kann") gerecht werdende Bereicherung bilden die mehr schwarzen als weissen Zeichnungen von Hannes Binder, der schon mehrere Romane Glausers illustriert hatte. --- Daneben stehen geradezu bieder wirkende Interviews mit dem Literaturkritiker und Glauser-Spezialisten Hardy Ruoss oder der anrührenden Lebensgefährtin Berthe Bendel, die er als Pflegerin in Münsingen kennengelernt hatte und die später dem Schweizer Fernsehen erzählen sollte, wie es nach Glausers Entlassung mit ihnen weiterging: ein ruheloses Leben zwischen Atlantik und Mittelmeer – und dann sein Tod unmittelbar vor der geplanten Hochzeit.

Kühns Film wurde nicht von allen Kritikern geschätzt. Man vermisste wohl eine eingehendere Beschäftigung mit dem literarischen Werk Glausers, zeigte sich auch etwas irritiert wegen der Mischung aus Biederkeit und Wahn – obwohl gerade diese Mischung das Leben des Schriftstellers, der von seinem ehemaligen Psychiater als „pfiffig und verschmitzt, aber auch verwundbar“ charakterisiert wurde, ausmachte. – Ich möchte mir nach einer einmaligen Sichtung kein abschliessendes Urteil erlauben, muss aber betonen, dass ich nicht nur viel über den Menschen Friedrich Glauser erfahren habe, sondern von der Art, wie man sich diesem näherte, gepackt war. Ich hoffe vor allem, der Dokumentarfilm werde nach seiner zu erwartenden Fernsehausstrahlung einmal auf einer DVD erhältlich sein, die auch den Ansprüchen deutscher Käufer genügt (Untertitelung des Interviews mit Bendel etc.). Denn Glauser ist nicht nur Bestandteil der Schweizer Literatur, er gehört zu den bedeutenden deutschsprachigen Schriftstellern seiner Zeit – und Kühn hat mit dem dokumentarischen Essay über sein Leben zu einem Thema gefunden, das weit über die Schweiz hinaus auszustrahlen verdient. 


Sonntag, 1. Juli 2012

Afrikanische Tragödie ... an der Côte d'Azur

LA NOIRE DE... (dt. DIE SCHWARZE AUS DAKAR)
Senegal/Frankreich 1966
Regie: Ousmane Sembène
Darsteller: Mbissine Thérèse Diop (Diouana), Anne-Marie Jelinek (als Anne-Marie Jelinck, Madame), Robert Fontaine (Monsieur), Momar Nar Sene (Diouanas Freund), Ibrahima Boy (Junge)


Ein schönes großes weißes Passagierschiff fährt, aus Dakar kommend, in den Hafen von Marseille ein, und unter denen, die von Bord gehen, ist Diouana, eine junge Senegalesin. Ihre Blicke und ein innerer Monolog verraten, dass sie fremd ist in diesem Land. Sie ist nach Frankreich gekommen, um in Antibes an der Côte d'Azur für Madame und Monsieur zu arbeiten, als Kindermädchen - wie sie glaubt. Abgesehen von Diouana und den drei kleinen Kindern von Madame und Monsieur bleiben die Namen aller Personen im Film ungenannt. Später im Film zeigen zwei Rückblenden, wie es zu Diouanas Engagement kam: Sie hatte schon in Dakar für das Paar gearbeitet, das dort eine geräumige Villa mit mehreren Angestellten bewohnte. Diouana musste mit den Kindern spielen und sie zur Schule bringen - eine leichte und angenehme Tätigkeit, und als sie von Madame gefragt wurde, ob sie bald nach Frankreich nachkommen will, sagte sie gerne zu. Mehr noch als um den Lohn ging es ihr darum, das ferne Land kennenzulernen und ihre Verwandten und Bekannten vor Neid erblassen zu lassen, wenn sie ihnen Fotos von sich in Frankreich schicken würde. Diouanas Freund dagegen, ein intelligenter und politisch interessierter junger Mann, hält nicht viel von der ehemaligen Kolonialmacht, und er stand ihren Plänen sehr skeptisch gegenüber. Doch in ihrer jugendlichen Unbefangenheit setzte sie sich über seine Einwände hinweg.


