Samstag, 25. August 2012

Machte sich Kleist über Goebbels lustig?

Der zerbrochene Krug
(Der zerbrochene Krug, Deutschland 1937)

Regie: Gustav Ucicky
Darsteller: Emil Jannings, Friedrich Kayssler, Max Gülstorff, Lina Carstens, Angela Salloker, Bruno Hübner, Paul Dahlke, Elisabeth Flickenschildt u.a

Die deutsche Literatur vermag nicht mit vielen Lustspielen aufzuwarten, von denen man mit Fug und Recht behaupten darf, sie seien völlig auf ihrem eigenen Mist gewachsen. Im 17. Jahrhundert setzten Wanderbühnen und Autoren wie Andreas Gryphius auf Shakespeare-Grobianismus, während man anschliessend bis tief ins 18. Jahrhundert hinein - Molière folgend - die lustige Figur als Typus in den Vordergrund rückte. Spätestens der "Sturm und Drang" begann dann zu erkennen, dass die Tragödie dem Deutschen wohl angemessener sei als das Lustspiel. - Es bleiben, sieht man von Goethes weitgehend vergessenem "Die Mitschuldigen" einmal ab, deshalb bis ins 20. Jahrhundert hinein nur drei Lustspiele aus deutscher Feder, die es zu Ruhm über die Grenzen hinaus brachten und noch heute gespielt werden: G.E. Lessings "Minna von Barnhelm" (1767), Heinrich von Kleists "Der zerbrochene Krug" (1806) und Gerhart Hauptmanns "Der Biberpelz" (1893). Eine traurige Bilanz, wenn man an das Wiener Volkstheater denkt, das Lacher über Lacher hervorrief!

Es war abzusehen, dass sich der Film des Dritten Reiches dieser drei „genuin deutscher“ Stücke annehmen würde, wollte man doch dem Publikum nicht nur eher belanglose Komödien servieren, sondern ihm auch vorgaukeln, wie humorvoll die Seele der deutschen Dichter seit jeher war. So drehte der Vielfilmer Jürgen von Alten 1937 seine – recht unbedeutende - Version von Hauptmanns „Biberpelz“ mit Ida Wüst in der Rolle der Mutter Wolff, und 1940 erblühte Käthe Gold zum etwas langweiligen „Fräulein von Barnhelm“ unter der Regie von Hans Schweikart (man fragt sich, ob wohl auf den Originaltitel des Stücks verzichtet wurde, um nicht übermässig auf den Autor hinzuweisen, der in seinem „Nathan“ einen Juden zur vorbildlichen Figur gemacht hatte). – Mit Kleists Lustspiel tat man sich jedoch wesentlich schwerer: Einerseits wurde der Dichter, dessen Werke sich leicht ideologisch instrumentalisieren lassen, von den Nationalsozialisten regelrecht vereinnahmt. Das Käthchen von Heilbronn erhob sich augenblicklich zum nationalsozialistischen Weiblichkeitsideal, während die heute ungeniessbare „Hermannsschlacht“ mit ihrem Hohelied der Vernichtung bestens ins Kampfkonzept des Führers passte. Leni Riefenstahl zeigte sich ob einer Freilichtaufführung der „Penthesilea“ sogar derart begeistert, dass sie sich augenblicklich zu einem Film inspiriert fühlte, in dem sie selber als Amazonen-Königin ihren Geliebten zu Tode beissen und auffressen wollte (ein Projekt, das nie zustande kam). Bei so vielen Möglichkeiten, mit dem Werk des Dichters Missbrauch zu betreiben, blieb sogar dem Germanisten Joseph Goebbels nur noch der begeisterte Ausruf: „Was für ein Kerl ist doch dieser Kleist gewesen!“ – und eine Abituraufgabe im Jahre 1944 beschäftigte sich mit der Frage, ob Kleist auch Selbstmord begangen hätte, wenn er SS-Offizier gewesen wäre.


Andererseits hatte Heinrich von Kleist die Unverschämtheit besessen, die Hauptfigur des „Zerbrochenen Krugs“ mit einem Klumpfuss auszustatten. Diese Hauptfigur, Richter Adam, war zwar ein Schuft, aber, da er die Leute zum Schmunzeln brachte, ein wesentlich sympathischerer Schuft als der Propagandaminister mit Klumpfuss, der sich gelegentlich so aufführte, als hätte sich Kleist in seinem grossen Lustspiel – was zwar vom zeitlichen Ablauf her schwer nachzuvollziehen ist - über ihn lustig machen wollen. - Entsprechend pikiert reagierte Goebbels, als ausgerechnet Emil Jannings mit dem Wunsch an ihn herantrat, eine Filmversion des „Zerbrochenen Krugs“ mit sich selber in der Hauptrolle verwirklichen zu dürfen. Denn Jannings war nicht nur eine Diva, er war auch der einstige grosse Star des internationalen Films, der den ersten Oscar als Schauspieler gewonnen hatte und nach seiner Rückkehr in Deutschland wegen seiner Erfolge weitestgehend künstlerische Freiheiten genoss. Und es war schwer, dem Mann, der sich erst noch die Nähe nationalsozialistischer Machtinhaber gesichert hatte (er sollte 1941 die Verantwortung für den Propagandastreifen „Ohm Krüger“ übernehmen), die Bitte abzuschlagen, einen seiner grossen Bühnenerfolge auch dem Kinopublikum präsentieren zu dürfen, damit es sich über den Klumpfuss totlachen konnte. Der Propagandaminister schrieb denn auch nur in sein Tagebuch: „Jannings will ‚Zerbrochenen Krug‘ verfilmen. Mit Kleistscher Sprache. Ein sehr gewagtes Experiment.“ 

Sollte Goebbels, wie Gerüchte besagen, ernsthaft versucht haben, das Projekt des Stars, der ihn hinter seinem Rücken „Hinkefuss“ nannte, zu sabotieren, so befand er sich auf verlorenem Posten. Denn Jannings hatte bereits alles um sich versammelt, was Rang und Namen hatte – und zum Teil in der NS-Zeit noch von sich reden machen würde. Thea von Harbou, die ehemalige Lebensgefährtin von Fritz Lang, war als Drehbuchautorin dafür verantwortlich, dass die gefürchtete Kleist’sche Sprache auf ein für den Kinogänger erträgliches Mass gekürzt wurde, ohne ihren herrlichen Witz zu verlieren; der bereits in grossen expressionistischen Filmen ("Nosferatu", 1922) eingesetzte Kameramann Fritz Arno Wagner sollte Bilder erschaffen, die den Zuschauer vergessen liessen, dass er im Grunde genommen „nur“ einem Theaterstück beiwohnte – und als Regisseur wurde Gustav Ucicky, einer der führenden und gleichzeitig fragwürdigen Könner der Zeit engagiert, der mit gelegentlichen Literaturadaptionen (etwa auch „Der Postmeister“, 1940) ganz gern von seinen propagandistischen Machwerken ablenkte. – So blieb dem Propagandaminister nur noch die Hoffnung, das Publikum werde die boshafte Verfilmung eines Klassikers, der schon vor rund 130 Jahren sein kleines körperliches Gebrechen verspottet hatte, nicht goutieren, und er vertraute sich denn nach der Premiere auch hoffnungsvoll seinem Tagebuch an: „… der Film wird trotz anfänglicher grosser Bereitschaft des Publikums wie zu erwarten ausgesprochen flau aufgenommen. Er ist photographiertes Theater, aber kein Filmkunstwerk.“ Tatsächlich erwies sich „Der zerbrochene Krug“ als grosses Verlustgeschäft für die Tobis; man darf im Nachhinein jedoch an der Urteilsfähigkeit von „Hinkefuss“, was den Wert des Jannings-Films anbelangt, zweifeln.

