Samstag, 22. Juli 2017

Eine Geschichte von Gold, Eis und Celluloid

Viele Filme und ein Metafilm aus dem Permafrost

DAWSON CITY: FROZEN TIME (DAWSON CITY: VERLORENE BILDER AUS DEM EIS)
USA 2016
Regie: Bill Morrison

Im Juni 1978 trug sich in der Kleinstadt Dawson City im subarktischen Yukon Territory, ganz im Nordwesten Kanadas und nicht weit von Alaska entfernt, Bemerkenswertes zu: Bei Planierarbeiten für ein neues Freizeitzentrum kamen völlig unerwartet Filmdosen und Filmrollen ans Tageslicht. Die Bauarbeiten wurden vorübergehend unterbrochen, und eine erste Sichtung der Rollen ergab, dass es sich um Stummfilme handelte, die offenbar seit Jahrzehnten dort im Boden lagen, der die meiste Zeit des Jahres gefroren ist. Die Filmrollen wurden geborgen, ins Nationalarchiv nach Ottawa gebracht und dort und in der US Library of Congress auf Acetatfilm umkopiert und katalogisiert. Es handelte sich um 533 Rollen, die von 372 Filmen aus der Zeit von 1903 bis 1929 stammen, mit dem Schwergewicht in den 1910er Jahren. Viele dieser Filme waren anderweitig längst verschollen. Zuerst hatte niemand eine Ahnung, wie die Filmrollen in den Boden gekommen waren, aber nach einem Artikel in einem Newsletter meldete sich ein Zeitzeuge mit einem Brief zu Wort. Wie er berichtete, waren die Kinos in Dawson aufgrund der Lage des Ortes damals am Ende der filmischen Verwertungskette. Es dauerte nicht nur meist zwei bis drei Jahre, bis Filme nach ihrer Premiere bis Dawson gelangten, sie wurden auch aus Kostengründen nicht mehr an die Studios oder Verleihfirmen zurückgeschickt. Sie wurden vielmehr in Dawson eingelagert, und 1929, als der Platz ausging und die Filme zugleich scheinbar jeden Wert verloren hatten, wurden sie in ein ehemaliges Schwimmbecken gekippt, das gerade mit Erde und Geröll aufgefüllt wurde. Und dort überdauerten sie die Jahrzehnte.

Fundstücke werden gesichtet (links Sam Kula, rechts Michael Gates)
Alle Bilder aus DAWSON CITY: FROZEN TIME
Aus dieser erstaunlichen und aus filmhistorischer Sicht ebenso erfreulichen wie traurigen Geschichte (zum traurigen Aspekt werde ich weiter unten kommen), die nebenbei auch eine Ehe stiftete, hätte man gut eine interessante konventionelle Doku von 45, 60 oder 90 Minuten machen können. Doch Bill Morrison schwebte etwas anderes vor. Er lässt die wiedergefundenen Filme (neben vielen anderen Filmen und Fotos) selbst eine Geschichte erzählen. Zunächst wird in den ersten fünf Minuten des zweistündigen DAWSON CITY: FROZEN TIME kurz die Geschichte der Auffindung, Bergung und Restaurierung der Filme angerissen, dann folgt ein kurzer Exkurs zu den Eigenschaften von Film aus Cellulosenitrat (Celluloid) und in die früheste Filmgeschichte, und schließlich die Anfangscredits. Nach diesem zehnminütigen Prolog beginnt die eigentliche Geschichte: die von Dawson City in den gut 80 Jahren von seiner Gründung bis zum Filmfund 1978 in chronologischer Ordnung. Dazu werden in relativ kleiner Schrift kurze, stichpunktartige Informationen eingeblendet. Unter und zwischen diesen Einblendungen sind dann immer mindestens ein, aber meistens mehrere thematisch passende Filmausschnitte zu sehen, wobei meist (aber keineswegs immer) Filme aus dem Fund von 1978 herangezogen werden, durch die Einblendung "Dawson City Film Find" gekennzeichnet. Von den 372 geretteten Filmen sind immerhin 124 in DAWSON CITY: FROZEN TIME vertreten. Es handelt sich um Kurz- und Spielfilme, aber auch um frühe Wochenschauen. Neben diesen Filmschnipseln werden auch zeitgenössische große, detailreiche Fotos herangezogen, in die hinein- und herausgezoomt, oder bei denen Bildausschnitte mit langsamen Schwenks abgefahren werden. Bei der Auswahl der Filmausschnitte legte Morrison keine allzu strengen inhaltlichen Maßstäbe an. Die Filme, aus denen der jeweilige Ausschnitt stammt, müssen nicht aus dem Jahr stammen, in dem sich die Erzählung von DAWSON CITY: FROZEN TIME gerade befindet, und die Filme müssen auch kein Thema haben, das zu der aktuellen Texteinblendung passt - nur die tatsächlich zu sehende kurze Szene muss irgendwie dazu passen. Zwischen den Texteinblendungen bleibt immer genügend Zeit, sich auf die Bilder zu konzentrieren, und gelegentlich gibt es sogar längere Pausen zwischen den Einblendungen, so dass ein bis zwei dutzend Filmschnipsel ohne thematische Anbindung "von oben" direkt aufeinanderfolgen - hier gerät der Film sozusagen ins freie Assoziieren. Die meisten der Filmrollen aus Dawson City hatten Wasserflecken oder waren schon von chemischer Zersetzung befallen. Viele Dokumentarfilmer hätten solches Material wohl als unbrauchbar verworfen, doch Morrison hatte keine Scheu, es ausgiebig zu verwenden. An manchen Stellen sind die Schäden so stark, dass sich Sequenzen ergeben, die geradezu avantgardistisch wirken und von einer abstrakten Schönheit sind (auch wenn der Informationsverlust im Bildmaterial natürlich zu bedauern ist) - ein Stan Brakhage hätte das nicht schöner hingekriegt. (Bill Morrison hat 2002 mit DECASIA einen ganzen Film der Schönheit zerfallenden alten Filmmaterials gewidmet.) Zwar zeigen etliche der Filmausschnitte hektische Action, der Gesamtrhythmus von DAWSON CITY: FROZEN TIME ist aber ruhig und getragen. Dazu trägt auch der elegische Soundtrack bei, den Alex Somers als Komponist und John Somers als Sounddesigner geschaffen haben.

Dawson City in seinen Flegeljahren; der Zustand der Straßen ließ manchmal zu wünschen übrig
Bei seiner Geschichte, die im Wesentlichen von Dawson City handelt, leistet sich Morrison auch Abschweifungen, z.B. zu einem Bestechungs- und Wettbetrugsskandal im US-amerikanischen Baseball (auch von dieser World Series 1919 tauchten Bilder in Dawson auf) oder zu gewalttätigen Arbeitskämpfen von Minenarbeitern in den USA. Ich folge hier nur dem Hauptstrang - der Geschichte des Goldrausches vom Klondike und der Film- bzw. Kinogeschichte von Dawson City. - Im August 1896 wurde dort, wo der Klondike in den Yukon River mündet, Gold gefunden. Dieser Fund löste den zweiten großen nordamerikanischen Goldrausch aus (nach dem in Kalifornien). Der Goldrausch von Klondike wird gelegentlich mit Alaska assoziiert, fand aber tatsächlich in Kanada statt. Direkt am Fundort wurde sogleich die Goldgräberstadt Dawson City gegründet. Die Indianer, die hier seit jeher ihr Sommerlager mit Jagd- und Fischgründen hatten, zogen in den 5 km weiter flussabwärts gelegenen Ort Moosehide, halb freiwillig und halb von der North West Mounted Police umgesiedelt. Im Sommer 1897 hatte Dawson City schon 3500 Einwohner, aber das war erst das Vorspiel. In diesem Jahr wurden bereits fünf Tonnen Gold gefördert. Als Mitte des Jahres die ersten Schiffe mit erfolgreichen Goldsuchern in Seattle und San Francisco eintrafen, ging der Goldrausch erst richtig los. 100.000 Goldsucher in spe traten nun die strapaziöse und gefährliche Reise von der Westküste in den hohen Norden an, aber 70.000 kehrten wieder um oder starben unterwegs. Der Rest reichte aus, um Dawson bis zum Sommer 1898 auf 40.000 Einwohner anschwellen zu lassen. Einer derjenigen, die schon 1897 im Norden ankamen, war der aus Schweden stammende Fotograf Eric Hegg. Hegg, der in Dawson mit einem Kompagnon ein Fotostudio eröffnete, machte auf großformatigen Glasplatten tausende von Fotos in und um Dawson und auf dem beschwerlichen Weg dorthin. Vor allem seine Aufnahmen vom berühmt-berüchtigten Chilkoot-Pass erlangten geradezu ikonischen Charakter. Charlie Chaplin hat die Bilder 1925 in THE GOLD RUSH recht authentisch nachgestellt. Auch DAWSON CITY: FROZEN TIME macht regen Gebrauch von Eric Heggs prächtigen Fotos.

Am Chilkoot-Pass (Fotos von Eric Hegg)
Wo so viele Männer (und ein paar Frauen) in der Wildnis zusammen sind und durch Goldfunde teilweise recht zahlungskräftig werden, da entsteht schnell ein Vergnügungsviertel. Die Front Street und ihre Seitenstraßen wurden zur Vergnügungsmeile in Dawson. Die Hauptattraktion war das Glücksspiel, aber es entstanden auch Theater, Varietés, Saloons und sonstige Etablissements. Im November 1898 wurden im Monte Carlo MOVING PICTURES OF THE SPANISH-AMERICAN WAR gezeigt - das war vielleicht die erste Filmvorführung in Dawson. Einer, der damals auf dem Höhepunkt des Goldrausches als junger Zeitungsverkäufer in Dawson lebte, war Sid Grauman. Später war Grauman der schillerndste und neben seinem New Yorker Kollegen Roxy Rothafel bedeutendste Kino-Impresario der USA. Vor allem mit seinen beiden Kino-Palästen Grauman's Egyptian und Grauman's Chinese in Los Angeles setzte er sich Denkmäler. Grauman machte sich auch den Spaß und spielte als Komparse in THE GOLD RUSH mit. - Da praktisch alle Gebäude aus Holz waren, gab es in Dawsons erstem Jahrzehnt so gut wie jedes Jahr Brände, denen auch die Theater zum Opfer fielen, aber sie wurden regelmäßig wieder aufgebaut. Im Savoy arbeiteten der aus Griechenland stammende Alexander Pantages als Barkeeper und "Klondike Kate" Rockwell als Tänzerin. Als 1899 das Orpheum abbrannte, bauten es Pantages und Rockwell als neue Besitzer wieder auf (sie waren damals auch ein Liebespaar), und sie engagierten Wanderkinos als exklusive Attraktion für ihr Haus. Später besaß Alex Pantages eine der größten Theater- und Kinoketten im Westen der USA und Kanadas. Was in DAWSON CITY: FROZEN TIME nicht mehr zur Sprache kommt: 1929 machte Joseph Kennedy, der Vater von John F., Robert und Ted Kennedy, der einen beträchtlichen Teil seines großen Vermögens durch Alkoholschmuggel im ganz großen Stil während der Prohibition gemacht hatte, Pantages ein Angebot zur Übernahme seiner Kette. Kennedy hatte nämlich RKO (das damals noch nicht zu den "Big 5" in Hollywood zählte) unter seine Kontrolle gebracht und wollte weiter expandieren. Pantages lehnte ab und wurde wenig später von einer jungen Dame der Vergewaltigung bezichtigt. Er wurde zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt, während zugleich die Hearst-Presse auf ihn eindrosch. Doch er konnte ein Wiederaufnahmeverfahren erreichen und darin glaubhaft machen, dass es sich um ein Komplott von Kennedy handelte (der aber juristisch unbehelligt blieb). Pantages wurde freigesprochen, aber er war geschäftlich und gesellschaftlich längst ruiniert und musste sein Imperium weit unter Wert an Kennedy verkaufen. Kleine Ironie am Rande: Das "O" in RKO steht für "Orpheum" - es handelt sich aber nicht um das von Pantages und Klondike Kate. Wenigstens konnte auch Pantages seinen Namen in einem Kinopalast in Hollywood verewigen, im 1930 eröffneten Pantages Theatre, in dem auch von 1950 bis 1960 die Oscar-Verleihungen stattfanden.

