Montag, 22. Februar 2016

Mit André Malraux im Spanischen Bürgerkrieg

André Malraux war nicht nur ein bedeutender linker Schriftsteller und Intellektueller, und später ein umtriebiger gaullistischer Kulturpolitiker, er hat auch als Regisseur einen einzigen Film gedreht, und um den soll es hier gehen.

SIERRA DE TERUEL (auch ESPOIR, dt. HOFFNUNG)
Spanien/Frankreich 1939/45
Regie: André Malraux
Darsteller: Andrés Mejuto (Hauptmann Muñoz), Nicolás Rodríguez (Pilot Márquez), José Sempere (Kommandant Peña), José María Lado (Bauer), Julio Peña (Attignies), Pedro Codina (Hauptmann Schreiner)

Ein Bomber landet mit brennendem Triebwerk ...
Von den Romanen über den Spanischen Bürgerkrieg dürften Malraux' L'Espoir (Die Hoffnung, 1937) und Ernest Hemingways For Whom the Bell Tolls (Wem die Stunde schlägt, 1940) zu den bedeutendsten zählen, und beide wurden zeitnah verfilmt. Aber während Sam Woods FOR WHOM THE BELL TOLLS zu einem breiten Hollywood-Epos mit Gary Cooper und Ingrid Bergman geriet, das man auch heute noch gelegentlich im Fernsehprogramm findet, ist Malraux' Verfilmung seines eigenen Stoffs ein kleiner, aber feiner Film, der außerhalb Spaniens und Frankreichs kaum bekannt wurde (auch wenn er 1961 mal in der ARD lief). Und fast wäre er noch vor seiner Kinopremiere 1945 vom Erdboden verschwunden, denn nur zwei Kopien haben mit Müh' und Not die Zeit des Zweiten Weltkriegs überstanden. Wie es dazu kam, ist eine verwickelte und selbst fast filmreife Geschichte, die ich hier ausführlich wiedergeben will. - Zwischen Malraux und Hemingway herrschte übrigens eine innige Feindschaft. Zwar respektierten sie sich künstlerisch durchaus, aber persönlich waren sie sich zuwider. Malraux verachtete Hemingways Machismo, Angeberei und (wie er meinte) simples Gemüt, Hemingway wiederum war von Malraux' ermüdenden philosophischen Monologen und seinem Dandytum genervt, und er beschuldigte ihn, sich aus Feigheit zu früh aus dem Bürgerkrieg davongeschlichen zu haben (sicher zu Unrecht - mehr darüber weiter unten). Aber das nur am Rande - hier soll es nicht weiter um Hemingway gehen.

... und am Boden warten gebannt die Kameraden
SIERRA DE TERUEL beleuchtet in seiner kurzen Laufzeit von ca. 75 Minuten fragmentarisch eine Episode aus dem Bürgerkrieg im Jahr 1937, in einer Phase, als die republikanischen Truppen und die Freiwilligenverbände gegenüber den Franquisten bereits in der Defensive waren, aber noch nicht auf verlorenem Posten standen. Ort des Geschehens ist die Stadt Teruel und die umliegenden Dörfer und Berge. Die etwas inkohärente Struktur des Films liegt einerseits daran, dass er nicht wie geplant fertiggestellt werden konnte, und ist andererseits bereits im Roman angelegt, der keinen hervorgehobenen Helden und keinen einzelnen großen Spannungsbogen enthält, sondern kaleidoskopisch verschiedene Schauplätze und Handlungsepisoden vorstellt. Daraus hat Malraux, der auch der Hauptautor des Drehbuchs war, für den Film nur einen kleinen Ausschnitt übernommen, und er hat bewusst einen anderen Titel als den des Romans für den Film gewählt. Gedreht wurde der größte Teil in und um Barcelona, und einige Szenen, die in Spanien nicht mehr realisiert werden konnten, entstanden in Pariser Studios. Die Sprache des Films ist Spanisch, und es kamen ausschließlich spanische Darsteller zum Einsatz - für die größeren Rollen vorwiegend professionelle und semiprofessionelle Schauspieler, aber keine Stars, und es wurden auch viele Laiendarsteller verwendet, einschließlich eines gerade frisch rekrutierten Regiments republikanischer Soldaten, das für eine Massenszene am Schluss abgestellt wurde. Malraux' Schriftstellerkollege Max Aub, der auch einer der drei Regieassistenten war (die anderen beiden hießen Boris Peskine und Denis Marion), übersetzte Malraux' Dialoge ins Spanische.

Schlichte Trauerfeier für einen italienischen Flieger
Damit der Film nicht zu elliptisch oder gar unverständlich wirkt, sind über die Laufzeit verteilt sieben Texttafeln (auf Französisch) mit Erklärungen zur jeweiligen strategischen Situation untergebracht. Im Zentrum des Geschehens steht eine Brücke in der Nähe der Ortschaft Linas, die die Republikaner unbedingt zerstören müssen, um die Truppen Francos vom Nachschub abzuschneiden und den eigenen Kräften das Vorrücken zu ermöglichen. Eine Flugstaffel der republikanischen Luftwaffe hat bisher erfolglos versucht, die Brücke zu bombardieren - die eigenen Flugzeuge sind nicht nur veraltet, der Gegner ist mit seinen Jagdflugzeugen auch zahlenmäßig weit überlegen. Gerade hat einer der erfolglosen Bomber eine Bruchlandung auf dem Flugplatz hingelegt, und Kommandant Peña, der Kommandeur der Staffel, hält eine schlichte Abschiedsrede für einen tödlich verletzten italienischen Flieger, der als Freiwiliger in der Staffel diente.


Doch nicht nur die reguläre Armee kämpft gegen die Putschisten, sondern auch der größte Teil der Bevölkerung ist solidarisch mit den Regierungstruppen und beteiligt sich tatkräftig, und, wenn es sein muss, auch kämpfend am Krieg. Doch wie der Film zeigt, fehlt es an allen Ecken und Enden an der Ausrüstung: Es gibt nicht genug Gewehre für die kampffähigen Männer, auf Peñas Flugplatz funktioniert das Telefon nicht zuverlässig, und ein Teil der Flugzeuge steht nutzlos ohne Motoren im Hangar. Umso größer ist die Einsatzbereitschaft der Offiziere, Soldaten und Freiwilligen. Da ist etwa der Deutsche Schreiner, der im ersten Weltkrieg Kampfpilot war, aber seit 1918 nicht mehr geflogen ist und seitdem im Bergbau tätig war. Obwohl seine Sehkraft nachgelassen hat, meldet er sich freiwillig als Flieger - und legt prompt eine Bruchlandung hin, die er aber heil übersteht. Immerhin sieht er noch gut genug, um als Bordschütze in einem der Bomber nützlich zu sein. Bei Verdun standen er und einige seiner internationalen neuen Kameraden noch auf verschiedenen Seiten, wie einer von ihnen anmerkt. In einer anderen Episode erhalten Dörfler, die eigentlich gegen die Faschisten kämpfen sollten, nicht die erhofften Gewehre, sondern nur Dynamit. Sie machen das Beste daraus, indem sie aus dem Sprengstoff und improvisierten Behältern Sprengfallen für den vorrückenden Gegner basteln. Auch echter Heldenmut wird im Film gezeigt: Als eine informelle Kampfgruppe das von den Franquisten besetzte Teruel verlassen will, um den Bewohnern im Hinterland Anweisungen und Unterstützung zukommen zu lassen, gelingt das nur, weil zwei Mitglieder - ohne Befehl, sondern auf eigene Initiative - in einer Kamikaze-Aktion mit einem dafür geklautem Wagen eine Kanone samt Bedienungsmannschaft rammen und dabei den Tod finden. Doch im Vordergrund stehen nicht solche Heldentaten, sondern die Solidarität: Die Solidarität der zusammengewürfelten republikanischen Armee untereinander, mit der Zivilbevölkerung, und vor allem die Solidarität der Bevölkerung mit der Truppe. Während SIERRA DE TERUEL in allen Details ein sehr realistischer Film ist, ist seine Gesamtwirkung die eines Filmpoems.