Worum geht’s? – Just an dem Tag, an dem unerwartet der Gerichtsrat Walter aus Utrecht auf seiner Kontrollreise in einem kleinen niederländischen Dorf eintrifft, sieht sich der ohnehin lädierte Richter Adam des Orts mit einer Klage konfrontiert, die ihn selber betrifft. Gegenstand des Prozesses ist oberflächlich betrachtet der wertvolle Krug der Witwe Marthe Rull, der zu Bruche ging, als jemand in der Nacht das Zimmer ihrer Tochter Eve fluchtartig verliess. Marthe Rull verdächtigt als Täter den Bauernsohn Ruprecht, der Eve eigentlich heiraten wollte. Ruprecht aber streitet alles ab und bringt den Flickschuster Leberecht, der dem Mädchen schon längere Zeit schöne Augen machte, ins Spiel. Und so entwickelt sich die Verhandlung, der der Richter kahlköpfig vorstehen muss (eine Katze hat angeblich in seine Perücke gejungt)  zunehmend zum Prozess, bei dem es um die möglicherweise verlorene Ehre der schönen Eve geht, von der sich Ruprecht bereits abwenden will. Das Mädchen aber schweigt. – Und Adam, dessen Ausreden ihn zunehmend als den Mann entpuppen, der sich mit falschen Versprechen gierig Zugang zu Eves Schlafzimmer verschaffen wollte, ist  zuerst froh, nicht erkannt worden zu sein, sieht sich aber am Ende eines turbulenten Prozesses sogar mit einer Zeugin konfrontiert, die den Teufel höchstpersönlich kahlköpfig und mit Klumpfuss das Haus der Marthe Rull flüchtend verlassen sah…


„Der zerbrochene Krug“ findet in der Literatur über den Film der NS-Zeit eher selten Erwähnung. Geht man ausnahmsweise doch auf ihn ein, dann liegt der Schwerpunkt (angesichts der Entwicklung einiger der Teilnehmenden) auf der Frage, wie sehr man die angeblich werkgetreue (!) Umsetzung der Vorlage politisiert habe, ob sie regelrecht braun eingefärbt worden sei. – Dazu ist zu sagen, dass der Film in erster Linie ein Emil Jannings-Vehikel war (Jannings wird im Vorspann sogar nach dem Regisseur als der Mann erwähnt, der für die künstlerische Oberleitung zuständig zeichnete) und weder auf Werktreue noch auf Anpassung an die Ideologie der Zeit abzielte. Er wollte, was zu dieser Zeit noch möglich war (ich erinnere an „Amphitryon – Aus den Wolken kommt das Glück“, 1935), in erster Linie unterhalten und seinem Star jede Möglichkeit zur Selbstdarstellung bieten. Bereits der Beginn lässt erkennen, wie wenig Kleists ohnehin leicht in Bilder umsetzbare Sprache in den Mittelpunkt gestellt werden sollte: Der Zuschauer sieht rund sieben Minuten lang dem Richter zu, der von den Mägden mit einem Klaps auf den Hintern geweckt wurde und jetzt (sich gelegentlich einen Schnaps genehmigend) wortlos die Wunden versorgt, die er einer Türklinke verdankt, mit der Ruprecht im Dunklen den Eindringling verjagt hatte. Erst dann trifft der Schreiber Licht ein und muss sich anhören, Adam sei soeben aus dem Bett gefallen („Der erste Adamsfall, den Ihr aus einem Bett heraus getan“). Kleists gelegentlich nicht einmal zu Ende geführte Blankverse werden zum Bestandteil einer herrlichen Burleske, deren Tempo und Ideenreichtum die Zeit im Fluge vergehen lassen. Jannings' aus purer Bewegung bestehende „tour de force“ enthebt die Vorlage jeder möglichen moralisierenden Botschaft, die sich missbrauchen liesse; sogar das „Üb immer Treu und Redlichkeit!“-Motiv wird musikalisch verulkt. – Als die Kläger eintreffen, sitzt der Richter gerade auf dem Klo, und bevor er die unangenehme Sitzung („Die werden mich doch nicht bei mir verklagen?“) beginnt, schnäuzt er sich die Nase mit einem riesigen Taschentuch, um anschliessend die Eröffnungsglocke so laut zu läuten, dass sich der neben ihm sitzende Gerichtsrat Walter die Ohren zuhalten muss. Kleists Stück muss regelrecht den Beweis erbringen, dass es filmtauglich ist und zu unterhalten vermag.  - Und tatsächlich: Man kann sich während der Sichtung plötzlich vorstellen, wie unpassend die Aufteilung der "analytischen" Komödie in drei Akte gewirkt haben muss, die Goethe für die Uraufführung veranlasste. "Der zerbrochene Krug" braucht Schwung, strebt dem Ziel zu, wie dies der Jannings-Film vorführt.

Regisseur und „künstlerischer Oberleiter“ waren sich auch bewusst, dass Richter Adam erst zur Geltung zu kommen vermochte, wenn man dem Rest des Ensembles Gelegenheit zur Entfaltung bot. Jannings setzte denn auf zuverlässige Schauspieler, von denen jeder „seine Nummer abziehen“ durfte: Herrlich, wie Lina Carstens als Witwe Rull – den ganzen Text der Vorlage übernehmend – dem Gericht ausführlich erklärt, was auf den verschwundenen Scherben des Krugs zu sehen war! Paul Dahlke spielt den Ruprecht als Bauerntölpel, von dem man sich (auch hier nahe an Kleists Stück) fragt, ob er Eve überhaupt verdiene. Und Licht, der eigentlich von Anfang an ahnt, worauf die Sache hinausläuft und der an der Aufklärung interessiert ist, weil er zu Adams Nachfolger werden will, wird von Max Gülstorff als lustiger kleiner Kobold gestaltet, obwohl er eigentlich die negativste Figur der Geschichte ist. Gegen den Schluss hin darf Elisabeth Flickenschildt in einer ihrer ersten Filmrollen die Perücke in die Höhe halten, die Adam auf seiner Flucht verlor - und die ihn - noch immer auf den Teufel als Täter setzend - zur letzten verzweifelten Ausflucht veranlasst: „Wir wissen hierzuland nur unvollkommen, was in der Hölle Mod ist, Frau Brigitte!“ – Man wusste aber vor allem um die Bedeutung der Photographie, die virtuos des Propagandaministers Hoffnung, man habe es nur mit abgefilmtem Theater zu tun, widerlegen sollte. Tatsächlich vergisst der Zuschauer über weite Strecken, dass sich der grösste Teil der Geschichte  in einem einzigen Raum abspielt. Denn vor ihm entstehen Bilder, die sich in ihren stets wechselnden Figurenkonstellationen nicht die niederländische Malerei eines Vermeer, sondern die seines etwas in Vergessenheit geratenen Zeitgenossen Jan Steen (um 1626 - 1679), dessen Genrebilder wesentlich mehr an Humor und Grobianismus interessiert waren, zum Vorbild nehmen. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, weniger einem Theaterstück als einer 80-minütigen an Malerei erinnernden Bilderflut beizuwohnen. Und die Darsteller, die sich am Ende in einem Kirchenspiel mit der Gerechtigkeit im Hintergrund vor dem Publikum verbeugen, scheinen neckisch daran zu erinnern, dass „Der zerbrochene Krug“ eigentlich doch ein Theaterstück ist, was der Film auf wunderbare Weise vergessen liess. – Man kommt um die Frage nicht herum, ob Goebbels, beleidigt, dass Kleist sich immer noch über ihn lustig zu machen vermochte, dafür sorgte, dass Jannings' Wunschprojekt nicht zum erwarteten Erfolg wurde.


„Der zerbrochene Krug“ wurde 1945 von den Alliierten vorübergehend verboten. Heute sollte das Jannings-Spektakel weniger als Produkt der Nazizeit denn als eine der wenigen Verfilmungen eines Bühnenstücks betrachtet werden, die regelrecht Lust auf einen Dichter machen, dessen Kettensätze einen nicht mit ihm vertrauten Gymnasiasten sonst rasch das Fürchten lehren könnten. Ich war als Kind vom Film derart begeistert, dass ich mich schon bald an Kleists grosse Erzählungen und später auch an die Dramen machte. Der Mann, der Goethe seine Penthesilea „auf den Knien seines Herzens“ darbrachte, wurde für längere Zeit mein Lieblingsdichter, was ich dem herrlichen Jannings-Film verdanke. Der Gedanke, dass sich Goebbels regelrecht über ihn ärgerte, lässt ihn mir noch wertvoller erscheinen.
   