Eine Lawine am Chilkoot-Pass fordert Opfer (Szenen aus THE TRAIL OF '98)
Wie gesagt war der Goldrausch am Klondike 1898 auf dem Höhepunkt. Doch im Herbst dieses Jahres wurde ca. 1250 km weiter westlich, in Nome (nun wirklich in Alaska), weiteres Gold gefunden, und der nächste Goldrausch brach aus. Im Winter 98/99 traf die Kunde aus Nome in Dawson ein - und der Großteil der Karawane zog weiter. Ende Sommer 1899 war die Bevölkerung von Dawson City auf ein Viertel des Werts vom Vorjahr gesunken. Auch Eric Hegg zog (über Umwege) weiter nach Nome, die Glasnegative seiner Fotos ließ er bei seinem Partner Ed Larss zurück. Die Bevölkerung von Dawson City war nun also arg geschrumpft, aber es wurde keine Geisterstadt, denn der Goldabbau hier kam keineswegs zum Erliegen - ganz im Gegenteil. 1900 wurde die White Pass Railroad von der Hafenstadt Skagway in Alaska nach Yukon eröffnet. Damit konnte nun viel leichter als bisher schweres Gerät zum Klondike geschafft werden, und damit wurde 1900 sogar ein höherer Goldertrag erzielt als in den Jahren zuvor - der heutige Wert würde ungefähr 1,5 Mrd. Dollar betragen. Doch die Stadt veränderte sich nun innerhalb weniger Jahre drastisch. Die "Flegeljahre" waren vorbei, und Dawson wurde sozusagen erwachsen. Viele Goldsucher holten ihre Frauen und Kinder nach. 1901 wurden alle Spielkasinos geschlossen, die Prostitution wurde nach Klondike City am anderen Flussufer verbannt, und ein erstes Gerichtsgebäude wurde errichtet. Und im Jahr darauf wurde ein Gebäude erbaut, das in unserer weiteren Geschichte eine zentrale Rolle einnehmen wird, nämlich das der Dawson Amateur Athletic Association (D.A.A.A.). Es handelte sich um ein Freizeitzentrum, das schnell zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt wurde. Im D.A.A.A. gab es u.a. einen Theatersaal, einen Billardraum, eine Bowlingbahn, einen Tanzsaal, eine Sporthalle und Dampfbäder. Und es gab ein 24m * 10m großes Schwimmbecken. Dieses wurde in den langen Wintermonaten abgedeckt, um darüber ein Curling-, Eislauf- und Eishockeyfeld zu betreiben. Diese Konstruktion hatte aber den Nachteil, dass sich in der Mitte der Eisfläche immer eine Aufwölbung bildete.

GOLD! GOLD! GOLD! GOLD! (Seattle Post-Intelligencer)
In Dawson war also immer noch etwas los. 1905 fand im D.A.A.A. die Boxweltmeisterschaft im Mittelgewicht zwischen "Philadelphia" Jack O'Brien und Jack "Twin" Sullivan statt. Im folgenden Jahr konnte man auf der Bühne des Auditorium, des früheren Savoy (wo Alex Pantages geschüttelt und gerührt und Klondike Kate getanzt hatte), Roscoe "Fatty" Arbuckle neben der schönen Marjorie Rambeau sehen, drei Jahre, bevor er seine ersten Filme drehte. Auch Rambeau drehte später Filme, ist aber heute weitgehend vergessen. 1906 reisten Daniel und Solomon Guggenheim nach Dawson, kauften viele Claims auf und gründeten die Yukon Gold Company, die ab 1907 mit riesigen Schwimmbaggern nach Gold schürfte. Der Goldabbau war nun in seine industrielle Phase eingetreten, und als Folge schrumpfte die Bevölkerung abermals - 1910 waren es noch 3000 Einwohner, ein Drittel des Werts von 1900. Von 1908 bis 1912 arbeitete William Desmond Taylor als Arbeitszeitkontrolleur der Yukon Gold Company auf einem dieser Schwimmbagger. Wenig später wurde er Filmschauspieler und dann ein produktiver Hollywoodregisseur. Doch in die Geschichte eingegangen ist er erst durch seine spektakuläre und bis heute ungeklärte Ermordung im Jahr 1922, die einen ungeheuren Medienhype auslöste und die Karriere der Schauspielerin Mary Miles Minter ruinierte und die ihrer Kollegin Mabel Normand zumindest schwer beschädigte, als ihre Drogensucht an die Öffentlichkeit kam. Nach den ganzen Sensationsgeschichten interessierte sich niemand mehr für Taylor als Regisseur, dabei war er wohl gar nicht so uninteressant, wie David Bordwell kürzlich in einem Blog-Artikel dargelegt hat.

Das an den Rändern des rechten Teilbilds sind keine Girlanden, sondern Wasserschäden oder Zersetzungsspuren
1909 schrieb der Dichter und Schriftsteller Robert W. Service, der als Angestellter einer Bank nach Dawson gekommen war, dort seinen ersten Roman The Trail of '98 über den Goldrausch. Der erfolgreiche Roman diente als Vorlage für den gleichnamigen grandiosen Film von MGM aus dem Jahr 1928 unter der Regie von Clarence Brown, den man heute vor allem wegen seiner Filme mit Greta Garbo kennt. THE TRAIL OF '98 ist ein Semi-Stummfilm mit einer Tonspur (Western Electric Sound System), die Musik und Hintergrundgeräusche, aber keine gesprochenen Dialoge enthält (stattdessen gibt es Zwischentitel). Neben Chaplins THE GOLD RUSH dürfte THE TRAIL OF '98 der bekannteste und bedeutendste frühe Film über den Goldrausch am Klondike sein, aber es gab noch mehr, so etwa THE DARKENING TRAIL (1915) von und mit William S. Hart und der schon 1899 entstandene (und entsprechend kurze) POKER AT DAWSON CITY von James H. White. - Nachdem bis dahin Filme in Dawson eher sporadisch liefen, ging es um 1910 mit dem regulären Kinobetrieb los. Das Orpheum wurde in diesem Jahr unter einem neuen Besitzer als Kino wiedereröffnet, und im D.A.A.A., ebenfalls mit neuem Besitzer, wurde 1911 die Sporthalle in ein Kino umgewandelt, das Dawson Family Theatre. In diesen beiden Häusern und im Auditorium, das schließlich auch ein Kino wurde, liefen nun jährlich hunderte von Filmen. Die weitaus meisten kamen natürlich aus Hollywood, aber Europa war auch vertreten. So wurde ein Film über die sieben Todsünden, der unter dem Titel SEVEN CAPITAL SINS im Orpheum lief, als "Europe's startling sensation" angepriesen. Vielleicht handelte es sich dabei um den siebenteiligen LES SEPT PÉCHÉS CAPITAUX (1910) von Louis Feuillade, aber ich weiß es nicht sicher. Wie schon erwähnt, kamen die meisten Filme erst zwei bis drei Jahre nach ihrem Erscheinen in Dawson an und wurden dann nicht mehr zurückgeschickt. Die lokale Filiale der Canadian Bank of Commerce fungierte als Treuhänder der Studios und Verleihfirmen, der Bankdirektor war für die Einlagerung der Filme nach ihrer vertraglich festgelegten Laufzeit verantwortlich. 1920 brannte es in der Carnegie Library, die als öffentliche Stadtbücherei diente. Das Steingebäude stand noch, wurde aber vorerst aufgegeben, und die Bücher wurden in ein anderes Gebäude ausgelagert. Im folgenden Jahr, als Dawson gerade mal noch 1000 Einwohner hatte, wurde damit begonnen, den Keller der ehemaligen Bibliothek als Lager für die nicht mehr benötigten Filmrollen zu benutzen.

Am Sattelpunkt des Chilkoot-Passes (Foto von Hegg); Sid Grauman
und Charlie Chaplin bei den Dreharbeiten zu THE GOLD RUSH
In Dawson und Umgebung hatte sich eine regionale Eishockeyliga etabliert, die Dawson Amateur Hockey League, und wurde zum Hauptnutzer der Eisfläche im D.A.A.A., doch es gab auch einen Dawson Ladies Curling Club. 1922 kaufte die Eishockeyliga das Eisfeld samt darunterliegendem Schwimmbecken. 1927 war der Goldabbau zum lokalen Monopol geworden, alle Schürfrechte lagen bei der Yukon Consolidated Gold Corporation. Im folgenden Jahr kam der junge Clifford Thomson als Angestellter der Canadian Bank of Commerce nach Dawson, und er wurde auch Schatzmeister der Dawson Amateur Hockey League, die mittlerweile beschlossen hatte, das Schwimmbecken aufzugeben und mit Erde zu füllen, um festen Boden unter der Eisfläche zu haben und damit das leidige Problem der Aufwölbung im Eis zu lösen. Das Filmlager im Keller der Carnegie Library war 1929 voll, und Clifford Thomson, der von der Bank mit dieser Angelegenheit betraut wurde, schrieb an die Studios und Verleiher, ob und wie man die Filme nun doch zurückschicken soll. Doch er bekam von überall nur die Anweisung, die Filme zu vernichten. Thomson wollte die Filmrollen nicht einfach in den Fluss werfen, und wegen der sehr heftigen Verbrennungsreaktion von Nitratfilm hatte er auch Bedenken gegen eine kontrollierte Verbrennung. Und so kam er auf die Idee, die Rollen einfach als zusätzliches Füllmaterial in das Schwimmbecken zu kippen, das ja gerade mit Erde und Geröll aufgefüllt wurde. So wurde es gemacht (ein Teil der Filme blieb aber vorerst noch im Keller), und niemand rechnete damit, dass die Filme jemals wieder ans Tageslicht kämen. Es war Clifford Thomson, der 1978 noch am Leben war und in einem Brief an den Klondike Korner berichtete, wie die Filme 49 Jahre zuvor in den Boden gekommen waren.

