Dienstag, 20. Juni 2017

Alles in Butter?!

CHEMIE UND LIEBE
Deutschland – Sowjetische Besatzungszone 1948
Regie: Arthur Maria Rabenalt
Darsteller: Hans Nielsen (Dr. Alland), Tilly Lauenstein (Martina Höller), Ralph Lothar (Da Costa), Gisela Deege (Aimée), Gerd Frickhöffer (Dr. Brose) Arno Paulsen (Konzernchef Miller), Arno Ebert (Konzernchef Vandenhoff), Ann Höling (Georgia Spaldi), Alfred Braun (der Erzähler)


Wer bekommt hier sein Fett weg?

„Träumen Sie?“
„Zuweilen.“
„Erotisch?“
„Chemisch!“
„Merkwürdige Form von Libidostauung.“
(aus einer Analyse-Sitzung zwischen der Psychoanalytikerin Spaldi und Dr. Alland – in ihrer Praxis)

Aus Gras Butter machen? 1968 wäre das bei vielen Leuten wahrscheinlich nicht so auf Anklang gestoßen, aber zwanzig Jahre zuvor, kurz nach dem Weltkrieg, in Zeiten von Knappheit, war das eine feine Idee...

...und für den überaus talentierten, aber etwas weltfremden Chemiker Dr. Alland auch keine totale Fantasievorstellung. Ohne Kuh als „Vermittlerin“ bearbeitet man das Gras mit synthetischen Verdauungsenzymen und... na ja, die feinen chemischen Details lassen wir mal aus. Um die kümmert sich Dr. Alland, und zwar mit so viel Konzentration, dass er auf seiner Arbeitsstelle in bürokratischen Angelegenheiten nachlässig wird und deshalb auch bald gefeuert wird. Seine treue Assistentin Martina Höller nimmt mit ihm den Hut. Leider lässt es sich in der heimischen Garage nicht so gut an einer weltbewegenden Erfindung arbeiten. Auf die reinen „Brotaufträge“ (zum Beispiel Mottenkugeln herstellen), die Martina für ihn ranholt, hat Dr. Allend bald keine Lust mehr. Deshalb geht die Chemikerassistentin schließlich bei dem windigen Geschäftsmann Da Costa hausieren. Der lacht der jungen Frau zunächst ins Gesicht – und hört gleich wieder auf: nicht, dass ihn die Erfindung und ihre potentiellen humanistischen Annehmlichkeiten an sich interessieren, aber er wittert intuitiv ein ganz großes Geschäft. Deshalb geht Da Casto also wiederum beim Chef des Zellulose-Konzerns Miller hausieren. Und weil doppelt gemoppelt bessert hält, schaut er auch gleich beim Chef des Nitro-Konzerns Vandenhoff vorbei. In kürzester Zeit entspinnt Da Costa ein enges Geflecht aus Tauschversprechungen zwischen Anteilen verschiedener Rohstoff-Monopole, die die beiden Konzerne innehaben und angekündigten Kaufoptionen auf die Gras-Butter-Erfindung. Am dringendsten ist aber erst einmal: Dr. Alland muss ordentlich arbeiten können. Deshalb finanziert ihm Da Costa ohne jegliche Vorbedingungen ein schönes Labor – vorbezahlt mit dem Geld, das er den beiden Konzernchefs aus den Rippen geleiert hat. Neben Martina bekommt Alland ganz viele weitere Assistenten: Chemiker aus Millers und Vandenhoffs Konzernen, die ein gutes Auge auf die Entwicklung der Erfindung haben und ggf. davon berichten können.

dramatis personae
Oben links: Martina Höller und Dr. Alland / Oben links: Aimée und Da Costa
Unten links: Vandenhoff und Miller / Unten rechts: Dr. Brose und Georgia Spaldi

Mit einem schönen Labor hofft Da Costa natürlich, den Chemiker-Erfinder günstig für einen möglichen Verkauf seiner Erfindung zu stimmen. Aber davon wollen Dr. Alland, seine rigoröse Arbeitsethik und seine moralischen Skrupel gar nichts wissen: schließlich sei die Erfindung noch nicht so weit, und eine unfertige Erfindung zu verkaufen kommt gar nicht in Frage – da wäre er doch ein Betrüger! Da Costa, bei dem man sich ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen kann, wenn er sich selbst mit einem süßlichen Lächeln als „ehrlichen Makler“ bezeichnet (der zitierte Otto von Bismarck gilt nicht umsonst bis heute als Musterbeispiel idealistischer und von unverbrüchlicher Moral geleiteter Politik), schaut zuerst dumm aus der Wäsche. Ihm kommt gleich die Idee, den Chemiker mit dessen Laster unter Druck setzen – doch Zigaretten, Alkohol, gutes Essen und Frauengeschichten sind beim Workaholic Dr. Alland leider Fehlanzeige. Vor lauter Arbeit merkt Alland ja auch die ganze Zeit überhaupt nicht, wie seine eigene Assistentin Martina ihn anhimmelt und heimlich in ihn verliebt ist.

Nun denn: beide Konzerne sind eifrig daran interessiert, die kommende Gras-Butter von ihrem Erfinder zu kaufen, zu erpressen, zu klauen, zu was auch immer... Bei Millers Zellulose-Konzern setzt man deshalb, auf Anraten Da Costas, auf die „Eva“-Strategie: die junge Tänzerin Aimée wird damit beauftragt, Dr. Alland „zufällig“ bei einem Ball kennenzulernen und zu verführen (und ihm dann einzuflüstern, die Verkaufsoption an den Zellulose-Konzern zu geben). Beim Nitro-Konzern Vandenhoffs setzt man auf ein etwas anderes Mittel: die Marquise Spaldi, Vandenhoffs Tochter, ihres Zeichens Psychoanalytikerin, soll Dr. Alland in Sitzungen analysieren, um seine psychologischen Schwachpunkte herauszufinden und ihn damit dann besser in Richtung Verkaufsoption manipulieren zu können...

Alles in Butter also? Mitnichten. Aimée verliebt sich nicht nur zum Spiel, sondern wahrhaftig in den etwas steifen, aber doch eigentlich charmanten Dr. Alland. Die Marquise Spaldi entdeckt zwar für Dr. Alland keine großen Gefühle, findet aber sichtlich sexuelles Interesse an dem Mann. Währenddessen haben Da Costa, Miller und Vandenhoff im Hintergrund in einer anderen Sache alle Hände voll: als herauskommt, dass die Butter wesentlich besser auf Nordland-Moos gedeiht, wird in dessen Herkunftsland, also Nordland, ein Putsch provoziert mit dem Ziel, die Wirtschaft des Landes ganz auf Moos umzustellen und sich dabei die Ernte unter den Nagel zu reissen. Und Martina Höller, die fleißige und in ihren Chef schwer verliebte Assistentin, hat alle Hände damit zu tun, Dr. Alland bei der Arbeit zu helfen, ihn zugleich vor seinen (wie sie rasch herausfindet) nicht ganz uneigennützigen Gönnern zu schützen und nebenbei noch mit viel Fingerspitzengefühl, aber mit schwieriger Konkurrenz von zwei anderen Frauen dessen Herz zu erobern...


Lang‘ianische Ton-Bild-Montage im Dienste der Screwball-Komödie

„Opium ist aber sehr ungesund.“
„Ja, auf die Dauer macht es impotent...
[Zwischenschnitt auf das entsetzte Gesicht von Dr. Alland]
...aber mich regt der Genuss in höchstem Maße an.“
(aus einer Analyse-Sitzung zwischen der Psychoanalytikerin Spaldi und Dr. Alland – in seiner Wohnung)

CHEMIE UND LIEBE wird bisweilen als der erste Science-Fiction-Film der DEFA oder gar als erster ostdeutscher Sci-Fi-Film bezeichnet. Aus einer sehr technischen Sicht ist das nicht vollkommen falsch, aber so richtig überzeugend ist diese Behauptung nicht. Im Gegensatz zu den Trümmerfilmen der späten 1940er Jahre spielt er nicht im zeitgenössischen Nachkriegsdeutschland, sondern in einem imaginären, unbenannten Land – allerdings ganz ohne futuristische Mätzchen. Die Erfindung selbst, das Verwandeln von Gras in Butter, dient tatsächlich nur dazu, um die Ereignisse anzustoßen: ab und zu redet ein Chemiker über Prozesse, die für Laien schwer verständlich sind und beugt sich über ein Reagenzglas. Der Durchbruch der Erfindung wird „gezeigt“, in dem einige Männer und Frauen in weißen Kitteln sich in einem Labor ein paar Brotscheiben mit Butter bestreichen und diese essen. Kurz: Sci-Fi-Schauwerte gibt es in CHEMIE UND LIEBE eigentlich nicht.
Nein, CHEMIE UND LIEBE ist eher eine Industriespionage-Komödie und teilweise eine Screwball-Komödie – und möglicherweise tatsächlich der erste Film dieses Genres, den die DEFA herausgebracht hat. Doch auch das ist nicht ganz so einfach. CHEMIE UND LIEBE wird von einem namenlosen Erzähler eingeführt, der erklärt, dass er von der DEFA gebeten wurde, einige Worte zum Film zu sagen. Er erklärt kurz den Titel des Films, definiert Chemie als  „Lehre von der Verwandlung der Stoffe“ und Liebe als „Lehre von der Verwandlung des Herzens“. Mit einer Karte verortet er das namenlose Land geografisch (zu sehen ist eine imaginäre, nicht besonders aussagekräftige Karte – nachdem der Vorführer aus Versehen zwei falsche Karten, eine des amerikanischen, eine des afrikanischen Kontinents gezeigt hat). Dann erklärt er, dass er sich höchstpersönlich ab und zu in den Film einschleichen wird. Im weiteren Verlauf wird der Erzähler Off-Kommentare geben, sich auch in neutraler Umgebung selbst einspielen und die Handlung kurz kommentieren – aber auch gleichermaßen als aktive Figur eingreifen und teils als deux ex machina wirken. Als Aimée und Dr. Alland sich langsam näher kommen und zusammen zu einem Club fahren wollen, fingiert der Erzähler als Taxifahrer getarnt eine Autopanne – wobei das Auto zufällig vor Aimées Wohnung stehen bleibt. Als sich in Allands Wohnung ein Techtelmechtel zwischen ihm und der Marquise Spaldi ankündigt, klingelt der Erzähler als Telefonreparateur gekleidet an der Tür, um die erotisch aufgeladene Stimmung ein bisschen zu stören. Der Erzähler geht aber noch weiter: er greift auch inszenatorisch in den Film ein. Gleich zu Beginn fährt eine Kamera in Richtung eines Laborfensters: der Erzähler befiehlt gebieterisch, das Fenster zu öffnen – es öffnet sich das Fenster, so dass die Kamera durch das Fenster gleiten kann, um den regen Trubel im Chemielabor festzuhalten. Der Erzähler spricht nicht nur „unbeteiligte“ Kommentare, sondern redet aus dem Off teilweise die Figuren an: wenn die Kamera an einem langen Labortisch entlang flitzt, stellt seine Off-Stimme die arbeitenden Chemiker mit Namen, Titel und Konzernzugehörigkeit vor und diese verbeugen sich dann oder nicken kurz in die Kamera. Schließlich, als Da Costa der Assistentin Martina zunächst ins Gesicht lacht, stoppt er sogar gar den ganzen Film mit der „Pausentaste“ und lässt das Bild zum Freeze-Frame erstarren.

