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Sonntag, 11. Mai 2014

Kurzbesprechung IDA


IDA
Polen / Dänemark 2013
Regie: Paweł Pawlikowski
Darsteller: Agata Kulesza (Wanda Gruz), Agata Trzebuchowska (Anna / Ida Lebenstein), Dawid Ogrodnik (Lis), Adam Szyszkowski (Feliks Skiba), Jerzy Trela (Szymon Skiba)



Polen, Anfang der 1960er Jahre. Die Novizin Anna, die in einem Kloster aufgewachsen ist, steht kurz davor, ihr Gelübde abzulegen. Die Äbtissin fordert sie dazu auf, vorher noch ihre einzige lebende Verwandte, nämlich ihre Tante Wanda Gruz zu besuchen. Die Tante entpuppt sich als Frau mit einem starken Alkoholproblem und einem Geschmack für schnelle Affären, die als aktive Staatsanwältin noch von ihrem Ruf als „blutige Wanda“ zehrt: in den frühen 1950er Jahren war sie an stalinistischen Prozessen beteiligt, in denen sie  gegen „Volksfeinde“ Todesurteile aussprach. Die forsche Mittvierzigerin zögert nicht lange, Anna ins Gesicht zu sagen, dass sie eine „jüdische Nonne“ ist, eigentlich Ida Lebenstein heißt und ihre Eltern während des Zweiten Weltkriegs ermordet wurden. Die beiden unterschiedlichen Frauen machen sich auf, das Grab der Schwester bzw. Mutter und ihres Ehemanns zu suchen. Der Roadtrip des merkwürdigen Frauenduos durch eine marode und trostlose polnische Provinz entwickelt sich nicht nur zu einer Suche nach den Mördern, sondern auch zu einem Herantasten an die eigene Identität...

Die Bauernhöfe, die Wanda und Ida besuchen, sind verfallen, aber dennoch irgendwie idyllisch. Die Bevölkerung lebt ein einfaches, aber zufriedenes und frommes Leben und im nahe gelegenen Wäldchen liegen die Gebeine ihrer jüdischen Nachbarn begraben, die sie vor knapp zwanzig Jahren ermordeten und in deren Häuser sie heute wohnen. Wie bereits Władysław Pasikowskis POKŁOSIE im letzten Jahr greift auch IDA die innerpolnische Debatte um die Beteiligung von Polen am Holocaust wieder auf, die Jan Tomasz Gross‘ Buch „Neighbors: The Destruction Of The Jewish Community In Jedwabne, Poland“ 2001 angestossen hatte und bis heute noch nachhallt. Wanda und Anna/Ida treffen im ehemaligen Haus der Lebensteins die Skibas. Das Familienoberhaupt Feliks verweist die beiden Frauen schroff an seinen Vater Szymon, mit dem er nichts mehr zu tun hat. Später kommt heraus, dass Szymon die Lebensteins (darunter auch Idas älteren Bruder) versteckte, Feliks sie dann aber ermordete. Von Deutschen, die hier nur an einer Stelle in einem Nebensatz erwähnt werden, fehlt jede Spur: die Lebensteins fielen einem polnischen Antisemiten zum Opfer.

Von seiner Machart her ist IDA ein ruhigeres, mehr nach innen gerichtetes Gegenstück zum explosiven POKŁOSIE, der durchaus Backwood-Thriller-Elemente aufwies. Obwohl jedoch Pawlikowskis Film ein „period“-Film ist, thematisiert auch er das Verschwinden jüdischer Identität aus Polen: durch den Holocaust, durch Emigration, durch einen dezidierten, exklusiven und katholisch gefärbten Nationalismus, durch zunehmenden Antisemitismus. Am Ende verschwinden beide Protagonistinnen selbst auf verschiedene Arten. Wanda begeht Selbstmord – und kommt ihrer Degradierung zuvor, die während der antisemitischen Hetz-Kampagnen von 1968 höchstwahrscheinlich erfolgt wäre. Im Zuge der „anti-zionistischen“ Politik wurden von 1968 bis 1971 Polen jüdischer Herkunft mit Berufsverboten belegt, schikaniert, aus Partei-, Staats-, Justiz- und Armee-Ämter entfernt und zur Emigration „ermutigt“. Möglicherweise ist Wanda Gruz teilweise nach Helena Wolińska-Brus modelliert worden, die Anfang der 1950er Jahre als Militäranklägerin stalinistische Prozesse gegen Angehörige der Polnischen Heimatarmee leitete. Die jüdisch-stämmig Wolińska-Brus beging im Gegensatz zu Wanda jedoch nicht Selbstmord, sondern emigrierte 1968 nach Großbritannien, und steht stellvertretend für eine bestimmte Spielart der Entstalinisierung, bei der Juden zu Sündenböcken vergangener stalinistischer Verbrechen gemacht wurden (ein Phänomen, das auch in Ungarn ähnlich zu beobachten war). Auch Ida verschwindet am Ende des Films, um wieder Anna zu werden und sich an das Kloster-Leben zu assimilieren. Dieses Leben im Nonnenkloster kann man denke ich in IDA nicht als Gegenwelt zum realsozialistischen Polen lesen, sondern als andere Seite derselben Medaille. „Keuschheit, Armut und Gehorsam“, das Motto, unter das sich die Novizinnen zu unterwerfen haben, erscheint nicht gerade als Alternative oder als besonders verschiedenartig zum Leben „draußen“ in Volkspolen.