Später im Film entdeckt ein namenlos bleibender Bauer in der Nähe seines Dorfes das neu angelegte Flugfeld der Franquisten, von dem aus ihre Jagdflugzeuge die Bombardierung der Brücke verhindern. (In einigen Quellen wird der Bauer José genannt, aber wenn ich nichts überhört habe, fällt der Name im Film nicht - vielleicht stammt er aus dem nicht vollständig verfilmten Drehbuch oder aus dem Roman.) Der Bauer meldet seine Entdeckung beim örtlichen Volksfrontkomitee in Linas, und von dort wird er mit einem Führer zu Kommandant Peña geschickt, um den genauen Standort zu melden, damit zuerst das feindliche Flugfeld und danach hoffentlich die Brücke bombardiert werden kann. Etwas unvorsichtig, laufen die beiden Männer im letzten franquistisch besetzten Dorf vor dem eigenen Gebiet einem pro-franquistischen Bewohner in die Arme, der den Führer erschießt. Doch der Bauer kann ihn niederstechen und gelangt unversehrt zum Flugplatz der Staffel. Weil er den Standort verbal oder auf Karten schlecht beschreiben kann, aber behauptet, dass er jederzeit dort hinfindet, wird vereinbart, dass er beim sofort anberaumten nächsten Einsatz einfach mitfliegt. Um die Erfolgsaussichten zu steigern, soll der Start der beiden noch einsatzfähigen Bomber bei Nacht erfolgen. Weil aber der Flugplatz überhaupt keine adäquate Beleuchtung hat, werden in eiligen Verhandlungen mit den Bewohnern und Bürgermeistern der umliegenden Dörfer Autos als improvisierte Lichtquellen organisiert. Der riskante Start bei Dunkelheit glückt, doch schnell zeigt sich, dass der Bauer den Mund etwas zu voll genommen hat: Aus der Vogelperspektive fehlt ihm jede Orientierung, er ist kaum in der Lage, Teruel zu erkennen, und er ist auch sichtlich verängstigt. Erst als der Bomber mit ihm in gefährlich niedriger Höhe über sein eigenes Dorf und die Straße nach Saragossa fliegt, gewinnt er doch noch den Überblick und findet den gegnerischen Flugplatz. Dieser wird erfolgreich bombardiert, und anschließend kann auch endlich die Brücke zerstört werden.

Der Bauer - vielleicht heißt er José
Aber just in diesem Moment erscheint eine gegnerische Jagdstaffel und verwickelt die beiden Bomber in einen heftigen Luftkampf. Diese Flug- und Luftkampfszenen sind sehr realistisch und durchaus spektakulär gefilmt - hier zeigt sich sehr deutlich Malraux' technisch-militärische Expertise als Führer einer Kampfstaffel im Bürgerkrieg. Einige der feindlichen Jäger können abgeschossen werden, und als schließlich eigene Jäger aus Madrid zu Hilfe kommen, drehen die Gegner ab. Doch während der eine Bomber problemlos zum Flugplatz zurückkehrt und landet, wurde der andere bereits getroffen, und er stürzt in einer unwegsamen Bergregion ab. Hier nun kommt die militärische Handlung des Films zu ihrem Ende, doch es folgt noch eine Art Epilog, der den eigentlichen Höhepunkt bildet. Wenn der ganze Film ein Poem ist, dann ist die letzte knappe Viertelstunde geradezu ein Hymnus.


Kommandant Peña nimmt telefonisch Kontakt mit den Dörfern in den Bergen auf, und er erfährt, dass die toten und verwundeten Besatzungsmitglieder bereits geborgen und in eines der Dörfer gebracht wurden. Er bittet die Dörfler, seine Männer auf Tragen in die Ebene zu transportieren, er selbst werde ihnen mit einem Krankenwagen so weit wie möglich entgegenfahren. Und die Dorfbewohner erfüllen die Bitte, doch es machen sich mehr auf den Weg, als gebraucht werden, viel mehr - Dutzende, Hunderte, Aberhunderte strömen herbei (in dieser Sequenz kamen die schon erwähnten 2000 bis 2500 Rekruten als Komparsen zum Einsatz). Einer bringt es auf den Punkt: Als ein junger Mann fragt, was das soll, weil man einem Toten doch nicht mehr helfen kann, antwortet ein Alter: "Aber ich kann ihm noch danken!" Es ist nicht einfach ein Verwundeten- und Totentransport, der sich da langsam die Berghänge hinabbewegt, es ist ein Trauer- und Ehrenzug einer ganzen Region, und, wenn man so will, stellvertretend eines ganzen Landes. Etliche Kritiker fühlten sich durch diese Sequenz an Tintorettos Aufstieg zum Kalvarienberg erinnert (Malraux hat dieses Gemälde auch in einem seiner Werke erwähnt), und einige Sekunden am Anfang sind sehr deutlich vom Motiv der Kreuzabnahme in der christlichen Kunst inspiriert, aber auch Assoziationen zu russischen Revolutionsfilmen stellen sich ein, von PANZERKREUZER POTEMKIN (die Bevölkerung von Odessa erweist dem toten Matrosen Wakulintschuk ihre Reverenz) bis zu Dsiga Wertows DREI LIEDER ÜBER LENIN (Menschenmassen pilgern zur aufgebahrten Leiche Lenins).


Bei diesem Zug kommt auch erstmals Filmmusik zum Einsatz. Abgesehen von ein bisschen diegetischer Musik (mal singen ein paar Soldaten ein Kampflied, mal spielt einer auf der Mundharmonika) gab es bis dahin nur Dialoge und Kampf- und sonstige Hintergrundgeräusche zu hören (was für den realistischen Eindruck mit verantwortlich ist). Doch für die Schlusssequenz komponierte Darius Milhaud auf Malraux' Bitte eine ungefähr 14-minütige Originalmusik mit dem Titel Cortège funèbre, was Trauerzug, Leichenzug bedeutet (in einigen Quellen ist zur Musik nur von 11 Minuten die Rede, tatsächlich dauert sie aber 14 Minuten). In der öffentlich zugänglichen Fassung des Films hört man einen Ausschnitt aus Milhauds Musik auch zu den Anfangscredits, allerdings stammen diese von 1945. Ob die Originalcredits von 1939 mit Musik unterlegt waren, ist mir nicht bekannt. - SIERRA DE TERUEL ist also ein Film über die eigenen Leute, es ist dagegen kein Film über und gegen die Faschisten, denn diese kommen im Film kaum vor. Sie sind natürlich der Gegner im Hintergrund, aber man bekommt sie fast nicht zu Gesicht, und der Luftkampf ist die einzige größere Kampfszene. Keiner der Feinde ist als Individuum erkennbar, abgesehen von dem einen, der den Führer des Bauern erschießt. Auch in den Dialogen wird der Feind nicht dämonisiert, sondern es wird nur in nüchternen taktischen Kategorien über ihn gesprochen.