Der Erzähler...
als Erzähler, Vandenhoffs Mitarbeiter, Taxifahrer, Kellner
Von der ersten Sekunde an wird klar gestellt, dass es hier keinen „unsichtbar“ und nahtlos erzählten Film geben wird und das zieht sich auch konsequent durch. Das ist keineswegs nur auf die aktiv eingreifende Erzählerfigur beschränkt: CHEMIE UND LIEBE strotzt vor erstaunlichen, mitreissenden und tollen Regieeinfällen. Wenn ich „Pausentaste“ oben in Anführungszeichen setze, soll nicht nur die Metapher kenntlich gemacht werden: „Pause“ ist nicht etwas, was einem bei diesem temporeichen, extrem dichten und dabei oft entfesselten Film in den Sinn käme.
Die inszenatorischen Mittel des Films, die ihn heute, fast 70 Jahre später, so frisch aussehen lassen, stammen teilweise aus der Stummfilmära. Mehrfachbelichtungen waren 1948 im Prinzip schon ein ganz „alter“ Hut, werden aber sehr beeindruckend eingesetzt. Während der Sitzung des Miller-Konzerns, bei der die „Eva“-Strategie von den äußerst wichtig und sehr respektabel aussehenden Herren besprochen wird, blickt die Kamera kurz in die heimlichen Gedanken ebendieser Herren. Diese schauen ein Gegenstand in ihrer Nähe an, und sehen – teilweise in besagten Doppelbelichtungen, teilweise mit großen Requisiten in Überblendungen – ihre „persönliche“ Eva. Der eine Herr sieht auf dem Telefon statt des Hörers eine nackte Frau, die sich räkelt. Das ist natürlich filmhistorisch extrem interessant, denn hier ist deutlich mehr nackte Haut zu sehen als drei Jahre später im skandalumwitterten DIE SÜNDERIN (der gleichwohl auch wegen seiner Thematik skandalisierte). Es folgt die Vision eines Herren, der auf einem Federkiel ein junges Schulmädchen sitzen sieht. Dieser Moment ist nun wahrhaft verstörend – ohne jegliche Zweifel sehen wir hier eine pädophile Fantasie. Es folgt ein Vorstandsmitglied, der ein Lineal etwas durchbiegt und dabei von einer Domina träumt, die wiederum eine Reitgerte durchbiegt.
Nacktheit, Pädophilie, Sadomasochismus und das alles so explizit visualisiert – das ist für 1948 beachtlich viel. Öffnete das politische Interregnum und Provisorium in Deutschland zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik im Westen bzw. der DDR im Osten, zwischen Nazi-Zensur und FSK/BPJM/Amtsgericht-Zensur bzw. staatssozialistischer Zensur für kurze Zeit Raum für Freiheiten, der 1949 mit der doppelten Staatsgründung und der bürokratischen Etablierung dauerhafter Zensurinstitutionen wieder verloren ging? Auf der Sitzung, der Vandenhoff vorsteht, haben die Vorstandsmitglieder jedenfalls auch eine rege Fantasie und träumen von Balletttänzerinnen auf ihrer Zigarrenspitze, exotischen, fast barbusigen Schönheiten auf dem Deckel einer Ziervase oder von erotischen Eroberungen im Inneren einer Wasserkaraffe.



Einige Teilnehmer der Vorstandssitzung schweifen mit den Gedanken ab...
... und haben mehr oder minder explizite, mehr oder minder verstörende Fantasien

Die ganzen erotischen Fantasien der gesetzten Herren spielen sich ab, während der jeweilige Konzernchef darüber spricht, wie man den Erfinder Dr. Alland mit einer Frau ködern oder ihn zumindest analysieren kann. Ton und Bild „weichen“ hier erheblich ab. Der Ton bringt die Haupthandlung voran, das Bild erzählt eine andere Geschichte. CHEMIE UND LIEBE enthält viele solcher Momente. Die Bild-Montage in Kombination und Wechselwirkung mit der Ton-Montage ist vielleicht das zentrale Element, das den Film heute so frisch und modern wirken lässt.
Revolutionär innovativ war er dabei nicht. Ich denke, vieles lässt sich relativ direkt auf den Film zurückführen, der die Ton- und Bild-Montage revolutionierte: Fritz Langs M. Arthur Maria Rabenalt hat sich offenbar sehr genau die parallele Sitzung der Polizisten und Gangster in Langs Klassiker (der es damals in Deutschland allerdings noch nicht war) angeschaut: Sitzungräume mit großen Tischen voller rauchender Männer, umgeben von einer dicken Luft, die vor lauter Zigaretten- und Zigarrenrauch geradezu zum Schneiden ist. CHEMIE UND LIEBE zeigt beide Sitzungen nacheinander und verschränkt sie nicht so kunstvoll zusammen wie in M, doch den Schnitt kennt man aus M: der Sprecher beginnt einen Satz, und nach einem Schnitt beendet ihn der Sprecher in der anderen Szenerie.
CHEMIE UND LIEBE ist ein extrem dialogreicher Film. „Ver-“ bzw. „zerlabert“ ist er in keinem Moment, weil es nur wenige einfache Schuss-Gegenschuss-Dialoge gibt. Oft laufen die Dialoge einer Szene einfach mit den gleichen Personen aber in einer anderen Umgebung einfach weiter – etwa, wenn sich Dr. Alland und der Chemiker Dr. Brose miteinander über chemische Probleme im Labor unterhalten und das Gespräch nahtlos weitergeht, während wir uns nun in einem schicken Club bei einem Empfang befinden. Abrupte Schnitte beenden eine Szene und ihr Dialog, und in der nächsten Szene dient ein Stichwort aus dem vorangehenden, um das ganze (teils ironisch) weiterzuspinnen. Wenn eine neue Szene beginnt, hören wir meist jemanden sprechen. Das erste Bild ist möglicherweise eine Nahaufnahme auf eine Person (nicht unbedingt der/die Sprecher/in) oder einen Gegenstand – die Kamera schwenkt dann, oder fährt durch den Raum und etabliert dann, wer sich wo befindet. Es gibt auch nur wenige Abblenden und Aufblenden – fast nur harte Schnitte oder Wischblenden. Die Szenenfolge: Second-Unit-Aufnahmen eines Gebäudes, eine Person, die eine Tür öffnet und einen Raum betritt und dann fängt die Szene erst richtig an – was man aus anderen Filmen kennt, gibt in hier praktisch nicht. Hier läuft das alles wesentlich flotter. CHEMIE UND LIEBE hat die Dichte eines 130-Minuten-Films – läuft aber nur knapp über 90 Minuten. Türen, die auf und zu gehen, das gibt es nur in einer großen „Verfolgungsjagd“, als Martina, Aimée und die Spaldi durch das ganze Gebäude, in dem sich das Gras-Butter-Labor befindet, nach Dr. Alland suchen und sich dieser verstecken muss.

Kameraperspektiven, die in einem zeitgenössischen film noir nicht deplatziert wirken würden
Die Kamera jedenfalls ruht sich ebenso wenig wie die Figuren aus. Dynamisch eilt und fliegt sie durch lange Räume, durchbricht manchmal gar Wände (was ein wenig an Max Ophüls erinnert). Wenn sie ruht, dann oft für kunstvoll arrangierte Tableaus. Sehr denkwürdig ist eine Montage von feiernden Upper-Class-Gästen bei einer der vielen Feierlichkeiten des Films: Nebenfiguren werden gezeigt, wie sie über den Putsch in Nordland tuscheln, über ihre jüngsten erotischen Eroberungen, über die Gefahr von Beaus, die alten Damen das Geld aus der Handtasche verführen wollen – lauter Tableaus, stark gekippt fotografiert. Drei Köpfe, die man aus der Untersicht durch ein transparentes Gläsertablett sieht – dieses Bild könnte fast schon aus einem zeitgenössischen film noir mit dem Kameramann John Alton sein.

