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Samstag, 8. Oktober 2011

Drehen in der Höhle des Löwen: DILEMMA

DILEMMA (engl. auch A WORLD OF STRANGERS)
Dänemark 1962
Regie: Henning Carlsen
Darsteller: Zakes Mokae (Steven Sitole), Ivan Jackson (Toby Hood), Evelyn Frank (Anna Louw), Marijke Haakman (Cecil Alexander), Gideon Nxumalo (Sam Mofokenzazi)


Johannesburg um 1960. In der südafrikanischen Metropole kreuzen sich die Wege von mehreren jungen Menschen. Anna Louw, die aus einer Burenfamilie stammt, ist eine politisch engagierte Rechtsanwältin in einem Rechtshilfebüro, das Schwarzen, Mischlingen und Indern kostenlose Vertretung gewährt. Einer ihrer regelmäßigen Klienten ist Steven Sitole, ein intelligenter und sorgloser Luftikus, der mal dieses und mal jenes treibt - momentan versucht er sich als Fotograf - und dabei gelegentlich mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Einen solideren Lebenswandel pflegt sein Freund Sam, ein Komponist, vor allem, seit seine Frau schwanger ist. Ein Neuankömmling in Südafrika ist der Brite Toby Hood, der neuerdings die Johannesburger Filiale eines englischen Verlagshauses leitet. Er ist der Neffe des Verlegers und soll irgendwann den gesamten Verlag führen.


Als Mitglied der Oberschicht erhält Toby Einladungen in die feinen Kreise Johannesburgs. Er lernt Cecil Alexander kennen, eine reiche Tochter aus gutem Haus (den Vornamen schreibt man wirklich so - eine Referenz an Cecil Rhodes). Gelegentlich arbeitet sie als Model, sonst tut sie nichts; sie ist gelangweilt und leicht blasiert, aber nicht unsympathisch. Auch die Mitglieder ihrer Clique sind nett, adrett und gastfreundlich. Sie wohnen in strahlend weißen Villen, sie haben schwarze Hausdiener, Kindermädchen und Caddies zum Golfen - aber diese müssen nach Feierabend die Gegend verlassen, dann gilt für das Wohnviertel "Whites only". Durch die Angelegenheiten eines seiner schwarzen Angestellten lernt Toby auch Anna kennen, und über sie auch Steven und Sam, und er befreundet sich mit allen dreien. So lernt er auch die andere Seite des südafrikanischen Lebens kennen, die Dynamik und Lebensfreude urbaner südafrikanischer Kultur, und natürlich die Apartheid und alle Abstufungen von Rassismus. Für den liberalen, unbefangenen Engländer Toby ist die Freundschaft mit den Schwarzen Steven und Sam nichts Außergewöhnliches, aber bei seinen vornehmen Bekannten würde er damit völliges Unverständnis auslösen, deshalb erwähnt er dort nichts davon.


Toby bemerkt schnell, dass Anna nicht nur Rechtshilfe leistet, sondern dass sie auch in verbotene politische Aktivitäten verstrickt ist - sie wird auch bereits seit längerem von der Geheimpolizei observiert. Tobys Freundschaft zu Anna ist platonisch, aber mit Cecil beginnt er ein Verhältnis, das jedoch oberflächlich bleibt. Als er ihr von Sam erzählt, findet sie es nur amüsant, dass er jemanden kennt, der den Namen "Mofokenzazi" trägt. Während Toby mit Cecil schläft, schiebt ihm Steven eine Nachricht unter die Tür - Anna wurde verhaftet. Toby, Steven und Sam treffen sich zu einer Krisensitzung, doch die endet in Ratlosigkeit - es gibt nichts, was sie tun könnten. Und es kommt noch schlimmer ...