Wie kam es nun zu diesem bemerkenswerten Film? Als im Sommer 1936 der Putsch von General Franco nicht niedergeschlagen werden konnte, sondern in einen Bürgerkrieg mündete, meldete sich Malraux schon nach wenigen Tagen als Freiwilliger, um zur Unterstützung der republikanischen Regierung eine internationale Flugstaffel aufzustellen. Malraux besorgte nicht nur die Flugzeuge aus Frankreich (veraltete zweimotorige Bomber vom Typ Potez 540), er wurde auch Kommandant der Staffel, obwohl er überhaupt kein Pilot war. Bis Ende 1936 flog er 65 Feindeinsätze. Ein Mitglied der Staffel, ein gewisser Jules Segnaire, hat sich später erinnert:
Ich war mit ihm über Teruel, als wir überall um uns Flakfeuer hatten. Malraux riskierte sein Leben so wie jeder der Kameraden. Aber seine Rolle war offensichtlich noch wichtiger, erstens, weil er die Staffel kommandieren musste, und zweitens, weil er sie versorgen musste. Wenn es Flugzeuge gab, dann war das ihm zu verdanken.
Ein PKW greift ein Geschütz an
Im November 1936, als Francos Truppen mit deutscher und italienischer Hilfe die Lufthoheit gewonnen hatten, wurde die Staffel in die regulären republikanischen Streitkräfte integriert, und bald darauf beendete Malraux sein fliegerisches Engagement. Er hat sich aber nicht davongestohlen, wie Hemingway meinte, sondern die spanische Regierung wusste besseres mit ihrem prominenten Unterstützer anzufangen, als ihn in weiteren Luftkämpfen zu verheizen. Die linke Volksfrontregierung, die im Februar 1936 die Wahlen gewonnen hatte, war in den meisten europäischen Staaten und in den USA nicht gut gelitten, und so gab es im Bürgerkrieg außer durch die Sowjetunion und (in bescheidenem Ausmaß) durch Mexiko keine militärische Unterstützung eines Staates für die Republik, während Franco durch Deutschland, Italien und Portugal sehr massiv unterstützt wurde. Selbst Frankreich, wo ebenfalls eine linke Volksfront regierte, blieb neutral. Deshalb reiste Malraux im Februar 1937 auf Wunsch der spanischen Regierung zu einer ausgedehnten Vortragstour in die USA und nach Kanada, um Stimmung für die Republik zu machen. Und wenn er schon keinen politischen Umschwung herbeiführen konnte, so sollte er wenigstens Geldspenden einwerben. Malraux' amerikanischer Verleger Robert K. Haas vom New Yorker Verlag Random House, mit dem Malraux auch befreundet war, und mit den Republikanern sympathisierende amerikanische Schriftsteller wie Sinclair Lewis, Clifford Odets und Hemingway leisteten Unterstützung bei der Image- und Fundraisingkampagne. Wie schon erwähnt, wurde aus der Bekanntschaft zwischen Malraux und Hemingway bald Feindschaft.

Ausbruch aus Teruel
Nach seiner Rückkehr nach Frankreich schrieb Malraux zügig seinen Roman L'Espoir nieder, der schon in den Monaten zuvor in seinem Geist und auf Notizzetteln Gestalt angenommen hatte. Das Werk kam im Dezember 1937 heraus und hatte in Frankreich unmittelbar Erfolg. Der Roman ist alles andere als ein Propagandastück, sondern er weist Malraux ebenso wie seine drei früheren Romane als einen frühen Vertreter des Existenzialismus aus, dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) schaffte er es, gute Stimmung für die Sache der spanischen Republik zu machen. Deshalb schlug die spanische Regierung Malraux vor, einen Film aus dem Roman mit der Regierung als Produzentin und Malraux selbst als Regisseur zu machen, um den Propagandaeffekt fortzusetzen. Malraux stimmte zu, und im Mai 1938 wurde die Sache endgültig vereinbart. Gedreht wurde von Sommer 1938 bis Anfang 1939, und die Dreharbeiten fanden von Anfang an unter widrigen materiellen Umständen statt. Das Studio, das in Barcelona zur Verfügung stand, war eigentlich halbwegs modern eingerichtet, aber mittlerweile zwei Jahre Krieg hatten ihre Spuren hinterlassen und die Einrichtung arg in Mitleidenschaft gezogen. Einiges an Ausrüstung, wie Lampen, Make-up und Filmmaterial, musste aus Frankreich bezogen werden. Die Entwicklung des belichteten Film fand in Paris statt, so dass Kameramann Louis Page und Malraux die "rushes" immer erst nach ungefähr einem Monat zu sehen bekamen. Obendrein fiel regelmäßig der Strom aus, wenn es Luftalarm gab, und Luftalarm gab es fast jeden Tag.

Veraltete französische Bomber
Als die Franquisten Ende Januar 1939 Barcelona eroberten, kamen die Dreharbeiten zu einem abrupten Ende, und das Filmteam musste das Land fluchtartig verlassen. Zu diesem Zeitpunkt waren ungefähr die Hälfte der vom Drehbuch vorgesehenen Szenen abgedreht, aber wie schon geschrieben, konnte ein Teil der fehlenden Szenen in Frankreich nachgeholt werden. Weil die alte spanische Regierung nun als Produzentin ausfiel (und bald zu existieren aufhörte), sprang der Flieger, Abenteurer und spätere Politiker Édouard Corniglion-Molinier als Produzent ein. Er hatte mit seinem Freund Malraux in Spanien gekämpft, und er hatte bereits 1927 ein Filmstudio in Nizza gekauft, und bis 1938 auch schon mindestens vier Filme selbst produziert, darunter Marcel Carnés DRÔLE DE DRAME und MOLLENARD, der schon aufgrund seines Regisseurs Robert Siodmak Interesse erweckt. Bei SIERRA DE TERUEL dürfte er nur für die Organisation des Nachdrehs zuständig gewesen sein, während vermutlich nur wenig oder kein Geld von ihm im Film steckt. SIERRA DE TERUEL war der letzte Film Corniglion-Moliniers als Produzent, der Zweite Weltkrieg lenkte sein Geschick in andere Bahnen.

Bomberbesatzung
Im Sommer 1939 schließlich war SIERRA DE TERUEL soweit fertig gedreht und geschnitten, dass Malraux zufrieden war, und die überbrückenden Zwischentitel sowie französische Untertitel für die Dialoge waren angefertigt. Am 11. August kam es zu einer privaten Vorführung des Films, und unter den eingeladenen Zuschauern war auch der mit Malraux befreundete Louis Aragon. Wie alle anderen Anwesenden war er begeistert, und er verfasste eine ausführliche und sehr lobende Kritik, die schon am nächsten Tag veröffentlicht wurde. Es ist dies die einzige Rezension, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg erschien, und der die Originalfasssung des Film zugrunde liegt. SIERRA DE TERUEL hätte im Herbst in den französischen Kinos anlaufen sollen, doch der Zweite Weltkrieg machte einen Strich durch die Rechnung. In Frankreich wusste man nicht so recht, ob sich nicht Franco für die militärische Hilfe revanchieren und auf deutscher Seite in den Krieg eintreten würde. Um ihn nicht zu provozieren, wurde die Aufführung des Films von der französischen Regierung verboten. Die Initiative dazu kam von Marschall Pétain, der seit März 1939 französischer Botschafter im nunmehr franquistischen Spanien war. Man darf also vermuten, dass Franco selbst oder jemand aus seinem Umfeld einen Wink in Richtung Paris gab.

