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Freitag, 12. Oktober 2012

Ditte - Neorealismus auf Dänisch

DITTE MENNESKEBARN (BRD-Titel DITTE - EIN MENSCHENKIND, DDR-Titel DITTE MENSCHENKIND)
Dänemark 1946
Regie: Bjarne Henning-Jensen
Darsteller: Tove Maës (Ditte), Edvin Tiemroth (Lars Peter Hansen), Karen Lykkehus (Sørine), Karen Poulsen (Maren), Rasmus Ottesen (Søren), Ebbe Rode (Johannes), Maria Garland (Karen), Preben Neergard (Karl), Kai Holm (Wirt), Jette Kehlet (= Jette Ziegler, Ditte als Kind)


Das mit dem Neorealismus sollte man nicht zu wörtlich nehmen: DITTE MENNESKEBARN ist keine Kopie italienischer Klassiker wie OSSESSIONE oder ROM, OFFENE STADT; andere Hauptwerke des Neorealismus wie FAHRRADDIEBE oder BITTERER REIS entstanden ohnehin etwas später. (Wenn ich überhaupt irgendeinen italienischen Film als Vergleich heranziehen müsste, dann vielleicht am ehesten LA STRADA.) Aber DITTE MENNESKEBARN durchzieht in Handlung und Bildsprache ein realistischer Gestus; der Film reiht sich damit nahtlos ein in die realistische Strömung, die in etlichen europäischen Ländern, vor allem eben in Italien, den Film der Nachkriegszeit prägte - laut dem Filmhistoriker Ib Monty ist DITTE MENNESKEBARN der erste dänische Film, für den das zutrifft. Einzelne Szenen scheinen dem zuwiderzulaufen, vor allem eine kurze Traumsequenz, in der sich Ditte als Aschenputtel sieht, die vom Prinzen erwählt wird. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch: Es ist gerade die im Film geschilderte bittere soziale Not, die solche Träume gebiert. Es gibt keinen einzelnen großen Spannungsbogen, sondern der episodisch aufgebaute Film folgt dem Leben seiner Heldin von der Geburt bis zum Alter von vielleicht 16 oder 17 Jahren.

Mit Geld regelt sich alles
DITTE MENNESKEBARN ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Martin Andersen Nexø (gelegentlich auch Nexö geschrieben), des bedeutendsten dänischen Arbeiterschriftstellers, von dem auch die Romanvorlage zu Bille Augusts PELLE, DER EROBERER stammt. Um genau zu sein, der Film beruht auf den ersten drei Bänden des Romans, der von 1917 bis 1921 in fünf Bänden erschien. Andersen Nexø war zunächst Sozialdemokrat, nach dem ersten Weltkrieg dann Kommunist (er verbrachte seine letzten Jahre in der DDR, wo er etliche Ehrungen erhielt), und er schildert in seinen Romanzyklen die harschen Lebensbedingungen der dänischen Arbeiter, Bauern und Fischer und die krassen Klassengegensätze in den Zeiten vor und nach der vorletzten Jahrhunderwende. Während etwa seine Romanhelden Pelle oder Morten Kämpfernaturen sind, übernimmt Ditte die Opferrolle, mit der sie alle Unbill klaglos erträgt.

Klein-Ditte und ihre Großmutter
Der humanistische Geist, der Martin Andersen Nexøs Romane durchzieht, wurde von den Henning-Jensens souverän auf den Film übertragen. DITTE MENNESKEBARN ist ein Familienunternehmen: Bjarnes Frau Astrid Henning-Jensen, seit 1938 mit ihm verheiratet, war Regieassistentin. Beim nächsten und drei weiteren Spielfilmen des Paars fungierte Astrid als gleichberechtigte Co-Regisseurin, wie schon zuvor bei einigen Dokumentarfilmen, und auch bei DITTE MENNESKEBARN dürfte ihr Anteil an der Inszenierung größer gewesen sein, als es der offizielle Titel der Regieassistentin nahelegt. DITTE MENNESKEBARN machte das Paar auch international bekannt, und Astrid überflügelte Bjarne bald an Bedeutung. Während er sich nach den gemeinsamen Filmen mit Astrid in den 50er Jahren wieder dem Dokumentarfilm zuwandte, mit dem er Anfang der 40er Jahre begonnen hatte, inszenierte sie seitdem ihre Spielfilme alleine, und sie wurde die bekannteste dänische Regisseurin ihrer Zeit. Nach einigen Flops in den 60er Jahren sank ihr Stern, aber mit Alterswerken wie VINTERBØRN (dt. WINTERKINDER) lief sie wieder zu großer Form auf. Für diesen Film gewann sie 1979 bei der Berlinale einen Silbernen Bären für die beste Regie, und 1981 saß sie in Berlin in der Jury.