Goldabbau in seiner industriellen Form
Nachdem der Goldrausch am Klondike in den 20er Jahren durch Romane und Filme mythologisiert worden war, entwickelte sich um 1930 herum ein bescheidener jahreszeitlicher Tourismus in der Region. 1932 starb Chief Isaac, der Häuptling der 1896 umgesiedelten Indianer und später Bürgermeister von Moosehide. Die Angaben für sein damaliges Alter schwanken zwischen 73 und ungefähr 85 Jahren. Bei den Indianern der Region besitzt er noch heute hohes Ansehen. Schon im Jahr zuvor waren im Orpheum erstmals Tonfilme gezeigt worden, und auch in diesem Winkel der Welt wollte nun niemand mehr Stummfilme sehen. Es lagerten aber noch größere Mengen im Keller der Bibliothek und im Family Theatre im D.A.A.A., die nun also scheinbar jeden Wert verloren hatten. Fred Elliott, der damalige Betreiber des Family Theatre, hatte weniger Skrupel als zuvor Thomson: Er kippte mehrere Tonnen (!) Film in den Yukon River.
Silent Pictures Dumped Into Yukon

Several tons of "silent" films were dumped into the Yukon river this week by the management of the Dawson Family Theatre. "We are only keeping up with the times," says Mr. Elliott. "My patrons want the "talkies", so we are going to have them."
(lokaler Zeitungsbericht)
Monate später verbrannte Elliott am Flussufer weitere 400 Filmrollen.
Silent Pictures Go Up In Flames

Four hundred reels of 100% silent pictures went up in flames yesterday afternoon on the Yukon waterfront.
The management of the Dawson Family Theatre is making a final clean up of the films in the building, and yesterday hauled them down to the river front.
Pictures formerly worth of thousands of dollars went up in smoke in a very few minutes. The heat was so intense that a person was unable to get within seventy-five feet of the fire.
The voluminous clouds of black dense smoke and flames swept skyward in a terrific blaze that lasted only ten minutes. [...]
(Dawson Daily News, 24. September 1932)
Das ist nun der traurige Teil der Geschichte. Mindestens drei Viertel aller Stummfilme sind verloren, die Schätzungen reichen sogar bis zu 90%, und viele sind nicht der chemischen Zersetzung oder unbeabsichtigten Bränden anheimgefallen, sondern wurden aktiv vernichtet, um Platz in den Lagern zu sparen oder das Silber aus der Filmemulsion zurückzugewinnen. Das ist eine betrübliche, aber wohlbekannte Tatsache, mit der man sich letztlich abgefunden hat. Aber wenn man es an so einem konkreten Beispiel vorgeführt bekommt, kann einem schon nochmal wehmütig werden. Wenn auch Fred Elliott die Filme irgendwo vergraben hätte, könnte der Filmschatz von Dawson City (mit viel Glück) noch umfangreicher sein, aber er wählte verständlicherweise den bequemeren Weg.

Das D.A.A.A.; mit dem Balken konnte man die Wölbung der Eisfläche messen
Trotzdem gab Elliott schließlich auf, 1933 verkaufte er das Family Theatre an Eric Troberg, den Eigentümer der Hockey League. Troberg kaufte nun die Tonfilmausrüstung des Orpheum und baute sie ins D.A.A.A. ein. 1934 wurde die mittlerweile renovierte vormalige Carnegie Library ein Freimaurerzentrum. Alle Restbestände an Filmen, die immer noch im Keller lagerten, wurden nun ebenfalls vernichtet. Damit waren dann wohl die letzten Reste der Stummfilmzeit in Dawson getilgt. Im Dezember 1937 brannte das Gebäude der D.A.A.A. vollständig ab, vermutlich durch Selbstentzündung der Filme, die sich dort mittlerweile wieder angesammelt hatten. Das Eishockeyfeld wurde wiederhergestellt, dagegen gab es im D.A.A.A. nie mehr ein Kino. Während der Bauarbeiten für das neue Eisfeld fanden spielende Kinder erste Filmrollen, die wieder ans Tageslicht kamen. Die Dawson Daily News schrieb daraufhin am 1. Oktober 1938, dass die Rollen wohl "in a distant past" in den Boden gelangt seien. Die "Versenkung" der Filme war also schon nach neun Jahren weitgehend in Vergessenheit geraten. Die Zeitung riet den Eltern, ihre Kinder wegen der Brandgefahr vom Ausgraben der Filme abzuhalten, und von den Erwachsenen hat sich wohl keiner dafür interessiert. Deshalb gerieten die Filmrollen bald erneut und noch gründlicher in Vergessenheit. 1940 brannte auch das Orpheum wieder mal ab (es wurde Brandstiftung vermutet), aber nur drei Monate später wurde es als modernes Kino wiedereröffnet. 1942 wurde der Alaska-Canada Highway eröffnet - und er führte 300 Meilen südlich an Dawson vorbei. Das vormals kleine Whitehorse, das auf dem Weg zwischen Dawson und dem Hafen Skagway liegt, wurde Verkehrsknotenpunkt und schließlich auch neue Hauptstadt des Yukon Territory. Frederick Trump, der aus Kallstadt im heutigen Rheinland-Pfalz stammende Großvater von Donald Trump, betrieb zur Hochzeit des Goldrausches in Whitehorse mit einem Partner das Arctic Restaurant and Hotel, das nicht nur ein nobles und extravagantes (was die Auswahl an Speisen betraf) Restaurant und Hotel war, sondern auch ein einträgliches Bordell.

Chief Isaac zur Zeit des Goldrausches und auf seine alten Tage
Dawson schrumpfte also weiter an Bedeutung, und hatte 1950 weniger als 900 Einwohner, und unsere Geschichte neigt sich langsam ihrem Ende entgegen. In einem Holzhaus, das ein frisch verheiratetes Ehepaar 1947 in Dawson zerlegen ließ, um es etwas außerhalb wieder aufzubauen und zu beziehen, kamen zwischen den Holzwänden völlig unvermutet die Glasnegative zum Vorschein, die Eric Hegg seinerzeit in Dawson zurückgelassen hatte - ein ähnlich spektakulärer Fund wie der der Filmrollen. Die Frau des Hauses wollte die Glasplatten für ein Gewächshaus verwenden und fragte ihren Chef, wie sie am besten die Fotoemulsion darauf loswerden könne. Doch der Chef erkannte gottlob die Bedeutung der Fotos, tauschte sie gegen neues Fensterglas für das Gewächshaus ein, und schenkte die Fotos einem Museum in Ottawa. Dort inspirierten sie den Regisseur Colin Low zu dem kurzen Dokumentarfilm CITY OF GOLD von 1957 über den Goldrausch am Klondike, den er zusammen mit dem hauptberuflichen Kameramann Wolf Koenig inszenierte. CITY OF GOLD kombiniert Filmaufnahmen vom damaligen Dawson mit Heggs Fotos, die mit langsamen Schwenks und Zooms erschlossen werden. Laut DAWSON CITY: FROZEN TIME war CITY OF GOLD der erste Film, der letztere Technik verwendet (wie so oft bei solchen Behauptungen, weiß ich nicht, ob das wirklich stimmt, aber ich kenne auch kein Gegenbeispiel). Auf jeden Fall war er erfolgreich - er gewann einen Preis in Cannes und war für einen Oscar nominiert, und er beeinflusste spätere Dokumentaristen wie vor allem Ken Burns. Wie schon erwähnt, bedient sich auch DAWSON CITY: FROZEN TIME der beschriebenen Technik bei den Bildern von Hegg und anderen Fotografen.

Ausgrabungsstelle (oben) und Zwischenlager (unten) in Dawson
Das Haus, das wir schon als Savoy und Auditorium kennengelernt hatten, und das noch mindestens drei andere Namen hatte, stand als letztes der traditionellen Kinos in Dawson in den 50er Jahren leer, wurde 1961 abgerissen und als Palace Grand Theatre neu aufgebaut. 1966 stellte die Yukon Consolidated Gold Corporation den Betrieb ein, und der letzte Schwimmbagger wurde stillgelegt. Die Jahrzehnte des Goldabbaus hatten teilweise eine Mondlandschaft hinterlassen. 1978 schließlich begannen dann hinter Diamond Tooth Gertie's Gambling Hall die Bauarbeiten für ein neues Freizeitzentrum, und die Filmrollen kamen ans Tageslicht. Auch DAWSON CITY: FROZEN TIME kommt nun erneut zu dem Fund, der im Prolog nur kurz abgehandelt wurde, und liefert Details nach. Michael Gates, der Sammlungskurator bei Parks Canada für die Klondike National Historic Site in Dawson, war der erste Fachmann vor Ort. Er involvierte Sam Kula, den Direktor des Audiovisuellen Archivs im Nationalarchiv von Kanada in Ottawa, und Kathy Jones, die Direktorin des Dawson City Museum, und diese drei betrieben dann (mit studentischen Hilfskräften) die Exhumierung der Filmrollen. Gates und Jones (nun Kathy Jones-Gates) kamen sich näher und heirateten schließlich - das ist die Ehe, die von der Angelegenheit gestiftet wurde. Kathy Jones-Gates schrieb den Artikel im Klondike Korner, auf den sich dann Clifford Thomson meldete. Tatsächlich wurden 1978 sogar ca. 1500 Rollen ausgegraben, aber rund zwei Drittel waren in einem unrettbar erscheinendem Zustand, so dass es letztlich zu den gut 500 geretteten Rollen kam. Sie wurden in einem ehemaligen Industriekomplex außerhalb Dawsons zwischengelagert, vorläufig gereinigt, auf neue Rollen gespult und in zwei große Transportkisten verpackt. Diese Kisten mit den Filmrollen wurden zunächst als "Beigut" eines Umzugs von einer Spedition nach Whitehorse gebracht, doch der Weitertransport gestaltete sich schwierig. Nachdem bekannt wurde, worum es sich beim Inhalt der Kisten handelte, weigerten sich alle Speditionen und Fluglinien wegen der Brandgefahr, das Frachtgut anzunehmen. Nach längeren Verhandlungen sprang schließlich die kanadische Luftwaffe ein, die ja auch Munition und andere brisante Fracht transportiert, und flog die Kisten mit einer Hercules im November 1978 nach Ottawa, wo dann die Arbeit der Filmhistoriker und Restauratoren begann. Das erwies sich als so zeit- und personalintensiv, dass die Kanadier die US-Kollegen von der Library of Congress an Bord holten. Im Palace Grand Theatre in Dawson, dessen Vorläuferbau (Savoy/Auditorium) 1899 erbaut wurde, fand im Herbst 1979 vor vollen Haus eine Galavorführung ausgewählter Highlights der wiederauferstandenen Filme statt.

Ein Brief bringt Aufschluss
DAWSON CITY: FROZEN TIME ist für jeden, der sich für Stummfilme oder für die Geschichte des Goldrausches interessiert, eine überaus faszinierende Zeitreise. Er lief kürzlich (mitten in der Nacht) auf arte und war auch eine Woche lang in der Mediathek abrufbar. Auf DVD oder Blu-ray gibt es ihn derzeit offenbar noch nicht, aber das kann sich ja noch ändern. Falls man mal die Auswahl hat, rate ich zur Blu-ray, wegen der teilweise recht kleinen Schrift, vor allem im Abspann, wo alle 124 verwendeten Filme aus Dawson aufgezählt werden. In der HD-Auflösung von arte ist das noch entzifferbar, aber auf DVD könnte es da schlecht aussehen.

Kathy Jones-Gates und Michael Gates

Sonntag, 9. Juli 2017

Der paranoide Killer und die Actionstars des Slapstick-Kinos

oder: was haben John Wick, Stoneface und der Tramp miteinander zu tun?