Der Bauer verliert auf seinem vermutlich ersten Flug die Orientierung
Als nach der Kriegserklärung in Frankreich die allgemeine Mobilmachung erklärt wurde, wurde auch Malraux eingezogen. Im Juni 1940 wurde er verwundet und gefangengenommen. Er war in der Kathedrale von Sens interniert, die in ein Kriegsgefangenenlager umfunktioniert worden war, doch im November des Jahres gelang ihm die Flucht, und er schlug sich ins unbesetzte Südfrankreich durch. Mit sich im Gepäck hatte er die, wie er glaubte, einzige noch existierende Kopie von SIERRA DE TERUEL. Denn als die Nazis das nördliche Frankreich besetzten, machten sie nicht nur Jagd auf missliebige Personen, sondern auch auf missliebige Filme, und zu denen zählte auch SIERRA DE TERUEL. Das Negativ und alle erreichbaren Kopien wurden gezielt aufgespürt und vernichtet. Wenn die bisher erzählte Entstehungsgeschichte von SIERRA DE TERUEL selbst schon filmreif ist, so beginnt nun eine neue Episode, die wiederum Stoff für einen Film liefern könnte, in dem ein neuer Held die Bühne betritt. Und der heißt Varian Fry.

Spanien aus der Sicht eines Bombers
Nach der schnellen Niederlage der französischen Streitkräfte im Sommer 1940 wurde das von Vichy aus regierte unbesetzte Südfrankreich zu einem vorläufigen Zufluchtsort für Flüchtlinge aus halb Europa. Es war aber auch eine riesige Mausefalle, aus der kaum ein Entkommen möglich schien. Deshalb gründeten schon im Juni 1940 deutsche und österreichische Emigranten, amerikanische Intellektuelle und gut betuchte liberale Gönner das Emergency Rescue Committee (ERC), um Flüchtlinge aus Frankreich auszuschleusen, wobei das besondere Augenmerk auf Künstlern und Intellektuellen lag. Als Agent des ERC vor Ort wurde der Harvard-Absolvent und Journalist Varian Fry (1907-67) nach Frankreich geschickt, um von Marseille aus eine Fluchthilfeorganisation aufzubauen. Und das tat er mit ungeahntem Erfolg. Fry organisierte ein Netz von Fluchthelfern, besorgte echte und gefälschte Pässe und Visa, versorgte Flüchtlinge mit Geld, und in ziemlich genau einem Jahr konnte er zwischen 2000 und 4000 Menschen aus Frankreich ausschleusen, einen Teil per Schiff aus dem Hafen von Marseille, die meisten aber zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien, von wo aus sie mit Duldung der spanischen Behörden nach Portugal gelangten, wo dann die Weiterreise in die USA oder in andere Länder möglich war. Fry war durch seine Tätigkeit als Journalist für mehrere international ausgerichtete amerikanische Magazine, und dann durch seine Fluchthilfetätigkeit, mit dem Aussehen wichtiger europäischer Künstler, Intellektueller und politischer Aktivisten vertraut. Als er eines Tages im Dezember 1940 in der Nähe von Nizza zu tun hatte, erkannte er in einer Straßenbahn Malraux, der gerade erst vor einigen Tagen im unbesetzten Teil Frankreichs angekommen war.

Die ominöse Brücke wird zerstört
Fry sprach Malraux an, um ihm seine Hilfe anzubieten, doch Malraux wollte zunächst in Frankreich bleiben. Malraux besuchte aber im Januar 1941 Fry in Marseille, und in den folgenden Wochen und Monaten trafen sie sich noch mehrmals, um dieses und jenes zu besprechen. Und dabei äußerte Malraux auch die Bitte an Fry, die Kopie von SIERRA DE TERUEL außer Landes zu schmuggeln, am besten in die USA. Denn Malraux wusste, dass er von der Gestapo gesucht wurde, außerdem rechnete er damit, dass auch der Vichy-Staat irgendwann von den Deutschen besetzt werden würde (was dann ja auch geschah), so dass sein Film in Frankreich auf Dauer nicht sicher war. Fry war von der Bedeutung von SIERRA DE TERUEL als Kunstwerk und als Zeitdokument schnell überzeugt und sagte seine Hilfe zu. Doch das war leichter gesagt als getan. Zwar konnten auf der Pyrenäenroute auch kleinere Gegenstände außer Landes geschafft werden, doch waren die in acht Dosen verpackten Filmrollen dafür zu unhandlich und auffällig. Und in Spanien wäre der Film natürlich sofort vernichtet worden, wenn man ihn entdeckt hätte. So kam als sicheres Transportmittel für Fry nur Diplomatenpost in Betracht. Das unbesetzte Frankreich war formal ein unabhängiger Staat, mit dem die USA nach wie vor diplomatische Beziehungen unterhielten, und Diplomatenpost konnte somit ohne Kontrollen durch französische Behörden das Land verlassen. Doch auch hier taten sich Schwierigkeiten auf, denn das amerikanische Außenministerium stand den Aktivitäten des Emergency Rescue Committee ablehnend gegenüber. Der liberale Diplomat Harry Bingham hatte als amerikanischer Vizekonsul in Marseille entgegen den Anweisungen seiner Vorgesetzten Fry tatkräftig unterstützt (eigentlich hieß er Hiram Bingham IV - sein Vater, der Gelehrte und Politiker Hiram Bingham III, hatte einst als Archäologe die Ruinen von Machu Picchu ausgegraben). Doch Anfang Mai 1941 wurde Bingham von seinem Posten abberufen und nach Lissabon versetzt (eine offizielle Begründung dafür gab es nicht, aber man darf es als Strafversetzung betrachten). Weder im Konsulat in Marseille noch in der amerikanischen Botschaft in Vichy konnte Fry etwas für Malraux ausrichten.

Bordschützen gegen Jagdflieger
Im Juli 1941 wurde die Lage langsam eng. Frys Tätigkeit blieb den französischen Behörden und den Deutschen natürlich nicht auf Dauer verborgen. Die Nazis protestierten, und sowohl die Behörden als auch die amerikanische Botschaft legten Fry immer dringender nahe, seine Aktivitäten zu unterlassen, was der aber beharrlich ignorierte. Bereits im Dezember 1940 war er zum ersten Mal verhaftet, aber nach einigen Tagen wieder freigelassen worden. Im Juli nun wurde er ins Polizeikommissariat von Marseille vorgeladen, wo man ihm eröffnete, dass er bis spätestens 14. August Frankreich verlassen müsse, andernfalls werde er verhaftet. Ohne Fry hatte Malraux kaum noch eine Chance gehabt, den Film auszuschmuggeln, aber fast im letzten Moment kam die rettende Idee. Malraux hatte bei einem seiner Gespräche mit Fry erwähnt, dass er Archibald MacLeish kannte, einen liberalen Dichter und Politiker, der von 1939 bis 1944 auf persönlichen Wunsch von F.D. Roosevelt auch Leiter der amerikanischen Kongressbibliothek in Washington war. Nun entstand der Plan, Malraux' Kopie von SIERRA DE TERUEL der Library of Congress als Geschenk anzubieten, um auf diesem Weg doch noch einen Transport per Diplomatenpost zu ermöglichen. Malraux stellte Fry eine schriftliche Vollmacht aus, damit der nach eigenem Ermessen alle nötigen Schritte ergreifen konnte, und damit wurde Fry wieder einmal im Konsulat in Marseille vorstellig. Diesmal war man wohlwollender als sonst, vielleicht, weil man wusste, dass man den Störfaktor Fry bald los sein würde. Generalkonsul Fullerton, der Chef von Bingham bis zu dessen Versetzung, schickte am 25. Juli ein Telegramm ans Außenministerium nach Washington mit Malraux' Angebot und der Bitte, es an MacLeish weiterzuleiten. Fry hatte im Konsulat ausdrücklich um Vertraulichkeit gebeten, weil nicht nur der Film im Fall der Konfiszierung unweigerlich vernichtet werden würde, sondern auch Malraux nach wie vor von der Auslieferung an die Gestapo bedroht war. Doch das Telegramm wurde unverschlüsselt gesendet, und wahrscheinlich wurde es von den französischen Behörden abgehört. Ohnehin war Fullerton offenbar nicht ganz bei der Sache - im Telegramm wird der Film "Terruel Dela Sierra" genannt.