DILEMMA ist Henning Carlsens erster Spielfilm. Zuvor hatte er ab 1949 ca. 25 Dokumentar- und Industriefilme gedreht. Einer davon, der 1958 zum 25-jährigen Jubiläum der Firma Danfoss entstand, führte Carlsen um die halbe Welt, und auch nach Südafrika. Dort lernte er völlig unvorbereitet die Apartheid kennen, von der damals in Europa wenig bekannt war. Carlsen erzählt im Bonusmaterial der DVD von DILEMMA, wie auch ältere Schwarze von jungen Weißen mit "Boy" angeredet wurden, oder wie er zusammen mit einem Mitarbeiter und einem jungen Schwarzen in einem Hotel drei Bier bestellte und nur zwei bekam, weil an "Kaffern" kein Alkohol verkauft wurde. Damals nahm sich Carlsen vor, dass sein erster Spielfilm dieses Thema behandeln sollte, falls er je das Geld dazu hätte. Die Gelegenheit ergab sich bald durch eine Erbschaft. Um unter dem Vorwand, den für Danfoss gedrehten Film zu erweitern, in Südafrika arbeiten zu können, erbat sich Carlsen von einem Danfoss-Manager ein Empfehlungsschreiben - und er erhielt gleich eine Blanko-Vollmacht in dreifacher Ausfertigung, ausgestellt von Danfoss-Gründer Mads Clausen persönlich. Für Carlsens Vorgehen gab es schon ein Vorbild: 1958 hatte der Amerikaner Lionel Rogosin unter dem Vorwand, harmlose südafrikanische Musiker zu filmen, im Großraum Johannesburg seinen dokumentarischen Spielfilm COME BACK, AFRICA gedreht, unter Einbeziehung dokumentarischer Aufnahmen im Stil des Direct Cinema bzw. Cinéma vérité, und dafür Festivalpreise gewonnen. Im März 1960 erregte das Massaker von Sharpeville internationale Aufmerksamkeit, aber Hintergrundberichte zum System der Apartheid waren nach wie vor dünn gesät.


Carlsen konsultierte drei skandinavische Autoren, die bereits über dieses Thema gearbeitet hatten, und erhielt den Rat, sich mit Nadine Gordimer in Verbindung zu setzen. Die südafrikanische Literatur-Nobelpreisträgerin von 1991 hatte 1958 ihren zweiten Roman "A World of Strangers" veröffentlicht. Sie traf sich mit Carlsen, und sie beschlossen, aus dem Roman ein Drehbuch zu entwickeln. Gemeinsam nahmen sie die nötigen Kürzungen und Änderungen vor - insbesondere der Schluss wurde dramaturgisch zugespitzt (der Roman kommt laut Kindlers Literaturlexikon ohne dramatische und melodramatische Effekte aus). Noch während der Arbeit am Film wurde die Taschenbuchausgabe von Penguin Books verboten, denn diese konnte sich auch das schwarze Massenpublikum leisten, und das machte den ohnehin mißliebigen Roman für das Regime zum gefährlichen Sprengstoff.


Durch eine glückliche Fügung war Carlsen gleich mit zwei Kameramännern nach Südafrika gereist, dem Dänen Henning Kristiansen und dem Schweden Arne Lagercrantz. Ähnlich wie Toby im Film, wurde Carlsen von der südafrikanischen High Society freundlich empfangen - man erhoffte sich eine positive Berichterstattung. Carlsen wurde sogar ins engere Umfeld von Hendrik Verwoerd aufgenommen, dem damaligen Ministerpräsidenten und Architekten der Apartheids-Gesetze. Die beiden Kameramänner ermöglichten Carlsen ein regelrechtes Doppelleben: Während der eine Kameramann mit leerer Kamera so tat, als würde er gesellschaftliche Ereignisse filmen, drehte Carlsen mit dem anderen in Townships, wo er sich nicht einmal aufhalten, geschweige denn filmen durfte. Die belichteten Filmrollen wurden unentwickelt mit Diplomatenpost nach Dänemark geschickt. Das ging lange gut, doch dann wollten die Kameramänner die Qualität ihrer Arbeit kontrollieren, und es wurde eine Filmrolle an ein südafrikanisches Kopierwerk geschickt. Zwar ohne Ton, aber die Südafrikaner bekamen trotzdem Wind vom politischen Inhalt des Films - vielleicht durch einen Lippenleser. Jedenfalls war jetzt die Geheimpolizei auf der Spur der Filmemacher, und es gab eine diplomatische Anfrage im zuständigen dänischen Konsulat. Nur mit Mühe konnte der Film fertiggestellt und die letzten Filmrollen außer Landes geschafft werden. Wie Zakes Mokae viel später gegenüber Carlsen feststellte, hätte sogar die Gefahr bestanden, dass das Regime das komplette Filmteam verschwinden lässt. Als dann der Film Premiere hatte, kam es zu einer regelrechten diplomatischen Krise zwischen Südafrika und Dänemark. Bald danach bildeten sich in Kopenhagen, Stockholm und Oslo Anti-Apartheid-Komitees, und Dänemark, Schweden und Norwegen gehörten in den folgenden Jahren zu den Ländern, die am intensivsten gegen die Apartheid kämpften.