In der 70-minütigen vollständigen Fassung enthält der ansonsten schwarzweisse Film nach Diouanas Ankunft eine ca. zehnminütige Farbsequenz, die Diouanas erste Eindrücke von der Côte d'Azur wiedergibt. Diese Sequenz wurde jedoch schon für den französischen Verleih gestrichen und der Film auf eine knappe Stunde gekürzt. Auf DVD gibt es nur die gekürzte Fassung, die längere mit der Farbsequenz hat aber überlebt (Jonathan Rosenbaum berichtet, dass er sie 2008 sah). In Antibes angekommen, wird Diouana von Madame die Aussicht auf die Küste mit den daran gelegenen Städten gezeigt: Hier Nizza, dort Cannes, dazwischen Antibes. Doch die klingenden Namen bleiben bloße Verheißung, die nicht eingelöst wird. Es erweist sich, dass Madame und Monsieur ihren luxuriösen Lebensstil nur im postkolonialen Dakar pflegen können. Hier in Frankreich sind sie ein ganz normales Mittelklasse-Paar. Sie fahren einen Kleinwagen mit Delle, die Wohnung ist auch nicht besonders groß, und Diouana ist jetzt die einzige Hausangestellte. Und sie ist nicht mehr Kindermädchen, sondern Mädchen für alles: Putzen, Kochen, Geschirr spülen, Wäsche waschen, und nochmal Putzen. Außer zum Einkaufen kommt sie nicht aus dem Haus. Als sie das geforderte Arbeitstempo kaum einhalten kann, wird die anfangs noch freundliche Madame zunehmend ruppig. Monsieur findet das Verhalten seiner Frau zwar übertrieben, aber er gibt sich weitgehend indifferent, statt Diouana beizustehen. Diouana empfindet sich bald nicht mehr als Person, sondern wie ein Einrichtungsgegenstand behandelt. Das bringt auch der ambivalente Filmtitel zum Ausdruck: Das "de..." kann nicht nur für die geographische Herkunft stehen, sondern auch ein Besitzverhältnis anzeigen - "Die Schwarze von Monsieur und Madame" (der plumpe deutsche Titel macht die Ambivalenz natürlich zunichte). Diouanas faktisches Eingesperrtsein wird von Sembène durch die kontrastierende Wahl der Schauplätze veranschaulicht: Während die meisten Szenen in Dakar im Freien spielen, wird Diouana nach der Ankunft in Antibes nur noch in den vier Wänden von Madame und Monsieur gezeigt, so dass sich schnell eine klaustrophobische Stimmung einstellt. Diouanas Gemütsverfassung, die von anfänglicher Neugier und Hoffnung schnell in Ernüchterung, Wut und schließlich Verzweiflung und Resignation übergeht, wird durch ihren per Voice-over vermittelten inneren Monolog dargestellt.


Zur Arbeitsüberlastung und Isolation kommen kleinere und größere Demütigungen. Es beginnt schon damit, dass Madame ihr verbietet, schöne Kleider und Schuhe eigener Wahl zu tragen und ihr stattdessen schmucklose Arbeitskleidung aufnötigt. Als Madame und Monsieur Gäste bewirten, gibt ein älterer Herr Diouana einen Schmatz - weil er "noch nie eine Negerin geküsst" hat, wie er ganz unverblümt sagt. Der konsternierten Diouana bleibt nichts übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Peinlich gestaltet sich auch die Ankunft eines Briefs von Diouanas Mutter. Da Diouana Analphabetin ist, liest Monsieur den Brief vor: Die Mutter beklagt sich, dass Diouana noch kein Geld geschickt hat, weil sie wohl alles verprasst - dabei hat sie noch gar keinen Lohn erhalten. Als wäre das noch nicht genug, macht sich Monsieur gleich daran, den Brief zu beantworten. Weil ihm Diouana trotz seiner Aufforderung nichts diktiert, schwadroniert er selbst eine Antwort zusammen, natürlich ohne auf die tatsächliche Situation von Diouana einzugehen. Diese ist in dieser Situation sprachlos, ihr fehlen komplett die Worte.