Bergdorf
Die Mühlen der amerikanischen Bürokratie mahlten offenbar nicht besonders schnell. Erst am 4. August wurde das Telegramm vom Außenministerium an die Kongressbibliothek weitergereicht. MacLeish war gerade abwesend, aber sein Stellvertreter und spätere Nachfolger Luther Evans erkannte den Wert des Angebots und nahm es in seiner Antwort am nächsten Tag an. Wieder ließ man sich im Ministerium Zeit - am 15. August wurde die Bibliothek informiert, dass ein entsprechendes Telegramm nach Marseille geschickt worden war. Amerikanische Konsulatsbeamte setzten Malraux direkt davon in Kenntnis. Als der Fry informieren wollte, erfuhr er, dass sein Freund inzwischen in Gewahrsam genommen und ohne weitere Umschweife per Zug über Spanien nach Portugal abgeschoben worden war. Fry machte später das vermutlich abgehörte Telegramm für seine schnelle Abschiebung mit verantwortlich. Ohne Fry musste Malraux nun selbst mit den Konsulatsmitarbeitern klarkommen, und die standen einem bekannten Linken wie ihm misstrauisch bis feindselig gegenüber (Bingham war hier wirklich eine einsame Ausnahme). Und prompt wurden ihm Steine in den Weg gelegt: Trotz der Anweisung aus Washington sollte er eine Bescheinigung beibringen, dass die Filmrollen nicht feuergefährlich sind, sonst würden sie nicht in die Diplomatenpost aufgenommen. Das konnte er nicht, und so passierte erst einmal nichts - und Monate vergingen.

Kreuzabnahme, säkulare Art
Nach seiner Ausweisung zog Fry noch einige Wochen lang von Lissabon aus die Fäden seiner Organisation, dann kehrte er im November 1941 in die USA zurück. Unter den Dingen, die er dort als erstes erledigte, war auch, sich nach dem Verbleib von SIERRA DE TERUEL zu erkundigen. Von Malraux' amerikanischem Freund und Verleger Robert Haas, dem Malraux über seine Lage geschrieben hatte, erfuhr Fry, dass der Film immer noch in Frankreich war. Deshalb schrieb er am 21. November einen Brief an Archibald MacLeish, in dem er die Situation ausführlich darlegte und auf die Dringlichkeit und die nötige Vertraulichkeit hinwies. Wie schon Monate zuvor Luther Evans, reagierte nun MacLeish sofort. Am 25. November schrieb er einen Brief an den Außenminister persönlich, in dem er um Erledigung der Angelegenheit bat, und nun war es MacLeish, der Vertraulichkeit einforderte. Im Ministerium ließ man sich wie gewohnt Zeit, aber am 19. Dezember erhielt MacLeish eine Eingangsbestätigung seines Schreibens und die Mitteilung, dass nun ein weiteres Telegramm mit dem gewünschten Inhalt nach Marseille geschickt wird. Am 17. Januar schließlich informierte das Ministerium MacLeish, dass die Nichtentflammbarkeit des Films zertifiziert wurde und er nun per Diplomatenpost expediert wird. Diese Sendung machte dann aber offenbar noch eine längere Rundreise, denn erst am 1. Juni 1942 trafen die acht Filmrollen in der Kongressbibliothek ein - fast ein Jahr, nachdem Malraux sein Angebot an die Bibliothek gemacht hatte. Malraux erfuhr erst Wochen später von Robert Haas, der MacLeish angerufen hatte, dass sein Film endlich in Sicherheit war.

Ein Verwundeten- und Leichentransport wird zu einer Prozession
Die Kongressbibliothek entlieh SIERRA DE TERUEL bald darauf an das Museum of Modern Art in New York. Iris Barry, die Filmkuratorin des MoMA, ließ eine einleitende Texttafel hinzufügen, in der der Film vorgestellt und gelobt, aber auch als "zu lang" bezeichnet wird, aber von sonstigen Eingriffen blieb diese Kopie verschont. In dieser Form wurde SIERRA DE TERUEL im November 1944 in den Räumlichkeiten des Museums und dann nochmal im April 1945 andernorts in Manhattan vorgeführt, dann wurde er an die Kongressbibliothek zurückgegeben. Dort wurde er eingemottet - und dann praktisch vergessen. Fast drei Jahrzehnte dauerte der Dornröschenschlaf dieser Kopie. Erst der amerikanische Malraux-Experte Walter G. Langlois, damals an der University of Kentucky, spürte sie auf und berichtete im Januar 1973 in einem ausführlichen Artikel in der hauseigenen Zeitschrift der Kongressbibliothek über den Film, und wie er nach Washington gelangte. Dieser sehr lesenswerte Text bildet die wichtigste Quelle für die zweite Hälfte meines Artikels.


Doch unterdessen hatte SIERRA DE TERUEL - unter einem neuen Titel - schon längst den Weg in die Welt gefunden. Denn als 1944 Paris befreit worden war, wurde Inventur gemacht, und dabei tauchte in einem Lager von Pathé eine weitere Kopie des Films auf, verpackt in einer Kiste, die fälschlich mit "DRÔLE DE DRAME" beschriftet war. Wie schon erwähnt, war auch dieser Film von Édouard Corniglion-Molinier produziert worden. Ob es sich dabei um ein Versehen oder bewusste Tarnung handelte, konnte im Nachhinein nicht mehr ermittelt werden. Diese Version kaufte dann ein Produzent oder Verleiher, dessen Identität anscheinend nebulös ist - vielleicht handelte es sich dabei um einen gewissen Arys Nissotti. Wer immer es war, er wollte den Film noch 1944 in die französischen Kinos bringen, wurde jedoch von den Kinobetreibern abgewiesen, die wohl dachten, dass sich ein kriegsmüdes Publikun nicht dafür interessieren würde. Doch der neue Besitzer des Films gab nicht auf - um ihn den Kinobesitzern doch noch schmackhaft zu machen, nahm er gravierende Eingriffe vor. Als erstes wurde der Film in ESPOIR umbenannt, um sich an den immer noch populären Roman anzuhängen (im Gegensatz zum Romantitel L'Espoir kommt der neue Filmtitel aber ohne Artikel aus). Immerhin wurde der Originaltitel als Untertitel in den (auch neu gestalteten) Credits und auf Plakaten beibehalten. Sodann wurden die schon 1939 hergestellten französischen Untertitel durch von Denis Marion neu übersetzte ersetzt, weil, wie man meinte, sich der Sprachgebrauch in den vergangenen sechs Jahren soweit verändert hatte, dass manches an den alten Untertiteln mittlerweile unverständlich geworden war. Auch die erklärenden Zwischentitel wurden wohl nochmal überarbeitet.

