Sonntag, 23. Dezember 2012

Frohe Weihnachten!

In den letzten beiden Jahren hat Bruno hier jeweils einen "Weihnachtsfilm" besprochen, aber ich hab es eigentlich nicht so mit Weihnachten, deshalb gibt es heuer keinen Film, sondern nur einen YouTube-Clip, und es geht darin auch nicht um das Fest des Kaufens, äh, der Liebe, sondern um eine unserer Lieblingsbeschäftigungen. Hier sind also die Kinks mit "Celluloid Heroes".



Wie heißt es doch so schön am Schluss: Celluloid heroes never really die! Genau. Nächstes Jahr geht es mit einem großen Jahresrückblick weiter, den David beisteuert. Bis dahin, gehabt Euch wohl!

Montag, 17. Dezember 2012

BOUDU: Flaches Wasser und deep focus

BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET (BOUDU SAUVÉ DES EAUX)
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Michel Simon (Boudu), Charles Granval (Édouard Lestingois), Marcelle Hainia (Emma Lestingois), Séverine Lerczinska (Anne Marie), Jean Gehret (Vigour), Max Dalban (Godin), Jean Dasté (Student), Jacques Becker (Dichter)


Renoirs vierter Tonfilm beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem - sichtlich in Theaterkulissen - ein Pan oder Priapos einer Nymphe nachstellt. Damit wird ein Rahmen gesetzt, eine Meta-Ebene, die den gesamten Film "theatralisiert" - ein Motiv, das Renoir in den 30er Jahren gern verwandte (so beginnt auch schon LA CHIENNE (1931) mit einer Grand-Guignol-Vorstellung), und auf das er etwa in DIE GOLDENE KAROSSE (1952) mit seinem "Theater im Theater" zurückkam. Zugleich verweist der Prolog auf den Charakter des Films: Es ist ein Satyrspiel, ein erotisch aufgeladenes Bäumchen-wechle-dich, dessen Wendungen man nicht wirklich ernst nehmen sollte. Eine Satire auf bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen ist BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET auch, aber eine sehr milde, die ihre Protagonisten nicht denunziert, sondern liebevoll karikiert.

Monsieur Lestingois und Anne Marie
Nach dem Prolog folgt der direkte Umschnitt zum gutsituierten Pariser Buchhändler Édouard Lestingois, wie er mit seinem Hausmädchen Anne Marie, die zugleich seine Geliebte ist, herumschäkert und sich selbst dabei als "Priapos" und sie als seine "Chloé" bezeichnet, womit die Verbindung vom Rahmen zur Haupthandlung unmissverständlich etabliert ist. Lestingois, dessen Buchhandlung mit darüberliegender Wohnung direkt am Ufer der Seine liegt, ist verheiratet, aber seine Frau Emma ist am Eheleben nicht mehr interessiert, dafür achtet sie umso mehr aufs Geld. Lestingois dagegen ist im Grunde noch Idealist, der auch schon mal Bücher an einen armen Studenten verschenkt, der sie sich nicht leisten kann (gespielt von Jean Dasté, der seinen größten Auftritt 1934 in Jean Vigos L'ATALANTE hatte, hier in seinem ersten Film). Es ist auch von Anfang an klar, dass das Verhältnis von Lestingois und Anne Marie nicht nur sexueller Natur ist, sondern dass sie sich einfach mögen.

Jacques Becker mit einem Kurzauftritt
Szenenwechsel in einen großen Pariser Park, wohl der Bois de Boulogne. Einer seiner Bewohner ist der zottelige Clochard Boudu mit seinem ebenso zotteligen schwarzen Hund "Black". Als ihm dieser davonläuft und er ihn trotz Suche nicht wiederfindet, will er sich in der Seine ertränken. Doch just in dem Moment, als er von einer Brücke springt, erspäht ihn Lestingois von seiner Wohnung aus, und nun ist es an ihm, den Lebensmüden zu retten. Beherzt springt er ins Wasser, und unter den Blicken von dutzenden, wenn nicht hunderten Zuschauern zieht er den halbtoten Boudu aus dem Wasser. Mit Hilfe seines Nachbarn Vigour (der gerne am offenen Fenster Flöte spielt und damit für einige musikalische Überleitungen im Film sorgt) bringt ihn Lestingois in seine Buchhandlung, um die Schaulustigen abzuschütteln und die Wiederbelebung zu vollenden. Vigour ist Mitglied in einem "Lebensrettungsclub", obschon er noch nie an einer Lebensrettung teilgenommen hat, und geht nun mit entsprechender Begeisterung zu Werk, so dass Boudu gar nichts anderes übrigbleibt, als wieder zu sich zu kommen.

