Montag, 22. Juni 2015

Howard Hawks zu Gast bei Jess Franco

X312: FLUG ZUR HÖLLE
Bundesrepublik Deutschland / Spanien 1971
Regie: Jess Franco
Darsteller: Thomas Hunter (Tom), Esperanza Roy (Anna Maria Vidal), Fernando Sancho (Bill der Steward), Gila von Weitershausen (Steffi), Siegfried Schürenberg (Alberto Rupprecht), Howard Vernon (Pedro)


Vor einigen Wochen schrieb ich in meinem Bericht zum goEast-Festival 2015 über einen Film, der die „trashig-sleazige“ Seite von Artur Brauners Wirken als Filmproduzent veranschaulichte. Nun, im Gegensatz zur „Riskanten Welle“, die sich auf einen Film beschränkte (also ČOVEK I ZVER), war Brauner in diesem Bereich etwas umfangreicher tätig. So produzierte er ab Anfang der 1970er Jahre mehrere Filme des Eurosleaze-Papstes Jess Franco, darunter VAMPYROS LESBOS, DR. M SCHLÄGT ZU (eine Art Mabuse-Ripoff, wenn man das wirklich so sagen möchte), DER TODESRÄCHER VON SOHO (nach einer Vorlage von Edgar Wallaces Sohn Bryan Edgar) – und eben X312: FLUG ZUR HÖLLE. Das Arbeitsverhältnis Brauners mit Franco war wohl enger als mit Menahem Golan, da er mit dem Spanier zusammen auch die Drehbücher verfasste.

Stets mit charmantem Lächeln, oft mit schmackhaftem
Drink in Griffweite: Tom (hier im Beicht-Modus)
Irgendwo in einer brasilianischen Küstenstadt lässt sich ein etwas müde aussehender Mann zu einem Bürogebäude chauffieren. Dort setzt er sich in einen Arbeitsraum, greift nach den beiden Arbeitsgegenständen, die er in den nächsten Stunden brauchen wird – nämlich eine Flasche Scotch mit Glas und ein Diktiergerät – und beginnt seine Erzählung, oder man möchte fast sagen: seine Beichte. DOUBLE INDEMNITY-mäßig erinnert er sich an die vergangenen, todbringenden Ereignisse. Tom, der im „wahren“ Leben als Reporter arbeitet, ist zusammen mit einer Gruppe von mehr oder minder bizarren Passagieren in einem holprigen Flugzeug aus Chile geflohen (wir schreiben das Jahr 1971: Salvador Allende ist der erste Marxist, der in demokratischen Wahlen Ende 1970 zum Präsident eines lateinamerikanischen Landes gewählt wurde – für manche Leute in Chile und international ein geradezu apokalyptisches Ereignis, wesentlich apokalyptischer als die Ereignisse Ende 1973. Jedenfalls greift der Film diese „Rote-Socken“-Panik auf, zumindest am Rande). Unter Toms Co-Passagieren findet sich ein hunde- und männerliebender spanischer Adeliger, eine ultranervige US-amerikanische Touristin, die naive junge Wienerin Steffi, ein junger Mann namens Carlos, der besagter Steffi schöne Augen macht, der grobschlächtige Steward Bill und eine mysteriöse Schönheit namens Anna Maria Vidal. Vor allem aber fliegt der ehemalige Chef der chilenischen Nationalbank Alberto Rupprecht mit einem Aktenkoffer voller Kostbarkeiten mit. Dumm nur, dass dies nicht geheim gehalten wurde und er nur einen Bodyguard dabei hat, der sich auch noch auf dem Flugzeugklo wie ein kleiner Amateur von einem Gangster erschießen lässt. Der Gangster allerdings, der den Auftrag hat, die Maschine zu einem mit seinen Auftraggebern ausgemachten Treffpunkt umleiten zu lassen, ist auch nicht der Geschickteste: den Piloten kann er im Cockpit nicht unter Kontrolle bringen und die Maschine stürzt ab. So findet sich die illustre Gesellschaft mitten im brasilianischen Dschungel wieder. Der Survival-Marsch beginnt. Würze in das ganze bringt die Tatsache, dass alle auf den Inhalt von Alberto Rupprechts Koffer neugierig sind, und die gröberen unter ihnen (zum Beispiel der Steward Bill) durchaus bereit sind, über Leichen zu gehen.

So weit, so banal, möchte man sagen. X312: FLUG ZUR HÖLLE könnte ein fürchterlicher Langweiler sein (und die ersten zehn Minuten deuten ein wenig in diese Richtung). Dennoch ist der Film, wenn man keine allzu bornierte Sichtweise auf Kino und seine Magie hat, wunderbar gelungen. Und zugespitzt ausgedrückt könnte man sagen: er ist gelungen, trotzdem Jess Franco auf dem Regiestuhl saß und gleichzeitig eben weil der exzentrische Spanier den Film gedreht hat.

