Montag, 15. Juli 2013

Ein Sperling und ein Krieg

DER SPERLING (LE MOINEAU, AL ASFOUR bzw. AL USFUR, العصفور)
Ägypten/Algerien 1972
Regie: Youssef Chahine
Darsteller: Seif El Dine, Habiba, Salah Kabil, Mohsena Tawfik, Salah Mansour, Aly El Cherif, Miriam Fakr Eldine, Ragaa Hussein
(Es ist mir nicht gelungen, eine Zuordnung der Darsteller zu den Rollen aufzutreiben. Ich gebe die Namen hier in der Schreibweise und Reihenfolge wider, wie sie in den Credits am Anfang des Films aufscheinen.)

Ein Kairoer in der Provinz
Der Sechstagekrieg im Juni 1967 veränderte das Koordinatensystem im Nahen Osten grundlegend und zeitigte Folgen, die bis heute nachwirken. In Ägypten bewirkte die demütigende Turbo-Niederlage gegen Israel in der Bevölkerung, unter Intellektuellen ebenso wie in der breiten Masse, geradezu eine Traumatisierung. Wie konnte es dazu kommen? lautete die Frage, die man sich allgemein stellte, und Youssef Chahine stellte sich diese Frage ebenfalls. Seine Antwort: Es war die allgemein verbreitete Korruption, die den ägyptischen Staat (und damit auch die Armee) geschwächt hatte. Und weil der Fisch vom Kopf her zu stinken beginnt, suchte Chahine die Hauptschuld bei der politischen Führung des Landes. Chahine hatte früher schon politische Themen aufgegriffen, etwa die schlechte Lage der ägyptischen Bauern in IBN EL-NIL (1951) und SIRAA FIL-WADI (1954), in dem Omar Sharif in seiner ersten Rolle den Helden spielt, oder die Gründung einer Gepäckträger-Gewerkschaft (als Nebenthema in diesem erstaunlichen Film) in BAB EL HADID (TATORT HAUPTBAHNHOF KAIRO, 1958). Aber erst durch die Ereignisse von 1967 wurde Chahine im eigentlichen Sinn politisiert, wie er später selbst sagte. DER SPERLING ist der dritte und expliziteste Film einer informellen Trilogie, die den Ursachen des Debakels nachspürt.

Raouf (links) und Youssef
Bis 1967 war Chahine - wie damals die weit überwiegende Mehrheit der Ägypter - eigentlich ein Anhänger von Gamal Abdel Nasser und seiner Politik. Der Kampf gegen die feudalen Verhältnisse, die noch unter dem 1952 gestürzten König Faruk geherrscht hatten, das selbstbewusste Auftreten gegenüber den früheren Kolonialmächten England und Frankreich (mit der Verstaatlichung des Suezkanals als Höhepunkt), der gemäßigte Sozialismus im Rahmen einer blockfreien Außenpolitik, der panarabische Nationalismus - all das fand Chahines volle Zustimmung. Gänzlich ungetrübt war sein Verhältnis zum Regime dennoch nicht: Nach Querelen mit der Bürokratie der seit 1961 verstaatlichten Filmindustrie ging er 1965 ins freiwillige Exil in den Libanon (das Land seines Vaters), wo er das sehr erfolgreiche Musical DER RINGVERKÄUFER drehte, das von einem Kritiker einmal als die beste Musikkomödie der gesamten arabischen Welt bezeichnet wurde. Chahine kam dann aber doch zum Schluss, dass er nur in Ägypten vernünftig arbeiten konnte, und kehrte nach gut anderthalb Jahren zurück. Kurz danach kamen der Krieg und die Niederlage, und Chahine begann, seine Positionen zu überdenken. Zunächst inszenierte er noch als ägyptisch-sowjetische Coproduktion einen Film, der vor dem Hintergrund der Errichtung des Assuan-Damms spielt (und der in beiden Ländern auf wenig Gegenliebe stieß und in Ägypten wegen Schwierigkeiten mit der Zensur erst 1972 herauskam), dann folgte die erwähnte informelle Trilogie. AL-ARD (DIE ERDE, 1969) spielt ebenso wie der zugrundeliegende Roman in den 1930er Jahren, es lag also am Publikum, die aktuellen Bezüge herauszulesen. Auch in AL-IKHTIYAR (DIE WAHL, 1970), bei dem der spätere Nobelpreisträger Nagib Mahfuz am Drehbuch mitschrieb (wie zuvor schon bei zwei Filmen Chahines), ging er die Analyse der ägyptischen Gegenwart indirekt und allegorisch an (ein schizophrener Autor, der seinen Zwillingsbruder ermordet, um neben seinem eigenen Leben auch dessen Rolle auszufüllen, symbolisiert die in sich gespaltene ägyptische Gesellschaft).