Spektakuläre Rettung vor großem Publikum
Jetzt wird beschlossen, dass Boudu erst mal als Gast im Hause Lestingois bleiben soll, auch wenn Madame Lestingois und Anne Marie den neuen Hausgenossen sehr skeptisch beäugen. Und ihre Vorbehalte sind nicht ohne Grund, wie sich bald erweist. Denn Boudu ist ein respektloser, um nicht zu sagen anarchischer Zeitgenosse, der sich als undankbar erweist und von vielen Segnungen der Zivilisation nichts hält. Insbesondere beginnt er schnell, Anne Marie zu begrapschen, er setzt die Küche unter Wasser und richtet Verwüstungen an, die ein Loriot nicht besser hingekriegt hätte, er wischt sich seine mit Schuhcreme beschmierten Hände an Madames Nachtwäsche ab, er spuckt in der Wohnung auf den Boden und so weiter. Lestingois' nächtliche Schäferstündchen mit Anne Marie müssen vorerst ausfallen, weil der zwischen den jeweiligen Schlafzimmern einquartierte (und auf dem Boden schlafende) Boudu den Weg blockiert. Als Lestingois entdeckt, dass Boudu sogar in ein Buch gespuckt hat (Balzacs leicht zynisches Ehehandbuch Physiologie du mariage - ein trockener Seitenhieb Renoirs auf die Ehe der Lestingois), ist auch bei ihm das Fass übergelaufen: Boudus sofortige Ausweisung ist beschlossen.

Madame Lestongois streckt die Zunge raus, und Monsieur Vigour
geht mit Einsatz an Boudus Wiederbelebung
Doch es kommt anders. Um seine Chancen bei Anne Marie zu erhöhen, vollzieht Boudu eine partielle Annäherung an die Zivilisation: Er geht zum Friseur. Und als ihm Madame seinen Rauswurf in ihrem Schlafzimmer mitteilen will, verführt er sie in Windeseile mit sanfter Gewalt. Während auf der Straße Marschmusik gespielt wird, bläst Boudu Madame den Marsch - und danach ist sie wie verwandelt. Wie ihr Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache deutlich machen, hat die eben noch ziemlich frigide Madame ihre Lebenslust und den Spaß am Sex wiedergefunden. Gleichzeitig trifft die Nachricht ein, dass Lestingois für seine Rettungstat eine Medaille erhält, wodurch auch er milde gestimmt ist. So darf Boudu also vorerst bleiben. Während nun Madame kaum noch von Boudu lassen kann, hat nun auch Lestingois wieder Gelegenheit, sich mit Anne Marie zu beschäftigen. So geht das einige Tage dahin, doch dann treffen die beiden Paare unverhofft im selben Zimmer in eindeutiger Lage aufeinander, so dass der doppelte Ehebruch offenbar wird. Doch der (nach bürgerlichen Maßstäben) doppelte Skandal wird erstaunlich souverän gehandhabt: In einer geradezu rasanten Umgruppierung finden die wiedererblühte Madame und ihr Gatte wieder zusammen, während Boudu und Anne Marie nicht nur ein Paar werden, sondern - ermöglicht durch einen Lotteriegewinn Boudus über 100.000 Francs - sogar heiraten. So ist denn auch die nächste Szene nach dem Rearrangement der Paare gleich der Hochzeitsausflug: Eine sonntägliche Kahnfahrt von Boudu und Anne Marie, dem Ehepaar Lestingois und Monsieur Vigour auf der Marne.

Boudu richtet Verwüstungen an
Doch das allzu platte Happy End wird von Renoir abgesagt. Boudu schafft es, sich selbst und die anderen Insassen des Ruderboots ins Wasser der äußerst gemächlich dahinfließenden Marne zu befördern, indem er sich nach einer Seerose ausstreckt. Ob nun geplant oder einem spontanen Impuls folgend: Boudu nutzt das Durcheinander, um sich schwimmend von der Gruppe abzusetzen, zu den hier ziemlich ironisch anmutenden Klängen des Walzers "An der schönen blauen Donau". An einer unbeobachteten Stelle des Ufers geht er an Land und vollzieht seine Rückverwandlung in einen Clochard - er tauscht seine feinen Hochzeitskleider gegen das zerschlissene Gewand einer Vogelscheuche und lässt als krönenden Abschluss seine Melone in die Marne segeln. Nun ist er wieder ganz der Alte und hat seine Freiheit wiedergewonnen. Zwar fehlt ihm noch sein Hund, dafür schließt er jetzt Freundschaft mit einer Ziege. Unterdessen sitzt Lestingois auch wieder an Land, flankiert von seiner Frau und Anne Marie, und sie fragen sich, was wohl aus Boudu geworden ist. Beide Frauen sind eng an ihn gekauert. Der Beginn einer Ménage-à-trois? Wer weiß ...