Langs Einfluss ist auch in einzelnen Bildkomposition zu sehen:
oben: CHEMIE UND LIEBE / M
unten: CHEMIE UND LIEBE / DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE

Zwei kleine Details noch – eins betrifft die Verbindung zu Fritz Lang. Gegen Ende wird Dr. Alland die Vollendung seiner Erfindung vor einem breiten Publikum vorführen und hier gibt es einmal ausnahmsweise tatsächlich eine Expositions-Totale, die den Universitätshörsaal zeigt. Ein Bild, das – wenn auch spiegelverkehrt – praktisch genauso 15 Jahre vorher in DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE zu sehen war.

Sehr mysteriös ist die Szene, in der Da Costa zum ersten Mal bei Vandenhoff hausieren geht. Diesen besucht er nicht in einem Büro, sondern in eines der Museen, die ein von seinem Konzern aus Prestigegründen finanziertes Institut unterhält – offensichtlich ein Paläontologisches Museum. Die beiden Männer unterhalten sich vor einem Dinosaurier-Skelett. Auf eine gewisse Weise ist das konsequent: weder Miller noch Vandenhoff werden arbeitend in ihrem Büro eingeführt, sondern in ihrer Freizeit (Miller angelt gerade, als Da Costa ihn aufsucht) oder zumindest bei einer Nebenbeschäftigung (die Kontrolle der Arbeit des finanzierten Instituts). Trotzdem zieht das doch einige Aufmerksamkeit auf sich: zwei Männer vor einem Dinosaurier. War das ein kleiner Wink an Howard Hawks‘ BRINGING UP BABY? Die Saurierart ist nur verwandt und nicht genau die gleiche (Diplodocus Carnegiei in CHEMIE UND LIEBE, ein Brontosaurus in BRINGING UP BABY). Hawks' große Screwball-Komödie kam erst 1966 in Deutschland ins Kino. Und Deutschland ist der Ort, an dem sich die zentralen Beteiligten von CHEMIE UND LIEBE auch nach 1938 befanden...


„Ich hab Schnaps gebraut.“
„Dafür sollen Chemiker ja berühmt sein.“
„Wollen Sie mal kosten?“
„Uuuh.“
(informelles Gespräch in einem Laborhinterzimmer zwischen Dr. Brose und Psychoanalytikerin Spaldi)

Bei dem, was jetzt kommt, wäre ein Schnaps vorher tatsächlich nicht verkehrt...


Arthur Maria Rabenalt: Avantgardist, „unpolitischer Unterhaltungsregisseur“, Altherren-Pornograf

Als Arthur Maria Lothar Konrad Heinrich Rabenalt wurde der Regisseur dieses kleinen Wunderwerks 1905 in Wien geboren (im deutschen Wikipedia-Artikel gibt es noch ein „Friedrich“ am Ende der Vornamenliste). Rabenalt war von Haus aus ein Mann des Theaters. In den späten 1920er Jahren bildete er mit dem Bühnenbildner Wilhelm Reinking und der Tänzerin und Choreografin Claire Eckstein ein Theatertrio, das an vielen deutschen Bühnen durch die Experimentierfreudigkeit seiner Theater- und Operninszenierungen für Aufsehen sorgte. Das Trio feierte Publikumserfolge, wurde aber von den Nazis heftig als „kulturbolschewistisch“ attackiert. Nachdem diese 1933 an die Macht gelangten, durften Rabenalt, Reinking und Eckstein vorerst nicht mehr an deutschen Bühnen arbeiten. Glaubt man dem deutschen Wikipedia-Eintrag, so war Rabenalt bereits vor 1933 im Filmgeschäft tätig. Erwähnt wird eine Beteiligung an der Erstellung einer englischen Synchronfassung von – Fritz Langs M.

Wer schon vor der Herrschaft der Nazis verbal von ihnen attackiert wurde, weil er als künstlerischer Avantgardist galt und dann 1933 von ihnen einen Berufsverbot erteilt bekam, wäre eigentlich durchaus ein Kandidat für die Emigration gewesen. Rabenalt entschied sich dafür, in Deutschland zu bleiben und es weiter zu versuchen. 1934 kamen Rabenalts vier erste Filme heraus – einige davon hatte er bereits vor der Machtübernahme der Nazis angefangen zu planen. Der erste veröffentlichte Film, PAPPI, wird von Stefanie Mathilde Frank in ihrem Buch Arthur Maria Rabenalts Filme 1934 bis 1945 – eine dramaturgische Analyse als Film mit einem hohen Tempo beschrieben, mit einer fein abgestimmten Bild- und Ton-Montage und raffinierten visuellen Gags. In WAS BIN ICH OHNE DICH werden wohl die Bewohner eines Hauses mit Chopins Trauermarsch im Hintergrund vorgestellt – der Marsch geht dabei allmählich über in das fröhliche Titelschlagerlied. Rabenalts dritter Film, EINE SIEBZEHNJÄHRIGE (immer noch 1934) bekam Probleme mit der Zensur – und dann auch sein vierter Film EIN HUND, EIN KIND, EIN VAGABUND: dieser wurde wenige Wochen nach der Premiere aus dem Verkehr gezogen. Der Film wurde von 87 auf 77 Minuten geschnitten – und nach einer Neuprüfung in der geschnittenen Fassung trotzdem verboten, wegen „Verletzung des künstlerischen Empfindens“, wegen „alberner Dialoge“ und weil es ein „unkünstlerisches, seichtes und geschmackloses Machwerk“ sei (hier die Verbotsbegründung – der Film wurde in einem Rutsch mit DIE LIEBE SIEGT von Georg Zoch verboten, und zwar auf persönliche Intervention von Goebbels). Nach weiterem Schneiden (mittlerweile waren 68 Minuten von ursprünglich 87 übrig) wurde der Film wieder einige Monate später unter dem Titel VIELLEICHT WAR‘S NUR EIN TRAUM zugelassen. 

Demoralisiert von den Problemen mit der Zensur ging Rabenalt für die nächsten paar Jahre dann doch ins Ausland. In italienisch-deutscher Koproduktion entstand 1936 DIE LIEBE DES MAHARADSCHA, mit dem Rabenalt ein Pionierwerk des Indienfilm-Trends schuf (erfolgreicher wurden Richard Eichbergs und Thea von Harbous DER TIGER VON ESCHNAPUR und DAS INDISCHE GRABMAL von 1938 – zwei Jahrzehnte später kehrte Fritz Lang mit seinen eigenen Filmen gleichen Namens nach Deutschland zurück.). Zwei Filme drehte Rabenalt noch in Österreich, bevor er 1938 doch wieder nach Deutschland zurückkehrte und mit dem Zirkusfilm MÄNNER MÜSSEN SO SEIN (1939) einen großen Erfolg feierte. Es war der Film, mit dem er nun endlich richtig Fuß in der deutschen Filmindustrie fasste.