Samstag, 18. August 2012

Ein Senator sieht rot: durch Western-Genre und zeitgeschichtliche Paranoia in sechs Kostümen

JOHNNY GUITAR
USA 1954
Regie: Nicholas Ray
Darsteller: Joan Crawford (Vienna), Mercedes McCambridge (Emma), Sterling Hayden (Johnny Guitar), Scott Brady (Dancing Kid), Ward Bond (John McIvers)


Emma steht total auf den Dancing Kid. Der wiederum hat nur Augen für Vienna, die sich nur auf Johnny einlassen möchte. Johnny fährt ebenso auf Vienna ab, aber die beiden brauchen noch ein bisschen Zeit, um zueinander zu finden. Das Problem ist, dass Vienna dermaßen sexy ist, dass alle am liebsten mit ihr schlafen möchten. So zum Beispiel auch Turkey, der jüngste Kumpel des Dancing Kids. Möglicherweise könnte auch Emma eine gewisse Anziehung zu Vienna verspüren. Da jedoch niemand positive Gefühle oder geschlechtliche Neigungen ihr gegenüber hat, entwickelt sie sich zu einer verbitterten Intrigantin, die mithilfe ihrer düsteren und humorlosen Kumpels dafür sorgen möchte, dass gar niemand sich mit niemanden vergnügen kann.

Was bestenfalls wie eine schlechte Sitcom, schlimmstenfalls wie das Drehbuch zu einer albernen Softerotik-Komödie klingt, ist eigentlich einer der großartigsten (Anti-)Westerns aller Zeiten, ein kühnes farbdramaturgisches Filmexperiment, eine radikale Infragestellung des Western-Genres im allgemeinen und traditioneller Gender-Rollen im speziellen, und eine mächtige Anklage gegen die antikommunistische Hexenjagd McCarthy‘ischer Art. 

„Johnny Guitar“ wurde von der zeitgenössischen US-amerikanischen Kritik regelrecht verrissen: als inkonsistenter Film ohne jegliche spannende Handlung und mit grässlichen Darstellern. Besonders Joan Crawford bekam dabei ihr Fett weg. Französische Filmkritiker hingegen konnten sich vor lauter überschäumender Begeisterung für „Johnny Guitar“ kaum halten. Für die späteren nouvelle vague-Regisseure François Truffaut und Jean-Luc Godard war Nicholas Rays Western ein ikonischer Kultfilm, den man unbedingt in den eigenen Filmen augenzwinkernd zitieren musste. Während Truffaut von einem filmischen „Delirium“ sprach, von einem „Die Schöne und das Biest des Westerns“, erklärte Godard Nicholas Ray geradezu zum Filmgott. Amerikanischen Filmkritiker (und auch Regisseure) zogen, wenngleich ohne große Superlative, später nach und würdigten „Johnny Guitar“ als eines der außergewöhnlichsten Werke der Filmgeschichte. Truffauts „Delirium“-Metapher sowie ähnliche Bezeichnungen werden immer wieder gerne verwendet: „weird“, „bizzare“, „madhouse“, ...

Auch wenn François und Jean-Luc nicht immer überall recht hatten, so demonstriert Rays Werk, wie Stil und Subtext einen trivialen Genre-Film mit einer banalen Handlung zu großer Kunst erheben können. Das Drehbuch ist in der Tat scheinbar banal: Vienna (Joan Crawford) hat sich am Rande einer Kleinstadt mit ihren Ersparnissen ein Saloon aufgebaut. Sie wartet darauf, dass eine geplante Eisenbahnstrecke vor ihrer Tür gebaut wird und mehr Kunden bringt. Mit ihrer unabhängigen Art ist die Wirtin ein Dorn im Auge der Stadtnotablen. Besonders Emma Small (Mercedes McCambridge) hasst die starke und selbstbewusste Vienna und will sie aus der Stadt drängen. Als eine Postkutsche überfallen wird, beschuldigt Emma die Gang um den Dancing Kid (Scott Brady), die regelmäßig bei Vienna einkehrt. Sie überzeugt Marschall McIvers (Ward Bond), den Dancing Kid und seine Bande zu verbannen und den Saloon zu schließen. Als Vienna am nächsten morgen in der Stadt ihr Sparkonto schließen möchte, wird die Bank vom Dancing Kid und co. überfallen: sie wollen sich mit einem wirklichen Verbrechen für die unrechtmäßig ausgesprochene Verbannung rächen. Emma sieht nun die Gelegenheit, um mit Vienna endgültig abzurechnen und versammelt einen Lynch-Mob zu ihrem Saloon...

Und der von Sterling Hayden gespielte Titelgeber selbst? Die Johnny Guitar-Figur ist dramaturgisch (wenngleich nicht symbolisch) relativ unbedeutend, genauso wie alle anderen männlichen Figuren. Nicht umsonst ging der Kultfilm in die Geschichte ein als „revisionistischer“ Frauen-Western, der mit großer Freude traditionelle Gender-Rollen brachial ins Umgekehrte drehte. Vienna ist eine „paternalistische“ Matriarchin: eine selbstbewusste Kleinunternehmerin, die ihre größtenteils männliche Umgebung vollends im Griff hat - angefangen bei ihren Angestellten, von denen einer zu Beginn beichtet: „Never seen a woman who was more of a man. She thinks like one, acts like one, and sometimes makes me feel like I‘m not.“ Manch zeitgenössischer Filmkritiker warf Joan Crawford völlig zu unrecht vor, asexuiert zu spielen. Der gute Mann ging wohl eher von seinen eigenen Problemen aus, denn Vienna ist Sex-Appeal in reiner Form. Roger Ebert traf den Punkt schon eher, wenn er andeutete, dass die Vienna-Figur im ersten Akt, mit ihren engen dunklen Hosen und Lederstiefeln und der umgegurteten Pistole wie eine Domina aus einem zeitgenössischen Fetisch-Pornoheft aussah, die sich in einen Western verirrt habe. Das erklärt auch, warum mindestens drei männliche Film-Figuren Vienna begehren, ganz besonders, wenn sie im wörtlichen Sinne „die Hosen anhat“. Gerade wenn sie „Männer“-Kleidung trägt, ist ihr Sex-Appeal völlig ungezügelt. Vienna ist sich sehr wohl der Gender-Problematik bewusst, wenn sie Johnny aufgebracht mitteilt: „A man can lie, steal, and even kill. But as long as he hangs on to his pride, he‘s still a man. All a woman has to do is slip once. And she‘s a tramp. Must be a great comfort to you to be a man.“

Emma ist hingegen in vielerlei Hinsicht das Gegenteil: eine verbitterte und verklemmte „alte“ Jungfer, die keiner begehren will. Sie ist ohne jeglichen Sex-Appeal: kreischt ununterbrochen hysterisch, geifert Verachtung und Hass. Außerdem versagt ihr Ray das Tragen von sexy Hosen: nur im ersten Akt darf sie sich ein wenig farbig gekleidet zeigen. Während des restlichen Films versprüht sie ihr Gift in einem Kleid, dessen schwarze Farbe und weiter Schnitt alle Körperformen verhüllt.

Und ganz offensichtlich ist Emma zutiefst sadistisch veranlagt - sowohl metaphorisch wie auch in einem ganz wörtlichen, sexuellen Sinne. Erregt ist sie im Zusammenhang mit graphischen Gewaltandrohungen und tatsächlich ausgeübter physischer Gewalt, sei es gegen den Dancing Kid, gegen seine Kumpanen oder gegen Vienna. Zum Flirten ist sie  hingegen gänzlich unfähig. In einem der zahlreichen unglaublichen Momente des Films beweist Johnny Guitar dem Dancing Kid, dass er tatsächlich spielen kann, indem er ein Lied anstimmt. Der Dancing Kid zeigt dem „Guitar Man“, dass er wirklich tanzen kann, indem er sich kurzerhand Emma schnappt und mit ihr einige Runden durch Viennas Saloon dreht. Emma ist dermaßen fassungslos, dass sie darauf nicht reagieren kann und nach dem Tänzchen blickt sie, als hätte der Dancing Kid sie vor der ganzen Versammlung vergewaltigt, mindestens aber unsittlich angefasst. Sie erholt sich aber rasch und keift anschließend Vienna und Johnny Guitar umso aggressiver an.