Vor und nach dem Friseur
Man hat Boudus Rolle zu Recht mit einem Katalysator verglichen: Er geht am Ende unverändert aus der Reaktion hervor, aber er hat in seinem Substrat, dem Haushalt Lestingois, erhebliche Veränderungen bewirkt: Etliche Verklemmungen und Scheinheiligkeiten wurden beseitigt. Dass Boudu am Ende wieder auf der Straße landet, ist im französischen Film der 30er Jahre nichts Ungewöhnliches. Schon in LA CHIENNE endete Michel Simon als Landstreicher, dort allerdings ins Tragische gewendet. Auch in René Clairs Film mit dem programmatischen Titel À NOUS LA LIBERTÉ (ES LEBE DIE FREIHEIT) von 1931 suchen die beiden Helden am Schluss ihr Heil auf der Straße, und in Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) von 1936 wird der Held (Jean Gabin) am Ende zwar kein Landstreicher im eigentlichen Sinn, aber er wandert mit seiner Geliebten auf Schusters Rappen in eine ungewisse, aber wahrscheinlich bessere Zukunft.

Voller Körpereinsatz bei Michel Simon
Als Komödie ist BOUDU kein Schenkelklopfer, aber es gibt doch einige komische Szenen, vom visuellen Kalauer (Lestingois sagt bei Boudus Wiederbelebung zu seiner Frau, dass die Zunge raus müsse, und sie streckt daraufhin ihre eigene Zunge raus) bis zu einigen absurden Umkehrungen. So gibt am Anfang im Park eine Frau Boudu 5 Francs, "damit er sich Brot kaufen kann", wie sie ihrer kleinen Tochter erklärt. Als kurz darauf ein feiner Pinkel in einem protzigen offenen Wagen im Park hält, öffnet ihm Boudu wie ein Chauffeur die Tür. Der Schnösel sucht in seinen Taschen nach Trinkgeld, aber als er nicht schnell genug etwas findet, gibt Boudu ihm die 5 Francs - damit er sich Brot kaufen kann, wie jetzt Boudu zur Verblüffung des Mannes und des Publikums erklärt. Als Boudu am Essenstisch Wein verschüttet, streut Madame Lestingois Salz darüber, um den Wein aus dem Tischtuch zu ziehen, wie sie zu Boudu sagt, der sich das nicht erklären konnte. Als dann Lestingois versehentlich den Salzstreuer umkippt, gießt Boudu einen Schwall Wein darüber - "um das Salz herauszuziehen", wie nun er erläutert. Renoirs Regieassistent Jacques Becker hat einen sehr schrägen ungenannten Kurzauftritt als ein Dichter im Park, der wild gestikulierend theatralischen Unsinn verzapft, als ihn Boudu nach dem Hund fragt. Als Satire ist BOUDU, wie schon erwähnt, recht mild. Der einzige negativ besetzte Charakter ist zunächst Madame Lestingois, aber nach ihrer Läuterung durch Boudu ist auch das Geschichte. Gesellschaftskritik ist nicht das vordringliche Anliegen des Films, aber den einen oder anderen sozialen Kommentar platziert Renoir doch. So fragt etwa Boudu im Park einen Polizisten, ob er seinen Hund gesehen hat, doch der bedeutet ihm nur, er solle sich verziehen, damit er ihn nicht einbuchtet. Als unmittelbar darauf auch einer feinen Dame ihr Hündchen abhanden kommt, holt derselbe Polizist seine Kollegen herbei, damit sie bei der Suche behilflich sein können.