Raouf und Scheich Achmed
Umso direkter war der Zugriff auf das Thema in DER SPERLING. Eine Texttafel (in der vorliegenden Fassung des Films auf Französisch) am Anfang macht klar, worum es geht:
In den Straßen von Kairo, Algier, Tunis und Bagdad, ja in allen arabischen Hauptstädten, und in den kleinsten Dörfchen, fragen mich die Jugendlichen: "Sag, Youssef, was ist denn im Juni '67 passiert? Woher kam diese Niederlage? Weshalb? Wir waren doch alle bereit, den Angriff zu ertragen?"

Für all die mutigen Menschen, einfache "Sperlinge", die ich so liebe, die ihrerseits am 9. Juni keine einzige Minute zögerten, auf die Straßen zu gehen, entschlossen, sich dem Feind gegenüberzustellen, da man ihnen in den Gassen ihrer Quartiere den Schwung genommen hat; für sie alle versuchen wir heute, mit "Le moineau", einige Aspekte der nationalen und internationalen Aufmachung aufzuhellen, denen sie ahnungslos zum Opfer gefallen sind.

          Youssef Chahine             (Übersetzung von der Schweizer DVD)
Als Aufhänger dient ein fiktiver (aber wohl wirklichkeitsnaher) Skandal: Eine Fabrik in der Nähe der Stadt Assiut in Mittelägypten, rund 400 km südlich von Kairo, wird seit sechs Jahren gebaut, ohne je fertig zu werden, was die nötige und eigentlich mögliche Verbesserung der lokalen Wirtschaft (und damit der Versorgungslage der einfachen Bevölkerung) hintertreibt. Grund dafür ist systematische Korruption und Unterschlagung: Maschinen und Bauteile, die tagsüber angeliefert werden, werden nächtens gleich wieder mit unbekanntem Ziel abtransportiert. Lokaler Drahtzieher der dubiosen Verschiebeaktionen ist der Bandit Abu Khedr, aber die wahren Hintermänner sind andere, und sie dürfen in den höheren Kreisen Kairos vermutet werden. Gleich mehrere Personen brechen von Kairo in die Gegend um Assiut auf, um sich Abu Khedrs zu bemächtigen. Raouf ist ein junger Polizeihauptmann, der mit einer schwer bewaffneten Kompanie ausgeschickt wurde, um den Banditen tot oder lebendig zu fassen, doch zunächst bleibt Abu Khedr ein Phantom für ihn. Ihm eine Nasenlänge voraus ist Youssef, ein idealistischer Journalist, der die Hintergründe des Fabrikskandals recherchieren will. Es ist ihm gelungen, Abu Khedr aufzuspüren und ein Interview mit ihm zu führen, und dieser ließ dabei durchblicken, dass er in der Lage sei, die Hintermänner auffliegen zu lassen. Das sorgt in Kairo für Unruhe - auch bei Youssefs Vater, einem reichen Geschäftsmann. Und dann ist da noch der etwas grobschlächtige und polternde, aber eigentlich recht liebenswürdige Scheich Achmed, der aus der Gegend stammt, aber schon lange in Kairo lebt und ein Freund von Youssef ist. Er will aus Rache Abu Khedr töten, weil sein Cousin kürzlich bei einer der nächtlichen Transaktionen bei der Fabrik erschossen wurde. Angestachelt von der Mutter des Toten, gibt Achmed Abu Khedr die Schuld, ohne genau zu wissen, was eigentlich vorgefallen ist. Die Wege der verschiedenen Parteien, die alle hinter Abu Khedr her sind, kreuzen sich schnell. Raouf und Youssef kommen ins Gespräch und sind sich sympathisch, obwohl sie nicht ganz dieselben Ziele verfolgen. Scheich Achmeds Verhältnis zu Raouf ist dagegen zunächst mal gespannt. Weil er fürchtet, dass Scheich Achmed selbst getötet werden könnte, und damit er die Polizeiaktion nicht stört, lässt Raouf ihn kurzerhand verhaften. Dann trifft noch jemand aus Kairo ein, nämlich Raoufs Stiefvater Ismail, ein hoher Polizeioffizier. Er will die Aktion gegen Abu Khedr jetzt selbst leiten, weil er von Youssefs Vater inoffiziell damit beauftragt wurde. Und sein Erscheinen zeitigt das in Kairo gewünschte Resultat: Abu Khedr wird aufgespürt und in einer nächtlichen Aktion erschossen. Damit sind die verschiedenen Missionen erledigt, und man kann wieder nach Kairo zurückkehren, wo die zweite Hälfte des Films spielt.