Zum „trotzdem“: X312: FLUG ZUR HÖLLE ist ein Actionfilm mit leichtem Survival-Thriller-Touch, also ein Stoff, der eine effiziente, ökonomische, dynamische Inszenierung verlangt, mit einem Drehbuch, das recht schnörkellos von A nach B führt. Das sind nicht gerade Attribute, die man mit Jess Franco in Verbindung bringt, bei dem eine Striptease-Szene sich auch über ganze fünf Minuten hinziehen kann und dessen Filme im Allgemeinen eher frei assoziativ als kompakt zusammengeschnürt sind. Die Gratwanderung gelingt ihm dennoch und mit X312: FLUG ZUR HÖLLE ist etwas herausgekommen, das man wohl als so etwas wie einen „straighten“ Jess-Franco-Actionfilm bezeichnen kann (aber bei über 200 Filmen kann es durchaus vielleicht noch ein weiteres halbes Dutzend von dieser Sorte geben).

X312: FLUG ZUR HÖLLE ist tatsächlich als Actionfilm im wörtlichen Sinne inszeniert, als Aktionsfilm, als Film der permanenten Bewegung. Bei Franco bewegt sich die Kamera meistens nicht, sie zoomt, rein, raus, wieder rein, und das nicht zu wenig. Und was hier Franco liefert, ist ein schwindelerregendes Crashzoom-Feuerwerk ohnesgleichen. Kein Stillstand, immer Bewegung, Schnitt von einem Zoom in den nächsten. X312: FLUG ZUR HÖLLE wurde mehr am Schneidetisch realisiert als „in“ der Kamera. Das betrifft natürlich auch den Zusammenschnitt aus holprigen Studiodrehs mit Aufnahmen, die sehr offensichtlich von der Second Unit gedreht wurden oder gar Stockmaterial sind und der bei Jess Franco fast schon als „auteuristisches“ Statement erscheinen kann. Was in einigen seiner anderen Filme nicht recht überzeugt, weil es den Bogen dann doch überspannt, funktioniert hier wunderbar. Franco übt sich sogar ein wenig darin, Stockmaterial zu sparen, wenn die Explosion des Flugzeugwracks so gefilmt wird, dass sie nur zu hören bzw. auf den schockierten Gesichtern der Verunglückten zu sehen ist.

So schön kann es sein, sich zu verlieben!
Wohldosierte Zärtlichkeit in einer erbarmungslosen Welt
In den ersten Minuten des Films überwog bei mir noch die Skepsis. Die „Vorstellung“ der Flugpassagiere durch Tom im Off weckte mein Interesse, weil die teils gekippt gefilmten Bilder der Gesichter so bizarr und elliptisch zusammengeschnitten wurden. Die kurze Zwischenlandung in einer schmierigen Dschungelbar (wo Alberto Rupprecht zusteigt) nahm mich schließlich ganz für den Film ein. Steffi, die Wienerin, sitzt Carlos gegenüber. Den Kuschelbär, den sie im Flugzeug auf dem Nebensitz angeschnallt hatte, hat sie für die Zwischenlandung mit raus genommen (wie sie überhaupt auch später im Dschungel den Teddybären immer mit sich und ihn sogar zwischendurch zu Carlos' Radio tanzen lässt!). Carlos hingegen hat sein tragbares Radio auf den Tisch gestellt: es läuft gerade ein leichter Schlager und der Junge Mann beginnt, fröhlich die Melodie mitzupfeifen, während er die Wienerin dabei anschaut. Steffi, die bislang die Blicke Carlos‘ eher uninteressiert, wenn nicht sogar etwas genervt entgegennahm, fängt an zu lächeln! Später kriegen die beiden vor lauter Lächeln und Pfeifen gar nicht mit, dass es mit dem Flug weitergehen soll und der Steward muss sie schon sehr laut auffordern, mitzukommen. Die Szene in der schmierigen Dschungelbar ist überhaupt toll: das Dekor ist wahrscheinlich eher eine bundesdeutsche Kantine, aber das „Beba CocaCola“-Schild und ein Pflanzentopf mit brasilianischer Flagge teilen uns mit, dass wir uns im südamerikanischen Dschungel befinden. Bill tauscht ein paar Worte mit dem Kneipier aus (der für den Steward natürlich noch ein kaltes Getränk im Hinterzimmer übrig hat). Tom ist offenbar verkatert und deswegen trinkt er ein großes Glas Rum mit einer darin aufgelösten Aspirintablette. Die mysteriöse Schönheit namens Anna Maria Vidal, die später im Film wichtig wird, sitzt weiterhin hinten, raucht und sieht dabei verführerisch und mysteriös aus. Dann geht‘s weiter.