Boudu gibt ein Trinkgeld; Madame und ein armer Student;
Madame nach ihrer Verwandlung durch Boudu
Deep focus cinematography heißt auf Englisch das Drehen mit großer Tiefenschärfe (oder Schärfentiefe, wie Puristen sagen), das es ermöglicht, die handelnden Personen sich in der "Tiefe des Raumes" bewegen zu lassen, und in Bildvorder- und -hintergrund sogar voneinander unabhängige Teile der Handlung stattfinden zu lassen. Als Paradebeispiel für diesen Stil wird oft, und nicht zu Unrecht, CITIZEN KANE genannt, aber Orson Welles und sein Kameramann Gregg Toland waren keineswegs die ersten, die das virtuos beherrschten. Auch Renoirs LA RÈGLE DU JEU (DIE SPIELREGEL) von 1939 ist ein perfektes Beispiel. Und natürlich ist Renoir die Technik nicht 1939 in den Schoß gefallen, sondern er hat schon vorher damit experimentiert, z.B. in LA CHIENNE und auch in BOUDU. Zwar nicht durchgehend, aber immer wieder mal setzt Renoir Tiefenschärfe ein, um beispielsweise in der Wohnung von Lestingois Räume im Vorder- wie im Hintergrund ebenso wie den verbindenden Flur scharf abzubilden und auch überall Handlung zu zeigen. Und in der Szene, als Lestingois aus seinem Arbeitszimmer heraus Boudu mit einem Fernrohr beobachtet, bevor dieser in die Seine springt, sind Lestingois und die Einrichtung des Zimmers im Vordergrund, der Quai im Mittelgrund und fahrende Autos und wuselnde Fußgänger im Hintergrund jenseits der Seine scharf zu sehen.

Ein Hochzeitsausflug und sein Ende
Aber die große Attraktion von BOUDU ist weder die Handlung noch die Kameraarbeit, sondern das ist Michel Simon. Mit Renoir und Simon hatte sich ein Traumpaar gefunden, und BOUDU ist ihr vierter und letzter gemeinsamer Film, nach TIRE AU FLANC (1928), ON PURGE BÉBÉ (Renoirs erster Tonfilm, 1931) und LA CHIENNE. (1940 arbeitete Renoir in Italien an TOSCA, in dem Simon ebenfalls mitspielt, aber Renoir brach die Arbeit daran ab und emigrierte in die USA. Den Film drehte dann Renoirs Freund Carl Koch, der Ehemann von Lotte Reiniger.) 1966 drehte Jacques Rivette für die Fernsehserie CINÉASTES DE NOTRE TEMPS ein dreiteiliges Portrait von Renoir, und der 90-minütige mittlere Teil widmete sich nur der Zusammenarbeit von Renoir und Michel, die auch beide darin auftraten. Michel Simon schätzte Renoir sehr dafür, dass er einer der wenigen Regisseure war, die ihn bei seinem Drang zum Improvisieren nicht bremsten, sondern bestärkten. Renoir wiederum schrieb einmal: "BOUDU, das ist Michel Simon. Das heißt, einer der größten lebenden Schauspieler und einer der größten Schauspieler der Geschichte des Theaters und des Kinos. BOUDU ist eine Hommage an Michel Simon." Die Rolle des Boudu ist ihm tatsächlich wie auf den Leib geschrieben. Das Drehbuch entstand nach einem 1925 erschienenen Theaterstück, und schon damals spielte Simon die Rolle auf der Bühne und erhielt dafür Lobeshymnen. Er war es auch, der Renoir die Verfilmung des Stoffes vorschlug, und er war dann der Hauptproduzent des Films (Jean Gehret, der Darsteller von Vigour, war ebenfalls an der Finanzierung beteiligt). Den Boudu spielt er mit entfesselter, anarchischer Freude und mit vollem Körpereinsatz. Er fläzt sich am Boden und auf dem Mittagstisch, er turnt und kaspert herum, er krächzt und grölt und grinst. Von seinen Rollen, die ich sonst noch kenne, ist nur sein Père Jules in L'ATALANTE damit vergleichbar. Wenn man nur diese beiden Filme von ihm kennen würde, könnte man wohl glauben, dass er tatsächlich so ist, aber wenn man zum Vergleich andere Rollen heranzieht, etwa den skurrilen, aber gesitteten Molyneux in DRÔLE DE DRAME oder den sinistren Zabel in Carnés LE QUAI DES BRUMES, dann erkennt man seine Bandbreite.