Von 1939 bis 1945 drehte Rabenalt über ein Dutzend Filme. Mehrere von ihnen sind ganz offen nationalsozialistisch. Der Filmhistoriker Hans Schmid zögert nicht, sie unumwunden als „widerliche Propagandafilme“ und „infam“ zu bezeichnen.
Darunter fällt FLUCHT INS DUNKEL, der noch kurz vor dem Angriff auf Polen in die Kinos kam. Wenn man die Inhaltsangabe von FLUCHT INS DUNKEL liest (hier auf der Seite der Murnau-Stiftung), nachdem man CHEMIE UND LIEBE kennt, fällt auf: es geht um einen Chemiker und seine bahnbrechende Erfindung (nämlich eine Aluminiumlegierung mit der Festigkeit von Stahl). In dem Film ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! von 1940 geht es – drei Mal darf der Leser raten – um die bahnbrechende Erfindung einer Legierung für einen superleichten, geschmeidigen und reißfesten Draht. Drehbücher mit Chemikern und bahnbrechenden Erfindungen hatten es Rabenalt offenbar angetan. Zur genaueren Bewertung der zwei Filme aus der Nazi-Ära würde ich nun das Wort Hans Schmid überlassen (bzw. ihn etwas ausführlicher paraphrasieren). In einer äußerst ambitionierten Reihe von Artikeln mit dem Titel „Das Dritte Reich im Selbstversuch“ hat er sich mit nationalsozialistischen Filmen befasst, die er in seiner für ihn üblichen Art äußerst detail- und kenntnisreich sowie mit vielen Ausführungen zum film- und politik-/gesellschaftshistorischen Kontext analysiert.
Hier der Link zu dem Text, in dem er über Rabenalts FLUCHT INS DUNKEL (1939) und ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! schreibt. Zu FLUCHT INS DUNKEL hat Schmid überhaupt nichts Gutes zu sagen – zeigt aber auf, wie bis ins kleinste Detail die Machterlangung der Nazis als Defensivschlag gegen die als korrupt dargestellte Weimarer Republik gerechtfertigt wird. Bei ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! findet Schmid die Ansätze zu einem echten Genrefilm interessant – also Spuren eines Spionagefilms, in dem die Bösen tatsächlich verführerische, faszinierende Figuren sind. Wohlgemerkt: Ansätze. Er weist daraufhin, dass wohl in keinem Nazi-Film so viele Hitler-Büsten im Hintergrund zu sehen sind – ein Massenmörder, der damit mit rein filmischen Mitteln zum Schutzheiligen gemacht wird: „Trotz vieler Feinde ist man gut aufgehoben in einer Welt, über die der Führer wacht.“ Überhaupt seien Büsten und Bilder von Nazi-Größen im Hintergrund (zu sehen ist auch Himmler) sehr geschickt inszeniert. Trotzdem bleibt das Schlussurteil, dass ihm angesichts der Legitimierung der Nazi-Terrorherrschaft nur übel werden kann.
Schmids Text zu ...REITET FÜR DEUTSCHLAND (1941) flankieren Ausführungen zu den späten Jahren Rabenalts: um einen späten Skandal bei Rabenalts Ernennung zum Ehrenprofessor der Universität Bayreuth Ende der 1980er Jahre und um seine schriftstellerische Tätigkeit als Autor pornografischer Romane, in denen Rabenalt sexistischen und rassistischen Vergewaltigungs- und Unterwerfungsfantasien in Altherrenmanier frönte. ...REITET FÜR DEUTSCHLAND ist der Film, den Rabenalt nach dem Zweiten Weltkrieg am entschlossensten als „unpolitischen Unterhaltungsfilm“ verteidigte. Würde ich den Film nach dem Gelesenen in zwei Sätzen zusammenfassen, läse sich das wohl so: ein wackerer deutscher Soldat verliebt sich während des Ersten Weltkriegs in ein reinrassiges Pferd, verunglückt damit schwer, bleibt gelähmt zurück, während böse Polen ihm das Tier klauen. Mit gelähmten Gliedern ist er nichts mehr wert, deshalb wird er sich mit eisernem Willen wieder selbst gesunden, um erstens sein geliebtes Pferd wieder zu finden, zweitens es zuzureiten und damit bei einem internationalen Wettbewerb für die Ehre Deutschlands zu gewinnen, und drittens das Herz einer Stute ähm... Frau zu gewinnen, die als echt-deutsche Frau genau weiß, wann sie in Anwesenheit des Mannes die Klappe zu halten hat und die in der Wertschätzungsskala des wackeren Veteranen und zünftigen Reiters ganz offensichtlich nicht über dem Pferd steht. Die leicht zoophil angehauchte Liebesgeschichte zwischen einem Mann, der seine „Glieder“ wieder zum Funktionieren bringen möchte, einem Rassenpferd und einem ur-deutschen Mädel wird von Reinrassigkeits- und teutonischen Überlegenheitsfantasien getrieben und von infamem Sexismus, antisemitischen Darstellungen und einem ekelhaften Neuaufguss der Dolchstoßlegende flankiert. Mit anderen Worten: ein „unpolitischer Unterhaltungsfilm“ – der deshalb in den 1980er Jahren auch ab 6 freigegeben auf Video in der Serie „Die großen Ufa-Klassiker“ erhältlich war (also in dem Jahrzehnt, als die große „Gewaltvideo“-Hysterie herrschte, die sich allerdings nicht auf „harmlose Unterhaltungsfilme“ wie ...REITET FÜR DEUTSCHLAND stürzte).
Nun: Hans Schmids Ausführungen zu ...REITET FÜR DEUTSCHLAND habe ich jetzt etwas ausführlicher paraphrasiert. Aber das ist selbstverständlich kein vollwertiger Ersatz für die Lektüre des kompletten, sehr langen Artikels.

So... nun müsste aber endlich Schluss sein mit den „unpolitischen Unterhaltungsfilmen“ Rabenalts im Dritten Reich. Ist es aber nicht. Schmid bespricht in seiner Reihe „Das Dritte Reich im Selbstversuch“ noch FRONTTHEATER von 1942. Hier verrät eine junge Frau ihren Ehemann, dem sie versprochen hatte, ihren Beruf als Theaterschauspielerin an den Nagel zu hängen, um voll und ganz nur Ehefrau zu sein, als sie eine Vertretungsstelle in einer Theatertruppe für Truppenbetreuung im Ausland/in besetzten Gebieten annimmt, während der Ehemann irgendwo an der Westfront stationiert ist. Der Konflikt geht dann doch glimpflich aus, als klar wird, dass sie diese Stelle nur bis zum Endsieg besetzen wird. Zwischendurch werden ein paar schmissige Schlager gesungen und leicht frivole Tänze geboten, damit die wackeren deutschen Soldaten mit Schwung Deutschlands Sicherheit am Ärmelkanal bzw. auf der Akropolis verteidigen können, indem sie am Tag nach den schönen Aufführungen ein paar Untermenschen niedermetzeln gehen. Trotz eines Gastuftritts der Verkörperung „unpolitischer Unterhaltung“ im Dritten Reich (also Heinz Rühmanns) galt FRONTTHEATER nach dem Weltkrieg doch nicht als ganz so „unpolitisch“ wie etwa ...REITET FÜR DEUTSCHLAND und wird heute von der Murnau-Stiftung als „Vorbehaltsfilm“ behandelt. Wo Schmid bei ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! die Ansätze zu Genre und Pulp bemerkenswert fand und bei ...REITET FÜR DEUTSCHLAND die Manipulation antisemitischer Ressentiments als besonders perfide und im perversen, menschenverachtenden Selbstverständnis des Films als inszenatorisch gelungen sieht (es gibt zu Beginn jüdische Karikaturen – später werden bösartige Figuren weniger karikaturhaft und wesentlich geerdeter inszeniert, aber audiovisuell doch deutlich so gezeigt, dass der Zuschauer sich an die Karikaturen erinnert), da sieht er in FRONTTHEATER nichts bemerkenswertes, nur das mechanische Abspulen eines völlig lahmen Drehbuchs, in dem lauter Sachen passieren, weil sie im Drehbuch stehen: „Rabenalt [ist] ein zu mittelmäßiger Regisseur, um Schwächen des Drehbuchs durch die Inszenierung auszugleichen“, so Schmid. Der oberste Chef der deutschen Filmindustrie im Dritten Reich verlieh FRONTTHEATER zwar die Einstufung „staatspolitisch und volkstümlich wertvoll“, mochte ihn aber auch nicht, bezeichnete ihn als „schlecht gemacht“ und den Grundkonflikt zwischen den Ehegatten als „an den Haaren herbeigezogen“. Goebbels‘ persönliches, harsches Tagebucheintrag diente Rabenalt später in der Bundesrepublik dann auch als einer von vielen Belegen dafür, dass er eigentlich ein Subversiver und Rebell innerhalb der Filmindustrie des Dritten Reichs gewesen sei.

Von den 16 abendfüllenden Filmen, die Arthur Maria Rabenalt, der „unpolitische Unterhaltungsregisseur“, zwischen 1939 und 1945 drehte, befinden sich also mindestens vier ganz offen nationalsozialistische Machwerke. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Rabenalt entsprechend auch einen Berufsverbot von alliierter Seite für den Bereich Film und wendete sich zunächst dem Theater und dem Kabarett zu (Künstler, die nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich noch gerade „entnazifiziert“ wurden, konnten offenbar recht problemlos einfach den Kunstzweig wechseln). Der Berufsverbot für die Filmindustrie hielt nicht besonders lange an, und CHEMIE UND LIEBE wurde 1948 Rabenalts erster Film nach dem Krieg. Für die DEFA drehte Rabenalt noch 1949 DAS MÄDCHEN MARTINA. Danach wurde er zu einem äußerst produktivsten Regisseur in der Bundesrepublik. Bis 1968 drehte er ununterbrochen jährlich mehrere Filme (1953 gar fünf Stück), ab 1961 vor allem für das Fernsehen. Sein Hauptwirkungsgebiet war der Musik- und der Schlagerfilm. Das ist natürlich der Bereich, den man sich für einen ehemaligen Opernregisseur gut vorstellen kann. Es ist irgendwie auch genau das, was der illusionslose Cinephile so in etwa von einem ehemaligen Nazi-Regisseur erwartete: im Dritten Reich „unpolitische Unterhaltungsfilme“ gedreht, in der Ära des Wirtschaftswunders und von Papas Kino das Publikum mit Musikschnulzen beglückt – während rückkehrende Emigranten wie Fritz Lang und Robert Siodmak als „Vaterlandsverräter“ beschimpft wurden (Fritz Lang zahlt bis heute damit: seine US-amerikanischen Filme, von denen einige richtungsweisend für den film noir waren, werden in Deutschland bis heute stiefmütterlich behandelt – als wäre er 1933 ganz verschwunden).
Nun, ganz so einfach ist das ganze nicht. Ein revisionistischer Blick auf das bundesdeutsche Kino der 1950er Jahre (kürzlich zu finden bei mehreren Festival-Retrospektiven oder auch bei den Eskalierenden Träumern) zeigt, dass da durchaus viel Abgründiges, Irrsinniges, zumindest aber Interessantes lauerte – gerade auch in populären „Schnulzen“. Bei Rabenalt speziell ist da (für die 1940er Jahre) CHEMIE UND LIEBE. Und es gibt ALRAUNE von 1952, diesen erotischen Horrorfilm mit Hildegard Knef als monströse femme fatale und Erich von Stroheim als mad scientist. Hans Schmid erwähnt in einem anderen Artikel (wie alles von Schmid sehr lesenswert, diesmal zur Zensurkultur in Deutschland) diesen Film als einen der wenigen genuinen Horrorfilm der Adenauer-Zeit, bezeichnet ihn aber auch als „singulär“ in Rabenalts Werk.