Madame, Monsieur und einer ihrer Gäste
Monsieur hat die Zeichen verstanden und händigt Diouana nun den ausstehenden Lohn aus, aber er dringt nicht mehr zu ihr durch - sie hat sich nun emotional komplett von ihrer Umgebung abgekapselt, selbst den Sohn von Madame und Monsieur ignoriert sie jetzt. Am Beginn ihrer Anstellung in Dakar hatte sie Madame eine Maske geschenkt, die sie einem kleinen Jungen aus der Nachbarschaft für wenig Geld abgekauft hatte. Als Zeichen ihrer inneren Kündigung nimmt sie die Maske nun wieder an sich, worauf es zu einer regelrechten Rauferei mit Madame kommt. Danach packt Diouana ihre Koffer. Doch sie wagt sich nicht ins fremde Frankreich hinaus. Stattdessen legt sie sich in die Badewanne und schneidet sich mit einem Rasiermesser die Kehle durch. Etwas später sieht man Monsieur am Strand liegend, wie er in der Zeitung eine dürre Notiz über Diouanas Selbstmord liest. In einem Epilog versucht er, offenbar vom schlechten Gewissen geplagt, in Dakar Diouanas Lohn und ihre Habseligkeiten an ihre Mutter auszuhändigen. Doch er prallt am Stolz der Mutter und ihrer Nachbarn ab, das Geld wird nicht angenommen. Nur der Junge nimmt die Maske an sich, die ihm schon einmal gehört hatte. Obwohl ihn niemand bedroht und ihm außer dem Jungen mit der Maske niemand folgt, gestaltet sich Monsieurs Rückzug zur Flucht - eine Szene, die man auch allegorisch verstehen kann.

Unbeschwerte Tage in Dakar
Sembène enthält sich in seinem ersten Spielfilm jeder Sentimentalität und Melodramatik. Stattdessen ist LA NOIRE DE... betont nüchtern gestaltet, die Tragödie wird sachlich-analytisch protokolliert. Sembène moralisiert auch nicht. Madame und Monsieur sind keine Bösewichter. Sie können kaum anders handeln, weil sie die Situation überhaupt nicht begreifen. Als Diouana am Ende kurz vor dem psychischen Zusammenbruch steht, kommen sie nur auf den Gedanken, dass sie krank sein könnte. Dass sie selbst etwas damit zu tun haben, kommt ihnen nicht im Entferntesten in den Sinn. Es geht wohlgemerkt nicht darum, dass die Europäer nicht in der Lage wären, das "unergründliche" Afrika zu verstehen. Derlei Exotismus ist einem afrikanischen Regisseur wie Sembène natürlich fremd. Madame und Monsieur fehlt schlicht jedes Verständnis für Diouanas Bedürfnisse als Person, es fehlt vor allem am Respekt. Wie auch an der Unterhaltung mit den erwähnten Gästen deutlich wird, handelt es sich letztlich um die latent rassistische Ignoranz der ehemaligen Kolonialherren.


Die nüchterne Machart von LA NOIRE DE... bedeutet nicht, dass es sich um einen filmsprachlich schlichten Film handeln würde. Sembène arbeitet viel mit betonten Kontrasten. Kameramann Christian Lacoste (ein in Dakar lebender Franzose) fängt viele harte Schwarzweiß-Kontraste ein, was man durchaus als bewusste Metaphorik deuten kann. Im Soundtrack findet sich - passend zum jeweiligen Schauplatz - westafrikanische neben europäischer Musik (ein Stück, das zweimal angespielt wird, erinnert stark an Georges Delerues Klaviermusik aus SCHIESSEN SIE AUF DEN PIANISTEN). Die Gegenüberstellung afrikanischer Außen- und europäischer Innenräume wurde schon erwähnt. Sembène nimmt auch, nicht weiter verwunderlich, gewisse Anleihen bei der Nouvelle Vague, und der Einfluss des Neorealismus (der bei Regisseuren aus Ländern mit unterentwickelter oder fehlender Filmindustrie, wie damals der Senegal, auch nach seinem Abklingen in Italien noch Vorbildfunktion hatte) ist noch spürbar, wenn auch nicht so deutlich wie in Sembènes Kurzfilm BOROM SARRET von 1963 (der ähnlich wie FAHRRADDIEBE endet). Wie in den meisten Filmen Sembènes sind auch in LA NOIRE DE... alle Darsteller Laien (Mbissine Thérèse Diop war damals Näherin, Anne-Marie Jelinek und Robert Fontaine waren auch im echten Leben miteinander verheiratet, und sie hatten eine "koloniale" Vergangenheit - Fontaine wurde in Saigon geboren, und Jelinek in Algerien). Sembène selbst übernahm eine Cameo-Rolle als Grundschullehrer in Diouanas Viertel in Dakar, der als Nebenbeschäftigung gegen eine Gebühr Schreibarbeiten für die Bevölkerung übernimmt - ein nebenbei verabreichter Hinweis auf den weit verbreiteten Analphabetismus im damaligen Senegal.