Worin sie Vienna durchaus gleicht ist, hingegen ihre autoritäre Dominanz gegenüber der rein männlichen Umgebung: es ist ihr extremistischer Aktivismus, der sie zur unumstrittenen Chefin des Lynch-Mobs macht, genauso wie Vienna sich mit ihrem resoluten Auftreten als geistige Führerin der sozialen Außenseiter behauptet. Manch Filmkritiker sieht auch eine noch engere Verbindung zwischen Emma und Vienna und interpretieren die Figur Mercedes McCambridges als „closet lesbian“. Eine durchaus diskutable These, die zumindest durch die obsessive Fixierung Emmas auf Vienna (und ihre Zerstörung) eine gewisse Grundlage hat.

Viel eindeutiger ist jedoch was anderes. Emma ist eigentlich ein Senator aus Wisconsin. Emma Small ist Joseph McCarthy! Denn mehr als eine Gender-Groteske ist „Johnny Guitar“ auch ein politisches Manifest. Diese Beschäftigung mit den antikommunistischen Hexenjagden der späten 1940er und frühen 1950er Jahre ist aufgrund ihrer Offensichtlichkeit schon gar nicht mehr als Subtext zu bezeichnen, sondern bildet den eigentlichen Kern des Films. Noch einmal zur Story: eine Gruppe „respektabler“ Bürger, die sich auf Seite des Gesetzes wähnt, tritt eine geradezu irrationale und rücksichtslose Hetzjagd gegen soziale Außenseiter los, denen man im rechtsstaatlichen Sinne nichts vorzuwerfen hat.

Das Problem ist dabei nicht nur, dass die Beschuldigungen irrational, absurd und durchweg paranoid sind: ob der Dancing Kid und seine Gang-Kollegen tatsächlich zu Beginn des Films die Postkutsche ausgeraubt haben, bleibt unklar und ist letztlich irrelevant. Vielmehr ist das Urteil schon à priori festgelegt worden: Die Unschuldsvermutung wird aufgehoben und Indizien kann man mit viel Phantasie in „Beweise“ uminterpretieren. So hat der offensichtlich noch unter Schock stehende Fuhrmann der ausgeraubten Kutsche aufgrund des Sonnenstands die Räuber nicht genau sehen können. Emma und McIvers brüllen ihn so lange an, bis er „zugibt“, dass es vier Männer waren: es „musste“ sich also um den Dancing Kid und seine drei Kollegen handeln.

Vienna hingegen macht sich nur durch die Tatsache verdächtig, dass die Dancing-Kid-Bande jeden Freitag Abend in ihr Lokal einkehrt. Das ist der Grund, warum die unentschlossenen „respektablen“ Männer Emma folgen. Johnny Guitar ist hingegen per se verdächtig, weil er ein unbekannter Fremder ist. Dass er keine Waffe trägt, macht ihn noch verdächtiger (vielleicht habe er die Kutsche ja überfallen und dann die Waffen beseitigt). Seine Begründung für die Waffenlosigkeit - „Because I‘m not the fastest draw West of the Pecos“ - bringt Vienna und Dancing Kid & Co. zum lachen. Das wiederum bringt Emma auf die Palme: die Gesetzeslosen würden McIvers auslachen.

In nicht einmal einer Viertelstunde entlarven Nicholas Ray und Drehbuchautor Ben Maddow die Mechanismen der Kommunistenjagd. Das „House Committee on Un-American Activities“ (HCUA), ursprünglich zur Untersuchung faschistischer Gruppierungen gegründet, wurde ab Ende des Weltkriegs von rechten Republikanern zum Hauptorgan der Kommunistenjagd umfunktioniert. Sie diente vor allem der radikalen Abrechnung mit der New-Deal-Ära. Hollywood war dabei eine besonders öffentlichkeitswirksame Zielscheibe. Der HCUA arbeitete mit wilden Beschuldigungen, Anprangerungen und Beweisumkehrungen. Geladene Zeugen, die sich als „unfreundlich“ erwiesen und sich auf die Verfassung beriefen, wurden wegen Missachtung („Auslachen“) des Abgeordnetenhauses zu Gefängnisstrafen verurteilt, darunter die berühmten „Hollywood Ten“. Und wenn das Komitee selbst keine Strafen aussprach: „respektable“ Bürgerversammlungen (die Studios und „freundliche“ Zeugen) konnten dank schwarzer Listen faktische Berufsverbote aussprechen oder die Angeklagten noch etwas mehr durch den Dreck ziehen.
Das Komitee für unamerikanische Umtriebe (als Lynch-Mob getarnt)
McIvers verbannt den Dancing Kid und seine Bande administrativ und schließt Viennas Saloon. Für Emma ist dies jedoch nicht genug. Der Lynch-Mob versammelt sich am nächsten Abend wieder bei Vienna, die in der Zwischenzeit den Jüngsten der Dancing-Kid-Bande, Turkey, bei sich versteckt hält. Vienna weigert sich, über den Aufenthaltsort der anderen auszusagen. Als Turkey entdeckt wird, zwingen ihn Emma und McIvers dazu, gegen Vienna auszusagen. Von der Aussicht gelockt, nicht an den Galgen zu kommen, schwärzt er sie als Anstifterin an. Emma brennt das Saloon nieder und der Mob macht sich auf, um Turkey und Vienna unter der nächsten Brücke zu erhängen.
Dieser Höhepunkt des zweiten Akts macht dem Ruf des Films als „halluzinatorisches“, „bizarres“ Werk alle Ehre (siehe einen Teil dieser atemberaubend inszenierten Szene hier), thematisiert aber auch eines der meist diskutierten Komplexe der antikommunistischen Hexenjagd Hollywoods: das Denunzieren von Kollegen („naming names“). Da der HCUA die Namen aktueller oder ehemaliger Mitglieder der Kommunistischen Partei so oder so schon kannte, hatten die Denunziationen oberflächlich keinen Zweck, schafften es aber erfolgreich, die Solidarität progressiver und linker Kreise zu untergraben. Die Bandbreite an persönlichen Motivationen für die Aussagen vor dem HCUA ist groß: zwischen fanatischen, begeisterten Kommunistenjägern auf der einen und verzweifelten „blacklistees“, die durch Denunziation hofften, wieder Arbeit in Hollywood zu bekommen, auf der anderen Seite. Turkey gehört zweifelsohne zu den letzteren: schließlich ist er auf fast schwärmerische Weise in Vienna verliebt.

Auch Sterling Hayden gehört tendenziell in die letztere Kategorie. Hayden war kurzfristig Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Beigetreten war er aus Bewunderung für die jugoslawischen Partisanen, an deren Seite er als US-Soldat im Weltkrieg gekämpft hatte. Als nach „The Asphalt Jungle“ Angebote ausblieben, vermutete er, dass er auf eine schwarze Liste geraten war. Er bot sich daraufhin als „freundlicher“ Zeuge an und „nannte Namen“. Diese Tat bereute Hayden fortan. Sie trieb ihn in lebenslangen Selbsthass (und wahrscheinlich auch in den Alkoholismus). Auch sein Filmcharakter nennt einen Namen: seinen eigenen (Johnny Logan). Dass Namen wie „Johnny Guitar“ oder „Dancing Kid“ eigentlich völlig bescheuert sind, darin sind sich bis auf die zwei Betroffenen alle einig. Die symbolische Bedeutung liegt jedoch auf der Hand.

Der eigentliche (!) Drehbuchautor von „Johnny Guitar“, Ben Maddow, blieb hingegen jahrelang auf der schwarzen Liste. Der offizielle Szenarist Philip Yordan hatte lediglich seinen Namen zu den Credits beigetragen. Als engagierter Linker hätte eigentlich auch Nicholas Ray „geschwarzlistet“ werden müssen, zumal er schon - freilich etwas untergründiger und subtiler - in früheren Filmen die Kommunistenjagd thematisiert hatte. Die persönliche Protektion des RKO-Chefs Howard Hughes (ironischerweise ein paranoider Anti-Kommunist) bewahrte ihn wohl vor der Knochenmühle.

