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Donnerstag, 16. September 2010

Zum (wohl unausweichlichen) Gedenken

Süsses Gift (Alternativtitel: Chabrols süsses Gift)
(Merci pour le chocolat, Frankreich/Schweiz 2000)

Regie: Claude Chabrol
Darsteller: Isabelle Huppert, Jacques Dutronc, Anna Mouglalis, Rodolphe Pauly, Matthieu Simonet

An den Filmen des am 12. September dieses Jahres verstorbenen Claude Chabrol zeigte sich auf eigenartige Weise, wie manche Kritiker dem Wunsch nach Pauschalisierung nachgeben: Da der Regisseur mit “Le Beau Serge” (1958) oder “Les Cousins” (1959) nicht bloss als Mitbegründer der Nouvelle Vague galt, sondern auch bekennender Maoist war und sich mit sozialkritischen Filmen über die Bourgeoisie (“Les biches”, 1968, “La femme infidèle”, 1969) einen Namen gemacht hatte las man sozusagen von jeder neuen Regiearbeit des Franzosen schon floskelhaft, er halte mit seinem neuen Meisterwerk dem Bürgertum wieder  einmal gnadenlos den Spiegel vor - eine Meinung, die oft erst im Nachhinein und nach einigen ehrlichen Rezensionen in mehrfacher Hinsicht revidiert werden musste.

Denn erstens ging es Chabrol, der sich - um es deutlich auszusprechen - als Gourmet in der von ihm kritisierten Bourgeoisie mittlerweile bequem eingerichtet hatte, gelegentlich auch einfach darum, eine Geschichte ohne “hintergründige Angriffe” auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht zu erzählen (etwa im gelungenen Psychothriller “Le cri du hibou”, 1987, oder in “Une affaire des femmes”, 1988, dem schon beinahe nach einem Klassiker aussehenden Film über eine Engelmacherin im von den Deutschen besetzten Frankreich der 40er Jahre - mit Isabelle Huppert in einer ihrer grössten Rollen); und zweitens teilte er mit vielen etwas gar fleissigen Regisseuren das Schicksal, ein paar höchst durchschnittliche Filme gedreht zu haben, was nicht zuletzt die öfters eingesetzte Huppert zu verschleiern vermochte, weil sie mit ihrem einzigartig herben Gesicht alles auszudrücken vermag - und selbst wenn sie nichts ausdrückt, den Eindruck erweckt, ihr Schweigen spreche Bände...

“Merci pour le chocolat”, gerade von Schweizer Kritikern bejubelt (es handelte sich um eine Co-Produktion), scheint mir zu diesen mittelmässigen Arbeiten zu gehören: Mika, die Erbin eines Schokoladenkonzerns, lebt mit ihrem Mann André, einem berühmten Pianisten, der ohne das starke Schlafmittel Rohypnol nicht leben kann, in einer luxuriösen Villa hoch über Lausanne. Die beiden waren schon einmal verheiratet, trennten sich aber, weil sich André in Mikas Schwester Lisbeth verliebte, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Jetzt scheint die Familienidylle, an der auch Mikas Stiefsohn Guillaume teilhat, perfekt zu sein - bis eines Tages die junge Musikerin Jeanne auftaucht und behauptet, sie könnte nach der Geburt vertauscht worden und vielleicht Andrés Tochter sein. Mika bemerkt, wie ihr zunächst skeptischer Mann zu seiner möglichen Tochter, die bei der Familie ein Wochenende verbringen darf, eine emotional starke Bindung entwickelt, ihr regelrecht “verfällt”. Er offeriert der jungen begabten Frau Piano-Lektionen, in denen er völlig aufgeht (Warnung: Der Trauermarsch von Franz Liszt wird bis zum Überdruss eingeübt!) - und darüber ganz vergisst, dass er noch eine Frau hat, die sich freilich nichts anmerken lässt, sondern weiterhin die freundliche und “perfekte” Gastgeberin spielt.