DILEMMA hat durchaus seine Fehler. Das Budget war minimal, Carlsen hatte keine Erfahrung mit Schaupielerführung, und die Darsteller, überwiegend Amateure, sind gelegentlich etwas hölzern. Manches wirkt plakativ, auf den politischen Zweck abgestellt. So wird etwa Annas indischer Ex-Mann nur eingeführt, damit Anna später Toby etwas über die sozialen und psychologischen Probleme von gemischtrassigen Ehen in Südafrika erzählen kann. Ereignisse der jüngeren südafrikanischen Zeitgeschichte - etwa die Enteignungen und Zwangsumsiedlungen von Schwarzen aus den Townships Alexandra und Sophiatown ins weiter vom Zentrum Johannesburgs entfernte Soweto - werden dramaturgisch etwas holprig in die Handlung integriert. Wie schon erwähnt, wird der alltägliche Rassismus in unterschiedlichen Abstufungen vorgestellt. Manchmal frontal: Etwa, wenn ohne weiteren Kommentar (der auch nicht nötig ist) eine Parkbank gezeigt wird, auf der "Nur für Weiße" steht - hier setzt Carlsen eine der Erfahrungen, die ihm 1958 einen Schock versetzten, eins zu eins ins Bild um. Tobys Sekretärin ist konsterniert über seinen freundschaftlichen Umgang mit Steven; als sie Steven Kaffee und Sandwiches servieren soll, reagiert sie patzig, und als sich Toby davon nicht beeindrucken lässt, kündigt sie. Ähnlich Tobys Vermieterin: Sie duldet keine "Kaffern" in ihrem Haus, und sie droht mit der Polizei, als Toby sie selbst und nicht Steven und Sam aus seiner Wohnung wirft. Aber es geht auch subtiler. Auf einer Party von Annas liberalen Freunden bittet eine junge Weiße Steven um eine Zigarette. Der hat nur noch eine, und er steckt sie sich, durch ein Gespräch abgelenkt, selbst in den Mund und zündet sie an, um sie dann doch der Frau anzubieten. Doch die zögert - sie zögert sehr lange, bis sie die Zigarette schließlich annimmt, und die Kamera hält währenddessen auf ihr Gesicht und zeigt ihre vielsagenden Blicke, die Unsicherheit ausdrücken. Solche Szenen waren es, die manche Rezensenten an John Cassavetes erinnerten.


Die kleinen Schwächen verblassen vor dem dokumentarischen und zeitgeschichtlichen Wert des Films. Immer wieder eingeschnittene Straßenszenen aus Johannesburg und den Townships, Aufnahmen aus verrauchten Kaschemmen, in die Toby - quasi als Kundschafter des Zuschauers (Gordimers Roman ist aus Tobys Ich-Perspektive geschrieben) - mit Steven vordringt, zeigen eine dynamisch pulsierende, urbane Metropole. Und das Wesen der Apartheid wird so deutlich enthüllt wie in keinem europäischen Film zuvor (von Hollywood ganz zu schweigen). (Diese Qualitäten - Stärken im Dokumentarischen und gewisse Schwächen in der Spielhandlung - wurden übrigens auch Rogosins COME BACK, AFRICA zugeschrieben.)


DILEMMA verfügt noch über eine andere Stärke, nämlich den Soundtrack. Dieser stammt zum überwiegenden Teil von Gideon Nxumalo, dem Darsteller von Sam (das "Nx" im Namen ist übrigens ein Schnalzlaut). Er spielte nicht nur einen Komponisten und Musiker, er war tatsächlich einer. Und zwar, bis zu seinem frühen Tod 1970, einer der vielseitigsten in Südafrika. Von europäischer Klassik über verschiedene Jazzrichtungen bis zu traditionellen einheimischen Musikstilen war er auf einem weiten Feld bewandert, aber sein Schwerpunkt lag im Jazz. Ein bekannter Radio-DJ war er auch. Seine Vielseitigkeit bewies Nxumalo auch in DILEMMA. Einerseits gibt es mehrere Szenen, in denen eine Band mit Sängern und Sängerinnen einen "Marabi" genannten eingängigen Jazz mit einem Einschlag von Rhythm and Blues spielt. Andererseits werden einige der Szenen in der schönen, strahlend hellen Wohngegend der weißen Oberschicht mit bewusst süßlicher Klaviermusik unterlegt und so ironisch kommentiert. An einigen markanten Stellen des Films stammt die Musik nicht von Nxumalo, sondern aus "We Insist! Freedom Now Suite", einem wegweisenden Konzeptalbum, das der Schlagzeuger Max Roach mit einer Handvoll Musiker 1960 in New York aufnahm. Die Sängerin und Gelegenheitsschauspielerin Abbey Lincoln, die später auch mit Roach verheiratet war, übernahm den Gesang. Formaler Höhepunkt von DILEMMA ist eine grandiose Montage, die eine Gewalttat mit der Geburt von Sams Kind verknüpft, und über die Lincolns expressiver Vocalpart aus dem Stück "Triptych" gelegt ist. Allein dieser Geniestreich macht schon sämtliche Schwächen des Films wett.