Ditte bekommt einen Papa
DITTE MENNESKEBARN beginnt mit Dittes Geburt. Ihre Mutter Sørine, die Tochter eines armen Fischers, ist nicht verheiratet. Der Vater des Kindes ist der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, und er denkt nicht daran, Sørine zu ehelichen. Ihr Vater Søren bricht entschlossen zum Gutshof auf, um den Kindsvater zur Hochzeit mit seiner Tochter aufzufordern, aber als er kleinlaut zurückkehrt, hat er nur ein Bündel Geldscheine in der Hand, mit dem er abgespeist wurde, und damit ist die Sache erledigt. Die uneheliche Geburt wird auch offiziell in der Geburtsurkunde festgehalten - ein Stigma, das Sørine und Ditte ein Leben lang anhaften wird. Um die 200 Kronen vom Gutsbesitzer nicht vorschnell aufzubrauchen, werden sie in eine Bettdecke eingenäht, und Søren, der sich eigentlich schon aufs Altenteil zurückgezogen hat, beginnt wieder als Fischer zu arbeiten. Doch die schwere Arbeit zehrt an seinen Kräften, und nach einigen Jahren stirbt er an Erschöpfung. Ditte, jetzt ca. vier oder fünf Jahre alt, lebt nun allein bei ihrer Großmutter Maren, der Witwe von Søren. Sørine lebt und arbeitet anderswo, um dem Gerede im Dorf zu entgehen, und hat kaum Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Tochter. Ditte und Maren stützen sich im schweren Alltag gegenseitig und haben ein inniges Verhältnis zueinander, aber Ditte leidet darunter, dass sie keinen Vater hat wie all die anderen Kinder. Umso mehr freut sie sich, als der Fisch- und Lumpenverkäufer Lars Peter Hansen bei Maren auftaucht und erzählt, dass er mit Sørine zusammenlebt und sie heiraten will. Lars Peter ist ein einfacher, aber ungemein liebenswerter Mann, der sich sofort mit Maren und Ditte versteht. Etwas später will Sørine Ditte zu sich holen. Lars Peter ist der Meinung, dass sie eigentlich bei Maren besser aufgehoben ist, aber Sørine setzt sich durch, und so zieht Ditte zu Lars Peter und ihrer durch die lange Trennung entfremdeten Mutter.

Familienleben im Krähennest
Einige Jahre später. Lars Peter und Sørine, inzwischen verheiratet, haben drei weitere Kinder bekommen, und Ditte muss bei der Versorgung ihrer Stiefgeschwister mithelfen, was sie aber gerne übernimmt. Sørine ist durch die Arbeit und die Armut permanent überlastet, durch den niedrigen sozialen Status ihrer Familie verbittert, und ihr Verhältnis zu Ditte bleibt unterkühlt. Als sie Ditte wegen einer Lappalie übel verprügelt, verhindert Lars Peters energisches Eingreifen weitere derartige Exzesse. Eines Tages erinnert sich Sørine an die 200 Kronen, die noch immer in der Bettdecke eingenäht sind, und teils aus Not, teils aus Gier fordert sie von Maren die Herausgabe. Diese weigert sich, weil sie das Geld erst der erwachsenen Ditte als eine Art Mitgift aushändigen will. Es kommt zum Kampf um das Geld, und im Tumult erwürgt Sørine die eigene Mutter, mit Ditte als unfreiwilliger Zeugin. Ditte sagt zu niemandem etwas, und Sørine tut so, als ob nichts gewesen sei. Aber Nachbarn haben ihre Anwesenheit bemerkt, und bald wird Sørine von der Polizei abgeholt und zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt.

Sørine; neues Familienmitglied: Johannes
Ditte muss jetzt vollends die Mutterrolle für ihre Geschwister ausfüllen. Im bescheidenen Anwesen der Hansens, das von den Nachbarn abfällig "Krähennest" genannt wird, taucht ein viriler und flamboyanter Scherenschleifer auf. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Lars Peters Bruder Johannes, zu dem er schon sehr lange keinen Kontakt mehr gehabt hat. Johannes wird zum Bleiben eingeladen, und er revanchiert sich mit der Geschäftsidee, sich zusammen mit Lars Peter als Abdecker und Pferdemetzger für die reicheren Bauern der Gegend zu betätigen. Zunächst kommt dadurch tatsächlich Geld herein, doch der unstete Johannes bringt letztlich kein Glück. Durch das Hantieren mit den stinkenden Tierkadavern sinkt das ohnehin schon sehr niedrige Prestige von Lars Peter und seiner Familie noch weiter ab, und als Johannes betrunken Lars Peters Pferd schlägt, kommt es zum Kampf und fast zur Messerstecherei zwischen den Brüdern. Johannes wird fortgejagt, und dabei stellt sich auch heraus, dass er die gemeinsamen Einnahmen aus dem Geschäft durchgebracht hat.