Außerordentlich merkwürdig war jedoch die Beteiligung von Ward Bond, einem Mitglied der „Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideals“. Dieser 1944 gegründete Verband rechter konservativer Hollywood-Leute unterstützte voll und ganz die Hexenjagd des HCUA, und stellte gerne „freundliche“ Zeugen zur Verfügung, um Hollywood vor der kommunistischen Infiltration zu retten. Selbst sein bester Kumpel John Wayne hielt Bond für einen radikalen Fanatiker. Dass er ausgerechnet den Marschall McIvers spielt, der dem Lynch-Mob einen Schein von Legitimität verleiht, lässt einen ziemlich sprachlos. Trotz des „halluzinatorischen“ Charakters von „Johnny Guitar“ war die Realität hier fast noch unglaublicher als die Fiktion selbst - wenngleich nicht in solch exquisiten Bildern festgehalten.

Gerade die Farbdramaturgie ist ein dermaßen zentrales Element des Films, dass sie ihn sogar präzise gliedert. Sechs Kostüme in ganz bestimmten Farbgebungen teilen „Johnny Guitar“ in genau sechs Abschnitte, die paarweise jeweils einen Akt darstellen. Hier die Einteilung, nach den sechs (sichtbaren) Facetten der Vienna-Figur benannt.

I. Akt
Autorität (Schwarze Lederstiefeln, dunkelbraune Hose und schwarzes Hemd mit türkis-farbener Hals-Schleife): Einführung der Charaktere und ihrer Konflikte. Vienna als matriarchalische, dominante Saloon-Besitzerin.
Begierde (Purpurnes Kleid mit dunkelrotem Umhang): Neben-Story um die vergangene und künftige Liebe zwischen Vienna und Johnny. Vienna als liebende Frau.
II. Akt
Sehnsucht (Graues Alltags-Kleid mit roter Hals-Schleife): Vienna sehnt sich nach einem bürgerlichen Leben mit Johnny und fährt zur Bank, um ihr Konto aufzulösen (wo der Überfall des Dancing Kid stattfindet). Vienna als respektable Bürgerin.
Unschuld (Weißes, teils durchsichtiges Ball-Kleid mit dünner schwarzer Hals-Schleife): Vienna hofft darauf, ihren Saloon zumindest als Wohnung beizubehalten und wird von Emmas Lynch-Mob (ganz in schwarz gekleidet) überfallen. Vienna als unschuldige Kulturbürgerin und Mutter Pieta.
III. Akt
Flucht (Knallrotes Hemd mit blauer Hose): Vienna ist dem Lynch-Mob entkommen. Ihr Saloon und ihr weißes Kleid sind verbrannt und sie flieht zusammen mit Johnny zum Versteck des Dancing Kid. Vienna als Flüchtling.
Rache (Knallgelbes Hemd mit roter Schleife und schwarzer Hose): Vienna bereitet sich mit Johnny und dem Dancing Kid auf den Showdown gegen Emma und ihrem Mob vor. Vienna als zorniger Rache-Engel.
Das Setdesign von „Johnny Guitar“ meistert hingegen eine Gratwanderung zwischen kargem Minimalismus, barocker Überfrachtung und überdrehter Stilisierung. Spuren von„Realismus“ findet man nicht einmal mit der Lupe. Teilweise wirkt das Set geradezu schäbig und sieht nicht wie das Innere eines Saloons, einer Bank oder einer Berghütte aus, sondern eben wie eine billige Kulisse. Was teilweise noch heute bemängelt wird, verstärkt jedoch gerade auch die surreale Stimmung des Films. Viennas Saloon ähnelt auch schon vor der „offiziellen“ Schließung mehr einer Berghöhle, in der ein Eisenbahn- und Kutschenmodell-Fetischist seinen Hobbyraum eingerichtet hat. Natürlich versinnbildlicht dies Viennas Hoffnung auf jene Verkehrsmittel, die mehr Kunden an die permanent leeren Roulettentische bringen soll. Es ist jedoch nicht logisch erklärbar, warum der Saloon so aussieht, als wäre er an einem Stück Fels angebaut worden, so dass ein Teil der Wand keine Wand ist, sondern braune Gestein-Struktur. Wenn Vienna davor in ihrem weißen Ball-Kleid am Klavier sitzt, sieht es auf jeden Fall umso surrealer aus, während Johnny mit seiner Wildlederjacke in dieser Umgebung fast verschwindet.


Diese magische „halluzinatorische“ Wirkung könnte der Film selbstverständlich nicht entwickeln, wenn irgendeine der Figuren auch nur annähernd wie ein normaler Mensch spräche oder sich verhielte. Das völlig überdrehte Overacting, besonders der beiden Hauptdarstellerinnen, aber auch die stilisierten und geradezu poetischen Dialoge würden in einem anderen Kontext lächerlich wirken. Für Leute, die den Film nicht mögen, wirken diese Elemente tatsächlich lächerlich.

„Johnny Guitar“ ist also mehr als nur die Summe seiner Teile. Aber wie magisch sind schon die Teile an sich! Wenn Vienna ohne mit der Wimper zu zucken Rühreier zubereitet, während Dancing Kid und Johnny nur ganz kurz davor sind, sich gegenseitig umzubringen. Wenn Johnny und Vienna sich über die Gefährlichkeit Emmas und ihrer Kumpanen vor einem Sonnenuntergang unterhalten, der wie gemalt aussieht (weil er es vielleicht auch ist!). Wenn man merkt, dass der Lynchmob auf der Suche nach dem Dancing Kid sich beim Reiten die schwarze Kleidung mit braunem Schmutz eingesaut hat. Vienna am Piano. Und dieser Shootdown zwischen Vienna und Emma...

Hinweis:
Mit den bescheuerten Verleihtitel-Zusätzen à la „Wenn Frauen hassen“ oder „Gehasst, gejagt, gefürchtet“ ist „Johnny Guitar“ auch in Deutschland relativ kostengünstig zu erwerben. Üblicherweise noch kostengünstiger ist die UK-DVD, auf deren Sichtung sich die Besprechung stützt.

Dienstag, 7. August 2012

Norman McLaren: Minimalismus mit Linien und Kugeln

Einige Kurzfilme von Norman McLaren

Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln

LINES HORIZONTAL
Kanada 1962
Regie: Norman McLaren und Evelyn Lambart

SPHERES
Kanada 1946/1969
Regie: Norman McLaren und René Jodoin

1960 schufen McLaren und Evelyn Lambart LINES VERTICAL (den Kollege gabelingeber ebenso wie BLINKITY BLANK in seinem inzwischen eingestellten Blog Trickfilmzeit vorgestellt hat), indem sie vertikale Linien in schwarzen Film ritzten (um die Linien möglichst gerade hinzubekommen, wurde eigens ein spezielles Lineal für technische Zeichner aus rostfreiem Stahl aus England geordert). Eine zunächst einzelne weiße Linie beginnt, sich quer zu bewegen, und spaltet sich dabei in vielfältiger Weise auf. Nachdem der Film fertig war, fragten sich Lambart und McLaren, wie er wohl aussehen würde, wenn sich stattdessen horizontale Linien auf und ab bewegen würden. Ein erster Test mit quergelegtem Kopf verlief vielversprechend, und so wurde die Idee in die Tat umgesetzt. Das Ergebnis ist LINES HORIZONTAL:



Es handelt sich tatsächlich um denselben Film wie LINES VERTICAL, abgesehen davon, dass das Bild um 90° gedreht (und danach natürlich wieder in das richtige Bildformat gebracht) wurde, dass aus weißen nun dunkle Linien und auch die Farben des Hintergrunds geändert wurden, und dass der ursprüngliche Soundtrack von Maurice Blackburn durch einen neuen von Pete Seeger ersetzt wurde.