Rückverwandlung mit Vogelscheuche und Ziege
BOUDU SAUVÉ DES EAUX ist in den USA und in England (als BOUDU SAVED FROM DROWNING) sowie in Frankreich auf DVD erschienen. - 1986 drehte Paul Mazursky mit DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS (ZOFF IN BEVERLY HILLS) ein ganz brauchbares Hollywood-Remake, mit Nick Nolte als kalifornischem Boudu und Richard Dreyfuss und Bette Midler als seinen Gastgebern. Daraus entstand 1987 eine erfolglose 13-teilige Fernsehserie (mit anderen Hauptdarstellern). 2005 schließlich inszenierte Gérard Jugnot ein weiteres Remake, mit Gérard Depardieu in der Titelrolle und mit sich selbst als Lestingois (der hier Lespinglet heißt).

Wie wird es weitergehen?

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Subtiler Terror in den schwarzen Bergen

POSLJEDNJE POGLAVLJE (THE ASCENT)
Montenegro 2011
Regie: Nemanja Bečanović
Darsteller: Amar Selimović (Jovan), Vlado Jovanovski (Zeko), Dejan Ivanić (Vuk), Ana Vučković (Vidrana), Inti Sraj (Vesna)

Den nachfolgenden Text habe ich in der Nacht vom 10. auf den 11. November 2011 geschrieben, etwa zwischen 01.30 Uhr und 02.30 Uhr. An diesem Abend hatte das Erste SouEuF-Festival Jena (Southeastern European Film Festival) begonnen, unter anderem mit der Projektion eines montenegrinischen Films, der mich (und wahrscheinlich auch andere Zuschauer) zutiefst beeindruckte. Der Text endete in der „Schublade“ und diente lediglich als Gedankenbasis für zwei meiner Festivalberichte. Dies ist nun eine redigierte, teils gekürzte und teils ergänzte Fassung des Artikels.