Zakes Mokae begann seine Laufbahn in den 50er Jahren in einer Theatertruppe, die er mit dem weißen südafrikanischen Schriftsteller Athol Fugard gegründet hatte. Nach DILEMMA fühlte er sich in Südafrika nicht mehr sicher, er verließ fluchtartig das Land und ging zunächst nach England, 1969 dann in die USA. Dort war er ein vielbeschäftiger Schauspieler, vor allem am Theater. 1982 gewann er für eine Rolle in einem Stück von Fugard einen "Tony", den Broadway-Oscar. Evelyn Frank war keinen direkten Schikanen ausgesetzt, aber das allgemeine Klima der Repression veranlasste auch sie 1965, mit ihrer Familie in die USA zu emigrieren. 1996 trafen sich Carlsen, Mokae, Evelyn Frank und Nadine Gordimer in Johannesburg wieder, was von dem dänischen Regisseur Anders Høgsbro Østergaard in der 53-minütigen Doku GENSYN MED JOHANNESBURG (JOHANNESBURG REVISITED) festgehalten wurde.


DILEMMA lief 1962 auf der Internationalen Filmwoche Mannheim und gewann dort drei Preise, darunter den Hauptpreis für den besten Spielfilm. Henning Carlsen stieg im Verlauf der 60er Jahre in die Oberliga der dänischen Regisseure auf, insbesondere durch die grandiose Hamsun-Verfilmung HUNGER (1966). Carlsens Website liegt zum größten Teil auch auf Englisch vor. Dort kann man auch seine Spielfilme auf DVD bestellen (jedoch nicht alle mit Untertiteln). Die DVD von DILEMMA bietet GENSYN MED JOHANNESBURG sowie ein 25-minütiges Video-Statement von Carlsen, in dem er die Entstehung von DILEMMA rekapituliert, als Bonus; die dänischen Teile des Bonusmaterials haben engl. Untertitel. UPDATE: Nach Carlsens Tod im Jahr 2014 ist die Website nicht mehr online.

Trailer:

Sonntag, 18. Juli 2010

Über den gezielten Einsatz des Oberflächlichen


Videocracy
(Videocracy, Schweden/Dänemark/Grossbritannien/Finnland 2009)
Regie: Erik Gandini

Italiens Langzeit-Ministerpräsident Silvio Berlusconi wird von vielen Filmemachern seines Landes als ihr persönlicher Feind wahrgenommen, als ein Diktator, der ihnen vorzuschreiben versucht, mit welchen Illusionen sie ihr Publikum von der Wirklichkeit abzulenken haben Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie ihn immer wieder angreifen und seine Machtmechanismen aufzudecken versuchen.  Nach Nanni Morettis “Il Caimano” (2006) sorgte vor allem der Dokumentarfilm “Videocracy” des Italo-Schweden Erik Gandini, der sich gleich der “unheiligen” Verbindung zwischen dem italienischen Fernsehen und der Regierung annimmt, für Aufsehen, scheint er doch ins Herz jenes eigenartigen Systems vorzudringen, das von den Italienern verführend Besitz ergriff und dem sie sich nur allzu willig auslieferten. Gelegentlich wurde Gandinis Darstellung eines Medienfaschismus “made in Italy” Oberflächlichkeit vorgeworfen, weil sie aus einzelnen Figuren Repräsentanten für eine These mache, unzulässig verallgemeinere. Mir stellte sich nach der Sichtung eher die Frage: Wie soll der Zuschauer auf einen Film reagieren, der ihn auf unangenehme Weise daran erinnert, dass die angeschnittenen Themen wohl nicht nur für Italien - wenn dort auch besonders ausgeprägt - gültig sind?