Seeger, damals schon eine Folk-Legende, spielte alle Instrumente selbst. Dazu richtete er sich in seiner eigenen Scheune ein improvisiertes Aufnahmestudio samt Filmprojektor und Leinwand ein. Ähnlich wie Ravi Shankar und Chatur Lal fünf Jahre zuvor, sah er sich den Film dutzende Male an, aber eine komplizierte Schemazeichnung gab es diesmal nicht, weil Seeger mehr nach Gefühl arbeitete. Er zerlegte schließlich den Film in vier Teile, die er jeweils in einer Endlosschleife ansah und dazu nacheinander die einzelnen Instrumente einspielte. Beispielsweise begann er beim ersten Teil mit einer Flöte, ließ sich dann diese Aufnahme von einem Tonband auf seine Kopfhörer übertragen und spielte eine Gitarrenbegleitung dazu, und so weiter. Am Ende hatte er neun separate Tonspuren, die dann am NFB zusammengemischt wurden. In seinen technischen Anmerkungen zur Enststehung zog er folgendes bescheidene Fazit: "If my music is good, credit should be shared three ways: between the visual inspiration of the film, the technical staff and the instrumentalist."

1965 setzten McLaren und Lambart noch einen drauf. Sie überlagerten Schwarzweiß-Kopien von LINES VERTICAL und LINES HORIZONTAL derart, dass sich jetzt nur noch die Schnittpunkte (genauer gesagt die kleinen, annähernd quadratischen Schnittflächen) der Linien bewegen. In dem Maß, wie sich in den LINES-Filmen die Linien aufspalten, entstehen in MOSAIC ganze Schwärme von kleinen Quadraten, die sich vorwiegend diagonal durch das Bild bewegen. Zur Auflockerung setzt McLaren selbst die Bewegung in Gang, und am Ende fängt er die Quadrate wieder ein. Einen neuen Soundtrack gab es natürlich auch wieder.



1946 animierten McLaren und René Jodoin die "Kugeln" aus SPHERES (bei denen es sich in Wirklichkeit um ausgestanzte Blechscheiben handelte), aber beide fanden das Ergebnis langweilig, und so wurde der Film unveröffentlicht eingemottet. Doch in den 60er Jahren, als sich der Minimalismus einen Platz in der Musik und anderen Künsten erobert hatte, holte ihn McLaren wieder hervor und fand ihn überhaupt nicht mehr langweilig. Mit einem Hintergrund und Musik versehen, wurde SPHERES schließlich 1969 veröffentlicht. Die Stücke aus J.S. Bachs "Wohltemperiertem Klavier" spielte Kanadas damaliger Star-Pianist Glenn Gould.

Die Animation des Hintergrunds ist technisch interessanter als die der Kugeln. McLaren verwendete Pastellzeichnungen, die er mit Hilfe von Techniken, die er Mix of Chains und Travelling Zoom nannte, und die er selbst erfunden hatte, ineinander überführte. Beim Mix of Chains wird eine Zeichnung als Einzelbild aufgenommen, dann in einigen Details verändert, wieder aufgenommen, wieder etwas verändert, und so weiter. Dann werden die Bilder in einem optischen Printer gemischt. Zunächst stellt Bild A 100%. Dann wird der Anteil von A linear gesenkt und im selben Ausmaß der von Bild B gesteigert, bis nach beispielsweise 50 Frames das Bild zu 100% aus B besteht. In diesem Augenblick wird der Anteil von B wieder gesenkt und dafür Bild C eingeblendet, und so weiter. So ergibt sich eine endlose Kette von weichen Metamorphosen im Bild ohne erkennbare Brüche oder Schnittstellen. Für eine mehrminütige Sequenz braucht man zwar eine ganze Reihe von Einzelbildern, aber viel weniger, als wenn man für jeden Frame des Films ein eigenes Bild anfertigen müsste. Beim Travelling Zoom (nicht zu verwechseln mit dem Dolly Zoom, der manchmal ebenfalls Travelling Zoom genannt wird) zoomt die Kamera zunächst auf ein Bild zu (ob tatsächlich ein Zoom-Objektiv benutzt wird oder die Kamera selbst auf das Bild zufährt, ist dabei zweitrangig). Beim minimalen Abstand wird die Kamera zurückgesetzt und gleichzeitig das Bild durch eine vergrößerte Version des Innenbereichs des ursprünglichen Bilds ersetzt, und dann wird wieder herangefahren, dann gibt es wieder ein vergrößertes Bild, usw. Der Clou: Da die Bilder Zeichnungen sind, können bei jeder Vergrößerung problemlos neue Details hinzugefügt werden, und das ohne Begrenzung. So kann endlos in das Bild "hineingezoomt" werden, und selbst bei "Vergrößerungsstufen", bei denen man in der Realität bei einzelnen Atomen angekommen wäre, gibt es hier keine Grenze. Indem man die einzelnen Abschnitte sanft überblendet, sind auch hier keine Brüche sichtbar. McLaren erfand diese Technik bereits Ende der 30er Jahre. Erwähnte ich schon, dass er ein Genie war?

Damit ist die kleine McLaren-Reihe zu Ende. Ich hätte noch weitere Themen ansprechen können, z.B. McLarens surrealistische Filme wie A PHANTASY (er begeisterte sich schon früh für surrealistische Maler, insbesondere Yves Tanguy), aber man soll ja aufhören, bevor die ersten zu gähnen beginnen.

1990 drehte Donald McWilliams den zweistündigen Dokumentarfilm CREATIVE PROCESS: NORMAN McLAREN. McWilliams hatte McLaren 1968 kennengelernt und sich seitdem zu einem führenden McLaren-Experten entwickelt. Bis zu seinem Tod 1987 wirkte McLaren noch an den Vorbereitungen zum Film mit, und es sind Ausschnitte aus älteren Dokus und Interviews enthalten, außerdem natürlich Ausschnitte aus diversen Filmen von McLaren und Erläuterungen der dafür verwendeten Techniken. Das NFB stellt CREATIVE PROCESS: NORMAN McLAREN lobenswerterweise online in voller Länge zur Verfügung:



Beim NFB gibt es auch noch weitere Filme McLarens online, aber bei weitem nicht alle, und bei YouTube findet man auch etwas.

McLaren auf DVD:

2006 veröffentlichte das NFB in Zusammenarbeit mit Image Entertainment die Box "Norman McLaren: The Master's Edition" mit sieben DVDs, die alle Filme McLarens digital restauriert enthält (auch die aus seiner Zeit vor dem NFB), selbst Vorstudien und unvollendete Filme sind enthalten. Auch für Komplettisten bleiben hier kaum Wünsche offen. Ebenfalls enthalten sind zwei ältere einstündige Fernseh-Dokus über McLaren, 15 neue Featurettes von jeweils ca. fünf Minuten und weiteres Doku-Material.

Schon 2003 hatte das NFB zusammen mit Milestone Film & Video das Set "Norman McLaren: The Collector's Edition" mit zwei DVDs veröffentlicht. Enthalten sind auf einer Scheibe McWilliams' CREATIVE PROCESS: NORMAN McLAREN und auf der anderen eine Auswahl von McLarens wichtigsten Filmen, darunter fast alle hier besprochenen. Enthalten ist auch ein 106-seitiges Booklet, das neben allgemeineren Inhalten auch detaillierte technische Informationen zu den enthaltenen Filmen liefert, die von McLaren selbst (und in einigen Fällen zusätzlich von seinen Mitstreitern wie Maurice Blackburn und Pete Seeger) verfasst wurden. Ein beträchtlicher Teil der Infos für meine Artikel hier stammt daraus. Beide DVD-Sets sind leider nicht ganz billig.

Montag, 6. August 2012

Norman McLaren und Pixil(l)ation

Einige Kurzfilme von Norman McLaren

Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln

NEIGHBOURS
Kanada 1952
Regie: Norman McLaren
Darsteller: Grant Munro, Jean Paul Ladouceur

A CHAIRY TALE
Kanada 1957
Regie: Norman McLaren, Claude Jutra
Darsteller: Claude Jutra

McLarens radikale politische Ansichten aus den 30er Jahren gingen ihm später zwar nicht vollends verloren, wurden aber von seinen künstlerischen Ambitionen in den Schatten gestellt. (Die Säuberungen in der Sowjetunion Ende der 30er Jahre hatten ihm zwar den Glauben an den orthodoxen Kommunismus ausgetrieben, aber als er 1949 im Auftrag der UNESCO für einige Monate als Instruktor in China lebte, waren ihm die Ideen und Maßnahmen der dort gerade an die Macht gekommenen Kommunisten nicht unsympathisch. Der wenig später ausgebrochene Koreakrieg bewirkte auch hier eine gewisse Ernüchterung. Später war McLaren im Auftrag der UNESCO auch in Indien tätig.) Der einzige seiner späteren Filme, der eine politische, und zwar eine pazifistische, Botschaft transportiert, ist NEIGHBOURS.