Das kleine, studentische Jenaer Südosteuropa-Filmfestival hat viele Besucher gefunden, zumindest genügend, um seinen Vorführraum aus allen Nähten platzen zu lassen. Die Atmosphäre ist familiär, die Organisation auf fast rührende Art und Weise dilettantisch: Rotwein und Weißwein waren um acht Uhr Abends schon alle, das ganze fing natürlich erst c.t. an und ein wirkliches Cinemascope-Erlebnis sieht grundsätzlich anders aus als eine Projektion auf eine viel zu kleine Leinwand. Alles nicht schlimm, wenn das mit Liebe rübergebracht wird, und das wurde es auch. Da kann man auch einen Filmriss gut verkraften, und mit Filmriss meine ich jetzt: CD-Kratzer bei 51min03sec. Kurz: es war eng, es war stickig, es gab keine stimulierende Flüssigkeiten. Die richtige Atmosphäre, um THE ASCENT, das Spielfilmdebüt des montenegrinischen Regisseurs Nemanja Bečanović zu schauen.
Stell dir vor, du bist Schriftsteller, hast eine Third-Life-Crisis, und sitzt an einem Roman, den du trotz deiner anstrengenden und aufreibenden Frühaufsteher-Gewohnheiten einfach nicht fertig kriegst – und du lebst in Podgorice, der Hauptstadt Montenegros. Was tun? Die Lösung: in ein abgelegenes Dorf der schwarzen Berge ziehen, um dort in einer Wohngemeinschaft mit Schafhirten ein wenig abzuschalten und jene Ruhe zu finden, die dir eine bessere Fokussierung ermöglicht. Gesagt, getan: der Bus ruckelt dich dann zu einer verlorenen Straßenkreuzung hin.
Das Dorf: vollkommen verlassen! Der Empfang: kühl wäre durchaus eine Untertreibung! Du musst dich etwa fünf Mal als Jovan vorstellen, damit dich deine wenig gesprächigen ländlichen Gastgeber endlich als Vuk und Vidrana begrüßen. Die schöne Vesna, die du vorher beim Abwaschen am Fluss aufgescheucht hast, grüßt aufgrund ihrer Stummheit nicht zurück, zumindest nicht verbal. Der Hausherr, Zeko, kommt schließlich auch noch dazu. Ja, montenegrinische Berghirten sind etwas befremdlich, ihre Haare sind struppelig und ihre Gesichter sind beängstigend kadaverbleich – dabei liegt Siebenbürgen doch so weit weg. Aber vielleicht wird doch noch was draus.
Wirklich? Jeder kennt das Gefühl. Man ist zu Gast bei jemandem zu Hause, und die Gastgeber streiten sich die ganze Zeit. Eheprobleme und Vater-Sohn-Beziehungen werden einem quasi nebenbei unter die Nase gerieben. Hinzu kommt noch eine leichte Anspannung, die von den scheinbar leicht inzestuösen Situationen herrühren. Dabei ist man sich gar nicht so sicher, wer von den Gastgebern in welcher Weise mit den anderen verwandt sind. Klar: Vuk und Vidrana sind anscheinend ein Ehepaar – oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit? Vesna ist die Schwester von einem der beiden mutmaßlichen Ehepartner – vielleicht? Wirklich sicher ist nur, dass Zeko als übermächtiger Patriarch über alles thront.
Eigentlich bist du ja ziemlich apolitisch, aber trotzdem halten es die Bewohner dieser verlassenen Berghütte für wahnsinnig wichtig, dir ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur unter die Nase zu reiben. Dein Problem: es kommt als totales Hinterwäldlertum und extremistische Landideologie bei dir an. Diese Leute hassen Stadtbewohner, sie hassen Intellektuelle, sie hassen Menschen, die offensichtlich keiner „ordentlichen“ Beschäftigung nachgehen (zum Beispiel Schriftsteller), und sie hassen Raucher. Dumm, dass diese ganzen Attribute auf dich zutreffen. Aber Zeko ist durchaus bereit, sich für deine Ehre einzusetzen. Als Vuk dich verbal etwas in die Mangel nimmt, nimmt Zeko ihn in den Schwitzkasten, mit einer deutlichen Bereitschaft, ihm das Genick zu brechen, nur, damit Vuk sich bei dir entschuldigt. So viel hattest du eigentlich gar nicht erwartet!
Die Gesamtsituation ist auch sonst beunruhigend. Diese Menschen treiben dich zu beängstigenden und teils ziemlich blutigen Alpträumen. Sie schlachten ihre ganze Schafherde ab. Sie nehmen die Spiegel in deinem Zimmer weg, um sie in einem Schrank zu verstauen. Und zu sehen, wie Vesna im nahegelegenen Wald bei einem Hügel frisch aufgegrabener Erde in Größe und Form eines Menschen trauert, ist zwar rührend, aber auch nicht gerade vertrauenserweckend.
Aber die Macht des Wortes ist unendlich. Und dank dieser Macht kannst du schließlich auch die Herzen dieser verschlossenen Bergleute öffnen. Wirklich? Wirklich?? WIRKLICH???
THE ASCENT kann man einem Genre zuordnen, den ich mal als „poetischer Symbolismus“ bezeichnen könnte. Grundmuster: kaum Handlung im engeren Sinne, größtenteils sehr starre Kamera, sperrige Darstellungskunst. Was dabei herauskommt: meist prätentiöser Bockmist! Viele Regisseure bringen es mit ihrer Darstellung karger Landschaften, gesprächsloser zwischenmenschlicher Austausche und wenig dynamischer Kameraeinstellungen nur zu einem nebenwirkungslosen Schlafmittel-Surrogat. Nicht so Bečanović. Mit sehr minimalistischen Mitteln erzeugt er eine extrem dichte und spannungsgeladene Atmosphäre voller latenter Gewalt, Klaustrophobie und Paranoia. Vieles, was passiert, nein, sogar das meiste, ist bedeutungsschwanger. Misstrauen entsteht nicht so sehr durch verbale Attacken, als durch penetrantes Schweigen. In dieser Berghütte wird deutlich: „Nicht-Kommunikation“ ist vielleicht die extremste Form von Kommunikation. Da wir als Zuschauer mit Jovan mitfühlen, wird das Gefühl der Bedrohung immer sehr intensiv aufrecht erhalten. Denn so einfach die Ziegenhirten im Film auch scheinbar gestrickt sind, so absolut unberechenbar sind sie letztlich für den Städter Jovan. Und zwar im bösen wie auch im guten Sinne. Und schließlich auch im bösen Sinne...
Der Schluss des Films übertrifft an Radikalität das Allerschlimmste, das man sich im Verlaufe von etwa 80 Minuten erträumen konnte. Zugleich wirkt er aber auch auf seltsame Art und Weise logisch und folgerichtig.
Wer sich jetzt fragt, wie Jovan seinen Laptop über eine Woche lang in einer Berghütte nutzen kann, ohne ihn aufzuladen: keine Ahnung! Aber der Film ist ja sowieso symbolisch. Und vielleicht hat ihn die spannungsgeladene Atmosphäre aufgeladen.