Harte Schwarzweiß-Kontraste
LA NOIRE DE... ist eines der Gründungswerke des schwarzafrikanischen Kinos (die Einschränkung auf Schwarzafrika ist nötig, weil es in Ägypten mit Regisseuren wie Youssef Chahine schon deutlich früher losging). Er gilt als der erste Spielfilm eines schwarzafrikanischen Regisseurs, der wenigstens teilweise in einem afrikanischen Land entstand. In Französisch-Westafrika war Einheimischen das Drehen von Filmen schlichtweg verboten, so dass Regisseure aus dieser Region vor 1960 nur außerhalb Afrikas arbeiten konnten. (Wichtig war vor allem der 1955 in Paris entstandene Kurzfilm AFRIQUE-SUR-SEINE von Paulin Soumanou Vieyra, aus Benin stammend und danach ebenfalls Senegalese. Vieyra war später mit Sembène befreundet und arbeitete gelegentlich mit ihm zusammen, z.B. als Produzent von Sembènes XALA (1975), und er schrieb mehrere Bücher über das afrikanische Kino, darunter 1972 eines über Sembène.)

Die Maske und ihr alter und neuer Besitzer
Ousmane Sembène (1923-2007) war schon in seiner Jugend in den 30er Jahren ein eifriger Kinogänger. "Wir kannten die Filme von George Raft, Charlie Chaplin und Shirley Temple auswendig", erinnerte er sich einmal. Am meisten beeindruckte ihn und seine Freunde in Dakar aber Leni Riefenstahls OLYMPIA. Nicht etwa wegen seiner filmischen oder gar propagandistischen Qualitäten, sondern weil sich mit Jesse Owens ein Schwarzer erdreistete, die Weißen zu besiegen. Sembène wurde zwar islamisch erzogen, wandte sich aber als junger Mann dem Sozialismus zu. 1944 wurde er zu den Senegal-Schützen, einer Abteilung der französischen Armee, eingezogen, und er kämpfte unter de Gaulle gegen die Nazis. Nach seiner Entlassung 1946 ging er zunächst in den Senegal, wo er in einen großen Eisenbahnstreik involviert war, aber 1948 ging er wieder zurück nach Frankreich. Indem er sich in einem feinen Anzug unter die Passagiere eines Dampfers mischte, erschlich er sich die freie Überfahrt, so wie es auch 1973 das Paar in Djibril Diop Mambétys TOUKI BOUKI in Angriff nimmt. Er arbeitete als Fabrik- und Hafenarbeiter, zunächst kurz in Paris, dann jahrelang in Marseille. Sembène wurde Mitglied der Gewerkschaft CGT und der Kommunistischen Partei Frankreichs, und er war wieder an Streiks beteiligt, die den Nachschub für den Kolonialkrieg in Indochina behindern sollten. Mitte der 50er Jahre begann er zu schreiben, wobei er vorwiegend autobiographische Erfahrungen verarbeitete. Um 1960 herum stellte sich der Erfolg als Schriftsteller ein, doch Sembenès auf Französisch verfasste Romane und Kurzgeschichten wurden fast nur von Europäern gelesen. Um auch die Massen seiner Landsleute erreichen zu können, beschloss er, auf Filmregisseur umzusatteln.