Dänische Landschaften
Lars Peter steht jetzt vor dem Ruin, und er lässt das Krähennest und einen Teil der Einrichtung versteigern. Mit den Habseligkeiten, die auf seinen Pferdewagen passen, zieht er mit seinen Kindern in ein Dorf an der Küste. Dort verdingt er sich als Fischer bei einem reichen und schmierigen alten Gastwirt, den alle in der Gegend nur "Menschenfresser" nennen. Ditte, inzwischen eine Jugendliche, muss nun auch Geld verdienen. Nach ihrer Konfirmation geht sie als Dienstmädchen auf den Bakkegård-Hof, der von der rustikalen Witwe Karen geführt wird. Deren Sohn Karl ist ein sensibler und nicht unsympathischer junger Mann, aber auch ein frömmelnder Schwächling, der sich in keiner Weise gegen seine Mutter durchsetzen kann. Eines Tages taucht auf dem Hof Johannes auf, macht Karen schöne Augen, und die lässt sich auf ihn ein. Nach einem Fress- und Saufgelage der beiden gibt es eine Fortsetzung im Schlafzimmer. Karl ist wegen des "sündhaften" Verhaltens seiner Mutter aufs äußerste deprimiert und zerknirscht. Ditte versucht, ihn zu trösten, und daraus ergibt sich, dass sie mit ihm schläft. Karls schwache Stunde bleibt nicht ohne Folgen: Ditte wird schwanger. Und nun zeigt sich, dass diejenigen, die das Geld haben, auch bestimmen, was "Moral" ist: Ditte wird wegen ihrer "Sünde" von Karen mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt, und Karl sieht nur tatenlos zu.

Ditte badet nackt - 1946 in Dänemark kein Skandal
Ditte bleibt nichts anderes übrig, als zu Lars Peter zurückzugehen, wo sie immer willkommen ist und auch jetzt Verständnis findet. Dort ist inzwischen auch Sørine angekommen, die kürzlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das Wiedersehen von Mutter und Tochter verläuft zunächst kühl, aber dann gibt es doch spröde Signale einer Wiederannäherung zwischen Ditte und der durch die Haft sichtlich gealterten und geschwächten Sørine. Vielleicht wird aus den Hansens wieder eine richtige Familie - und damit endet der Film. (Dieser verhalten positive Ausblick wird im Roman nicht eingelöst. Im 4. und 5. Band muss Ditte ihr erstes Kind an eine Pflegefamilie abgeben. Sie geht nach Kopenhagen, wo sie zum Lumpenproletariat gehört, und nach viel Mühsal und Entbehrungen stirbt sie schon mit 25 Jahren.)


Wie oben schon geschrieben, ist DITTE MENNESKEBARN trotz mancher poetischen Verzierung ein durchweg realistischer Film. Überzeugend gefilmte Schauplätze, authentische Ausstattung und glaubwürdig und natürlich agierende Darsteller tragen dazu bei, dass der Film im Trend der damaligen Zeit lag und in Dänemark ebenso wie im Ausland Erfolg hatte. Einige Quellen berichten, dass er 1946 bei den Festspielen in Venedig einen Preis gewonnen hat, aber das könnte eine Ente sein. Laut ital. Wikipedia lief er nicht 1946, sondern 1947, zusammen mit DE POKKERS UNGER (VERFLIXTE RANGEN), dem gemeinsam inszenierten nächsten Film der Henning-Jensens, und letzterer gewann dort einen Regie-Preis, DITTE MENNESKEBARN dagegen nicht. Unbestritten ist dagegen eine andere Ehrung: In einem vom dänischen Kultusministerium erstellten "Kulturkanon", der herausragende nationale Kulturleistungen ehren soll, ist DITTE MENNESKEBARN einer der zwölf enthaltenen Filme.

Karen und Johannes; Wiedersehen mit Sørine
DITTE MENNESKEBARN ist in Dänemark auf einer DVD mit engl. Untertiteln erschienen. - Kuriosum am Rande: Ein Asteroid, der 1979 von einem russischen Astronomen entdeckt wurde, wurde von diesem zu Ehren von Martin Andersen Nexø und seiner Heldin auf den Namen Ditte getauft.