Es begann vor rund dreissig Jahren, als der erste kommerzielle Lokalsender des Landes (im Besitz von Berlusconi) auf die Idee kam, eine Late-Night-Quiz-Show mit Strip-Einlagen für die Unterschicht attraktiver zu gestalten: Wann immer eine Frage richtig beantwortet wurde, entschloss sich eine durchschnittliche Hausfrau im billig zusammengeschusterten Studio, sich eines Kleidungsstücks zu entledigen. Dies war die Geburtsstunde des Präsidentenfernsehens, der Beginn einer “kulturellen” Revolution. Denn heute bevölkern auf nahezu allen Sendern zur Prime Time halbnackte Frauen seichte Shows, locken die Massen vor die Fernsehgeräte und gaukeln ihnen eine stets sonnige Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen vor. - Und die Zuschauer träumen davon, eines Tages selber im Fernsehen, das zu ihrer Realität geworden ist, auftreten zu dürfen. Sie sind sowohl Opfer als auch Teilnehmer in diesem riesigen Imperium, über das Silvio Berlusconi, gleichzeitig Ministerpräsident und Medienmogul (ihm gehören die drei grössten Privatsender, und er hat das Sagen über das staatliche Fernsehen), waltet.


Da ist zum Beispiel Ricky, Mitte zwanzig und noch bei Mutti wohnend. Er ist von Beruf Mechaniker, möchte jedoch als eine Mischung aus Jean-Claude van Damme und Ricky Martin (kurzlebigen) Ruhm erlangen. Er nimmt als kickboxender Sänger an Talent Castings teil, sitzt in den Shows in den vordersten Reihen - und weiss genau, was seiner Karriere im Weg steht: Die wunderschönen vollbusigen Mädchen, die die Blicke der Zuschauer auf sich ziehen und nur dürftig bekleidet als “veline” vom meist in die Jahre gekommenen, widerlich grinsenden Moderator ablenken. - Sie sind es, nach denen Berlusconis Unterhaltungsmaschinerie sucht, und ihnen kommt eine verantwortungsvolle Aufgabe zu: zu lächeln, nichts zu sagen und gut auszusehen. Sie dürfen sich überdies mit einem “eigenen” 30 Sekunden dauernden Tanz (einem Stacchetto) Aufmerksamkeit verschaffen. Und ein solcher Job kann durchaus Folgen haben: Berlusconi ernannte eine frühere “velina” zur Ministerin für Gleichberechtigung. Ist es da nicht verständlich, dass viele junge Frauen alles dafür täten, um eine “velina” zu werden?


Lele Mora ist einer jener einflussreichen Agenten, durch dessen Bett  die Karrieren vieler weiblicher und vermutlich die der meisten männlichen Fernseh-Berühmtheiten geführt haben dürften. Er brüstet sich damit, seine Villa an der Costa Smeralda in Sardinien, wo sich die “Glanzvollen” tummeln, vollkommen in Weiss eingerichtet zu haben; und er erweckt den Eindruck eines kleinen selbstgefälligen Jungen, wenn er einem der muskulösen Männer, die  um seinen Pool herumlungern, einen Klaps gibt oder stolz darauf hinweist, ein persönlicher Freund Berlusconis und ein Bewunderer von Mussolini zu sein (Berlusconi ist für ihn ein Mann, der zwar nicht ganz an die “Methoden” des Duce anzuknüpfen vermag, aber dennoch als grosser “Führer” gelten darf).