Kommandant Peña und eine Bäuerin
Als dritte Maßnahme wurde eine dreiminütige gefilmte Einführung von Maurice Schumann dem Film vorangestellt. Schumann war ein prominenter Widerstandskämpfer und nach dem Krieg ein Politiker, der es bis zum Außenminister unter Präsident Pompidou brachte. In der Einführung sitzt Schumann in Uniform an einem Schreibtisch und spricht über den Film, wobei er Parallelen zwischen dem Kampf der Republikaner in Spanien und dem Kampf der Résistance in Frankreich zieht. Damit sollte wohl die Handlung näher an das französische Publikum herangerückt werden, das sich nach der Befreiung gern als ein Volk von lauter Résistance-Kämpfern sah. Als gravierendste Maßnahme wurde SIERRA DE TERUEL bzw. nun ESPOIR gekürzt. Ungefähr zur selben Zeit wie Iris Barry hielt auch der neue Besitzer den Film für zu lang, und auch für zu repetitiv - letzteres deshalb, weil eine Totale mit der Prozession in Form eines gespiegelten Z am Berghang in der Schlusssequenz mehrfach vorkam, um den epischen Charakter des Geschehens zu betonen. Davon blieb nur die letzte Instanz ganz am Schluss übrig. Insgesamt wurden je nach Quelle drei oder über vier Minuten aus dem ohnehin nicht langen Film herausgeschnitten, und die Kürzungen betrafen hauptsächlich die Schlussphase des Films. Dabei hätte gerade diese Sequenz unversehrt bleiben müssen, denn durch die Eingriffe wurde nicht nur der von Malraux intendierte visuelle Fluss gestört, sondern auch Milhauds Musik hörbar zerschnitten. An all diesen Änderungen wurde Malraux nicht beteiligt. Wahrscheinlich wurde er auch durch sein erneutes militärisches Engagement gegen Kriegsende und dann durch seinen Einstieg in die Politik daran gehindert, sich 1944/45 um seinen Film zu kümmern.

Epische Totale - im Original mehrfach, im Kino nur einmal zu sehen
Die Änderungen hatten vordergründig Erfolg: ESPOIR kam im Juni 1945 nun doch noch ins Kino. Von den Kritikern wurde er wohlwollend aufgenommen, und er gewann sogar einen Prix Louis-Delluc, aber an der Kasse fiel er durch. Er wurde bald wieder aus dem Verleih genommen und eingemottet, wenn auch nicht so gründlich wie die Washingtoner Version. Ein Vierteljahrhundert später erwarb eine Firma mit dem schönen Namen Les Grands Films Classiques die Rechte und brachte SIERRA DE TERUEL (der auch jetzt noch ESPOIR hieß) in die Arthouse-Kinos - mit ungeahntem Erfolg. Publikum und Kritik waren begeistert, nicht nur in Frankreich, sondern auch im Ausland. Der zweite Frühling des Films sowie die Wiederauffindung der Originalfassung schlugen sich auch publizistisch in Büchern und Zeitschriftenartikeln nieder - die 70er Jahre sind das Jahrzehnt der intensivsten Beschäftigung mit SIERRA DE TERUEL. Danach flaute das Interesse wieder etwas ab, verschwand aber nicht vollständig. So hat etwa Godard Ausschnitte aus dem Film in HISTOIRE(S) DU CINÉMA: UNE VAGUE NOUVELLE (1998) und FILM SOCIALISME (2010) untergebracht.

Maurice Schumann bei seiner Einleitung
In Spanien durften der Film ebenso wie Malraux' Roman erstmals 1978 erscheinen. In den 90er Jahren beschloss man in der Filmoteca Española in Madrid, eine Kopie zu erwerben, und nach Prüfung des Ausgangsmaterials entschied man sich naheliegenderweise für die Fassung der Kongressbibliothek. Es wurde eine hochwertige Nasskopie angefertigt, die Kratzer praktisch unsichtbar macht, zusätzlich wurde der Ton digital verbessert. Diese vermutlich bis heute beste Fassung von SIERRA DE TERUEL wurde 1997 beim Filmfestival in San Sebastián gezeigt. Die Fassung von 1945/1970 gibt es auf einer spanischen und einer französischen DVD, die in Aufmachung und Ausstattung fast identisch sind. Im Gegensatz zur spanischen hat die französische Scheibe jedoch nicht nur französische, sondern auch englische Untertitel. Die Schumann'sche Einleitung liegt nicht im Film selbst, sondern im Bonusmaterial vor (ich nehme an, dass sie bereits 1970 wieder entfernt wurde, weiß es aber nicht sicher). Für die DVDs wurde 2003 eine "Restaurierung" vorgenommen, aber dabei wurde nur die Bild- und Tonqualität verbessert (mit sehr bescheidenem Erfolg), dagegen wurde kein fehlendes Material ergänzt. Eine Veröffentlichung der Washingtoner bzw. der Madrider Fassung auf DVD oder Blu-ray wäre sehr wünschenswert. Derzeit findet man die 1970er Fassung auch auf YouTube, allerdings in grausam schlechter Bildqualität, obendrein mit stark beschnittenem Bild und falschem Seitenformat, dafür mit guten deutschen Untertiteln.

Ein Film ändert nach sechs Jahren seinen Titel; rechts die erste Texttafel

Montag, 15. Februar 2016

Belgrader Stadtsymphonie der Liebe

PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM („Rendezvous in Belgrad“)
Serbien / Deutschland / Frankreich / Ungarn / Kroatien 2011
Regie: Bojan Vuletić
Darsteller: Julie Gayet (Silvie), Marko Janketić (Stefan), Anita Mančić (Melita), Jean-Marc Barr (Brian), Nada Šargin (Jagoda), Baki Davrak Orhan), Hristina Popović (Djurdja), Leon Lučev (Mate)


„Kapitel 1, Sich verlieben“
(oder: Viele Biere und die erste Liebe)

Silvie und Stefan
Silvie ist angepisst. Und auch schon leicht angetrunken. Und nicht mehr wirklich zurechnungsfähig. Gleichwohl soll die französische Sängerin, die gerade in Belgrad eingeflogen ist, an diesem Abend ein Konzert in der serbischen Hauptstadt geben. Stefan, ein sympathischer, schüchterner junger Mann, der bei der Konzertagentur angestellt ist, holt sie am Flughafen ab und soll sie dann zum Konzerthaus bringen. Leichter gesagt als getan. Denn Silvie Tati unterbricht die Fahrt, steigt aus, verursacht fast eine Massenkarambolage, als sie ohne zu schauen die Straße überquert, kreischt sich mitten auf der Straße die Seele aus dem Leib und läuft ins nächstbeste Café, um sich zu betrinken oder die überrasche Kellnerin zu knutschen. Stefan ist rasch überfordert, bangt zudem um seinen Job, wenn er Silvie nicht rechtzeitig zum Konzerthaus bringt und muss der Französin dann auch noch versprechen, nicht von ihrer Seite zu weichen. Mehrere Biere später kann sie zwar fast nur noch torkeln, doch mit Stefan an ihrer Seite (wörtlich) meistert sie dennoch das Konzert. Die beiden verbringen anschließend eine Liebesnacht miteinander. Als Silvie am nächsten Morgen wieder nach Paris fliegen möchte, ist Stefan bereit, sie mit allen Mitteln von ihrer Abreise abzuhalten.

„Kapitel 2, Krise“
(oder: Schweinische Liebe auf Knien)

Melita und Brian
Melita ist gestresst und genervt. Die Konzertagentin hat einen anstrengenden Tag hinter sich (die betrunkene französische Sängerin war sehr mühsam) und möchte sich nur noch mit ihrem Liebhaber Brian in einem Hotelzimmer entspannen. Brian ist Diplomat bei der amerikanischen Botschaft in Belgrad. In Liebessachen jedoch steht er ganz klar unter Melitas eisernem Absatz und lässt sich sehr gerne von ihr bei kleinen Spielchen demütigen, beschimpfen, quälen und schlagen. Die beiden haben offensichtlich schon länger geplant, Serbien in Richtung USA zu verlassen. Doch Brian weigert sich nun, Belgrad den Rücken zuzukehren, weil er sich nicht nur in Melita, sondern auch in die Stadt verliebt hat... Und eigentlich auch gar nicht Diplomat ist... Zu viele Offenbarungen auf einmal für Melita, die Brians Liebe auf eine harte Probe stellt. Eine Probe, die dieser ohne mit der Wimper zu zucken meisterhaft besteht (allerdings auch deshalb von Sicherheitskräften unsanft behandelt wird).