Eine Fabrik verrottet, bevor sie fertig ist
Raouf und Scheich Achmed fahren zusammen in einem Jeep, raufen sich dabei zusammen und werden ebenfalls Freunde. Das wird befördert dadurch, dass Raoufs toter Vater Gaber, ein Sänger, mit Achmed und Youssef gut befreundet war. Ebenfalls zu diesem Freundeskreis gehört Baheya, die mit ihrer erwachsenen Tochter Fatma davon lebt, dass sie Zimmer vermietet und Kleider für Filmproduktionen näht. Zuhause erfährt Raouf von Ismail, zu dem sein Verhältnis schon zuvor nicht ungetrübt war, dass dieser nicht nur sein Stiefvater, sondern auch sein biologischer Vater ist, weil er ein Verhältnis zu Raoufs Mutter hatte, als diese noch mit Gaber verheiratet war. Diese Tatsache war vielleicht der Grund dafür, dass sich Gaber das Leben nahm, und Raouf, der Gaber nach wie vor als seinen "richtigen" Vater betrachtet, packt jetzt seine Koffer und zieht aus. Er nimmt sich ein Zimmer bei Baheya, wo er als Sohn des toten alten Freundes Gaber sehr herzlich aufgenommen wird. Unterdessen arbeitet Youssef weiter an seinen Recherchen, und es gelingt ihm, Raouf, der offenbar Urlaub hat, dafür zu begeistern, und Scheich Achmed, Baheya und Fatma beteiligen sich ebenfalls. Tatsächlich gelingt es, die Spur der LKWs, mit denen das Material aus der Fabrik abtransportiert wird, in Kairo wieder aufzunehmen. Und es bestätigt sich, was sich schon angedeutet hatte: Youssefs Vater ist einer der Strippenzieher der Aktion. Doch Youssef hat Schwierigkeiten, die Story bei seiner Zeitung anzubringen. Einerseits bekommt der Chefredakteur Druck, nicht zuviel zu enthüllen, andererseits überschatten der unmittelbar bevorstehende Krieg, mit dessen Ausbrechen jedermann rechnet, alle anderen Themen. Dieser zeitgeschichtliche Rahmen des Films wird von Anfang an etabliert. Nicht nur durch die Texttafel, sondern auch durch Zeitungsschlagzeilen, die ebenfalls ganz am Anfang eingeblendet werden, und dann immer wieder mal durch Dialoge, wenn sich die Protagonisten über die aktuelle Lage unterhalten, sowie durch Briefe von Raoufs Bruder Riad, der als Soldat auf dem Sinai stationiert ist, dem Hauptaufmarschgebiet des bevorstehenden Kriegs.


Und dann ist es tatsächlich so weit: Während Raouf und Fatma, die sich schnell näher gekommen sind, miteinander schlafen, beginnen die israelischen Angriffe, was Chahine in einer Montagesequenz zeigt, in die dokumentarische Aufnahmen der Kämpfe eingeschnitten sind. Die detektivische Recherche der fünf Freunde ist nun bedeutungslos geworden, der Krieg dominiert das Geschehen vollständig. Chahine zeigt jetzt, wie in geschönten Radiomeldungen die Bevölkerung über den aus arabischer Sicht desaströsen Verlauf des Kriegs getäuscht wird. Erst am 9. Juni, dem vorletzten Tag des Kriegs, wendet sich Präsident Nasser in einer Fernsehansprache an das Volk, gesteht die Niederlage ein und erklärt seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern (dem nach Massendemonstrationen für seinen Verbleib bald der Rücktritt vom Rücktritt folgte). "Wir haben den Krieg verloren, ohne es zu merken", kommentiert Scheich Achmed fassungslos diese Ansprache, von der ein Ausschnitt im Film zu sehen ist. Doch das ist für Chahine nicht das Ende. Er inszeniert jetzt den erwähnten Massenprotest, und er macht ausgerechnet die jetzt sehr heroisch gezeichnete Baheya zu einer Anführerin dieser spontanen Aufmärsche, mit denen der Film dann tatsächlich endet. "Wer hat diese Demonstration bestellt? Waren wir das?" fragt sehr bezeichnend ein ratloser Funktionär. Und Chahine interpretiert diese Aufwallung der Massen so, dass hier nicht in erster Linie für Nasser, sondern für eine Fortsetzung des Kampfes gegen Israel unter allen Umständen demonstriert wird. In diesen letzten Szenen hat Chahine auch ein allegorisches Bild untergebracht: Ein Sperling entkommt aus seinem Käfig und fliegt in die Freiheit (zur symbolischen Bedeutung des eponymen Vogels siehe die Texttafel vom Anfang). Aus Chahines damaliger Sicht ist der Schluss des Films sehr konsequent und wirkungsvoll. Für mich als neutralen Betrachter aus großer zeitlicher Distanz ist das aber eine Nummer zu patriotisch, pathetisch und martialisch geraten. Die Möglichkeit eines Friedens mit Israel scheint Chahine damals nicht erwogen zu haben. Aber wer hat das schon im Ägypten von 1972 (oder gar 1967)? Erst nach dem Yom-Kippur-Krieg von 1973 wurde langsam die Zeit dafür reif.