Mit CHEMIE UND LIEBE wären wir meiner Meinung nach schon bei zwei „singulären“ Werken Rabenalts. ALRAUNE habe ich noch nicht gesehen. Gesichtet habe ich allerdings zwei Mal AM ABEND NACH DER OPER: ein sogenannter Überläuferfilm, 1944 gedreht, aber erst 1945 nach Ende des Dritten Reichs aufgeführt. Erzählt wird in einer langen Rückblende die Geschichte eines Mannes, der seine Frau aus Eifersucht ermordet hat, nach mehreren Jahren Gefängnis wieder freikommt, und sich bei einer Weltreise (die er mit dem Ziel unternimmt, sich erst einmal in der Heimat vergessen zu lassen) in eine neue Frau verliebt. Er heiratet sie und möchte unter allen Umständen verhindern, dass sie von seiner Vergangenheit erfährt. Unglücklicherweise geraten verräterische Papiere in die Hände eines Mannes, der eine Chance wittert und den ehemaligen Mörder erpresst, ihm eine Stelle in dessen Unternehmen abpresst und schließlich sogar mit seiner neuen Frau anbandelt. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Wenn Rabenalt 1933 ins Ausland, schließlich sogar in die USA emigriert wäre, hätte er diesen Stoff Anfang der 1940er Jahre vielleicht als waschechten film noir gedreht. Das Resultat ist nun ein reines period-Melodrama und tatsächlich zwiespältig: AM ABEND NACH DER OPER hat nach einem fulminanten und extrem filmischen Start oft längere Durchhänger, sein Tempo ist eher schleppend, die Verrenkungen mancher Charaktere sind völlig unwahrscheinlich und knistern vor lauter Drehbuchrascheln. Ohne Goebbels zitieren zu wollen, aber das zentrale McGuffin des Films ist an den Haaren herbeigezogen: warum vernichtet der Protagonist seine verräterischen Entlassungspapiere nicht einfach gleich?
Der Film endet damit, dass die Ehefrau schließlich zu ihrem Mann steht, obwohl er früher mal ein Mörder war. Ein Mann mit Dreck am Stecken, der von gemeinen Leuten („Nestbeschmutzer“? „Vaterlandsverräter“?) mit seiner Vergangenheit unter Druck gesetzt wird – aber das ganze geht dann doch glimpflich für ihn aus, weil seine Nächsten überhaupt kein Problem mit diesem uralten Hut haben... Das liest sich rückblickend fast so, als hätte hier jemand die Nazi-Geschichtspolitik der frühen Bundesrepublik vorausgesehen.
Nichtsdestotrotz: immer wieder bricht ein enormer Stilwillen aus AM ABEND NACH DER OPER heraus. Einzelne Tableaus sind durch ihre expressive Ausleuchtung unvergesslich. In einer Szene in einem frivolen Club, wo der Protagonist seine neue Ehefrau hinführt und wo die beiden den Erpresser treffen, spielt die Kamera mit Spiegeln, einer verspiegelten Tischoberfläche und filmt sogar durch facettierte Glasperlen, die am Tischleuchter hängen. Gegen Ende wird die ein Teil der Anfangsszene komplett wiederholt – diesmal aber komplett im Point-of-View des Protagonisten.

Rabenalts AM ABEND NACH DER OPER
Trotz einiger Schwächen immer wieder visuell sehr spannend
CHEMIE UND LIEBE war 2014 eine meiner liebsten Neusichtungen. Damals bezeichnete ich Rabenalt als „biografisch problematisch“ und zugleich als „begnadeter Formalist“. Ersteres war, wie ich jetzt feststellen muss, eine Untertreibung. Dass er einmal ein avantgardistischer, „kulturbolschewistischer“ Theater- und Opernregisseur war, haben die Nazis wohlwollend vergessen, als er Filme wie ...REITET FÜR DEUTSCHLAND drehte. Dass er Filme wie ...REITET FÜR DEUTSCHLAND drehte, wurde nach dem Weltkrieg auch schnell wieder umgedeutet und das Werk in die Kategorie „Ist nicht Harlans JUD SÜß und daher nur harmlose Unterhaltung“ eingeordnet. Nebst theoretischen Schriften über Musiktheater und Oper, pornografischen Romanen sowie Abhandlungen über die Geschichte des Pornofilms oder des erotischen Theaters in der Frühen Neuzeit (die Hans Schmid als Pornografie im Deckmantel des Sachbuchs bezeichnet) schrieb Rabenalt auch ein Buch über das Wirken Goebbels in der Filmindustrie und ein Buch mit dem Titel Film im Zwielicht: über den unpolitischen Film des Dritten Reiches und die Begrenzung des totalitären Anspruchs. In diesen Büchern stilisierte er sich selbst zum getarnten Subversiven innerhalb der Nazi-Filmindustrie. Das könnte zwar daraufhin deuten, dass es doch einige Leute gab, die ihm in der Bundesrepublik Vorwürfe machten. Der Dokumentarfilmer und Autor Erwin Leiser erwähnte in seinem Buch „Deutschland erwache!“ Propaganda im Film des Dritten Reiches auch Rabenalt an prominenter Stelle – das war allerdings 1968, zehn Jahre nach der Erstauflage von Rabenalts Film im Zwielicht. Im Gegensatz zu rückkehrenden Emigranten wie Lang und Siodmak oder zu Außenseitern wie etwa Peter Pewas hatte aber Rabenalt keine größeren Probleme, in der Bundesrepublik Filme zu drehen und eine gute Karriere zu machen.
Was den „begnadeten Formalisten“ betrifft: vielleicht war die Begeisterung zu stürmisch, besonders nach nur zwei Filmen. Dennoch – CHEMIE UND LIEBE sowie AM ABEND NACH DER OPER verbindet personell ausschließlich Rabenalt selbst, so dass ich davon ausgehe, dass in seiner Filmografie wohl das eine oder andere stecken könnte, das sich zu entdecken lohnt. Bei Hans Schmid, der sehr gerne vergessene oder unterschätzte Regisseure in langen, detailreichen Texten würdigt (von Cornel Wilde bis Sergio Martino, von Jess Franco bis Jean Rollin), wird es einen neuen Blick auf Rabenalts Werk, etwa seinen Filmen aus den 1950er Jahren, wohl nicht geben: dafür ist er wohl erst einmal zu angeekelt von Rabenalts Nazi-Filmen und seinen mit Vergewaltigungsfantasien gefüllten Romanen.


Wenn Jud Süß auf Sissi trifft

Zweifelsohne hat bei CHEMIE UND LIEBE der Kameramann keinen geringen Einfluss auf das Gelingen des Films gehabt. Dessen Biografie in der IMDb liest sich sehr knackig: er drehte in den 1920er Jahren großartige Stummfilme, in den 1930er Jahren Revuefilme, in den 1940er Jahren Nazipropagandafilme, in den 1950er Jahren antifaschistische Filme in Ostdeutschland und in den 1960er Jahren Unterhaltungsfilme in Westdeutschland; er sei ein brillanter und innovativer Kameramann gewesen und ein beängstigendes Beispiel für einen perfekten Techniker, dem das Ziel seiner Arbeit egal ist. Die Rede ist von Bruno Mondi, dessen berüchtigste Arbeit Veit Harlans JUD SÜß und beliebteste die SISSI-Trilogie von Ernst Marischka. Mondi begann bereits „groß“: als 18-Jähriger war er Kameraassistent bei Fritz Langs DER MÜDE TOD engagiert. Später prägten drei Zusammenarbeiten Mondis Filmografie als Kameramann. Für den Regisseur Richard Eichberg fotografierte er zwischen 1925 und 1933 insgesamt 18 Filme – mehrheitlich Genrefilme vieler Couleurs (Komödien, Krimis, Melodramen). Gemeinsam erlebten Eichberg und Mondi den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm. Zwischen 1935 und 1945 wurde Mondi zum Stammkameramann Veit Harlans und fotografierte 12 seiner Filme. Darunter befindet sich JUD SÜß (1940). Technisch erwähnenswert ist, dass Harlan und Mondi zusammen zu den Pionieren des Farbfilms in Deutschland wurden: DIE GOLDENE STADT von 1942 gehört zu den ersten deutschen Farbfilmen. OPFERGANG (1944) wurde kürzlich restauriert auf DVD und blu-ray veröffentlicht und in diesem Zuge vor allem in Hinsicht auf seine Farbnutzung positiv besprochen – als morbider Kitsch, der wohl immer wieder in surrealen Irrsinn abdriftet, oder, wie Sebastian vom Kinotagebuch schreibt, in „delirierenden Camp“. In der Nutzung von Farbe sei Harlans und Mondis OPFERGANG ein Vorgänger von Argentos SUSPIRIA, wie man hier in einer sehr ausführlichen Besprechung lesen kann.
Nach einer kurzen Pause bei Kriegsende arbeitete Mondi gleich 1946 wieder weiter, und zwar bei der DEFA. Dort fotografierte er sechs Filme, darunter CHEMIE UND LIEBE, Wolfgang Staudtes ROTATION sowie den Märchenfilm DAS KALTE HERZ – letzterer war erste ostdeutsche Farbfilm. Mit Rabenalt arbeitete Mondi noch bei zwei weiteren Filmen: beim Krimi 0 UHR 15, ZIMMER 9 (1950) und bei der Musikkomödie LIEBE IST JA NUR EIN MÄRCHEN (1955). In den 1950er Jahren war Mondi wie bereits erwähnt Kameramann bei der SISSI-Trilogie. Sieben weitere Filme fotografierte er für Ernst Marischka.