Dies der Ausgangspunkt eines Psychothrillers nach einem Roman von Charlotte Armstrong, der auch in die Vergangenheit führen wird, dessen Plot man aber recht schnell durchschaut. Die eigentlich banale Geschichte, die - das Klavierspiel nachahmend - durch Andeuten und leichtes Akzentuieren einer Vernachlässigung gekonnt vorgibt, mehr zu sein als sie ist, bedarf schon allerhand interpretatorischer Kunststücke, wenn man sie zum in der Tradition von Chabrols frühen Filmen stehenden sozialkritischen Meisterwerk erheben will - indem man etwa zu erkennen glaubt, die Kernaussage von “Merci pour le chocolat” (ein inhaltlich ziemlich verräterischer Titel!) sei: Der in der bürgerlichen Familie lebende Mensch ist gezwungen, zum Künstler oder zum Mörder zu werden (so Georg Seesslen in einer Rezension, die nur stellvertretend für viele stehen soll). --- Natürlich geht es um eine kranke, verletzte Seele, die zum Unheil einer an sich kranken Familie, wie man sie übrigens in allen Gesellschaftsschichten finden könnte, wird (die Familienidylle erweist sich grundsätzlich als so trügerisch wie der ruhige Genfersee, der uns - um seine Symbolik zu verdeutlichen - ähnlich oft und mit aufdringlicher Regelmässigkeit vor Augen geführt wird wie das Sanatorium in Geissendörfers “Zauberberg”, 1982). Man darf sich jedoch fragen, wer in dieser Familie der Mörder ist; denn es gibt auch Seelenmörder. - Dies ist aber auch schon alles, was ich, der ich sonst jeder nicht allzu phantasievollen Interpretation gesonnen bin, der höchstens leidlich spannenden Geschichte zu entnehmen vermag. Der Film gibt nämlich all das, was man in ihn hineinzulegen versucht, bloss scheinbar her. Er könnte auch als durchschnittlicher “Tatort“, der ein klein wenig an der bürgerlichen Fassade kratzt, durchgehen.


Weshalb komme ich im Zusammenhang mit Chabrols Tod also überhaupt auf  "Merci pour le chocolat" zu sprechen? - Es geht mir einzig um die grosse Isabelle Huppert, die ich bewundere, seit ich sie in Claude Gorettas “La dentellière” (1977), einem leider etwas in Vergessenheit geratenen Zeitdokument,  zum ersten Mal sah. Es wäre ein Leichtes, sie für einen ihrer grossen Filme zu loben. Dass sie jedoch - umgeben von blass gezeichneten Darstellern - den kammerspielartigen “Thriller” von Chabrol zu einem Ereignis macht, ist ein Verdienst sondergleichen. Man muss sie bloss als scheinbar geduldige Gattin still auf dem Sofa sitzend oder bei der Zubereitung der allabendlich ihrem Stiefsohn kredenzten Schokolade (sie lässt - malheureusement! - die Kanne fallen) beobachten; dann weiss man, was “Merci pour le chocolat” in den fähigen Händen eines das Abgründige betonenden Regisseurs tatsächlich sein könnte. Sogar ihr letzter Blick auf ihren Mann lässt Zweifel aufkommen, ob die Schein-Idylle nicht doch aufrecht erhalten bleibt. Er lässt den Zuschauer verunsichert zurück. - Es ist sicher eine undankbare Aufgabe für eine Schauspielerin, die ich als Jahrhundertereignis bezeichnen möchte, Mittelmass mit ihrem Glanz zu erfüllen; dass sie es dennoch mit Bravour bewältigt, scheint mir eine Erwähnung wert.

Zum Schluss eine kleine Anregung für unsere Freunde der etwas abwegigen und weit hergeholten Interpretationen: Warum rücken sie nicht den Genfersee mit seiner im wahrsten Sinne des Wortes tiefgründigen Bedeutung etwas mehr ins Zentrum des Interesses? Führt Chabrol mit ihm nicht sämtliche Vorstellungen des für unsere antik-christlich geprägte Kultur so entscheidenden Begriffs vom Grunde - von der “causa” der antiken Philosophie mit all ihren Implikationen bis zum der mittelalterlichen Mystik zu verdankenden religiösen “Seelengrund” - ad absurdum und läutet ein völlig neues Zeitalter ein, weil man auf dem Grund des Sees schlicht --- ersäuft?