Sembène bewarb sich in verschiedenen Ländern um entsprechende Stipendien, und er wurde 1961 in Moskau angenommen. Nach einem Jahr an der staatlichen Filmhochschule WGIK und einem weiteren Jahr Praktikum in den Gorki-Studios (zu seinen Lehrern gehörten Mark Donskoi und Sergej Gerassimow, nach dem die Filmhochschule heute benannt ist) ging er 1963 mit einer 35mm-Kamera im Gepäck in den Senegal, wo er mit 40 Jahren seine ersten Filme drehte. Zunächst im Auftrag der Regierung von Mali eine kurze Doku über die Geschichte des historischen Reichs Songhai, dann den schon erwähnten BOROM SARRET, bereits mit Christian Lacoste an der Kamera. Er behandelt einen Tag im Leben eines Mannes, der mit einem Pferdekarren ein Einmann-Fuhrunternehmen in Dakar betreibt. Am Ende des Tags steht er ohne Arbeitsgerät und damit ohne Einkommensquelle da. BOROM SARRET gewann einen Ersten Preis bei einem Filmfestival in Tours, und Sembenès nächster Kurzfilm NIAYE, der von einem Inzestskandal in einer Dorfgemeinschaft handelt, erhielt einen Preis in Locarno. Dann folgte schließlich LA NOIRE DE..., der ebenfalls nicht ohne Auszeichnungen ausging - Erste Preise bei Festivals in Dakar und Karthago, und in Frankreich einen Prix Jean Vigo.


Alle Filme bis LA NOIRE DE... kamen französisch nachsynchronisiert in die Kinos (Sembène konnte mit seiner einfachen Ausrüstung damals ohnehin keinen brauchbaren Direktton aufnehmen), alle weiteren bis auf den letzten wurden dann auf Wolof (die wichtigste Sprache des Senegal und Sembènes Muttersprache) gedreht und veröffentlicht (je nach Thema des Films auch mit Einschüben von Französisch und weiteren Sprachen). Wie auch einige andere seiner Filme, beruht LA NOIRE DE... auf einer von Sembènes literarischen Arbeiten, die 1962 in der Kurzgeschichtensammlung Le Voltaïque erschienen war, und diese wiederum wurde von einem wahren Ereignis inspiriert, dem Selbstmord einer afrikanischen Hausangestellten, von dem Sembène 1958 in einer südfranzösischen Regionalzeitung las - dieselbe Zeitung, die Monsieur nach Diouanas Tod am Strand liest.

Ousmane Sembène in einer Cameo-Rolle als Lehrer in Dakar
1963 rief die französische Regierung ein Filmbüro ins Leben, das afrikanische Filmemacher technisch und finanziell unterstützen sollte, und BOROM SARRET war der erste davon geförderte Film. Das eingereichte Drehbuch für LA NOIRE DE... war dem Filmbüro jedoch nicht genehm und wurde abgelehnt. Sembène musste dennoch nicht ohne französische Hilfe auskommen. Wie schon NIAYE, ist LA NOIRE DE... eine Coproduktion von Sembènes eigener Firma Filmi Domirev und der französischen Wochenschau Les Actualités Françaises. Deren damaliger Herausgeber André Zwoboda, in den 30er Jahren ein Freund und Mitstreiter von Jean Renoir, fungierte als Produzent, und in den Einrichtungen der Wochenschau fand auch die Postproduction von LA NOIRE DE... statt.


Nach den Festivalerfolgen seiner frühen Filme war Sembène eine anerkannte Größe - 1967 saß er bereits in den Jurys bei den Festivals von Cannes und Moskau -, und er blieb bei Publikum und Kritik erfolgreich. Bis zu seinem letzten Film MOOLAADÉ von 2004, der die Genitalverstümmelung von Mädchen in Afrika anprangert, gewann er jede Menge Preise und Auszeichnungen, und er ist die Ikone des schwarzafrikanischen Films. LA NOIRE DE... ist mit BOROM SARRET als Bonusfilm in den USA bei New Yorker Films auf DVD erschienen (engl. Titel BLACK GIRL), ebenso wie etliche weitere Filme Sembènes. MOOLAADÉ gibt es auch in Deutschland und England auf DVD.