Nasser hält eine schwere Ansprache im Fernsehen
Ich hatte gewisse Schwierigkeiten, in den Film hineinzufinden. Zwar kreuzen sich, wie erwähnt, die Handlungsstränge schnell, aber trotzdem war für mich nicht so schnell zu erkennen, worauf das alles hinausläuft. Das Erzähltempo ist durchaus hoch, besonders am Anfang, dazu kommt eine nichtlineare Zeitstruktur. Die Geschichte wird insgesamt chronologisch erzählt, aber es gibt viele sehr kurze Flashbacks, die nicht deutlich abgegrenzt sind. So bekam ich erst ungefähr in der Mitte den roten Faden zu fassen, und eine zweite Sichtung war fällig. Die enthüllte dann einen komplexen, aber nie trockenen, sondern sehr lebendigen und in den Details liebevoll gezeichneten Film. Neben dem Hauptthema werden auch weitere Aspekte beleuchtet, beispielsweise das Aufeinandertreffen moderner Sitten (und insbesondere moderner Frauenbilder) aus Kairo und archaischer Vorstellungen in der Provinz am mittleren Nil. Trotz eines ideologisch etwas fragwürdigen Endes ist DER SPERLING ein sehr sehenswerter Film. Um ihn - in der inzwischen wieder weitgehend privatisierten Filmlandschaft Ägyptens - drehen zu können, hatte Chahine eine eigene Firma gegründet und das algerische Office National pour le Commerce et l'Industrie Cinématographique, das die Hälfte der Kosten trug, als Kooperationspartner an Bord geholt. Erst diese algerische Beteiligung (der bei späteren Filmen Chahines weitere folgen sollten) verschaffte ihm die notwendige Unabhängigkeit, um das nach wie vor unbequeme Thema des Films in Angriff nehmen zu können. Wie heikel das Thema noch war, zeigte sich schnell: Der Film wurde 1972 in Ägypten von der Zensur verboten und erst 1974 freigegeben. - DER SPERLING ist in der Schweiz bei trigon auf DVD erschienen, und zwar in einer Box, die auch TATORT HAUPTBAHNHOF KAIRO und DIE RÜCKKEHR DES VERLORENEN SOHNES (1976) sowie drei halbstündige Dokus als Bonus enthält. Eine französische DVD-Box mit DER SPERLING und drei weiteren Chahine-Filmen gibt es auch.

Frauen aus der Provinz und aus Kairo (oben Zebeida, eine Verwandte
von Scheich Achmed, l.u. Baheya, r.u. Fatma)

Dienstag, 2. Juli 2013

Bittere Rache und vertauschte Kinder, oder: Montags immer Ravioli

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE (DAS LEBEN IST EIN LANGER, RUHIGER FLUß)
Frankreich 1988
Regie: Étienne Chatiliez
Darsteller: André Wilms (Jean Le Quesnoy), Hélène Vincent (Marielle Le Quesnoy), Catherine Hiegel (Josette), Daniel Gélin (Docteur Mavial), Benoît Magimel (Maurice „Momo“ Groseille-Le Quesnoy), Valérie Lalande (Bernadette Le Quesnoy-Groseille), Patrick Bouchitey (Père Auberger), Catherine Jacob (Marie-Thérèse)




Es ist Heiligabend, und die Krankenschwester Josette freut sich darauf, den Abend mit ihrem Liebhaber, dem Gynäkologen Mavial, zu verbringen – so wie er es ihr versprochen hat. Doch daraus wird nichts, denn im letzten Moment beschließt der Arzt, den Feiertag doch zu seiner Ehefrau nach Hause zu gehen. Josette tobt! Schon wieder ist sie versetzt worden und steht nach dem Weggang Mavials wie bestellt und nicht abgeholt da. Und dann schreien die beiden kleinen Kinder, die Mavial gerade entbunden hat, sich gleichzeitig auch noch die Lunge aus dem Hals. Impulsiv beschließt die völlig entnervte Krankenschwester, die Identität der beiden Neugeborenen zu tauschen, um ihrem griesgrämigen Liebhaber und überhaupt auch der ganzen Welt eins auszuwischen: das Mädchen der Unterschichtsfamilie Groseille wird fortan bei den gutbürgerlich-reichen Le Quesnoy leben, während deren Junge in der Sozialwohnung aufwachsen wird. Und nur Josette weiß es.