JOHN WICK: CHAPTER 2
USA / Hong Kong / Italien / Kanada 2017
Regie: Chad Stahelski
Darsteller: Keanu Reeves (John Wick), Riccardo Scamarcio (Santino D'Antonio), Common (Cassian), Ruby Rose (Ares), Claudia Gerini (Gianna D'Antonio), Lance Reddick (Charon)


JOHN WICK war für mich zweifelsohne der zweitbeste Actionfilm des Jahres 2015 – zwar deutlich hinter MAD MAX: FURY ROAD, aber dennoch sehr bemerkenswert. Der Film, der am explosivsten die Rückkehr Keanu Reeves‘ in die Sphäre einer größeren Aufmerksamkeit markierte, begeisterte mit seinen grandiosen Actionszenen, die im Gegensatz zum gegenwärtigen state of art im Actionfilm absolut glasklar gefilmt waren: kein Rumgewackel, keine Schnittgewitter, sondern präzise choreografierte Schüsse, Schläge und Tritte. Was JOHN WICK ebenfalls ausmachte: seine kompakte, elliptische Erzählweise, die mit aussagekräftigen Bildern und nur wenigen Worten Zusammenhänge andeutete, die man anderswo ausführlich und mit vielen Dialogen auserzählt bekommen würde (sei es der Tod von Wicks Ehefrau nach kurzer, akuter Krankheit oder die Funktionsweise des Continental-Hotels, des Refugiums für die Gilde der Profikiller).
Groß war die Erwartung an die Fortsetzung. Zunächst zur kleinen Enttäuschung: JOHN WICK: CHAPTER 2 beginnt damit, dass er die „offenen Fragen“ aus dem ersten Teil noch „beantwortet“. Er ist äußerst umständlich, manchmal fast behäbig erzählt, wirkt manchmal etwas wie mit Handbremse gefilmt. Der Subplot um Laurence Fishburnes Figur ist größtenteils ein billiger Gimmick für die MATRIX-Fangemeinde. Der Versuch, den legendären Shootout im „Red Circle“ in den Katakomben Roms neu aufzulegen, ist nur bedingt geglückt. Wo JOHN WICK wie aus einem Guss wirkte, erscheint JOHN WICK: CHAPTER 2 wie ein Stückwerk mit zu viel Ballast (und mit tatsächlich über 20 Minuten mehr Laufzeit).
Aber hey! Wirklich schlimm ist das nicht und JOHN WICK: CHAPTER 2 ist und bleibt ein toller Film. So schöne Parallelmontagen, die von einer pulsierenden Musik getrieben werden, kriegt momentan niemand außer diesem ehemaligen Second-Unit-Regisseur und Stunt-Koordinator Chad Stahelski hin. Mit einer solchen Selbstverständlichkeit alle Actionszenen so klar filmen – das sieht man momentan wohl nur bei George Miller und in ausgewählten Filmen des vielgehassten Paul W. S. Anderson. Eine wüste Prügelei im Herzen Roms, gefilmt ohne Musik, aber dafür mit intensiven nächtlichen Ambientegeräuschen (Sirenen, Autohupen und das Flimmern der lauwarmen Frühlingsluft)... Das Jammern über JOHN WICK: CHAPTER 2 im direkten Vergleich zu JOHN WICK ist eines dieser Luxusprobleme, von denen wir anstelle echter Probleme mehr haben sollten auf dieser Welt.
Besonders interessant war aber ein Aspekt: JOHN WICK: CHAPTER 2 enthält immer wieder Anspielungen auf den Actionfilm (sprich: Slapstickfilm) der Stummfilm-Ära – diese reichen von expliziten Zitaten bis zu milden Andeutungen.

John Wick – ein Nachfahre von Speedy?
Das fängt schon einmal mit dem ikonischen Filmposter an. Wick ist von über einem Dutzend Schützen umringt, die mit Pistolen auf seinen Kopf zielen, während er unbeirrt und mit intensivem Blick den Betrachter anschaut. Hier ist klar: ein Mann – furchtlos gegen den Rest der Welt. Vor allem ist das Poster aber auch die Nachstellung eines Publicity-Fotos mit Harold Lloyd.
Hier ein Link zu dem Bild. Und hier ein Link zu einem Artikel, wo die beiden Bilder ebenfalls zu sehen sein.
Lloyd ist auf dem Foto ebenfalls umringt von Schützen, die mit Pistolen auf seinen Kopf zielen – wirkt allerdings der Situation entsprechend auch ziemlich beunruhigt. Es handelt sich angeblich um ein Werbeplakat oder vielleicht ein Aushangfoto für TWO-GUN GUSSIE von 1918, der noch unter der Produktion von Hal Roach entstand, als Harold Lloyd noch kein Superstar war. Es ist ein Slapstick-Film im engeren Sinne, ein typisches Produkt der Roach-Schmiede: recht grobschlächtig im manchmal erfreulichen, manchmal nicht so erfreulichen Sinne, mit vielen akrobatischen Einlagen, die allerdings nicht mit den spektakulären Action-Sequenzen späterer Lloyd-Filme mithalten können.
Abgesehen von der Tatsache, dass John Wick ab der Mitte des Films von einem großen Teil der Gilde der Serienkiller verfolgt wird – also viele Pistolen auf ihn gerichtet sind – „taucht“ das Plakatmotiv nicht weiter im Film „auf“. Trotzdem versetzte es mich gleich im Vorfeld des Films als Fan des modernen Actionfilms und Fan des klassischen Actionfilms der Stummfilm-Ära in „Alarmbereitschaft“. Würde im Film mehr in diese Richtung zu finden sein?

„Baba Jaga“ in den Fußstapfen eines träumenden Filmvorführers?
Lange warten musste ich nicht. JOHN WICK: CHAPTER 2 eröffnet mit Helikopteraufnahmen des nächtlichen, neonbeleuchteten New York. Dazu gibt es brummende Motorradgeräusche. Nach einigen Bildern in Vogelperspektive blicken wir plötzlich auf die Fassade eine Brownstone-Hauses. Auf diese Fassade wird ein Stummfilm projiziert. Der geneigte Stummfilm-Liebhaber erkennt, dass es sich um einen Ausschnitt aus Buster Keatons SHERLOCK JR. handelt, namentlich um den Showdown mit der langen „Verfolgungsjagd“, bei der Keaton auf dem Lenkrad sitzend ein herrenloses Motorrad „fährt“. Er fährt in Richtung eines Bahnübergangs und nur knapp entkommt er dem rasenden Zug. Kurz darauf kracht er in die Hütte, in der einer der Bösewichte seine Angebetete gefangen hält. Da werden keine halben Sachen gemacht: Buster/Sherlock Jr. fliegt durch den Raum, landet auf dem Tisch auf eine solche Weise, dass er den Böswatz einfach wegkickt. Nach diesem Crash in diesem Ausschnitt aus Keatons SHERLOCK JR. crasht auch in JOHN WICK: CHAPTER 2 jemand, nämlich ein Motorradfahrer auf der Straße – was wir aber nur hören und nicht sehen. Sichtbar wird der Fahrer, als er auf einer abschüssigen Straße unter dem Haus mit der Projektion mit seinem Gefährt heruntergleitet. Das suggeriert fast, dass er aus SHERLOCK JR. herausgefallen ist. Er steigt wieder auf das Motorrad und fährt davon. Wenig später rollt ein alter Sportwagen vorbei, der das Motorrad verfolgt (und in dem, wie wir kurz darauf erfahren, John Wick sitzt).

JOHN WICK: CHAPTER 2 – auf eine Hausfassade wird ein Stummfilm projiziert, nämlich...
SHERLOCK JR.
Das ist der Beginn des Prologs, in dem John Wick noch bei Abram Tarasov vorbeifährt, dem Bruder und Onkel der in Teil 1 von ihm getöteten Viggo und Josif Tarasov, um Frieden zu schließen – nachdem er selbstredend ein Dutzend von Abrams Handlangern brutal tötet, weil sie ihn nicht vorlassen wollen. Dieser Prolog ist eine interessante Verkörperung für die relativen Schwächen des zweiten Teils im Vergleich zum ersten Teil: ein narrativer Ballast, der allerdings gekonnt inszeniert ist.
Was der Prolog mit dem Ausschnitt aus SHERLOCK JR. zu tun hat? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Am einleuchtendsten scheint es, den Filmausschnitt als das Motto des Films zu begreifen – nicht in Form einer Texteinblendung, sondern als Filmeinblendung. Sherlock Jr., also der alter-ego-Protagonist im Traum des Filmvorführers, hat gerade gemerkt, dass er sich im freien Fall befindet, denn freihändig auf dem Lenkrad eines geisterfahrenden Motorrads zu balancieren ist echt keine gute Idee (also im wirklichen Leben der Figuren im Film bzw. Filmtraum – auf Film an sich bei Keaton sieht das natürlich toll aus). Das entdeckt er erst spät, weil er erst einmal minutenlang so fährt, ohne es zu merken. Ihm bleibt dann nichts anderes übrig, als die bittere Pille zu schlucken und mit dem Kopf voran zu gehen. Das ist genau das, was John Wick im Verlauf von JOHN WICK: CHAPTER 2 auch tun muss. Im zweiten Teil verliert der Profikiller alle Autonomie. Vom Jäger des ersten Teils wird er nun zum Getriebenen. Das wirkt sich nicht gut auf seinen Geisteszustand aus (von seiner körperlichen Gesundheit mal ganz zu schweigen).

Der „Boogey Man“ wird paranoid!
Nachdem John Wick Frieden mit den russischen Gangstern geschlossen hat, will er in Ruhe in das Zivilleben zurückkehren. Doch sein ehemaliger Profikillerkumpan Santino D‘Antonio besucht ihn und zwingt ihn, eine „Schuld-Marke“ zu begleichen. Santino hatte Wick einmal in einer brenzligen Situation geholfen, wofür er eine „Schuld-Marke“ nahm – die er nun einlöst. Wick muss nun also für Santino einen Auftragsmord ausführen: nämlich seine Schwester Gianna ermorden, damit er ihren Sitz im Großen Rat des internationalen organisierten Verbrechens einnehmen kann. Wick reist nach Rom und erledigt nolens volens den Job. Das gelingt ihm eher indirekt: als er bei Gianna auftaucht, wechseln sie ein paar Worte, und bevor John Wick begreift, was da passiert, schneidet sie sich die Pulsadern auf. Er schießt ihr dann in den Kopf, nachdem (! – dazu unten mehr) sie bereits gestorben ist. Santino, der eh von Anfang an wie ein schmieriger Heuchler wirkte, will selbstverständlich in aller Öffentlichkeit den Mord an seiner Schwester rächen und übergibt dem US-Zweig der internationalen Profikiller-Gilde den „offenen“ Auftrag, John Wick für 7 Millionen Dollar zu ermorden. Jeder Profikiller, der der großen Organisation angehört, wird per SMS dazu ermuntert, John Wick zu töten. Alle US-amerikanischen Mitglieder der Profikiller-Gilde erhalten eine SMS mit dem Auftrag. In einer denkwürdigen Parallelmontage hört man die SMS-Töne der Mobiltelefone klingeln: alle Besucher des New Yorker Continental-Hotels, der Manager des Hotels, aber auch irgendwelche unbekannten Gesichter auf der Straße erhalten Kurznachrichten.
JOHN WICK: CHAPTER 2 entfesselt hier etwas, was in JOHN WICK noch vergleichsweise harmlos war. John Wick läuft durch Straßen, in denen an jeder Ecke ein potentieller Killer auf ihn warten könnte – und es dann tatsächlich auch tut: die harmlose Geigenspielerin an der Ecke der U-Bahn-Unterführung, der friedlich aussehende Sumo-Typ auf der Parkbank, die zwei seriösen asiatischen Geschäftsmänner beim U-Bahn-Imbiss, die Männer von der Reinigung in der Metro – sind plötzlich brutale Killer, die auf John Wick losgehen. Hier befinden wir uns im Bereich von Buster Keatons de-facto-Paranoia-Thrillern THE GOAT und COPS (über diese schrieb ich bereits hier). Die ganze Szene ist als eine dieser schönen Parallelmontagen gefilmt, mit denen beide JOHN-WICK-Filme glänzen – und sie vibriert vor fiebriger, absurder und surrealer Paranoia. Die Welt war in SHERLOCK JR. ein Traum im Film – in THE GOAT, COPS und JOHN WICK: CHAPTER 2 wird der Film zum Alptraum, in dem überall Hundertschaften von Polizisten oder Profikillern darauf warten, zuzuschlagen. 
Im Gegensatz zu Buster wird man John Wick schwerlich als „unschuldig“ bezeichnen können, und im Gegensatz zu Buster in COPS kapituliert John Wick nicht vor seinen paranoiden Schüben, um Suizid zu begehen, sondern verteidigt sich durch Angriff, indem er seine Verfolger tötet – um nicht zu sagen: sie regelrecht massakriert (unter anderem auch mit dem legendären Bleistift).