Die Variante der Stop-Motion-Technik mit menschlichen Darstellern, die hier an etlichen Stellen zum Einsatz kommt, heißt heute Pixilation. McLaren und sein Umfeld benutzten die Schreibweise Pixillation. Erfunden wurde der Ausdruck von Grant Munro für einen seiner eigenen Filme. Munro war einer derjenigen Nachwuchskräfte, die ab Mitte der 40er Jahre ans NFB unter die Fittiche von McLaren kamen, und er wurde dann neben Evelyn Lambart sein engster Mitarbeiter, sei es als Darsteller wie hier, sei es als Co-Regisseur und in anderen Funktionen. Munro wurde auch als Regisseur seiner eigenen Animationsfilme erfolgreich, später drehte er auch Dokumentationen, und er blieb mit McLaren befreundet.

Pixilation wurde in NEIGHBOURS beispielsweise benutzt, um die beiden Protagonisten auf dem Rücken über den Rasen gleiten zu lassen, sie wie Schlittschuhläufer wirken und schließlich schweben zu lassen. Letzteres war ziemlich anstrengend. Die beiden Darsteller mussten synchron auf der Stelle in die Höhe springen und dabei die Knie anziehen. Auf dem höchsten Punkt der Flugbahn wurden sie aufgenommen. Dann ein kleiner Schritt zur Seite, nächster Sprung und nächstes Einzelbild, und so weiter. Insgesamt musste jeder der beiden ca. 300 Sprünge absolvieren, wie sich Munro in einer Doku über McLaren erinnerte. Die meisten Sequenzen von NEIGHBOURS wurden aber weniger aufwendig mit einer Kamera mit variabler Geschwindigkeit aufgenommen, mit der sich gemäßigter bis extremer Zeitraffer-Effekt erzielen ließ. Doch nicht nur die Kamera lief mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, sondern gleichzeitig bewegten sich oft auch die Darsteller in sehr kontrollierter Weise langsamer als bei natürlichen Bewegungen, was zusätzliche Effekte ermöglichte. Dieselbe Kombination von verschiedenen Techniken kam auch bei OPENING SPEECH, A CHAIRY TALE und einigen weiteren Filmen McLarens zum Einsatz. Erfunden wurde Pixilation aber schon lange bevor es den Ausdruck gab. Bereits Georges Méliès hat regelmäßig mit Stop-Motion-Tricks gearbeitet.

Schon 1939, in seiner New Yorker Zeit, begann McLaren damit, nicht nur Bilder, sondern auch Töne manuell auf Filmmaterial aufzubringen, indem er entweder mit Tusche schwarze Kleckse mit variierender Dicke, Höhe und Abstand voneinander auf klaren Film malte, oder entsprechende Figuren auf schwarzem Film einritzte, nur eben nicht im Bildbereich, sondern auf der Lichttonspur des Films. Später verfeinerte er das Verfahren, indem er schwarze Balken auf Papier druckte und dann, entsprechend verkleinert, photographisch auf die Tonspur des Films übertrug. Durch unterschiedliche Breite, Höhe und Abstand ergaben sich unterschiedliche Tonhöhe und Lautstärke, und durch weitere Maßnahmen, etwa Sägezahnkurven statt rechteckiger Balken, konnte auch zwischen relativ reinen und dissonanten Klängen unterschieden werden. Dadurch, dass die Tonmuster Frame für Frame aufgebracht wurden, ergab sich automatisch die ultimative Kontrolle über die Synchronizität von Bild und Ton. Auf diese komplizierte Weise entstand auch der Soundtrack von NEIGHBOURS. (McLaren trieb das Verfahren in SYNCHROMY auf die Spitze, indem die Balken, die den Ton erzeugen, auch Inhalt der Bilder sind, so dass man "den Ton sehen" und "die Bilder hören" kann - ein Ausdruck von McLarens Interesse für Synästhesie.)

NEIGHBOURS wurde einer von McLarens bekanntesten und erfolgreichsten Filmen, was auch daran lag, dass es sein einziger war, der einen Oscar gewann - und zwar merkwürdigerweise in der Kategorie Best Documentary (Short Subject). Später hat die Academy selbst eingestanden, dass das eigentlich die falsche Kategorie war.


"I have sympathy for things that are sat upon." (McLaren)

Die Musik zu A CHAIRY TALE schrieb kein Geringerer als Ravi Shankar, der sie mit seinem Tabla-Spieler Chatur Lal auch einspielte. Die beiden waren zu einem Fernseh-Auftritt in Montreal, als A CHAIRY TALE schon fertig geschnitten, aber noch ohne Sound war. McLaren war ratlos, welche Musik er verwenden sollte, da sah er Shankar im Fernsehen und hatte eine Erleuchtung. Die Übertragung der Bilder in Musik wurde ähnlich bewerkstelligt wie bei BEGONE DULL CARE, nur in umgekehrter Reihenfolge: Die Struktur des Films wurde in eine komplizierte Graphik auf Millimeterpapier mit schriftlichen Anmerkungen übertragen, ein Kästchen entsprach dabei einer Sekunde. Dann führte McLaren den beiden Musikern den Film ungefähr ein Dutzend Mal vor, wobei sie die Graphik zur Hand hatten, so dass sie am Ende beim Blick auf das Schema sofort jeder Stelle die entsprechende Sequenz des Films zuordnen konnten. Derart gewappnet, wurde dann in einer dreiwöchigen Sitzung die Musik geprobt und aufgenommen. McLaren wollte keine rein klassisch-indische Musik, sondern eine Mischung aus indischen und europäischen Elementen, und Shankar hat wunschgemäß geliefert (auch Opernmuffel werden wahrscheinlich "Carmen" erkannt haben).

McLarens Darsteller und Co-Regisseur Claude Jutra war damals als Einsteiger kurze Zeit beim NFB beschäftigt. Wenig später wurde er mit seinen eigenen Spiel- und Dokumentarfilmen einer der Mitbegründer eines eigenständigen franko-kanadischen Kinos und einer der wichtigsten kanadischen Regisseure überhaupt. Sein MON ONCLE ANTOINE von 1971 wurde gelegentlich als bester kanadischer Film überhaupt bezeichnet. McLaren und den französischen Cinéma-vérité-Pionier Jean Rouch (mit dem er ebenfalls zusammengearbeitet hatte) bezeichnete er als seine wichtigsten Einflüsse; seit einem längeren Frankreich-Aufenthalt Ende der 50er Jahre war er auch mit François Truffaut befreundet. Als bei Jutra eine beginnende Alzheimer-Erkrankung diagnostiziert wurde, ertränkte er sich im St. Lawrence River - ein Ende, das er in gewisser Weise schon 1964 in seinem Film À TOUT PRENDRE vorweggenommen hatte.