Docteur Mavial und Josette
Zwölf Jahre später sind sie und der Doktor Mavial immer noch ein Paar, doch Mavial lebt immer noch mit seiner Frau, die nun mittlerweile auch erkrankt ist. Josette behandelt er wie stets äußerst verächtlich, wenn er sie nicht zwischen zwei Gläsern Weißwein und der nächsten Entbindung ins Sprechzimmer zerrt, um sich mit ihr zu vergnügen. Als Madame Mavial verscheidet, sieht die Krankenschwester ihre Chance und lädt ihren langjährigen Liebhaber dazu ein, endlich mit ihr zusammen zu ziehen, doch der Arzt lehnt ab. Da gehen Josette definitiv die Pferde durch: sie verfasst ein paar böse Briefe, in denen sie die „Umtausch-Aktion“ von vor zwölf Jahren enthüllt und schickt sie an die Familie Le Quesnoy, an die Familie Groseille, an Mavial (und, wie anzunehmen ist, auch an den örtlichen Ärzteverband).

Die Karriere des ehemals respektierten Arztes ist zerschmettert. Doch Étienne Chatiliez‘ schwarze Komödie überlässt dann die beiden zerstrittenen Liebhaber ihren Problemen und folgt den Auswirkungen der Enthüllung auf die beiden völlig unterschiedlichen Familien. Die Le Quesnoy sind eine überaus wohlhabende, großbürgerliche Familie wie aus dem Bilderbuch (bei der Sichtung könnte man auch denken: wie aus der Hölle). Vater Le Quesnoy ist der Direktor der städtischen EDF, Mutter Le Quesnoy ist Hausfrau und kümmert sich um die fünf Kinder und die Organisation des Haushaltes (das heisst, sie kommandiert die Haushälterin herum). Alles ist streng durchorganisiert: die Kinder waschen sich natürlich vor dem Essen die Hände und Montags gibt es immer Ravioli. Am Essenstisch wird das nächste Kanu-Ferienlager der Kinder mit Vorfreude, die vielleicht jüdische Herkunft des Verlobten einer Familienfreundin mit skeptischer Sorge und die schwierige Situation der sozial Benachteiligten mit salbungsvoller Selbstgerechtigkeit diskutiert. Das Milieu ist konservativ-katholisch: begeistert nehmen die Le Quesnoy am kirchlichen Gemeinde-Leben teil, regelmäßiger außerschulischer Religionsunterricht für die Kinder und Engagement bei kitschigen Kinderchor-Aufführungen inklusive. Der Stock, den alle Le Quesnoy offenbar Tag und Nacht im Arsch tragen, ist gewissermaßen de rigeur!

oben: die Le Quesnoy; unten: die Groseille
Die Groseille hingegen wohnen in einem Sozialbau und zapfen ihren Strom illegal ab. Vater Groseille ist ein Kriegsinvalide, der den ganzen Tag Karten spielt, über die Araber schimpft und stolz darauf ist, wie er ihnen während des Algerienkriegs eingeheizt hat. Mutter Groseille guckt vor allem Fernsehen und kümmert sich darum, in welchem Blond-Ton sie heute ihre Haare färben wird. Den einen Sohn sieht man erst später im Film, weil er wegen Diebstahl im Gefängnis sitzt und der jüngste ist offenbar geistig etwas zurückgeblieben. Die älteste Tochter teilt Beschäftigungsarten der Mutter. Um den Lebensunterhalt der Familie kümmern sich die beiden mittleren Söhne, (besonders aber Maurice, der vertauschte Le Quesnoy), in dem sie alten Damen Handtaschen klauen oder sonstige kleine Betrügereien organisieren.

Auf die Nachricht, die ihnen die frustrierte Josette schickt, reagieren beide Familien ebenfalls sehr unterschiedlich. Nachdem die erste Nervenkrise (und die Brechreiz-Anfälle) Marielles überwunden sind, beschließen die Le Quesnoy-Eltern, den „verlorenen Sohn“ Maurice unter jeglichem Preis wieder in seine recht- und standesmäßige Umgebung „zurückzuholen“. Über den Preis haben sich die Groseille ihrerseits schon Gedanken gemacht, und besonders der „verlorene“ Maurice regt dazu an, die Le Quesnoy ordentlich auszunehmen. Nachdem einige Bündel Geldscheine übergeben worden ist, einigen sich Jean Le Quesnoy und die Groseille-Eltern darauf, dass Maurice zu seiner biologischen Familie übersiedelt, Bernadette jedoch erst einmal eine Weile bei den Le Quesnoy bleibt, um die junge Teenagerin zu schonen – angesichts dessen, dass sie erste Anzeichen pubertärer Bockigkeit und Rebellion zeigt, ist das vorerst keine schlechte Idee.