John Wick paranoid: wo er auch hingeht – überall warten Killer auf ihn
Buster paranoid: eine Welt voller Polizisten
Noch ein Gedanke zu Keaton. Alle Filialen des Hotel Continental, des Refugiums für Profikiller, sind Orte, in denen sie nicht nur vor der Polizei sicher sind, sondern auch voreinander: es dürfen dort nämlich keine „Geschäfte“ gemacht werden, und einen Gast des Hotels innerhalb des Hotels zu töten kommt der Exkommunikation aus der internationalen Profikillergilde gleich (und wird mit einem Todesurteil bestraft). Wie absolut wortwörtlich das gemeint ist, wird deutlich, als Wick sich in den Straßen Roms mit Cassian, dem Leibwächter (und wahrscheinlich Liebhaber) Gianna D‘Antonios die Seele aus dem Leib prügelt und mit ihm im Kampf eng umschlungen durch die Fensterfront einer Terrasse kracht. Der intensive Kampf wird beendet, weil beide zur Ordnung gerufen werden: sie haben nicht gemerkt, dass sie durch die Fensterfront des Rom-Continentals gekracht sind. Sie lassen einander los, gehen in die Bar, trinken zusammen und schwören sich dabei in ausgesucht höflichen Worten, sich bei nächstbester Gelegenheit gegenseitig zu ermorden. Ein Haus als heiliges Refugium, in dem nicht gemordet werden darf – was angesichts der extremen Gewalt „draußen“ auch ziemlich heuchlerisch wirkt: das gab es schon in Keatons OUR HOSPITALITY zu sehen, in dem Buster/Willie McKay sich solange sicher fühlen kann, wie er sich als Gast im Haus der mit seiner Familie befehdeten Canfields befindet.

Das Spiegelkabinett des Mr. Tramp
JOHN WICK: CHAPTER 2 arbeitet sich auch fleißig an der Geschichte der plastischen Kunst und Malerei der letzten 2000 Jahre ab. John Wick flaniert durch Rom, die Gebäude und Sehenswürdigkeiten der Antike und der Renaissance im Hintergrund. Er bespricht Geschäftsprobleme vor Gemälden, die ich intuitiv in der Frühen Neuzeit ansiedeln würde. Bei einem Shootout in einem Museum wird John Wick schließlich gar selbst zum „Künstler“ und verwandelt mit dem spritzenden Blut seiner Feinde eine Kunstausstellung in eine große Action-Painting-Installation – abstrakter Expressionismus nicht mit dem Pinsel gespritzt, sondern mit der Pistole geschossen. Das ganze endet schließlich bei der modernen Installationskunst, in einem betretbaren Kunstwerk mit dem schönen Titel „Reflections of the Soul“: ein großes Spiegellabyrinth mit sphärischer Ambientemusik und einer Fahrstuhlstimme, die Kommentare zum Kunstwerk abgibt. Alternativ könnte man das Kunstwerk aber auch „Das Spiegelkabinett des Mr. Tramp“ nennen.
Der Shootout in dem Spiegelkabinett ist die große „pièce de résistance“ von JOHN WICK: CHAPTER 2, der ultimative Action-Höhepunkt des Films – fast so aufregend wie der Shootout im „Red Circle“ aus dem ersten Teil. Vielfach gespiegelt laufen die Kontrahenten durch diese merkwürdigen, jenseitig aussehenden Räume und schießen aufeinander – und ballern dabei oft einen Spiegel kaputt, der Platz macht für noch mal weitere Spiegelungen. Das ganze ist je nach Raum mit kalt-blauem oder mit rötlich-farbwechselndem Neonlicht beleuchtet – und ist natürlich eine weitere Verbeugung vor einem großen Stummfilm, namentlich Charlie Chaplins meiner Meinung nach bestem und unterschätztestem Stummfilm, THE CIRCUS. Dessen Spiegelkabinett-Szene wurde vielfach nachgeahmt: in Orson Welles‘ THE LADY FROM SHANGHAI von 1947, in IL MIO NOME È NESSUNO von 1973 (dessen Protagonist, wie einst der Tramp, einem Kleinkind den Imbiss klaut) sowie in ENTER THE DRAGON, ebenfalls 1973.

Der Shootout im Spiegelkabinett, inspiriert von...
...dem Spiegelkabinett in THE CIRCUS
Wie ich kürzlich mit Manfred besprach: möglicherweise ist Chaplins THE CIRCUS nicht der erste Film, in dem eine Verfolgungsjagd in einem Spiegelkabinett zu sehen war. Vielleicht sah Chaplin eine ähnliche Szene in einem Film, der heute verschollen ist – oder sich außerhalb der großen Aufmerksamkeit bewegt, die Chaplins Werk hat. Relativ sicher ist jedenfalls, dass der verhältnismäßig berühmte THE CIRCUS als Inspirationsquelle für die oben genannten Filme und JOHN WICK: CHAPTER 2 diente.
Nun... John Wick ist natürlich kein Tramp. In JOHN WICK: CHAPTER 2 sind aber durchaus andere Leute Tramps...

Exkurs in den frühen Tonfilm, oder: Die Bettlerorganisation der Profikiller
Euro, Dollar – das ist den Profikillern in dem speziellen Universum der „John Wick“-Filmreihe egal, denn sie haben ihr eigenes Währungssystem mit speziell für sie hergestellte Goldmünzen. Das ist nicht nur etwas wert, sondern das dient auch als unverwechselbares Erkennungsmerkmal. Als John Wick vor seinen Verfolgern in der New Yorker U-Bahn flieht, wendet er sich plötzlich an einen Bettler und legt ihm eine Goldmünze in den Pappbecher. Der Bettler versteckt Wick rasch unter einer naheliegenden Plastikplane. Als die zwei Verfolger näher kommen, zückt der Bettler eine Schalldämpfer-Pistole und erschießt sie. Aus der Nähe treten zwei Obdachlosen-Kollegen heran und schleifen sogleich die Leichen weg. Für kurze Zeit kommt John Wick dann bei einem Spezialzweig der internationalen Profikiller-Gilde unter: nämlich bei der New Yorker Bettlerorganisation der Profikiller.
Nach Llloyd und Keaton (das Chaplin‘sche Spiegelkabinett kommt im Film erst später) befinden wir uns nun bei Fritz Lang. Lang war in seiner deutschen Werksphase von konspirativen Geheimorganisationen fasziniert: die Verbrecherbanden in den DR. MABUSE-Filmen, die Spion- und Verbrecher-Netzwerke in SPIONE – und natürlich das organisierte Verbrechen in M, das eine Zusammenarbeit mit dem Verband der Bettler organisiert, um den Serienmörder auf eigene Faust zu finden.
In JOHN WICK: CHAPTER 2 wird die Bettlerorganisation von dem „Bowery King“ geführt, gespielt von Laurence Fishburne. Sein Verband ist äußerst mächtig, weil er permanent Profikiller vollkommen unauffällig an jeder Straßenecke von New York platzieren kann. Ob das rein taktisch ist, und wenn nein, warum mit Goldmünzen bezahlte Profikiller als Obdachlose leben müssen, wird nicht direkt beantwortet. Warum Wick, der nur einen Bleistift braucht, um schnell und effizient zahlenmäßig weit überlegene Verfolger zu töten, sich an die Bettler wendet, ist auch etwas unklar. Warum die Bettler John Wick nicht einfach plattmachen, ergibt auch wenig Sinn. Die Bettlerorganisation taucht einfach plötzlich im Film auf, und verschwindet dann wieder, nachdem Wick von dem Bowery King eine mit sieben Kugeln (eine Million Dollar pro Kugel) geladene Pistole übergeben wurde – die er sich ebenso gut bei einem Verfolger hätte holen können. Kurz: das ganze erscheint als Vehikel, um in zwei Szenen Laurence Fishburne und Keanu Reeves zusammen unterzubringen, also Morpheus und Neo wieder „zusammen zu bringen“ – ein reines Gimmick für die MATRIX-Fans im Publikum. Der Subplot um die Bettlerorganisation und ihren Chef gehört wie der Prolog zu den Teilen des Films, die wirklich erzählerischer Ballast sind und wie Fremdkörper wirken, gleichwohl sie gut gefilmt sind (die Macht des Bowery King wird in einem einzigen Bild verdeutlicht: eine Totale mit einer mächtigen Brücke im Hintergrund – die Manhattan Bridge? – macht gleich deutlich, wie „übergreifend“ er zumindest Teile der Stadt kontrolliert). Der kleine Wink an M, den man hier sehen kann, ist trotzdem ganz nett.

John Wick beim Bowery King: Herrscher über weite Teile der Stadt

Ohne Worte: die Göttin des Massakers
Die faszinierendste Nebenfigur von JOHN WICK: CHAPTER 2 ist der Bodyguard von Santino D‘Antonio: eine Frau mit einem sehr einnehmenden, androgynen Charisma, die im Nahkampf extrem zäh ist und nur wenige Worte verliert. Um genau zu sein: überhaupt keine, denn sie ist stumm. Sie kommuniziert nur mit Schüssen, Hieben, intensiven Blicken und mit Zeichensprache. Wie die russischen Passagen in JOHN WICK werden ihre (meist sehr kurzen) Dialogzeilen mit grafisch aufbereiteten Bild-Inschriften übersetzt. Mit viel Fantasie bzw. weil es in diesem Kontext noch passt, kann man das als Rückgriff auf die „stummen“ Filmfiguren des Stummfilms interpretieren, deren wenige Worte mit Zwischentafeln oder auch schon mit grafischen Elementen direkt im Bild „übersetzt“ wurden.
Die Figur trägt übrigens den (männlichen) Namen Ares, wie die Zuschauer in den end credits erfahren oder, wenn sie extrem aufmerksam sind und sehr gute Augen haben, auf einer Karteikarte an einer Pinnwand im Hintergrund für knapp eine Sekunde sehen können. Ares – wie der griechische Gott des offensiven Zerstörungskrieges, des Blutbads und des Massakers.

Ares – hier im Continental-Hotel und daher im friedlichen Modus
Mit griechischer und auch mit römischer Mythologie kenne ich mich weniger gut aus als mit Filmen. Auch andere Figuren, etwa Gianna D‘Antonios Leibwächter Cassian oder der absolut grandios stilvolle und unendlich elegante Rezeptionist des New Yorker Continentals Charon tragen antike und mythologische Namen. JOHN WICK und JOHN WICK: CHAPTER 2, diese blutigen Rachegeschichten im Stile antiker Epen, anhand von griechischer und römischer Mythologie zu analysieren, dürfte vielleicht auch ganz interessant sein. Aber das wäre ein anderer Text von einer anderen Person.