Der Kollaboration mit den Nationalsozialisten völlig unverdächtig ist der berühmte Filmtheoretiker Balázs Béla, weil er erstens Kommunist, und zweitens jüdischer Herkunft war (und intellektuelle Filmkritiker wie ihn mochten die Nazis auch nicht). Allerdings wird sein Name im Zusammenhang mit CHEMIE UND LIEBE eher fallengelassen, als dass man ihn mit dem Projekt wirklich direkt assoziieren könnte. Das Drehbuch des Films wurde „nach einer Idee von Béla Balázs von Marion Keller und Frank Clifford verfasst“ – so kündigt der Erzähler zu Beginn von CHEMIE UND LIEBE den Film an. Manchmal liest man, dass der Film auf einen „Entwurf“, manchmal, dass er auf ein Theaterstück Balázs‘ basiert. Auf die Schnelle habe ich keine Hinweise dafür gefunden, dass der Ungar aktiv am Film beteiligt war.
Über die Autorin Marion Keller an sich finde ich kaum Informationen. Sie inszenierte einen Dokumentarkurzfilm über sowjetische Musiker in Berlin (MUSIKALISCHER BESUCH, 1946), verfasste das Drehbuch für Kurz Maetzigs Kurzdokumentarfilm BERLIN IM AUFBAU (ebenfalls 1946) und später das für CHEMIE UND LIEBE. In der IMDb kommt der nächste Eintrag knapp ein halbes Jahrhundert später: als Dialogautorin für den malisch-französisch-deutschen Film TAAFÉ FANGA („Die Herrschaft der Röcke“) von 1997. In diesem Film finden die Frauen eines Dorfes in Mali eine Zaubermaske, mit der sie einen Gender-Switch einleiten – in dem Ort werden die Frauen zu Männern, die Männer zu Frauen. Marion Keller, die nun Marion von Keller hieß, starb 1998 in Deutschland.
Der zweite Autor, Frank Clifford, ist schon weniger ein unbeschriebenes Blatt. Der gebürtige Hans Heinrich Tillgner arbeitete in den 1920er Jahren als Kinoleiter sowie als Filmproduzent in Berlin, Wien, Paris und sogar in den USA (wo er sich sein Pseudonym zulegte). Unter den namhaften Filmen, die er im Ausland produzierte, befanden sich À NOUS LA LIBERTÉ von René Clair (1931) und Julien Duviviers ALLÔ BERLIN? ICI PARIS! (1932). Clifford blieb nach der Machterlangung der Nazis in Deutschland und produzierte noch einige Filme – zwischen 1937 und 1948 herrschte bei ihm allerdings Funkstille in Sachen Film. Rabenalt kannte Clifford in seiner Eigenschaft als Produzent bereits aus den 1930er Jahren: dessen PAPPI und WAS BIN ICH OHNE DICH (beide 1934) hatte er produziert. Als Autor und Produzent wirkte Clifford nach CHEMIE UND LIEBE noch bei einigen weiteren Rabenalt-Filmen mit.

Hans Nielsen, der Darsteller des Dr. Alland, war vom Ende der 1930er Jahre bis zu seinem frühen Leukämie-Tod 1965 ein vielgesehener Schauspieler (143 Schauspiel-Credits bei IMDb) im deutschen Kino – offenbar meistens als Nebendarsteller, so bei mehreren Edgar-Wallace- und Bryan-Edgar-Wallace-Filmen Anfang der 1960er Jahre. Nebenbei war Nielsen auch ein vielbeschäftigter Synchronsprecher, der so diverse Darsteller wie David Niven, Orson Welles, Victor Sjöström, Fred Astaire, Cary Grant und Gary Cooper synchronisierte. Als etwas steifer Dr. Alland macht Nielsen eine ganz gute Figur, aber irgendwie liegt es natürlich in der Natur der Charaktere, dass Ralph Lothar als der umtriebige Da Costa im Grunde der heimliche Hauptdarsteller des Films ist: das Gesicht von CHEMIE UND LIEBE, das ist der süßlich-schmierig lächelnde und dabei doch stets elegante und charismatische Da Costa, der allen anderen meist die Show stiehlt. Ralph Lothar kam ursprünglich vom Theater, in dem er sowohl als Darsteller wie auch als Regisseur arbeitete. In den 1940er und 1950er Jahren spielte er in einigen Filmen mit – Ende der 1950er Jahre wechselte er auf den Regiestuhl und inszenierte gleichermaßen Kinofilme, Fernsehfilme und TV-Serien-Episoden. Das weibliche Pendant Lothars in CHEMIE UND LIEBE ist Ann Höling, die Darstellerin der Marquise Spaldi, die im Laufe des Films zunehmend mehr Raum mit ihrem Charisma einnimmt. Wie Lothar kam auch Höling vom Theater und blieb auch eher dort. CHEMIE UND LIEBE war ihre erste von nur zwei Dutzend Filmrollen bis 1993. Zwischen 1957 und 1966 gehörte sie zum Ensemble des Stadttheaters Basel und war in dieser Zeit gar nicht in Kino und Fernsehen zu sehen. Die vielleicht undankbarste Rolle, weil die Figur immer etwas zurückhaltend ist, hatte Tilly Lauenstein als Assistentin Martina Höller. Auch Lauenstein kam vom Theater zum Film, war ab den 1960er Jahren zunehmend auch im Fernsehen zu sehen und arbeitete als Synchronsprecherin (unter anderem von Katherine Hepburn, Ingrid Bergman, Barbara Stanwyck, Marlene Dietrich, Jeanne Moreau). Ende der 1960er Jahre nahm sie einige Rollen in Exploitationfilmen. So spielte sie die lesbische „Gräfin“, Teilhaberin eines Zwangsprostitutionsrings in Ernst Hofbauers SCHWARZER MARKT DER LIEBE (1966). Zu sehen war sie auch in Alfred Vohrers Erotikkomödie DAS GELBE HAUS AM PINNASBERG als Ehefrau des Inhabers eines Bordells für Frauen sowie in Cy Endfields und Roger Cormans DE SADE.

Die schillerndste Biografie (gleich vorab: nicht immer im positiven Sinne) unter den Darstellern von CHEMIE UND LIEBE hatte aber zweifelsohne Alfred Braun, der den allwissenden und aktiv intervenierenden Erzähler spielt. 1888 in Berlin geboren, begann Braun als Schüler von Max Reinhardt beim Theater und wirkte bereits in den 1910er Jahren bei einigen Filmen mit. In den 1920er Jahren wurde er in einem anderen Medium nicht nur berühmt, sondern gar zum Pionier, nämlich beim Rundfunk. Als Radiosprecher und -regisseur des Senders Funk-Stunde Berlin (der erste Hörfunksender in Deutschland) machte sich Braun einen Namen und seine Rundfunkbeiträge wurden legendär – ganz besonders seine Live-Reportagen zum Begräbnis Gustav Stresemanns und zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Thomas Mann. Letztere soll er, live vor Ort, offenbar nicht gesprochen, sondern geflüstert haben, um die Feierlichkeit nicht zu stören. Bei einer Umfrage in Berlin Ende der 1920er Jahre wurde Braun – nach Reichspräsident Hindenburg – zum erfolgreichsten Deutschen gewählt. Braun wurde von nationalkonservativen und nationalsozialistischen Kreisen stark angefeindet, weil er Ende der 1920er Jahre der SPD beigetreten war und auch an kirchlichen Feiertagen sendete. Nach der Machterlangung der Nazis wurde der deutsche Rundfunk „gesäubert“ und Braun zusammen mit anderen prominenten Hörfunkpionieren als Vertreter der Weimarer „Systemmedien“ verhaftet und in das Konzentrationslager Oranienburg verschleppt. Nach sechs Wochen kam er, auf Intervention des Schweizerischen Theaterdirektors Ferdinand Rieser, wieder frei – unter der Bedingung, Deutschland zu verlassen. In der Schweiz war er am Stadttheater Basel als Schauspieler und Regisseur tätig. In dieser Zeit fallen seine Bestrebungen, die Nazis bzw. insbesondere das Propagandaministerium dazu zu bewegen, ihm wieder eine Rückkehr nach Deutschland und zum Rundfunk zu ermöglichen, was zunächst erfolglos war. Nach einer Station in Ankara, wo er als Theaterdozent arbeitete, kehrte Braun offenbar illegal nach Deutschland zurück – oder möglicherweise bereits mit der Fürsprache des deutschen Botschafters in Ankara (Franz von Papen, ehemaliger Reichskanzler, dann Vizekanzler unter Hitler). Braun kam nur kurz zum Radio zurück, um über den Angriff auf Polen zu berichten. Veit Harlan und Emil Jannings setzten sich dafür ein, den Rundfunkpionier von seinem Lieblingsmedium zum Film zu transferieren. So begann Brauns Zusammenarbeit mit Harlan. Bei JUD SÜß arbeitete der ehemalige Rundfunkpionier als Regieassistent. Für DIE GOLDENE STADT, IMMENSEE – EIN DEUTSCHES VOLKSLIED, OPFERGANG und KOLBERG schrieb er am Drehbuch mit. Als das dem früheren Rundfunkpionier später vorgeworfen wurde, sagte Veit Harlan aus, dass Braun den Inhalt der Filme nicht bestimmt habe (ob um Braun zu verteidigen oder aus Stolz auf die Autorenschaft der eigenen Filme, ist unklar). Wie stark seine Beteiligung an dubiosen Filmen des Dritten Reichs auch war – sicher ist, dass Braun sich aktiv beim Naziregime angebiedert hatte und offenbar relativ bequem leben konnte, mit einer gutbürgerlichen, schicken Wohnung in Berlin und einer eigenen Wohnung in Gschwend (Ostwürttemberg). Nach dem Ende des Dritten Reichs wurde Braun nicht erst großartig „entnazifiziert“, sondern konnte gleich bei Radio Stuttgart arbeiten. Schließlich kehrte er 1947 nach Berlin zurück, zum sowjetisch geführten Berliner Rundfunk, wo man dafür bürgte, dass er schon immer ein „aufrechter Antifaschist“ gewesen sei. In diese Zeit fällt sein Auftritt in CHEMIE UND LIEBE. 1950 beendete Braun seine Arbeit beim Rundfunk in Ost-Berlin. Nach einigen Filmengagements als Schauspieler und auch als Regisseur (für sein AUGEN DER LIEBE stand ihm Veit Harlan als Drehbuchautor zur Seite) wurde Braun schließlich der erste Intendant des Senders Freies Berlin – was er bis 1957 blieb. Die Wahl war offenbar nicht unumstritten und einige Medien erinnerten an Brauns opportunistisches Verhalten im Dritten Reich (und – wog das vielleicht schwerer? – in der frühen DDR). Mitte der 1960er Jahre erkrankte Braun und erblindete, aber er produzierte und sprach trotzdem noch regelmäßig Beiträge für den Sender Freies Berlin. 1978 starb Braun 89-jährig in seiner Heimatstadt.