Die eine Protagonistin ist eine depressive Alkoholikerin, die sich selbst praktisch aufgegeben hat, die andere ist eine junge Frau, die kurz davor steht, dem Leben zu entsagen: IDA ist ein durch und durch bedrückender Film. Es ist auch ein kalter Film, ein Film, der in vielen seiner Bilder den Tod atmet (was letztlich zu einem Holocaust-Drama nicht völlig unpassend ist). Auffallend ist, wie distanziert die Kamera mit den Figuren umgeht, wie sie in den exzentrischen und asymmetrischen Bildkompositionen an den Bildrand gedrängt werden, oft nach unten – eine Inszenierungsstrategie, die in Cinemascope natürlich schwer funktioniert, weshalb das „Academy ratio“ (1:1,37) geradezu zwingend scheint. Im Bild-Mittelpunkt stehen meistens nackte Wände, trostlose Schneematsch-Winterlandschaften, marode Treppenhäuser, heruntergekommene Flure, oder aber auch das filigrane Gittermuster einer Fensterfront. Die extreme Einsamkeit der beiden Hauptfiguren wird damit noch expliziter und bedrückender in kunstvollen Schwarzweiß-Bildern visualisiert.

IDA ist aber nicht nur ein Drama über den Holocaust und den Antisemitismus in Polen, sondern ein Film der kulturellen Verweise. Wie bereits andere Besprechungen vermerkten, weist IDA sehr deutlich auf die Filme der Neuen Polnischen Welle. In den Schluss-Credits wird in der Dankesliste etwa Jerzy Skolimowski aufgeführt (als einer von vielen Namen, unter denen auch Alfonso Cuarón auftaucht). Die Szenen in der Tanzhalle, in der Wanda und Ida der Band des trampenden Jazzsaxofonisten Lis‘ zuhören, erinnerte mich etwas an einige Momente in  Andrzej Wajdas POPIÓŁ I DIAMENT („Asche und Diamant“) – wo auch eine Feierlichkeit in einem trostlosen und etwas heruntergekommenen Tanzsaal in der polnischen Provinz stattfindet. Am eindeutigsten dürften jedoch die Bezüge zu MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW („Mutter Johanna von den Engeln“) von Jerzy Kawalerowicz sein, der hier schon in diesem Blog besprochen wurde. Gerade die Gelübde-Zeremonie, bei der sich die Novizinnen in voller Tracht, mit dem Gesicht zum Boden und mit ausgestreckten Armen hinlegen, dürfte maßgeblich von Kawalerowicz‘ Film inspiriert sein. Der Subplot der Nonne, die kurzzeitig ihre Tracht ablegt und eine Affäre mit einem Auswärtigen beginnt, dürfte auch auf IDA abgefärbt haben.

Ebenso ist IDA aber auch eine Hommage an Polen als Jazz-Land – was angesichts der Tatsache, dass der Film primär ein Holocaust-Drama ist, zunächst überraschen mag, aber unter einem bestimmten Blickwinkel auch eine gewisse Logik hat. In keinem realsozialistischen Land entwickelte sich eine derartig innige Liebe zum Jazz und eine solch lebendige Szene wie in Polen. Das „Jazz Jamboree“, also das Ende der 1950er Jahre etablierte Internationale Jazz Festival Warschau, wurde zu einer regelrechten Pilgerstätte für Jazz-Liebhaber hinter dem Eisernen Vorhang. Miles Davis, der in den 1980er Jahren mehrmals in Warschau spielte, sagte einmal, dass er nirgendwo auf der Welt so herzlich empfangen wurde wie in Polen. Die polnische Jazz-Szene pflegte einen intensiven Ideen-Transfer mit der internationalen Musik-Szene. In IDA spielt Lis‘ Band etwa nach den eher „leichteren“ Tanznummern eine eigene Version von John Coltranes „Naima“. Polen war auch das europäische Land, in dem die vielleicht experimentellsten Ausdrucksformen von Jazz ab den späten 1960er Jahren geprobt wurden: „Die Polen fingen da an, wo John Coltrane aufgehört hatte.“ – sagte mir ein Kommilitone und ausgewiesener Spezialist der osteuropäischen Jazz-Kultur einmal bei einem Gespräch über das Spätwerk John Coltranes. Worauf ich hinaus will: IDA präsentiert die polnische Jazz-Welt als Fenster des Lebens und der Hoffnung, als eine utopische Alternative zu den beiden anderen Welten, die im Film dominieren, nämlich der sozialistischen und katholischen. In vielerlei Hinsicht gleichen sich letztere in ihrer biederen und grauen Geschlossenheit. Wenn jedoch die Jazz-Musiker spielen, füllen sie die trostlose Tanzhalle mit Leben. Sie sind wahrhaftig internationalistisch und wahrhaftig nächstenliebend und reichen sowohl Wanda als auch Anna über alle Differenzen hinweg eine Hand. Anna/Ida ergreift diese kurzfristig auch, als sie eine Affäre mit Lis beginnt. Als dieser ihr vorschlägt, mit ihm auf die Konzerttour zu reisen und zu leben, lehnt sie dieses „Leben“ ab, begeht in einer gewissen Weise auch „Selbstmord“ – eine melodramatische und vor allen Dingen hochgradig symbolische Wendung: das Jazz-Polen als mögliche Alternative bleibt Utopie.


IDA hatte seine Deutschland-Premiere am 9. April beim 14. goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films, erhielt dort den Hauptpreis des Wettbewerbs und läuft derzeit noch in einigen deutschen Kinos.