Samstag, 4. August 2012

Norman McLaren - Genie mit Festanstellung

Einige Kurzfilme von Norman McLaren

Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln

OPENING SPEECH
Kanada 1960
Regie und Darsteller: Norman McLaren

BEGONE DULL CARE
Kanada 1949
Regie: Norman McLaren und Evelyn Lambart

PAS DE DEUX
Kanada 1968
Regie: Norman McLaren
Tänzer: Margaret Mercier, Vincent Warren

Lassen wir zunächst Norman McLaren selbst einige Worte an das geschätzte Publikum richten:


Damit ist eigentlich schon alles Wesentliche gesagt - außer vielleicht, dass Norman McLaren (1914-87) einer der genialsten Animationsfilmer aller Zeiten war. Dazu verwendete er eine ganze Reihe von Techniken und Stilen, beispielsweise direkt auf das Filmmaterial gemalte oder eingeritzte abstrakte Filme wie BEGONE DULL CARE. Nachdem der gebürtige Schotte noch als Student Preise auf Amateurfilmfestivals in Glasgow gewonnen hatte, wurde John Grierson auf ihn aufmerksam und holte ihn nach London zur Filmabteilung der Britischen Post (GPO Film Unit). Grierson, der Pionier der britischen Dokumentarfilmbewegung, versammelte dort nicht nur reinrassige Dokumentarfilmer, sondern auch experimentierfreudige junge Leute wie McLaren und den Neuseeländer Len Lye, der wie McLaren zu einem der führenden Vertreter des abstrakten Films werden sollte. So arbeitete McLaren also in den 30er Jahren für das GPO, und er drehte in dieser Zeit als Kameramann auch einen Film über den spanischen Bürgerkrieg (Regie führte Ivor Montagu), der von seiner sozialistischen und pazifistischen Einstellung geprägt war, ebenso wie der ungestüme Antikriegs- und Antikapitalismusfilm HELL UNLIMITED, den er gemeinsam mit Helen Biggar realisierte. 1939 ging er dann in die USA und lebte fast zwei Jahre in New York, wo er als angestellter Mitarbeiter für Mary Ellen Bute und Ted Nemeth arbeitete, die seit 1934 gemeinsam abstrakte Filme drehten (seit 1940 waren sie auch miteinander verheiratet), und McLaren drehte in dieser Zeit auch einige kleinere eigene Filme. Eigentlich wollte er in New York bleiben, aber dann holte ihn John Grierson nach Kanada. Grierson hatte in einem Report für die kanadische Regierung die Einrichtung einer nationalen Filmbehörde empfohlen. Daraufhin wurde das National Film Board of Canada (NFB, bzw. auf Französisch Office national du film du Canada, ONF) ins Leben gerufen, und Grierson wurde der erste Vorsitzende. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, McLaren zum Leiter der Animationsabteilung des NFB zu berufen, wobei er nicht nur selbst Filme drehen, sondern auch die Ausbildung von Nachwuchskräften leiten sollte. Grierson konnte traumhafte Bedingungen bieten, so dass McLaren 1941 schließlich nach Kanada zog, wo er bis an sein Lebensende blieb. McLaren bekam eine feste Anstellung und gesicherte Finanzierung für seine Projekte - Bedingungen, von denen die meisten seiner Kollegen nur träumen konnten (beispielsweise konnte der in die USA emigrierte Oskar Fischinger in den letzten 20 Jahren seines Lebens keinen Film mehr realisieren, weil er das nötige Geld nicht auftreiben konnte). Da das NFB eine staatliche Einrichtung ist, besaß McLaren fast so etwas wie Beamtenstatus. Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte wurde er der wichtigste kanadische Animationsfilmer, und schließlich der Übervater des NFB - das Hauptquartier des NFB in Montreal heißt heute Norman McLaren Building. Eine Auswahl seiner zahlreichen Preise und Auszeichnungen (insgesamt über 200) kann man in Wikipedia nachlesen.

Sehen wir uns jetzt BEGONE DULL CARE an, einen abstrakten Film zu einer Musik vom Oscar Peterson Trio (bei entsprechender Bandbreite kann man die Qualität auf 1080p erhöhen):


Die Musik wurde vor dem Film aufgenommen, aber in enger Kooperation mit McLaren eigens für BEGONE DULL CARE geschrieben und in einer viertägigen Aufnahmesitzung, an der McLaren aktiv teilnahm, eingespielt. Dann wurde die exakte zeitliche Struktur der Musik mit sehr detaillierten Zeitangaben in ein Schema auf Papier übertragen, und damit wiederum wurden auf 35mm-Filmmaterial Zeitmarkierungen zwischen den Perforationslöchern angebracht, so dass letztendlich Musik und Bilder genau synchronisiert werden konnten. Wie oben schon erwähnt, wurde der Film ohne Zuhilfenahme einer Kamera manuell direkt auf Filmmaterial aufgebracht. Dazu wurden einzelne Filmstreifen auf ein mehr als vier Meter langes Brett gespannt. Im ersten und dritten Satz wurden die Bilder zum größten Teil in einem überaus komplizierten Prozess auf beide Seiten von Klarfilm gemalt. Um zu verdeutlichen, wie diffizil das war, lassen wir McLaren selbst (in einem Statement von 1949) zu Wort kommen:
In various ways, almost too many to list, we applied all kinds of transparent coloured dyes, and scratched or engraved on them. [...] We applied the dyes with big and little brushes, with stipple brushes, with sprayers, with finely crumpled paper, and with cloths of various textures. We pressed dry, textured fabrics into washes of still wet dye. Netting, mesh and fine lace were stretched out tightly in various ways against the celluloid, to act as stencils when dye was sprayed on the film. Different types of dust were sprinkled on wet dye, which formed circles as it recoiled from each dust speck. We found a black opaque paint which, as it dried, created a crackle pattern. And so on.
Und so geht das noch einige Absätze weiter. (Quelle: Booklet des DVD-Set Norman McLaren. The Collector's Edition. Mehr zu DVDs am Ende des dritten Teils der Artikelserie). Im langsamen Mittelteil (und an einigen wenigen kurzen Stellen im ersten und dritten Teil) wurden die Bilder mit Messern in Schwarzfilm (black leader) unter Zuhilfenahme einer Moviola eingeritzt.

Co-Regisseurin Evelyn Lambart war in den 40er Jahren eine von McLarens Schülerinnen in der Animations-Abteilung des NFB, und dann mehr als zehn Jahre lang seine engste Mitarbeiterin. (Sie hatten aber nichts miteinander, denn McLaren war schwul und lebte 50 Jahre lang mit dem Film- und Fernsehproduzenten Guy Glover zusammen.) BEGONE DULL CARE ist der schönste und komplizierteste Film, den McLaren auf die beschriebene Weise erschaffen hat. Ein weniger elaborierter Vorläufer ist beispielsweise BOOGIE-DOODLE von 1941; seine ersten Versuche mit handgemaltem Film machte McLaren bereits auf der Kunsthochschule in Glasgow. Der fertige Filmstreifen von BEGONE DULL CARE diente als Master-Positiv, von dem ein Negativ und davon schließlich die Vorführ-Kopien gezogen wurden.

Kommen wir jetzt zu PAS DE DEUX:


Um den Zeitlupeneffekt zu erzielen, wurde mit doppelter Geschwindigkeit (48fps) gefilmt, mit weiß gekleideten Tänzern in einem komplett schwarzen Studio (was für die Tänzer ziemlich schwierig war). Die Beleuchtung erfolgte von schräg hinten. Das war essentiell - nur dadurch, dass nur die Umrisse der Tänzer zu sehen sind, kommt die Überlagerung positiv zur Geltung. Bei Beleuchtung von vorn hätten sich damit nur verschwommene weiße Flecken ergeben. Die wirklich erstaunlichen Überlagerungseffekte wurden durch den virtuosen Einsatz eines optischen Printers erzielt. Dabei wurden bis zu elf einzelne Bilder übereinandergelegt. Der zeitliche Versatz der Einzelbilder - der dann den räumlichen Abstand im Gesamtbild bestimmt - betrug meist drei, vier oder fünf Frames, gelegentlich auch bis zu zwanzig Frames (bei weniger Frames ergibt sich eine dichte, bei mehr Frames eine räumlich weit auseinandergezogene Überlagerung). Am NFB wurde übrigens auch Pionierarbeit zur Computeranimation geleistet, McLaren selbst hat aber nie Computer für seine Filme verwendet.

Bei PAS DE DEUX entstanden erst die Bilder und dann der Soundtrack. Die Musik stammt in ihrer ursprünglichen Form vom rumänischen Panflötisten Constantin Dobre. Das Problem dabei war, dass das Stück nur drei Minuten dauert und der Film dreizehn. Die nötige Streckung übernahm Maurice Blackburn, ein am NFB fest angestellter experimentierfreudiger Komponist, der oft und intensiv mit McLaren zusammenarbeitete. Er zerlegte das Stück in sehr kurze Teile, die auf Magnetband gespeichert und dann nach einer elektronischen Bearbeitung mit Hilfe eines Toningenieurs in geeigneter Weise wieder zusammengesetzt wurden, so dass sich der nahtlos dahinfließende Soundtrack ergab.