Maurice verrät Bernadette ein Geheimnis.
Ihr vergeht daraufhin der Appetit auf Suppe.
Maurice passt sich an die neue Situation sehr schnell an, zumal ihm das nunmehr sehr viel bequemere Leben verständlicherweise gut behagt. Die großbürgerlichen Umgangsformen seiner „neuen“ Familie nimmt er rasch an, wenngleich nur äußerlich: emotionale Bindungen baut er keine auf, denn diese gehören seiner „alten“ Familie, den Groseille. Auch das Tafelsilber der Le Quesnoy eignet sich Maurice nach und nach an, um es in seinem alten Viertel zu Bargeld zu verwerten. Seine „neuen“ Geschwister wurden von den Eltern nicht über die wahren Hintergründe informiert: ihnen sagen sie, dass sie Maurice aus christlich-wohltätigen Motiven adoptiert haben. Als jedoch Bernadette ihrem „neuen“ Bruder gegenüber sehr „klassenbewusst“ mitteilt, dass sie arme Leute hasst und verabscheut, weiht er sie in das Geheimnis ein. Es kommt zur Krise: in einer sehr denkwürdigen Szene verschüttet Bernadette beim Familien-Mittagsmahl ihre grüne Suppe auf das weiße Tischtuch, verstößt mit aller verbaler Gewalt ihre Eltern, ihre bisherige Familie und ihre „richtige“ Familie, sperrt sich in ihrem Zimmer ein und reißt schließlich sogar aus.

Der wunderschöne Schein der Le Quesnoy-Familie bricht immer mehr zusammen. Sohnemann Paul bandelt mit der grell-vulgären Groseille-Tochter Roselyne an und will sich ein Motorrad kaufen. Logisch, dass es für ihn und die anderen Le Quesnoy-Söhne nur noch wenige Schritte hin zu Baden an illegalen Stränden, Bier-Trinken, Rauchen und schließlich Klebstoff-Schnüffeln ist. Das alles ist dann auch für Marielle Le Quesnoy zu viel, die nach und nach eine erhöhte Neigung zu Alkoholkonsum und erratischem Verhalten an den Tag legt.

Der Debütfilm des früheren Werbespot-Filmers Étienne Chatiliez zeichnet sich, wie auch seine späteren zynischen Komödien, durch ein hervorragendes Schauspieler-Ensemble aus, das bis in die letzte kleine Nebenrolle perfekt besetzt ist. Mehr als alles andere ist LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE ein Schauspieler-Film, dessen zahlreiche Humor-Pointen eben vor allem dank der tollen Darsteller gelingen. Wo soll man hier nur anfangen? Bei den Kindern? Die Hauptrolle des Films hat zweifelsohne Benoît Magimel als Maurice. Als 12-Jähriger wurde er über eine Anzeige in der Tageszeitung „Libération“ auf die Rolle des „Momo“ aufmerksam. Dass er damals nur ein Laie war, ist fast unglaublich: die verschiedenen „Masken“ (von Zynismus bis Engelsgesicht), die seine Rolle jeweils in unterschiedlichen Umgebungen fordert, meistert er scheinbar mühelos. Magimel ist mittlerweile ein etablierter Schauspieler (er hat u. a. mit Michael Haneke, Jean Becker und mehrmals mit Claude Chabrol gedreht), ganz im Gegensatz zur nicht weniger überzeugenden Valérie Lalande: die angepisst-rebellische Bernadette blieb ihre einzige Filmrolle. Das selbe gilt auch für Guillaume Hacquebart, der die Wandlung des Paul Le Quesnoy vom musterhaften Ältesten zum Möchtegerne-Motorrad-Rebell solide darstellt. Claire Prévost, die ihm als nuttig-trashige Groseille-Tochter Roselyne im Film den Kopf verdreht, spielt seitdem eher gelegentlich in TV-Produktionen mit. 

Bei den Erwachsenen ist Daniel Gélin derjenige, zu dem man hier an dieser Stelle wohl am wenigsten sagen muss. Besonders denkwürdig ist der Moment, nach dem er den Rachebrief seiner Geliebten gelesen hat: der sonst immer so gefasste Arzt kommt vor lauter Erstaunen kaum noch klar, und stammelt völlig ungläubig und empört wiederholt „la salope“ (diese Schlampe) vor sich hin. Catherine Hiegel, die zwar einige Filme gedreht hat, ist in Frankreich vor allen Dingen als renommierte Theater-Schauspielerin der Comédie-Française bekannt. Auch André Wilms, der den Vater Le Quesnoy mit überaus passender Trockenheit darstellt, ist vor allen Dingen ein Theaterschauspieler, hat aber auch immer wieder mit Aki Kaurismäki (u. a. LE HAVRE) zusammengearbeitet und später auch in Chatiliez‘ TATIE DANIELLE und TANGUY gespielt.