Noch ein kurzer Nachtrag zum Schluss, rasch hineingefügt: Emil Hasler, der Produktionsdesigner von CHEMIE UND LIEBE, hatte einige berühmte Filme in seinem CV. Darunter eine Stelle als Assistent-Produktionsdesigner bei DER BLAUE ENGEL, geteilte Credits für Pabsts TAGEBUCH EINER VERLORENEN – und (ebenfalls geteilt) Credits bei Langs FRAU IM MOND, M und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE. Meine Vermutung, dass CHEMIE UND LIEBE den späten deutschen Filmen Langs stark verpflichtet ist oder es zumindest eine relativ direkte Verbindung gibt, bestätigt sich.

Dem charismatischen Da Costa (Ralph Lothar) gehört der letzte Auftritt

CHEMIE UND LIEBE ist Teil einer DVD-Box mit dem sperrigen Titel Kontinuitäten und Brüche. Zwischen UFA und DEFA 1942 - 1948. 6 Filme. 3 Regisseure. Vertreten sind Wolfgang Staudte mit DER MANN, DEM MAN DEN NAMEN STAHL (1945), DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) sowie DIE SELTSAMEN ABENTEUER DES HERRN FRIDOLIN B. (1948) – dann Gerhard Lamprecht mit DIESEL (1942) und IRGENDWO IN BERLIN (1946), sowie Rabenalt mit AM ABEND NACH DER OPER (1945) und CHEMIE UND LIEBE. Das sind also eigentlich sieben Filme, und nicht sechs, wie der Titel suggeriert. Die Box ist zu moderaten Preisen erhältlich – die beiden Rabenalt-Filme sind, im Gegensatz etwa zu DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, nicht einzeln erhältlich. CHEMIE UND LIEBE ist jedenfalls in guter Ton- und Bildqualität zu sehen – da gibt es nichts zu mäkeln. Sollte CHEMIE UND LIEBE eines Tages doch einmal auf Einzel-DVD herauskommen, wird es höchstwahrscheinlich eine fürchterlich ramschige Edition sein, weil er als DEFA-Film rechtlich voll und ganz in den unfähigen Händen von Icestorm liegen dürfte.

Dienstag, 6. Juni 2017

Jekyll und Hyde in Paris

LE TESTAMENT DU DOCTEUR CORDELIER (DAS TESTAMENT DES DR. CORDELIER)
Frankreich 1959/61
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Jean-Louis Barrault (Dr. Cordelier / Opale), Teddy Bilis (Maître Joly), Michel Vitold (Dr. Séverin), Jean Topart (Désiré), Gaston Modot (Gärtner), Micheline Gary (Marguerite), Jacques Dannoville (Kommissar), Jean Renoir (Jean Renoir)

Dr. Cordelier und sein alter ego
Eine Limousine hält vor einem Pariser Fernsehstudio, und ihr entsteigt ein gutgelaunter korpulenter älterer Herr in Mantel, Schal und Hut: Es ist Jean Renoir, der Regisseur des Films, den wir gerade sehen. Er wird im Studio einer Ausstrahlung eben jenes DAS TESTAMENT DES DR. CORDELIER beiwohnen und den Film für die Fernsehzuschauer kommentieren. Schon nach wenigen Worten wechseln die Bilder vom Studio zum eigentlichen Film, und nach einigen Sätzen verstummt Renoir, und die Handlung übernimmt das Regiment. Erst am Schluss werden wir Renoir noch einmal für einige Sekunden hören (ohne dass die Bilder ins Studio zurückkehren). Diese kurze Rahmenhandlung fungiert nicht als Verfremdung im Brecht'schen Sinn, die eine gewollte Distanz zwischen dem Publikum und dem Dargebotenen aufbaut. Eher im Gegenteil etabliert sie schnell die passende Stimmung, die den Zuschauer mühelos in die Handlung hineinschlüpfen lässt - ähnlich wie der Prolog von BOUDU SAUVÉ DES EAUX, der den Film als ein modernes Satyrspiel ankündigt. Zugleich trägt die Rahmenhandlung auch der Tatsache Rechnung, dass Renoir DAS TESTAMENT DES DR. CORDELIER tatsächlich für das französische Fernsehen gedreht hat - ein Novum in seinem Schaffen, das auch Auswirkungen auf die Herstellungsweise des Films hatte. Mehr darüber weiter unten.

Jean Renoir im Fernsehstudio
Wie Renoir anfangs in seinem Kommentar referiert, lässt sich bei einer Geschichte oft nicht genau sagen, wann und womit sie eigentlich beginnt, weil die Protagonisten die Bedeutung gewisser Ereignisse erst viel später erfassen. Vielleicht beginnt diese Geschichte damit, dass der renommierte Pariser Arzt und Psychiater Dr. Cordelier bei seinem Freund, dem Rechtsanwalt Joly, ein Testament hinterlegt. Cordelier bewohnt mit einigen Hausangestellten eine sehr geräumige Villa in einem Pariser Vorort, mit einem von einer Mauer umgebenen Park. In einem separaten Schuppen auf dem Grundstück befindet sich das Labor für die Experimente des Doktors, der seit einiger Zeit die Behandlung von Patienten aufgegeben hat. Nun hat er also sein Testament hinterlegt, und Maître Joly wundert sich: Ein ihm völlig unbekannter Monsieur Opale ist als Alleinerbe des vermögenden Doktors bestimmt.

Maître Joly (links) und Dr. Séverin
Gleich darauf geschieht Unerhörtes: Ein kleines Mädchen, das abends allein auf der Straße unterwegs ist, wird von einem in der Gegend fremden Mann angegriffen und misshandelt. Joly, der den Überfall von seinem Fenster aus beobachtet, kann den Angreifer in die Flucht schlagen, nicht ohne einige schmerzhafte Hiebe mit dessen Spazierstock einzustecken. Mysteriöserweise entschlüpft der Unhold durch eine Tür in der Mauer zu Dr. Cordeliers Grundstück, zu der er den Schlüssel besitzt. Joly will Cordelier vor dem Fremden warnen, der sich ja nun auf seinem Grundstück befindet, doch der Doktor ist nicht anwesend, und von dessen Hausdiener Désiré erfährt Joly zu seinem Entsetzen, dass es sich bei dem Mann um jenen Monsieur Opale handelt, dass er sich schon einige Zeit in dem Anwesen aufhält, und dass Dr. Cordelier strikte Anweisung gegeben hat, diesen unheimlichen Zeitgenossen nicht zu belästigen.

Joly erfährt von Désiré Befremdliches über den Unhold Opale
Von Joly wenig später zur Rede gestellt, gibt Cordelier nur vage und beschwichtigende Antworten. Er verspricht, dass es keine Vorfälle wie den mit dem Mädchen mehr geben wird, doch das Gegenteil tritt ein: Die Übergriffe häufen sich, und eines Abends wird ein honoriger älterer Herr von Opale sogar zu Tode geprügelt und getreten. Der ratlose und besorgte Joly hat mittlerweile Cordeliers Kollegen Dr. Séverin aufgesucht. Der überarbeitete und cholerische Nervenarzt Séverin war früher mal mit Cordelier befreundet, doch längst sind sie verfeindet. Für Séverin, einen Mann der materialistischen Wissenschaft, sind Cordeliers Ansichten über die "Seele" und seine Experimente (über die er nur vage Informationen besitzt) ein Gräuel. So bekommt Joly von Séverin nur Schimpftiraden über Cordelier zu hören, aber keinen brauchbaren Rat, wie er sich verhalten soll. Der Gegensatz von Cordelier und Séverin äußert sich auch im Dekor ihrer Inneneinrichtung - hier das modernistische, schon in die 60er Jahre vorausweisende Interieur von Séverins Praxis, dort die großbürgerliche Ausstattung von Cordeliers Villa. Im Grunde ist Cordelier noch ein Mann des 19. Jahrhunderts.

Ein Spazierstock als wichtiges Utensil
Als Joly von dem Mord erfährt, bricht er seine anwaltliche Schweigepflicht und erzählt der Polizei, was er von Cordelier und aus dem Testament über Opale weiß. Opale hat ein Zimmer in einer billigen Absteige, wo er eine der dort ebenfalls ansässigen Bordsteinschwalben regelmäßig schwer misshandelt hat. Doch er wird von der Polizei nicht angetroffen und bleibt auch sonst unauffindbar, bis er am hellichten Tag mitten in Paris in Séverins Praxis in einem Hochhaus aufkreuzt. Séverin erwartet eigentlich Cordelier, der sich dort zu einer Demonstration seiner Experimente angesagt hat, doch er lässt Opale herein. Als aber die von Joly verständigte Polizei eintrifft, öffnet Cordelier die Tür, und Séverin liegt sterbend am Boden. Von Opale dagegen keine Spur ...