Mora weist auch auf die Parties hin, die im Milliardärsclub an der Costa Smeralda Nacht für Nacht geschmissen werden und die eher den Eindruck von Orgien erwecken. Geile alte Böcke starren auf tanzende Mädchen, von denen sich jedes einen Job als Wetterfee für zwei Wochen in einem Sender von Berlusconi erhofft. - Auf diesen Parties trifft man die Fotografin Morella, die zwar mit Leuten wie Mora nichts zu tun haben will, als Nachbarin von Berlusconi den Ministerpräsidenten aber für authentisch, weil natürlich, hält (er ist ein Mann, der Spass haben will und ihn sich eben “kaufen“ kann). Sie bietet die Bilder, die sie von den Prominenten an den Parties macht, im Internet zum Kauf an. Diese Bilder zeigen italienische Promis, deren lachende Mäuler über mindestens 64 Zähne zu verfügen scheinen - und plötzlich sieht man auch Zähne, die nicht zu einem Italiener gehören, sondern zu Tony Blair. - Spätestens in dem Moment fragt sich der Zuschauer: Haben wir es überhaupt mit einem rein italienischen Phänomen zu tun?  Trifft sich hier nicht alles, was sich für die “Elite” der Welt hält? Und  erhält man vielleicht nur Einblick in eine der vielen Vergnügungsveranstaltungen jener “Supermenschen”, die über wahrhafte Macht verfügen? -  Man mag vielleicht den Pauschalisierungen eines Filmemachers auf den Leim gegangen sein; aber es  könnte  hinter den Kulissen einer scheinbar braven Bambi-Verleihung  ähnlich zugehen wie auf den Parties an der Costa Smeralda. Und womöglich zeigen uns unsere Illustrierten  auch nur das, was Berlusconis Illustrierten den Italienern zeigen.


Sogar die scheinbare Opposition, die Berlusconi in Form der Paparazzi erwächst, unterliegt dem System. Die Leute von  Fabrizio Corona sorgen zwar für Schnappschüsse von Prominenten in misslichen Situationen, verkaufen diese jedoch anschliessend wiederum den Opfern oder dem Ministerpräsidenten, der sie nach Lust und Laune in den Zeitungen, die er kontrolliert, veröffentlicht.  Corona selber, der “Chef” der Paparazzi, ein eitler Macho, der dem Zuschauer  minutenlang vorführt, wie er sich zwischen den Beinen eincremt, will auch nur eines: möglichst oft im Fernsehen auftreten. Selbst seine Entlassung aus dem Gefängnis (man hatte ihn wegen Erpressung zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt) inszeniert er vor den Reportern als Ereignis, das unweigerlich zu einer Einladung in eine Talk Show führen muss.  Er selber betrachtet sich als modernen Robin Hood, der das Geld von den Reichen nimmt und  für sich behält. - Was er dabei akzeptiert: dass er es von Berlusconi nimmt, der es versteht, auch seine Gegenspieler zu integrieren.

Wie intensiv der Ministerpräsident das Fernsehen für den Ausbau seines "Vierten Reiches" benutzt, zeigt etwa eine Hymne auf ihn, die im Hinblick auf seine Wahl mit Untertiteln zum Mitsingen ständig ausgestrahlt wird. Will er eine politische Ansprache auf einem Sender halten, muss die Show auf einem anderen Sender entsprechend früher beendet werden. Alles um ihn herum ist Werbung, Effekthascherei und Ablenkung.   Die Macht bestimmt, was gezeigt werden darf und was nicht. Es versteht sich von selber, dass im italienischen Fernsehen für “Videocracy” nicht geworben werden durfte. - Man fühlt sich an dunkelste Zeiten erinnert.

Und dennoch: Möchte man die in “Videocracy” angeschnittenen Themen, nicht augenblicklich  auch auf die USA übertragen? Hatten wir zu Beginn des Privatfernsehens (Leo Kirchs Sat.1, RTL, das mit Hugo Egon Balders Nackedei-Show “Tutti Frutti“ konterte) nicht Ähnliches zu befürchten? Und können wir uns so sicher sein, dass wir von einem von den “Mächtigen” gelenkten  Fernsehen nicht auch bis zu einem gewissen Grad am Gängelband geführt werden, bloss naiverweise an die gelobte Pressefreiheit glauben? - Dies waren in etwa die früher gekonnt verdrängten Fragen, die mich während der Sichtung des teilweise tatsächlich pauschalisierenden und polemischen Films, dem eine Prise beissende Satire gut getan hätte, beschäftigten; und sie sorgten dafür, dass mir stellenweise beinahe übel wurde, als ich Einblick in den gezielten Einsatz der wackelnden Brüste und Ärsche, der primitiven Unterhaltung, schlicht des Oberflächlichen erhielt. Ich möchte mir “Videocracy” nicht noch einmal ansehen, bin jedoch froh, mich ihm ausgesetzt zu haben, als ihn der ORF, was ich dem Sender hoch anrechne, ausstrahlte.

Die DVD ist ab September in Deutschland erhältlich. Man sollte sich “Videocracy” - im wahrsten Sinne des Wortes - antun!