Lesenswertes zu JOHN WICK: CHAPTER 2 und dessen Verbindungen zum Slapstick-Film
À propos andere Personen... SHERLOCK JR., die Paranoia im Stile von COPS, das Chaplin‘sche Spiegelkabinett, die Verbindung zu M, die Symbolhaftigkeit der stummen Leibwächterin – das ist mir alles sofort bei der Sichtung im Kino im Februar dieses Jahres schon aufgefallen. Wer ein wenig googelt sieht, dass auch einige andere Leute das gemerkt haben. Einige Journalisten, Blogger und Video-Blogger haben gesehen, dass es eine Verbindung zwischen JOHN WICK: CHAPTER 2 und Stummfilme, Buster Keaton, Charlie Chaplin gibt. Meistens ist nur ein kurzer Nebensatz zu lesen, und der auf die Häuserfassade zu Beginn projizierte Film wird ab und zu fälschlicherweise als THE GENERAL identifiziert.

Am interessantesten und tiefgründigsten in dieser Materie war folgender Artikel (den ich schon oben verlinkt habe beim Abschnitt um das Lloyd-Poster):

In dem Blog „Silent London“ schreibt die Journalistin Pamela Hutchinson über Stummfilme, und führt zugleich eine Rubrik mit dem schönen Titel „At the Talkies“.
Sie interpretiert tatsächlich die Figur John Wick selbst als Tramp und argumentiert, dass Keanu Reeves mit seinen spärlichen Dialogen und seinen stoischen Gesichtsausdrücken durchaus versucht, in die Fußstapfen von Buster „Stoneface“ Keaton zu treten. Hutchinson betont auch, dass JOHN WICK: CHAPTER 2 wie die Stummfilmklassiker „handgemachte“ Action bietet: mit Schauspielern, die nach brachialem Training selbst die Actionszenen spielten und wenig CGI. Gegen Ende des Artikels zieht sie zwischen den Horden von Profikillern, die Wick massenhaft tötet, und den Keystone Kops eine Parallele, kritisiert aber auch sehr scharf die exzessive Gewalt von JOHN WICK: CHAPTER 2.

auch lesenswert:

Ein interessanter Aspekt wird hier aufgeworfen: nämlich dass beide JOHN WICK-Filme sehr geschickt den Kuleschow-Effekt nutzen, um aus Keanu Reeves‘ stoischem Gesicht das Maximale rauszuziehen. Ansonsten eine Analyse der Filme als Parallelwelten von Scheintoten sowie einige Ausführungen zum mythologischen Charakter (u. a. John Wick als moderner Odysseus, der allerdings keine Penelope mehr hat, zu der zurückkehren könnte).

Von nunmehr praktisch der ganzen Welt verfolg rennt John Wick mit seinem Hund weg...
...und wird im dritten Teil zurückkehren.
JOHN WICK: CHAPTER 2 ist in Deutschland kürzlich auf DVD erschienen (und auf blu-ray und auf Ultra-HD-blu-ray). Wie im Kino kam auch die Heimveröffentlichung ungeschnitten mit einer Einstufung „ab 18“ durch die FSK. Trotzdem hat der Film ein paar Federn verloren. Die grafischen Texteinblendungen, mit denen amerikanische Zeichensprache, Russisch, Italienisch und Hebräisch übersetzt werden, fehlen auf der deutschen DVD. Die Einblendungen fehlen übrigens auch auf der DVD des ersten Teils. Die Hinweise für Hörgeschädigte („dramatische Musik“, „Motorradgeräsuche“, „weiter bedrohliche Musik“ etc.) in den Untertiteln gingen mir ehrlich gesagt nach kurzer Zeit gehörig auf die Nerven. Damit möchte ich keineswegs die Sinnhaftigkeit von Untertiteln für Hörgeschädigte bezweifeln, sondern nur beklagen, dass oft nur ausschließlich diese als Übersetzungshilfe vorhanden sind. Jedenfalls schaltete ich die Untertitel aus – was so viel heißt, dass die italienischen Passagen dann unübersetzt blieben (die konnte ich mit meinen Grundkenntnissen der Sprache überbrücken), der eine hebräische Satz auch – und alles, was Ares mit Zeichensprache sagte, wurde ebenso wenig übersetzt. Das machte die Figur zwar mysteriöser und auch etwas bedrohlicher, nahm ihr aber auch ein Stück ihrer Ausdruckskraft (an einer Stelle möchte sie John Wick – in der Bar des Continentals – tatsächlich einfach nur zu einem Drink einladen: hier ein Clip dieses Moments). Das Problem ist in Deutschland nicht neu: die deutsche DVD von Tony Scotts teils spanisch-sprachigem Mexiko-Rache-Thriller MAN ON FIRE ist auch sämtlicher grafischer Schriftelemente „befreit“.
Wer zur britischen Heimveröffentlichung greifen möchte (wo die Einblendungen wahrscheinlich enthalten sind), sollte allerdings vorsichtig sein. Die BBFC ließ den Film für eine niedrigere Kinofreigabe (ab 15 statt ab 18) kürzen. Herumgeschnippelt wurde offenbar an der Selbstmordszene der Gianna D‘Antonio (siehe hier). Das wirft einige Fragen auf. Eine Frau, die in einem Akt der Selbstermächtigung sich vor den Augen ihres Killers die Pulsadern aufschneidet, war 15-Jährigen wohl nicht zuzumuten. War das zu „sozial desorientierend“, „verrohend“ – oder wie nennen englische Zensoren so etwas? Oder war es etwa, weil Gianna dabei nackt ist? Und warum sind dann Aberdutzende von extrem brutalen Erschießungen sowie das Abstechen mit mehr oder weniger scharfen Gegenständen (von Messern bis zu Bleistiften) für 15-Jährige okay? So, wie der Selbstmord Giannas jetzt verstümmelt ist, könnte man wahrscheinlich den Eindruck erhalten, dass sie sich friedlich in ihre große Badewanne legt und John Wick ihr heimtückisch von hinten in den Kopf schießt (was offenbar für 15-Jährige wieder völlig okay ist) – tatsächlich aber ist sie dabei schon tot. Das ist nun wirklich nicht das gleiche wie in dem Film eigentlich zu sehen ist. Gemäß schnittberichte.com jedenfalls wurde die geschnittene Fassung auf DVD und blu-ray veröffentlicht (ab 15) und die ungeschnittene Fassung (ab 18) nur auf der Ultra-HD-blu-ray.

Zu den US-amerikanischen, französischen und italienischen Veröffentlichungen kann ich nichts sagen – ungeschnitten werden sie wahrscheinlich alle sein, erstere wird mit Sicherheit die grafischen Bildinschriften haben.

Montag, 3. Juli 2017

Im Wald, da sind die Räu-häu-ber!

Friedrich Fehérs schräge Räubersymphonie

THE ROBBER SYMPHONY (dt. RÄUBERSYMPHONIE (BRD) bzw. DIE RÄUBERSINFONIE (DDR))
Großbritannien 1936
Regie: Friedrich Fehér
Darsteller: Hans Fehér (Giannino), Magda Sonja (seine Mutter), George Graves (Großvater), Michael Martin Harvey (der Räuber mit dem Strohhut), Alexandre Rignault (Black Devil), Tela Tchaï (die Räuberin), Webster Booth (der singende Räuber), Jack Tracy und Al Marshall (die musizierenden Räuber), Jim Gérald (der Köhler), Vinette (die Wahrsagerin), Ivor Wilmot (Magistrat)

"Wir sind keine Banditen!"
"Was sind wir denn?"
"Räuber!"

Giannino, der Held der Geschichte
HAROLD HOLT presents the FIRST "COMPOSED" FILM - so verkündet es stolz gleich das erste Titelblatt der Credits von THE ROBBER SYMPHONY. Gemeint ist damit, dass zuerst die (von Friedrich Fehér selbst geschriebene) Musik entstand und dann der Film nach der Musik gedreht und geschnitten wurde. Ob THE ROBBER SYMPHONY tatsächlich der erste Film nach diesem Prinzip war, sei mal dahingestellt (ich habe leise Zweifel daran), aber er ist jedenfalls so konstruiert. Wie um das gleich nochmal zu verdeutlichen, beginnt nach der zweiminütigen Titelsequenz nicht gleich die Handlung, sondern es folgt erst noch eine fünfeinhalbminütige Ouvertüre mit einem Symphonieorchester in einem Konzertsaal (nämlich Queen's Hall in London), dirigiert von Fehér selbst (man sieht ihn dabei allerdings nur von hinten), aber ohne sichtbares Publikum (und in den letzten zehn Sekunden des Films ist als abschließende Klammer nochmals das Orchester zu sehen und zu hören). Schon hier stellt sich eine merkwürdige Stimmung ein, weil das Orchester (einschließlich des Dirigenten) sonderbar aussehende Hüte trägt.

Ouvertüre mit merkwürdigen Hüten
Dann geht es nun endlich richtig los - Überblendung vom Orchester zu einer mediterranen Küstenlandschaft irgendwo in Südfrankreich (gedreht wurden die Außenaufnahmen des ersten Filmteils bei Nizza). Aufgrund der teils märchenartigen bis leicht surrealen Handlung, die nun folgen wird, ist die Zeit nicht genau bestimmt. Die Uniformen der Gendarmen, die meisten Kleider und das Walzenklavier, das im Film eine zentrale Rolle spielt, deuten ins 19. Jahrhundert, während die auf die Räuber ausgesetzte Belohnung von 1000 Louis d'or auf spätestens das 18. Jahrhundert verweist (und der Tatsache, dass mindestens einmal Strommasten und -leitungen zu sehen sind, sollte man in dieser Hinsicht überhaupt keine Bedeutung beimessen). Einigen wir uns also darauf, dass der Film "vor mehr als hundert Jahren" (von 1936 aus gerechnet) spielt.

Hier beginnt die Geschichte
Wir befinden uns nun in einer kleinen Stadt, und ein Steckbrief (mit den besagten 1000 Louis d'or als ausgesetzter Belohnung) klärt uns darüber auf, dass die berüchtigte Räuberbande von Alfred Galotti, besser bekannt als The Black Devil, seit einiger Zeit die Gegend unsicher macht. Was die braven Bürger nicht ahnen: Die Räuber sind mitten unter ihnen! Denn der Wirt eines Gasthauses in der Stadt ist kein anderer als der "Schwarze Teufel", seine Kellnerin ist das einzige weibliche Bandenmitglied, und ein unscheinbarer älterer Herr mit Strohhut, scheinbar nur ein harmloser Gast des Wirtshauses, gehört auch zu den Räubern. Komplettiert wird die Bande von zwei Oboe bzw. Fagott spielenden Musikern und einem öligen Tenor. Ein riesiges leeres Weinfass, auf einer Pferdekutsche montiert, dient den Räubern als fahrende Einsatzzentrale.