„Kapitel 3, Ehebruch“
(oder: Bier, Rakija und Weltschmerz)

Orhan und Jagoda
Orhan ist entfremdet. Der deutsche Geschäftsmann türkischer Herkunft, der gerade in Belgrad eine Firma gekauft hat, hat eben einige Zeit bei einer Prostituierten im Hotel verbracht, was ihn offenbar aber emotional leer zurückgelassen hat. Auf der Straße wird er von einem merkwürdigen Mann um Geld gebeten. Kurz, bevor es zur Rangelei kommt, wird er in einem Taxi zum nächsten Lokal gekarrt und zusammen mit der Taxifahrerin an einen Tisch gesetzt. Beide kommunizieren zunächst nonverbal, indem sie in einem kleinen Wettbewerb je ein großes Bier exen. Bei der zweiten Bierrunde (diesmal mit Rakija) beginnt die Unterhaltung. Jagoda, die junge Taxifahrerin, warnt Orhan, dass er diese Nacht seine Liebste betrügen wird. Orhan verneint, dass es eine Liebste in seinem Leben gibt. Jagoda beginnt ein Gespräch über die Bedeutung einiger serbischer Wörter, die aus dem Türkischen entlehnt sind. „dert“ zum Beispiel: mehr als nur Schmerz, sondern vielmehr „Weltschmerz“ – den die Serbin bei Orhan identifiziert. Beim Tanzen erklärt sie ihm „sevdah“: ein Zustand wilder Leidenschaft, den man am besten erreicht, indem man einen Rakija trinkt, und anschließend mehrere aufgereihte Gläser mit bloßen Händen zerschlägt. Was Orhan zur allgemeinen Verwunderung auch tut. Anschließend verbringen Orhan und Jagoda eine Liebesnacht bei ihr Zuhause. Am nächsten Morgen muss der deutsche Geschäftsmann um Mittag seinen Flieger erreichen.

„Kapitel 4, Hochzeit“
(oder: „Lyrik und unbequeme Wahrheiten“)

Djurdja und Mate
Djurdja und Mate sind überglücklich. Die beiden Polizisten (sie in Belgrad, er in Zagreb tätig) heiraten und fahren gerade mit ihren Kollegen feiernd durch das flache Land. Mates Kollege, der das Brautauto fährt, erzählt dem frisch-vermählten Paar, dass er kürzlich seine Frau betrogen hat. Djurdja fordert ihn selbstsicher dazu auf, sich seiner Frau zu offenbaren, während Mate sich in der Sache unsicher ist. Als ein Auto im Korso eine Panne hat, gibt es einen kleinen Halt. Hier offenbart Mate seiner geliebten Djurdja, dass er sie betrogen hat. Völlig aufgelöst flieht die Braut mit einem der anderen Autos und liefert sich eine regelrechte Verfolgungsjagd mit ihrem Gatten. In einem Maisfeld kommt es zu einer ganzen Reihe unangenehmer Offenbarungen, die nicht nur beidseitige Untreue, sondern auch gewohnheitsmäßiges Lügen, schwere kriminelle Vergehen bei der Ausübung des Berufs und vieles mehr beinhalten. Ist Liebe stärker als diese „Lappalien“?

PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (die wörtliche Übersetzung „Reiseführer durch Belgrad mit Singen und Weinen“ ist viel schöner als der banale deutsche Verleihtitel) verzauberte mich im April 2012 bei seiner Deutschland-Premiere auf dem goEast-Festival. Über drei Jahre später hat die Wirkung nicht nachgelassen. Nein, sie hat sich vielmehr gesteigert: die Begeisterung ist die gleiche, die analytische Annäherung daran, warum er so ein toller Film ist, noch tiefer.

Vier Kapitel...
...und ein Epilog mit je einem Chor
Oberflächlich handelt es sich nur um eine Aneinanderreihung relativ banaler Liebesgeschichten, deren Grundkonzept zumal auch recht reißbrettmäßig wirkt (vier Belgrader Liebespaare, von denen jeweils ein Partner ausländisch ist). Doch bereits, wie diese vier Liebesgeschichten zusammengefügt sind, ist bemerkenswert. Den Rahmen (von einer „Rahmenhandlung“ zu sprechen wäre nicht treffend) bildet tatsächlich eine Art Werbeclip für die Stadt Belgrad. Ein Chor singt jeweils zu Beginn jedes Kapitels ein pathos-getränktes (und übrigens wunderschönes) Liebeslied, immer mit leicht variiertem Text. Zu dem Chor wird immer mit einem langen, eleganten Kameraschwenk geführt, der meist von der letzten Szene des vorherigen Kapitels überleitet. Nach Ende des Liedes beginnt der Chor-Leiter oder die Chor-Leiterin, über ausgewählte Vorzüge der Stadt Belgrad zu dozieren. Dabei geht es der Reihenfolge nach darum, dass Belgrad eine aufregende Kulturmetropole der Zukunft ist, eine extrem sichere Stadt, ein wirtschaftlich boomender Ort und das Herz einer Region, die sich um die Verbesserung nationaler und internationaler Verkehrsanbindungen (vulgo: im Straßenbau) verdient macht. Während des kurzen Vortrags wird eine schnelle Montage von Bildern der Stadt eingeblendet: extrem kunstvoll und geometrisch arrangierte Tableaus, bei denen immer, meist recht zentral, ein küssendes Paar zu sehen ist. Das hat oft einen leicht ironisierenden Effekt, weil die leidenschaftliche Liebe der zwei Küssenden den geometrisch strengen Bildarrangements und dem todernst dozierenden Tonfall des Sprechers etwas widerspricht (und teilweise im Hintergrund eindeutig kriegszerstörte Gebäude zu sehen sind). Kurz: die Kapitel werden immer von einer kurzen Stadtsymphonie der Liebe eingeführt. Nur der Epilog wird nicht mit einer Stadtmontage, sondern mit einem Rundblick auf die Filmfiguren eingeführt.

Kapiteleinführungen...

...als Stadtsymphonien der Liebe

Bei der Deutschland-Premiere war der Regisseur Bojan Vuletić anwesend, und er nannte seinen Film ein Plädoyer für den Beitritt Serbiens zur EU (ob er den Begriff „Agitprop“ genutzt hat, weiß ich nicht mehr mit Sicherheit). War das ernst gemeint? Oder ironisch? Vielleicht beides? Sicher ist, dass der Film großserbisch-nationalistischen Fantasien eine klare Absage erteilt, die EU allerdings auch nicht als Institution im Blick hat, sondern vielmehr Belgrad als utopische Stadt der unbegrenzten Liebesmöglichkeiten zeichnet: eine Stadt, in der man nur die Hand ausstrecken muss, um Liebe greifen zu können (oder zumindest ein Bier auf ex trinken muss). Belgrad als internationale Metropole, die keineswegs nur serbisch ist und sein kann, als Ort der Begegnungen.