Edelsteine mit klangvollen Namen
Von Hawks‘ianischer Figurencharakterisierung zu sprechen ginge vielleicht zu weit, aber tatsächlich werden die Figuren in X312: FLUG ZUR HÖLLE hauptsächlich über ihre Handlungen und nicht über ihre Auslassungen charakterisiert. Stichwort Hawks: der hat zusammen mit einigen anderen großen Regisseuren ein kleines Cameo in einer der wohl wunderlichsten Details dieses an Details sehr reichen Films. In der Aktentasche des Alberto Rupprecht befindet überhaupt kein Geld, sondern gewöhnlicher Plunder – und ein unscheinbares Zigarrenkarton, das einige wertvolle Edelsteine enthält. Das findet Bill heraus, nachdem er Rupprecht ermordet und den Krokodilen zum Fraß gegeben hat. Die weggeworfene Zigarrenschachtel findet später Anna Maria Vidal, und darin befindet sich ein Papier mit der Auflistung der Edelsteine – und ihrer Namen!

Aufgelistet von den teuersten zu den billigsten (unter den Namen, die erkennbar sind) handelt es sich um:
[Howard] „Hawks“ – 374.000 $
[Buster] „Keaton“ – 325.000 $
[Nicholas] „Ray“ – 243.000 $
[Ernst] „Lubitsch“ – 198.000 $
[Max] „Ophuls“ – 145.000 $
[Josef von] „Sternberg“ – 121.000 $
[George] „Cukor“ – 120.000 $
[Alexander] „Dovjenko“ – 117.000 $
[Budd] „Boetticher“ – 90.000 $
„Scarface“ – 88.000 $ (zwei Mal Hawks kann nie schaden?)
(Ohne Pause- und Einzelbild-Funktion beim DVD-Player hätte ich Sternberg vielleicht nicht und Cukor sicherlich gar nicht entdeckt.)
Wenn ich den Film bis zu diesem Zeitpunkt auch schon vorher mochte: spätestens da habe ich mich in ihn verliebt. Mitten im Urwald in einem wilden Action-Survival-Exploiter eine Liste mit den „teuersten“ Regisseuren rauszuholen, das hat schon irgendwie Klasse! Ob das Francos und Brauners gemeinsame Liste ist? Dass Franco den Surrealisten Keaton, den expressionistischen Seelenerkunder Ray und den abstrakten Minimalisten Boetticher mochte, wäre zumindest nicht verwunderlich.

Nackte Haut; grausame Tode; Howard Vernon mit Bräunungscreme
und Goldkettchen; Faustkampf auf dem Lastwagen
X312: FLUG ZUR HÖLLE bleibt dennoch ganz und gar ein Franco-Film. Am deutlichsten wird dies in den Szenen, die man als „Sleaze-Inserts“ bezeichnen könnte. Anna Maria Vidal, die ausgiebig zur treibenden Musik Bruno Nicolais in einer Dschungelkaskade badet – dann wird sie von einer Schlange bedroht und von Tom gerettet, der ihr mitteilt, dass er sie wie die Schlange die ganze Zeit beobachtet hat. Oder Anna Maria Vidal, die später von der Freundin des schmierigen Dschungelgangsters Pedro (Howard Vernon mit angeklebtem Schnurrbart und Bräunungscreme) auf dessen Anordnung vergewaltigt wird, bevor er dann selber ranmöchte (dumm für ihn, dass er in seinem Zimmer Stichwaffen so offen rumliegen lässt).

Am Franco-istischsten ist vielleicht der Umgang mit dem gewaltsamen Tod der Figuren. So unfeierlich, dreckig, klanglos, gänzlich von jeglichem Pathos entledigt sterben in Filmen wohl nur wenige Figuren außerhalb des Franco-Universums. Das betrifft nicht nur „Pappkameraden“ am Rande, sondern den harten Kern der Figurenriege. Die zarte Liebe, die Franco zwischen Steffi, Carlos, seinem Radio und ihrem Teddybär sanft aufbaut, ist ein zartes Pflänzchen, das vor Pfeilen, Messern, Gruppenvergewaltigungen und Kopfschüssen nicht sicher ist. Ein einfaches Abenteuer-Survival-Filmchen mit Diamantenraub-Subplot hätte jeder drehen können. Für einen holprigen Exploiter voller irritierender Brüche, der weder schmachtenden Kitsch noch wahrhaftig Abgründiges verschmäht, der den Zuschauer zwischendurch geradezu auf die Schnauze fallen lässt, brauchte es schon einen Exzentriker wie Franco.

X312: FLUG ZUR HÖLLE ist in Deutschland auf einer DVD von Pidax erhältlich. Ton und Bild sind in Ordnung, wirklich mehr, was man auf dieser Edition gut oder schlecht finden könnte, gibt es nicht, außer vielleicht, dass der Film hier im Gegensatz zur britischen DVD offenbar ungekürzt ist.