Zunächst streng und resolut, später etwas aufgelöst:
Die wunderbare Hélène Vincent als Marielle Le Quesnoy.
Ohne Zweifel die schwierigste, weil zutiefst undankbarste Rolle, spielt Hélène Vincent als Marielle Le Quesnoy: katholisch-verklemmte, scheinheilige Spießigkeit auf zwei Beinen, die nach und nach immer mehr die Fassung verliert und als groteskes Alkohol-Wrack endet. Grandioser Mut zur Hässlichkeit! Zwischendurch erinnert ihre Stimme ein wenig an den Klang von Kreide auf einer Schultafel, was hier sehr adäquat erscheint. Der „César“ für die beste weibliche Nebenrolle im Jahr 1989 war mehr als verdient!

Sehr bemerkenswert ist auch Patrick Bouchitey als hyperaktiv-engagierter und überaus schleimiger katholischer Priester Auberger. Seine Sternstunde hat er bei der Kinderchor-Aufführung, als er das Lied „Jésus reviens“ (Jesus komm zurück) anstimmt. Dass LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE in Frankreich als Kultfilm gefeiert wird, ist sicherlich in erheblichen Teilen dieser Szene zu verdanken, die zwar dramaturgisch relativ sinnfrei ist, jedoch die Atmosphäre bissiger Satire gegen katholisch-konservative Spießer-Kultur auf die Spitze treibt.

Dieser unglaubliche Moment ist hier zu sehen. Damit auch Leser, die des Französischen nicht mächtig sind, ihn mit Genuss anschauen können, ist hier der Text (von Étienne Chatiliez und Co-Drehbuchautorin Florence Quentin) mit eigener Übersetzung:

Quand il reviendra il fera grand jour
Pour fêter celui qui inventa l‘amour
Au fond d‘une étable, il naquit de Marie
Personne n‘avait voulu de lui
(Wenn er zurückkommt wird es taghell sein
Um jenen zu feiern, der die Liebe erfand
In der Tiefe eines Stalls wurde er von Maria geboren
Niemand hatte ihn haben wollen)

Jésus reviens, Jé-ésus reviens
Jésus reviens parmi les tiens
Du haut de la croix indique-nous le chemin
Toi qui le connais si bien
(Jesus komm zurück, Jesus komm zurück
Jesus komm zurück zu den Deinigen
Zeig uns von oben am Kreuz den Weg
Du, der ihn so gut kennt)

Toute sa vie, il prêchait le bonheur, la paix
La bonté et la justice étaient sa loi
Quand il reviendra, il nous pardonnera
Comme il l‘avait fait pour Judas
(Sein ganzes Leben lang predigte er das Glück, den Frieden
Die Güte und die Gerechtigkeit waren sein Gesetz
Wenn er zurückkommt, wird er uns verzeihen
Wie er das für Judas getan hatte)

Jésus reviens, Jé-ésus reviens
Jésus reviens parmi les tiens
Du haut de la croix indique-nous le chemin
Toi qui le connais si bien

Dans une grande clarté il apparaîtra
Comme il le fit pour Marie de Magdala
Le monde entier laissera éclater sa joie
En chantant: Jésus est là
(In einem großen Licht wird er erscheinen
Wie er es für Maria von Magdala getan hat
Die ganze Welt wird wird vor Freude platzen
In dem sie singt: Jesus ist hier)

Jésus reviens, Jé-ésus reviens
Jésus reviens parmi les tiens
Du haut de la croix indique-nous le chemin
Toi qui le connais si bien

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE war 1988 mit knapp über vier Millionen Eintritten der vierterfolgreichste Film, der in diesem Jahr in den französischen Kinos lief. Der überwältigende Erfolg ermunterte die Macher dazu, eine Single des Liedes (mit einer zusätzlichen Strophe!) herauszugeben (hier ein Link mit Abbildung des Covers und einer Hörprobe).