Mutter und Großvater, Esel und Hund
Gleich in der Nähe des Gasthauses logiert eine Familie von fahrenden Straßensängern aus Italien, bestehend aus dem ca. 14-jährigen Giannino, seiner Mutter und seinem Großvater. Die beiden Erwachsenen unterhalten die Gäste des Wirtshauses mit ihren Liedern, während Giannino mit einer Kurbel das Walzenklavier bedient, das auf einem fahrbaren Untersatz montiert ist, der von einem Esel gezogen wird. Mit von der Partie ist auch ein schwarzer Hund, der auf Gianninos Kommando hin zahlungsunwilligen Gästen der Gesangsdarbietungen ans Bein pinkelt. Außer das Klavier zu bedienen und dem Hund fragwürdige Kunststücke beizubringen, beherrscht Giannino auch die Kunst, mit einem kleinen Blasrohr Kügelchen sehr zielgenau zu verschießen. Für die Dauer ihres Aufenthalts wohnen die fahrenden Künstler im Erdgeschoss (mit angrenzendem Stall) eines Hauses, dessen obere Stockwerke von der Besitzerin, einer zänkischen Wahrsagerin, bewohnt werden. Die Dame ist mit ihrer zweifelhaften Profession zu Reichtum gelangt - mehr als 12.000 Golddukaten, die sie in einem Sparstrumpf sicher verwahrt (wie sie meint).

Räuber: Der Wirt, die Kellnerin, der Tenor und der mit dem Strohhut
Doch genau diese Dukaten sind das nächste Ziel der Räuber. Giannino wird dabei zum unfreiwilligen Helfer: Nachdem seine Mutter einen heftigen Streit mit der Wahrsagerin hatte, flüstert die Kellnerin ihm ein, in der nächsten Nacht die Stalltür nicht zu verschließen, weil sie der Wahrsagerin einen Streich spielen wolle. In Wirklichkeit nützt der Räuber mit dem Strohhut den Zugang ins Haus, um den Sparstrumpf zu entwenden. Doch der Abtransport der Beute misslingt, weil Giannino durch eine achtlos weggeworfene Zigarette einen Brand auslöst. In dem Tohuwabohu weiß sich der Räuber nicht anders zu helfen, als die Beute ausgerechnet im Walzenklavier zu verstecken. Ein erster Versuch zur nächtlichen Bergung der Beute in einem heftigen Sturm scheitert kläglich, und so muss ein raffinierter Plan her - der strikt ohne Blutvergießen auskommen muss, weil Black Devil nicht eines Tages am Galgen baumeln will.

Oben der Rest der Bande
Der Plan besteht nun darin, dass der Tenor Gianninos Mutter mit einer Belcanto-Arie anschmachten und dabei betrunken machen soll, während die Kellnerin den Großvater zu einem wilden Tanz zu südländischen Rhythmen verführt. Dieser Tanz gerät zu einer ziemlich unglaublichen und sehr komischen Szene. Die beiden musizierenden Räuber, der Räuber mit dem Strohhut, vor allem aber der wie unter Strom stehende Großvater geraten dabei in wilde, geradezu frenetische Zuckungen. Am Ende sinkt er völlig ermattet ins Stroh des Stalls und verfällt in einen Dornröschenschlaf, während Gianninos Mutter weinselig und beduselt vor sich hin dämmert. Doch der schöne Plan der Räuber war nicht ganz perfekt, denn sie hatten Giannino nicht auf der Rechnung. Der schläft jetzt nämlich ausgerechnet auf dem Klavier, und so wird er kurzerhand mit abtransportiert. Durch die Schusseligkeit der Räuber und die Wachsamkeit des Hundes endet diese Szene damit, dass der immer noch schlafende Giannino, das Klavier, der Esel und der Hund in einem Ruderboot auf dem Mittelmeer treiben, während die konsternierten Räuber an Land das Nachsehen haben.

Die Wahrsagerin in ihrem Kabinett
Unterdessen wurde Gianninos Mutter verhaftet, weil man sie verdächtigt, zur Räuberbande zu gehören. Die ob des finanziellen Verlusts hysterisch kreischende Wahrsagerin geht dem Magistrat, der die Untersuchung führt, gehörig auf die Nerven, doch sie bringt nicht ganz zu Unrecht vor, dass der Dieb durch den Stall gekommen sein muss. Weil die Mutter nichts von Gianninos unwissentlicher Beihilfe weiß, kann sie nichts zu ihrer Verteidigung aussagen. - Als Giannino am nächsten Morgen erwacht, kann er problemlos ans Ufer rudern, wird dort aber auch gleich festgenommen, zu einer Polizeiwache in den Bergen gebracht und nach dem Verbleib der Beute befragt. Natürlich weiß er nichts darüber, und so wird er erst mal eingekerkert, kann sich aber durch einen Kunstschuss mit seinem Blasrohr befreien. Mit dem Klavier, Esel und Hund macht er sich nun auf die Suche nach seiner Mutter, ohne konkret zu wissen, wo er eigentlich hin muss - verfolgt von den Räubern in ihrem riesigen fahrenden Fass.


Giannino kommt in ein kleines Bergstädtchen, wo zu seiner Verblüffung vier weitere von Eseln gezogene fahrbare Walzenklaviere auftauchen. Es handelt sich um einen weiteren Plan der nun als Artisten und Clowns verkleideten Räuber: Während der mit dem Strohhut, mit einer Pappnase getarnt, eine öffentliche Vorstellung als Seiltänzer gibt, soll Giannino im allgemeinen Trubel eines der falschen Klaviere untergejubelt und das mit der Beute abspenstig gemacht werden. Doch auch dieser reichlich absurde Plan scheitert kläglich, und es kommt für die Räuber noch schlimmer: Als Giannino dem Mann mit dem Strohhut mit seinem Blasrohr die Pappnase wegschießt, wird dieser von einem Polizisten erkannt und verhaftet. Unterdessen begeht die Wahrsagerin einen fatalen Fehler: In ihrer Hysterie schreit sie, dass jeder, der ihr auch nur einen ihrer Dukaten zurückbringt, den Rest als Belohnung behalten darf. Der Magistrat befiehlt geistesgegenwärtig, diese Aussage schriftlich festzuhalten.

Ein Brand bringt einen Räuber in Nöte
Auf seiner mehr oder weniger ziellosen Fahrt kommt Giannino immer höher ins Gebirge, immer noch von der (um einen Mann dezimierten) Bande verfolgt, und er erfriert fast, wird aber von einem Köhler gerettet, der da oben als Eremit haust. Und die Räuber bleiben weiterhin glücklos: Black Devil, der Giannino in einer öden Schnee- und Eiswüste zuletzt zu Fuß verfolgt hat, bleibt in einem Schneeloch wie in Treibsand stecken, während die anderen in ihrem zugefrorenen Fass eingeschlossen sind. Um es kurz zu machen: Giannino und der Köhler erkennen den Wirt anhand der Beschreibung aus dem Steckbrief als Räuberhauptmann, bringen ihn und seine Komplizen in die Stadt zum Magistrat, und beweisen so die eigene Unschuld. Und Giannino kassiert nicht nur die 1000 Louis d'or, sondern auch das Vermögen der Wahrsagerin (abzüglich eines Dukaten). Und damit ist diese merkwürdige Geschichte zu Ende. Nein, noch nicht ganz. Der Großvater, der ungefähr eineinhalb Stunden des Films verschlafen hat, erwacht im Stroh, räkelt sich und mischt sich unters Volk, als sei nichts gewesen. Nun ja, für ihn ist auch nichts gewesen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute ...

Der Tenor macht sich an die Mutter ran, während Opa in Zuckungen gerät
Weite Strecken von THE ROBBER SYMPHONY, vor allem Gianninos Odyssee mit Klavier, Esel und Hund, folgen mehr einer Traumlogik als einem rationalen Bauplan. Der mit über 140 Minuten nicht gerade kurze Film ist dabei durchweg unterhaltsam. Vieles trägt dabei zur absurden Verfremdung der Handlung bei. Immer wieder gibt es skurrile, absonderliche Handlungseinfälle. Das Drehbuch schrieben Friedrich Fehér und sein englischer Coproduzent Jack Trendall nach einer Vorlage von dem österreichischen Journalisten und Schriftsteller Anton Kuh. Gelegentlich gibt es Slapstick-Elemente, manchmal auch mit Zeitraffer oder rückwärts laufendem Film, Zeitlupe kommt aber auch ein- oder zweimal zum Einsatz. Als Giannino fast erfriert, sieht er sich selbst in einer Halluzination als Seiltänzer, was zu einer schönen Montagesequenz mit stark verdrehten Kamerawinkeln gerät. Im Soundtrack gibt es längere dialoglose Passagen, in denen (gemäß dem in den Credits angekündigten Grundkonzept) die Musik dominiert und den Filmrhythmus vorgibt. Es gibt aber auch einige extravagante Soundeffekte. Als sich etwa ein Insekt auf der Pappnase des seiltanzenden Räubers niederlässt, ist dessen Summen in stark übertriebener Lautstärke zu hören. Und mehrfach gibt es Geräusche mit starken Halleffekten.

Der Abtransport der Beute scheitert zum wiederholten Mal
Insgesamt zeigt THE ROBBER SYMPHONY eine mild surreale Grundstimmung. Im visuellen Bereich weist er aber auch Einflüsse des Expressionismus auf, vor allem bei Szenen, die nachts spielen. Hierfür konnte Friedrich Fehér auf die Mithilfe dreier bewährter Fachkräfte des Stummfilms und frühen Tonfilms der Weimarer Republik zurückgreifen. CALIGARI-Regisseur Robert Wiene, unter dem Fehér von 1916 bis 1925 viermal als Schauspieler gearbeitet hatte, und der nun wie Fehér im englischen Exil war, fungierte als Produktionsleiter. Eugen Schüfftan, der mit seinen Kameratricks schon METROPOLIS veredelt hatte, war Kameramann. Und der aus Ungarn stammende Filmarchitekt und Kostümbildner (und gelegentliche Regisseur) Ernö Metzner, der etwa schon mehrfach für Lubitsch und Pabst gearbeitet hatte, war auch hier für die Bauten zuständig. Etliche der von Metzner für THE ROBBER SYMPHONY entworfenen Gebäude zeigen einen leicht expressionistischen Touch. Es handelt sich um keine scharfkantigen, spitzwinkligen, flächig-gemalten Kulissen wie bei CALIGARI, sondern mehr um organisch-runde Formen, wie sie etwa schon Hans Poelzig für DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM kreiert hatte.

Ungewollter Ausflug zur See
THE ROBBER SYMPHONY zeigt somit deutliche Einflüsse des Weimarer Films. Gelegentlich denkt man an einzelne Filme von Pabsts DREIGROSCHENOPER bis zu EMIL UND DIE DETEKTIVE, aber auch an THE DEVIL'S BROTHER (FRA DIAVOLO) mit Stan Laurel und Oliver Hardy (nur eben ohne Laurel & Hardy). Apropos: Die beiden von Jack Tracy und Al Marshall gespielten musizierenden Räuber sind (allerdings nur in diesem Film) auch so etwas wie ein Komikerpaar. Zwar haben sie nichts mit Stan & Ollie zu tun, aber in ihrem Habitus und ihrem lakonischen Zusammenspiel haben sie mich etwas an Pat & Patachon erinnert. - Trotz aller Einflüsse lässt sich festhalten: Mit seinen vielen skurrilen und absurden Einfällen ist THE ROBBER SYMPHONY ein ganz eigenständiger und fast singulärer Film.