Opale prügelt einen Passanten tot ...
Einige Zeit nach Séverins Beerdigung gibt Cordelier eine steife Abendgesellschaft für allerlei Honoratioren, und die unerquicklichen Ereignisse der letzten Zeit scheinen fast vergessen. Doch in der Nacht erwachen die Hausangestellten durch schreckliche Schreie aus dem Labor, die offenbar von Cordelier stammen. Désiré und der herbeitelefonierte Joly verschaffen sich Zutritt zum Schuppen, doch statt Cordelier treffen sie Opale an. Nach einigem Tumult überredet dieser Joly, die anderen wegzuschicken, weil er ihm - und nur ihm - ein Geständnis machen will, aus dem er alles erfahren werde. Aus einem Tonband mit Cordeliers Stimme und aus Opales eigener Erzählung erfährt nun Joly (und mit ihm das Publikum), was jeder, der schon einen der anderen Jekyll & Hyde-Filme gesehen hat, längst weiß: Dass Dr. Cordelier und Opale ein und derselbe sind.

... und ergreift die Flucht; in seiner Absteige wird er nicht angetroffen
In dieser durch Rückblenden angereicherten sehr langen (vielleicht etwas zu langen) finalen Sequenz lernt man die Vorgeschichte des Dramas kennen: Der vordergründig äußerst rechtschaffene Cordelier hat schon immer - und letztlich erfolglos - gegen seine dunklen Triebe angekämpft. Einmal verging er sich sogar an einer betäubten Patientin (die ihm freilich vorher eindeutige Avancen gemacht hatte). Um seine dunkle Seite zu erforschen und in den Griff zu bekommen, hat er schließlich seine Praxis aufgegeben und stattdessen die Experimente mit jenem Elixier begonnen, das ihn schließlich in Opale verwandelte. Wie man es aus der Geschichte kennt, hat eines Tages die Verwandlung in Opale von selbst, gegen seinen Willen stattgefunden, während die nötigen Dosen des Gegenelixiers für die Rückverwandlung immer höher wurden. Und nun, in dieser Nacht mit Joly im Labor, weiß der Rest von Wissenschaftler, der noch in Opale steckt, dass die nötige Dosis tödlich wäre. Und er stellt seinen Freund Joly vor die Entscheidung: Soll er als Cordelier sterben oder als Monster weiterleben? Doch eigentlich hat er selbst schon die Entscheidung getroffen ...

Ein leichtes Opfer für Opale
Der 1959 gedrehte LE TESTAMENT DU DOCTEUR CORDELIER wurde in Frankreich erst im November 1961 im Fernsehen ausgestrahlt, in Schweden dagegen schon im Juli 1960 - das scheint die Premiere vor einem größeren Publikum gewesen zu sein. Allerdings war der Film auch schon im August 1959 beim Filmfestival in Venedig zu sehen. In Deutschland kam er 1961 nicht im Fernsehen, sondern ins Kino. Der Film war für ein französisches TV-Drama dieser Jahre recht teuer, im Vergleich zu zeitgenössischen Kinofilmen (auch solchen von Renoir) dagegen recht billig. Renoir selbst war Coproduzent - etwas, das er seit den schlechten Erfahrungen mit LA RÈGLE DU JEU vermieden hatte. Die Arbeit ging flott vonstatten: Nach zwei Wochen Proben mit den Schauspielern zwei Wochen Dreharbeiten, die im Januar 1959 stattfanden. Die Musik steuerte wie schon mehrfach bei Renoir Joseph Kosma bei. Der bei den Dreharbeiten 64-jährige Renoir hatte die Lust am Experimentieren noch nicht verloren. Wie erwähnt, war LE TESTAMENT DU DOCTEUR CORDELIER seine erste Arbeit für das Fernsehen (dem mit seinem letzten Film LE PETIT THÉÂTRE DE JEAN RENOIR noch eine zweite folgen sollte), und er übernahm gleich typische Arbeitsweisen des Mediums, indem er Szenen möglichst kompakt ohne Unterbrechungen drehte und dabei mehrere Kameras verwendete, teilweise bis zu acht.

Dr. Séverin lässt das Verhängnis in seine Praxis
Das große Faszinosum an LE TESTAMENT DU DOCTEUR CORDELIER ist jedoch nicht Renoirs technische Arbeitsweise, sondern das ist Jean-Louis Barrault. Man kann gelegentlich lesen, dass Barrault als Opale kaum geschminkt sei und nur mit Gummibällchen in den Backen und einer zerzausten Frisur sich von Cordelier unterscheide. Nun, das ist etwas übertrieben. Barrault bekam als Opale auch sehr buschige Augenbrauen angeklebt, und die Frisur ist nicht einfach zerzaust, sondern er hat da eindeutig eine Perücke auf, die zu einer Art von spitzem Backenbart verlängert ist. Auch wurden Barrault fast fellartige Haare auf die Hände und Unterarme geklebt. Dazu kam, dass Cordelier die Haare grau gefärbt wurden und er damit älter aussieht als der damals 48-jährige Barrault. Die rein optischen Unterschiede zwischen Cordelier und Opale waren also doch etwas größer, als mancher Bericht glauben machen will. Dennoch ist es richtig, dass sich im Vergleich zu früheren Mr. Hydes wie Fredric March und Spencer Tracy die Maskenbildner bei Barrault ziemlich zurückgehalten haben. Renoir verzichtet auch auf tricktechnische Mätzchen - bei der einzigen Verwandlung, die im Film zu sehen ist, ist Barraults Gesicht abgewandt.

Dr. Séverin haucht sein Leben aus; über den Dächern von Paris ... bekommt man Opale nicht zu fassen
Barrault beweist also sein mimisches Talent, auch indem er Cordelier als stocksteifen Typen präsentiert und damit den Gegensatz zum impulsiven Opale stark betont. Vor allem aber brilliert Barrault mit seiner Körpersprache, mit seinem tänzerischen und pantomimischen Talent, das er schon in seiner berühmtesten Filmrolle in LES ENFANTS DU PARADIS zum Tragen brachte. Während nämlich die meisten Film-Hydes körperlich eher grobschlächtige Typen sind, zeichnet sich Opale durch eine tänzelnde, manchmal fast tänzerische Bewegungsweise aus, und sein Spazierstock dient ihm nicht nur zum Prügeln, sondern auch als spielerisches Utensil wie weiland bei Fred Astaire. Zugleich macht Opale immer wieder unwillkürlich wirkende Bewegungen - "nervöse Zuckungen", wie man so schön sagt. Barrault bringt das Kunststück fertig, seinen Opale gleichermaßen linkisch und elegant wirken zu lassen. Das ist ziemlich grandios, und man muss es gesehen haben, um den richtigen Eindruck zu gewinnen.

Der Gärtner (Gaston Modot), rechts mit seiner Frau
Neben Barrault fallen die anderen Darsteller zwangsweise etwas ab, aber auch Teddy Bilis als der von Unverständnis und Entsetzen über seinen Freund Cordelier gebeutelte Maître Joly und vor allem Michel Vitold als Dr. Séverin machen ihre Sache ausgezeichnet. Der aufbrausende Séverin wirkt immer, als stünde er kurz vor dem Herzinfarkt, und tatsächlich weiß man nicht, woran er eigentlich stirbt. Gut möglich, dass ihn vor Schreck oder Ärger der Schlag trifft, als sich Opale vor ihm in Cordelier verwandelt. Noch ein Darsteller soll hier erwähnt werden, nämlich Gaston Modot. Nach ersten Kurzfilmen 1909 trat er bis 1966 in Hunderten von Filmen auf. In L'ÂGE D'OR von Buñuel und Dalí spielte er die männliche Hauptrolle, und er arbeitete mit vielen der großen französischen Regisseure der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von Gance bis Clair, von Duvivier bis Carné, auch mit Emigranten wie Siodmak, Pabst und Sirk. Unter Renoir hatte er vor CORDELIER schon sechsmal gespielt, am prominentesten in LA RÈGLE DU JEU, wo er den eifersüchtigen Jagdhüter Schumacher gab. LE TESTAMENT DU DOCTEUR CORDELIER war nicht Modots letzter Film, aber doch einer der letzten, und Renoir gönnt ihm in seiner Rolle als Cordeliers alter Gärtner nochmal einige Augenblicke, in denen ihm die Aufmerksamkeit der Zuschauer gehört. Das ist ein bisschen wie bei einem verdienstvollen Fußballer, der in seiner letzten Saison meistens auf der Bank sitzt, aber im letzten Spiel in der letzten Viertelstunde nochmal eingewechselt wird, um sich den verdienten Applaus abzuholen.


Aufgrund seines Themas kann man LE TESTAMENT DU DOCTEUR CORDELIER in das Genre des Horrorfilms einreihen, wenn man mag, aber er ist sicher ein untypischer Vertreter der Gattung. Renoir war alles andere als ein Genre-Regisseur, und er prägte diesem klassischen Horrorstoff von Robert Louis Stevenson seinen ganz eigenen Stempel auf, in dem auch ein gewisser sardonischer Humor nicht fehlt. Nach der Ausstrahlung in Frankreich bekam der Film ziemlich schlechte Kritiken, und auch Barrault wurde mehr gescholten als gelobt. Es fanden sich aber auch glühende Verehrer für CORDELIER und Renoir, und wie üblich gehörten die Jungregisseure der Nouvelle Vague dazu. LE TESTAMENT DU DOCTEUR CORDELIER ist keines von Renoirs Meisterwerken, aber dieses Spätwerk eines großen Regisseurs ist für mich ein sehr erfreulicher Film. Er ist in Deutschland und diversen anderen Ländern auf DVD erschienen.

Die finale Nacht im Labor

Le patron