Die Begegnungen des Films, wenn man sie nach Nationalitäten aufschlüsselt, haben durchaus einen historischen Hintergrund. Serbisch-französische Beziehungen gehen auf eine stark frankophile Tradition im Serbien des frühen 20. Jahrhunderts zurück, die sich sowohl auf der Ebene der Diplomatie als auch in Künstlerkreisen der Zwischenkriegszeit finden lassen (vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass die Episode um Silvie und Stefan im weitesten Sinne in der Kunstwelt spielt). Die US-serbischen Beziehungen waren in den 2000er Jahren sicherlich nicht frei von Spannungen, doch die USA waren (auch) für Serben immer eine der möglichen Projektionsflächen einer besseren Welt, was sich einer großen Immigration von Serben in die Vereinigten Staaten widerspiegelte (Nikola Tesla ist vielleicht der berühmteste unter diesen Immigranten, Peter Bogdanovich der wohl berühmteste Sohn eines serbischen Immigranten in der US-Filmwelt). Die Immigration spielt auch in der zweiten Episode von PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM eine wichtige Rolle. Für Melita sind die USA ein klassischer Sehnsuchtsort, weil sie in Belgrad in einem schlecht bezahlten Job vor sich hindarbt, für Brian ist hingegen Belgrad die ideale Projektionsfläche für seine Träume: hier kann er alles sein, was er möchte – als US-Amerikaner (und als Hilfskoch, der in der Hierarchie der Belgrader US-Botschaft sehr tief steht) kann er gewissermaßen den amerikanischen Traum nicht in seiner Heimat, sondern nur in Belgrad erfüllen. Orhan, der deutsche Geschäftsmann, der auch Sohn türkischer Immigranten ist, verkörpert gleich zwei Traditionen der serbischen Beziehungen zu anderen Ländern. Natürlich ist da die deutsche Tradition, die sich am unangenehmsten in der Nazi-Besatzung des Balkans im Zweiten Weltkrieg offenbarte (was im Film auch angesprochen wird). Doch indirekt thematisiert wird auch die Tradition jugoslawischer Gastarbeiter, die ab den 1950er Jahren in die Bundesrepublik gingen und ein transnationales, deutsch-serbisch(-jugoslawisches) Beziehungsnetz knüpften. Immer wieder richten Jagoda und andere Figuren in der Episode einzelne deutsche Worte an Orhan (und signalisieren, dass sie im Zweifelsfall seine Muttersprache verstehen – während Orhan nur einzelne serbische Worte versteht, die türkische Wurzeln haben). Auch die lange türkische (bzw. richtig: osmanische) Besatzung wird nebenbei in der Orhan-Jagoda-Episode angesprochen – und besonders ihre Folgen in der Sprache, die nun eine spielerische Annäherung zwischen den beiden Figuren ermöglicht. Die kroatisch-serbische Hochzeit in der letzten Episode spielt natürlich unausgesprochen auf die jugoslawischen Bürgerkriege der 1990er Jahre an. Wie politisch dieses Segment tatsächlich ist, ist schwer zu sagen. Ein Kroate und eine Serbin finden zueinander, wollen einen Bund fürs Leben schließen: dabei merken sie beide, dass sie, mit Verlaub, Scheiße gebaut haben, sich aber trotzdem nicht nur lieben können, sondern auch sollten. Meine Südslawisch-Kenntnisse sind nicht fortgeschritten genug, um festzustellen, inwiefern Djurdja und Mate komplett anders sprechen (ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sie „reines Hochserbisch“ und er „reines Hochkroatisch“ spricht). Vielleicht am ehesten als politisch zu bezeichnen ist die Episode deshalb, weil die Tatsache, dass hier eine inter-nationale Ehe zelebriert wird, überhaupt nicht „problematisiert“, sondern als völlig normaler und natürlicher Fakt behandelt wird. Der Konflikt spielt auf der Ebene einer Liebesbeziehung: hier geht es nicht um Serbien und Kroatien, hier geht es um die ganze Menschheit. Ob die Vorstellung eines serbisch-kroatischen Ehepaars noch heute Skandalpotential in Serbien (oder Kroatien) hat, kann ich nicht beurteilen. Auch bin ich mir unsicher, ob der Film überhaupt in Kroatien gespielt wurde (zumindest nicht gemäß IMDb).

Da ich eben von „Natürlichkeit“ sprach: PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM ist überhaupt voller kleiner Dinge, die als völlig natürlich präsentiert werden, in einem anderen Film aber wahrscheinlich „problematisiert“, psychologisiert und wohl in einigen Extra-Dialogzeilen „abgearbeitet“ worden wären. So etwa der Altersunterschied zwischen Silvie und Stefan. Oder die sadomasochistische Natur von Melitas und Brians Beziehung, die ohne die geringste Spur von Sensationsgier als völlig normale Liebesbeziehung präsentiert wird (dies und natürlich auch die Pointe der Episode erinnert an den wunderbaren SECRETARY).

PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM ist auch ein Film voller Reime. Die erste und dritte Episode handeln vom Scheitern von dauerhafter Liebe, die zweite und vierte von einer festen Liebe im Zustand der Krise (und von der Überwindung dieser Krise). Die Stefan-Silvie-Episode und die Djurdja-Mate-Episode sind geografisch sehr mobil, wie Mini-Roadmovies aufgebaut und spielen hauptsächlich draußen bei Tageslicht, während die beiden mittleren Segmente geografisch begrenzt sind (die Brian-Melita-Episode ist ein reines Kammerspiel), in Innenräumen spielen und durch low-key-Fotografie gekennzeichnet sind. Kapitel 2 und 4 sind in Echtzeit erzählt, Kapitel 1 und 3 von Ellipsen geprägt. Besonders letztere beweisen, wie der Film extreme Erzählökonomie mit emotionaler Dichte verbindet. Die Segmente mit Stefan und Silvie, mit Orhan und Jagoda erzählen in je knapp 20 Minuten von der Genese und dem Ende einer kurzen Liebschaft. In Zeiten, in denen „Qualitätsserien“ (François Truffaut lacht sich im Filmemacherhimmel wahrscheinlich kaputt oder weint bittere Tränen!) dafür gelobt werden, dass sie Geschichten, die früher nur eine halbe Kinostunde brauchten, nun in einer kompletten Staffel auf 15 Stunden auserzählen, wirkt PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM unglaublich erfrischend. Was an Exposition ausgespart wird (Sivlie zerdrückt einen Plastikbecher im Flugzeug und rempelt griesgrämig Leute in der Flughalle an – ist also angepisst), kann der Film umso besser in seine Figuren und ihre Liebe investieren.

Kennenlernen durch gemeinsames Trinken: Jagoda und Orhan
In jeglicher Hinsicht herausragend ist das dritte Kapitel um Orhan und Jagoda, in dem Thema der Begegnung und des Verliebens auf ein fast schon abstraktes und und dabei trotzdem lebensnahes Niveau gehoben wird: ein Mann und eine Frau, die miteinander in Kommunikation treten, indem sie miteinander trinken und sich dabei herausfordernd in die Augen schauen. Einige Sekunden pures Kino. Gefolgt von dem emotionalen und inszenatorischen Höhepunkt des Films: der lange Tanz, bei dem sie sich über „sevdah“ unterhalten, gefilmt als zweieinhalbminütige Plansequenz, in der die Kamera um das Paar kreist, während sich das Dekor im Hintergrund wie ein Karussell in die andere Richtung bewegt (ich vermute, dass die beiden Darsteller sich auf einer drehenden Plattform bewegten, und die Kamera sich gleichzeitig auf Schienen um sie herum bewegte, bin mir allerdings nicht sicher). Worüber die beiden reden (nämlich „sevdah“), machen die Bilder für den Zuschauer fühlbar.


PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM lief 2013 in Deutschland nur in einigen ausgewählten Kinos. Seit Sommer 2015 ist er in Deutschland auf DVD erhältlich, mit perfekter Bild- und Ton-Qualität und deutschen sowie englischen Untertiteln.