Die Wahrsagerin macht sich bei den Behörden unbeliebt, während die Mutter im Gefängnis sitzt

Friedrich Fehér: Von Caligari zu (der Flucht vor) Hitler


Wer spielte 1919 die Hauptrollen in DAS CABINET DES DR. CALIGARI? Werner Krauß, Conrad Veidt, Lil Dagover - viele Cineasten können die Namen nennen, ohne nachsehen zu müssen. Aber wer war gleich nochmal Franzis, der Erzähler der bizarren Geschichte? Genau: Es war der österreichische Schauspieler, Regisseur, Komponist und Dirigent Friedrich Fehér. Da war er schon seit einigen Jahren gut im Geschäft. Geboren wurde der aus einer jüdischen Familie stammende Fehér (oft auch Feher geschrieben) 1889 als Friedrich Weiß in Wien. Laut Geburtsregister der Jüdischen Kultusgemeinde in Wien war sein Vater ein "Börsebesucher" (also wohl ein Spekulant oder Börsenmakler) aus Budrea, vermutlich in Rumänien (eine Wiener Archivarin meinte in REQUIEM VOOR EEN FILM (siehe unten), dass es sich dabei um Budapest handelt, aber ich glaube, da täuschte sie sich). Seinen Künstlernamen entlehnte er dem Ungarischen - "fehér" bedeutet "weiß". Ob er selbst Ungarisch sprach, weiß ich nicht.

Die mobile Kommandozentrale der Räuber
Nachdem er das Wiener Konservatorium absolviert hatte, wurde Fehér Theaterschauspieler an deutschen und österreichischen Bühnen, dann auch Theaterregisseur, und ab 1911 als Schauspieler bzw. seit 1913 als Regisseur war er beim Film, wobei er ebenfalls zwischen Deutschland und Österreich pendelte. Zeitweise hatte er eine eigene Produktionsgesellschaft, und Mitte der 20er Jahre leitete er ein Theater in Wien. Fehérs bekannteste und wichtigste Rolle als Filmschauspieler war zweifellos die in CALIGARI. Bei vielen seiner Filme als Regisseur spielte Fehérs Frau, die tschechisch-österreichische Schauspielerin und Sängerin Magda Sonja, die weibliche Hauptrolle. Magda Sonja, 1886 als Venceslava Vesely im tschechischen Hradisko geboren, war einer der größten weiblichen Stummfilmstars in Österreich. Ihre bekanntesten Stummfilme waren vielleicht MATA HARI und der zweiteilige MARIA STUART, beide 1927 von Fehér inszeniert. 1922 wurde Hans Fehér als einziges Kind des Paars in Wien geboren. In IHR JUNGE (1931) und GEHETZTE MENSCHEN (1932), Fehérs einzigen deutschsprachigen Tonfilmen (wobei es von beiden auch eine tschechische Sprachfassung gibt), spielte Hans Fehér erstmals neben seiner Mutter und unter der Regie seines Vaters. Bei der deutschen Version von IHR JUNGE spielte auch Friedrich Fehér selbst mit, sowie Szöke Szakáll, der später als S.Z. Sakall ein vielbeschäftiger Nebendarsteller in Hollywood war.

In einem Bergstädtchen ...
1933 emigrierte die jüdische Familie über die Tschechoslowakei nach England. Hier wurde THE ROBBER SYMPHONY Fehérs einziger und insgesamt sein letzter Spielfilm, und er legte alles hinein, was er hatte. Er gründete zur Produktion die Concordia Films Ltd., Fehér war also (zusammen mit dem erwähnten Jack Trendall) auch Produzent des Films, der mit ca. 80.000 £ für einen britischen Film dieser Jahre nicht gerade billig war - neben den Studioaufnahmen in England und den Außenaufnahmen in Südfrankreich wurde auch in Österreich und am Montblanc-Massiv gedreht. Bei den Darstellern griff Fehér auf eine Mischung englischer und französischer Akteure zurück. Die in der IMDb genannte Françoise Rosay spielt allerdings nur in der parallel gedrehten französischen Sprachfassung LA SYMPHONIE DES BRIGANDS - sie ersetzt hier anscheinend Vinette als die Wahrsagerin. Über die sonstigen Darsteller in dieser französischen Version weiß ich nichts - man findet so gut wie keine Informationen über diese Fassung (LA SYMPHONIE DES BRIGANDS wird heute auch als franz. Titel der engl. Fassung verwendet, deshalb kursieren diesbezüglich irreführende Informationen). Möglicherweise ist die franz. Fassung verschollen, aber sicher bin ich da auch nicht.

... kommt es zur wundersamen Esels- und Klaviervermehrung
Um noch einmal auf die Darsteller zurückzukommen: Tela Tchaï, die eigentlich Martha Winterstein hieß, wurde zwar in Roubaix geboren, und sie wird in der franz. Wikipedia als Französin (mit Sinti/Roma-Wurzeln) bezeichnet, aber sie hatte offenbar auch deutsche Wurzeln. Darauf deutet nicht nur ihr richtiger Name hin, sondern auch die Tatsache, dass sie in REQUIEM VOOR EEN FILM abwechselnd deutsch und französisch (aber mehr deutsch) antwortet. Tela Tchaï spielte 1932 in DIE HERRIN VON ATLANTIS (einschließlich der engl. und der franz. Parallelversion) von G.W. Pabst, wo Eugen Schüfftan hinter der Kamera stand, und der hatte sie dann Fehér für die Rolle der Räuberin mit dem leicht exotischen Aussehen empfohlen. Im Interview erzählte sie, dass sie ihn damals "Schüffi" nannte. Ihren letzten Film drehte Tela Tchaï 1945, später widmete sie sich der Malerei.

Das Ende einer Räuberlaufbahn
Für die Aufnahme der von ihm geschriebenen Musik sowie die Filmaufnahme der Ouvertüre engagierte Fehér das renommierte London Symphony Orchestra. In den Credits wird es "Concordia Symphony Orchestra" genannt, aber das ist ein Fantasiename - die von Fehér gegründete Firma betrieb natürlich nicht gleich ein eigenes Symphonieorchester. Weil für die Filmaufnahme der Ouvertüre in den Shepperton-Studios nicht genug Platz für das große Orchester war, wurde mit der Queen's Hall (die im Zweiten Weltkrieg durch eine Bombe zerstört wurde) ein echter Konzertsaal herangezogen. Fehér ist wie erwähnt als Dirigent (von hinten) zu sehen, aber bei den Tonaufnahmen der Musik (die separat von den Filmaufnahmen an einem anderen Ort stattfanden) dirigierte er nicht selbst, oder zumindest nicht alles. Vielmehr griff er dazu auf die Mithilfe des jüdischen Komponisten und Dirigenten Alfred Tokayer zurück. Tokayer wurde 1900 in Köthen in Sachsen-Anhalt geboren. Er wirkte als Orchesterleiter in Bremen und Berlin. Ab 1935 war er in Frankreich im Exil, und 1936 reiste er nach London, um für Fehér zu arbeiten. Danach wieder in Frankreich, wurde er dort 1943 verhaftet und nach Sobibor deportiert, wo er noch im selben Jahr starb.

Immer höher ins Gebirge
Leider war die teure ROBBER SYMPHONY ein ziemlicher Misserfolg, und die Concordia Films Ltd. ging pleite. Fehér reiste schon 1936 in die USA, um den Film dort zu vermarkten und doch noch zu einem Erfolg zu machen, aber auch damit hatte er kein Glück. Er blieb dann gleich in den USA, und Magda Sonja und Hans kamen wenig später nach. Die Familie ließ sich im Raum Los Angeles nieder. Die von Fehér wohl erhoffte Hollywood-Karriere blieb aber leider aus. Er inszenierte mehrere kurze Konzertfilme mit Symphonieorchestern, wobei er teilweise auch dirigierte, aber keinen Spielfilm mehr. Zwar gab es einen Anlauf dazu - für MGM hätte er einen Film über den "Butzemann" (bogeyman) inszenieren sollen, aber das verlief wegen Problemen mit den Rechten letztlich im Sand. Zum letzten Mal als Schauspieler sah man Fehér 1943 in einer Nebenrolle in JIVE JUNCTION seines österreichischen Landsmannes im Exil Edgar G. Ulmer. Für Magda Sonja war schon THE ROBBER SYMPHONY ihr letzter Film. 1950 reiste Fehér nach Deutschland, wo er einen Film vorbereiten wollte. Ich weiß nicht, ob das schon konkrete Formen angenommen hatte oder mehr Wunschdenken war. Es spielte keine Rolle mehr, denn im September 1950 erlitt er in Stuttgart einen Herzanfall und starb kurz darauf. Magda Sonja verschwand nach dem Tod ihres Mannes komplett in der Obskurität. In REQUIEM VOOR EEN FILM wurde ihr Verbleib 1989 als völlig unbekannt bezeichnet. Immerhin weiß man heute, dass sie 1974 in Los Angeles starb.

Ein Köhler rettet Giannino vor dem Erfrieren
Hans Fehér hatte schon in THE ROBBER SYMPHONY (und vielleicht auch in seinen vorherigen beiden Filmen) mit wenig Begeisterung für die Filmerei mitgespielt (was seiner Leistung aber nicht abträglich war - er spielte wirklich gut). Jetzt, in den USA, hatte er überhaupt keine Lust, als Kinderstar weiterzumachen, und auch als Erwachsener wollte er nicht Schauspieler werden. Stattdessen wurde Hans, oder Jack Anthony Feher, wie er dann in den USA hieß, Croupier in Las Vegas - sehr zum Verdruss seines Vaters, der ihn in einem künstlerischen Beruf sehen wollte. Aber ihm hat diese Tätigkeit Spaß gemacht, wie sich seine (angeheiratete) Tante in REQUIEM VOOR EEN FILM erinnerte. Am Zweiten Weltkrieg nahm er als Unteroffizier der US Army teil. Später war er auch Manager eines Varietés, wohl ebenfalls in Las Vegas, und in seinem Totenschein ist als Beruf writer verzeichnet - ich weiß aber nicht, was er geschrieben hat. Jack Anthony Feher starb schon 1958 mit nur 35 Jahren an einer chronischen Erkrankung der Leber - laut REQUIEM VOOR EEN FILM war er Alkoholiker.

Die Räuber sitzen in der Falle
Erstmals 1940 lief THE ROBBER SYMPHONY in den Niederlanden, und das war anscheinend einer der wenigen Orte, wo er Erfolg hatte. Der holländische Autor K. Schippers sah den Film als Kind und liebte ihn sehr. In dem 1989 erschienenen 98-minütigen Dokumentarfilm REQUIEM VOOR EEN FILM begibt sich Schippers auf Spurensuche nach den Entstehungsumständen des Films und den Lebensläufen der Fehérs. Schippers recherchiert in Wien, London, Los Angeles und anderswo, und es werden u.a. der Fagottist Cecil James vom London Symphony Orchestra (der in THE ROBBER SYMPHONY zwar nicht zu sehen, aber zu hören ist), Tela Tchaï, die besagte Tante von Hans Fehér und weitere Zeitzeugen interviewt. Leider ist der Kommentar des Films nur auf Holländisch ohne Untertitel, aber etliche der Interviews sind zumindest auf Seiten der Antwortenden auf Englisch oder Deutsch, so dass sich auch ohne holländische Sprachkenntnisse (wie bei mir) ein Mehrwert ergibt.

Semi-expressionistisches Flair
THE ROBBER SYMPHONY wurde schon bald nach seiner Entstehung gekürzt und (ohne Erfolg) erneut herausgebracht. 2005 hat das Niederländische Filmmuseum (heute EYE Film Instituut Nederland) den Film mit Material aus Amsterdam und London restauriert und auf seine ursprüngliche Länge von 144 Minuten gebracht. Diese Version ist zusammen mit REQUIEM VOOR EEN FILM als Bonusfilm auf einer holländischen DVD erschienen.


Friedrich Fehér in DAS CABINET DES DR. CALIGARI