Wittert den Duft von Ravioli: Père Auberger
Im Hintergrund: Paul Le Quesnoy
Ebenso für den Kultstatus des Films dürfte eine kleine Phrase des Films sein, die die satirische Darstellung provinzieller Spießbürgerlichkeit am wohl treffendsten zusammenfasst: als der Priester Auberger die Familie Le Quesnoy eines Abends kurz besucht, merkt er beiläufig an, dass es im Haus gut rieche und Marielle Le Quesnoy sagt daraufhin „C‘est lundi, c‘est ravioli“ (sinngemäß: „Es ist Montag, es gibt Ravioli“). Der Spruch erfährt im weiteren Verlauf des Films zwei kleine Variationen. Als Marielle Le Quesnoy ihren Zusammenbruch erleidet und nicht mehr kochen kann, werden (es ist wohl Montags) Fertig-Dosenravioli gereicht: die Kinder sind sich daraufhin uneinig, ob diese besser als Muttis Ravioli schmecken. Wenig später erwischt Jean Le Quesnoy seine Söhne, die Groseille-Söhne und einige von deren Freunden dabei, wie sie Klebstoff in der Garage schnüffeln und fragt zornig, was das denn sein solle. High und kichernd antwortet ihm sein ältester Sohn Paul mit... „C‘est lundi, c‘est ravioli“. Der Spruch ist dermaßen kultig geworden, dass sogar damit bedruckte T-Shirts verkauft wurden (siehe hier: der Status ausverkauft deutet auf den Erfolg dieses Produkts hin)!

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE ein witziger Film ist und bleibt sicher nicht grundlos als satirisch-bissige Komödie in Erinnerung, die mit einem herrlich bösen Humor glänzt. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich Chatiliez‘ Debüt allerdings auch als sehr düster, pessimistisch und zynisch. Stellenweise sind auch blanker Nihilismus und Misanthropie spürbar: ein trostloses Bild der Menschheit durchzieht den Film. So interessant, skurril und witzig die meisten Figuren sind, so sind sie auch durch die Bank antipathisch und zutiefst korrupt – sieht man von den allerjüngsten der Kinder ab, die sowieso eine periphere Rolle spielen. Egoismus, Geldgier, Rassismus, Scheinheiligkeit, Intoleranz und moralische Korruption prägen die Groseille genauso wie die Le Quesnoy. Alle beide treten mit Vergnügen jeweils nach unten, in Richtung der jeweils Schwächeren: die Le Quesnoy in den eigenen vier Wänden gegen die Groseille, die Groseille gegen den arabischen Lebensmittelhändler um die Ecke. Davon sind auch die Teenager nicht ausgenommen. Die Frage, inwiefern Umwelt oder die genetischen Prädispositionen prägender auf den Menschen wirken, wird hier absolut eindeutig beantwortet: egoistisch, dumm und moralisch korrupt sind alle Menschen – kleine Variationen in der Form (aber nicht im Inhalt) ergeben sich aus den sozialen Umständen. Alle Figuren in LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE bleiben (fast unmenschliche) Typen und jede weitere Facette, die wir über sie lernen, ist meistens eher abstoßend. Die Radikalität in den Charakterzeichnungen ist für ein Mainstream-Film bemerkenswert: mutigerweise wird der Zynismus bis zum bitteren Ende durchexerziert. In seinen späteren Filmen ist Chatiliez sicherlich nicht zum verständnisvollen Humanisten geworden, milderte jedoch die Erbarmungslosigkeit seiner satirischen Vision etwas ab.

Süße Rache mit einem Schuss Cognac
Vielleicht höchstens bei den beiden Hauptfiguren der Rahmenhandlung, der Krankenschwester Josette und dem Gynäkologen Mavial, findet sich etwas wirklich Menschliches – bedingungslose und reine Liebe, die freilich beide ins Verderben stürzt. Zweifelsohne liebt Mavial seine Ehefrau, und seine tiefe Trauer nach ihrem Tod ist sicherlich nicht gespielt. Trotz dieses sympathischen Charakterzugs ist er aber nicht nur ein gefühlskalter Alkoholiker, sondern missbraucht auch völlig schamlos seine Liebhaberin (die, wie wir dann herausfinden, sogar einmal von ihm schwanger geworden ist und zur Abtreibung genötigt wurde). Josettes bedingungslose Liebe zu Mavial ist in diesem Licht etwas unverständlich, wenngleich um so bemerkenswerter. So irrational ihre Liebe, um so heftiger ist dann auch ihre Rache, die die Haupthandlung des Films überhaupt erst einleitet. Die letzte Minute des Films, nachdem die Konflikte der Groseille und Le Quesnoy vorerst durch die Sommerferien aufgeschoben werden, kehrt wieder zur Rahmenhandlung zurück und fasst den zynischen Humor und das trostlose Weltbild des Films zusammen: zufrieden kann Josette mit Cognac und aufgedrehtem Radio in einem schönen Strandhäuschen feiern – sie hat nun beides bekommen, ihre Rache und ihren Liebhaber!

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE ist in französischen, britischen und deutschen DVD-Editionen verfügbar.