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Mittwoch, 12. März 2014

Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk: MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN („Jagd auf einen Unsichtbaren“)
USA / Frankreich 1992
Regie: John Carpenter
Darsteller: Chevy Chase (Nick Halloway), Daryl Hannah (Alice Monroe), Sam Neill (David Jenkins), Michael McKean (George Talbot), Stephen Tobolowsky (Warren Singleton), Gregory Paul Martin (Richard)


Ein post-alkoholisches Intoxikations-Syndrom ist am einfachsten zu Hause, sitzend oder liegend durchzustehen. Aber wo wäre da die Herausforderung? Nick Halloway jedenfalls sitzt den größten Kater, den er jemals hatte, früh morgens in einer wissenschaftlichen Physik-Tagung (zu deren primären Zielgruppe er nicht gehört) aus. Den Sekundenschlaf will er in der Sauna eines Verwaltungsbüros auskurieren – nur für ein paar Minuten. Als er später aufwacht, ist der größte Teil des Gebäudes um ihn herum verschwunden und er selbst unsichtbar geworden. Aus dem langweiligen Finanzanalysten ist der unsichtbare Mann geworden, der vor dem skrupellosen CIA-Agenten David Jenkins fliehen, nebenbei mit dem Leben als Unsichtbarer klar kommen und zugleich irgendwie die schöne Alice (wegen der er sich ursprünglich betrunken hatte) zurück erobern muss...

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN war sowohl beim Publikum wie auch bei den meisten Kritikern ein fulminanter Flop. Nicht einmal die Hälfte seines Budgets von 40 Millionen Dollar spielte er wieder ein. Stattdessen kassierte er saftige Verrisse. Die Zusammenführung von Exploitation-Meister John Carpenter und Klamauk-Komiker Chevy Chase in ein und demselben Film erschien vielen unpassend.

Memoirs of an Invisible Man isn't a movie. It's an identity crisis. The previews would have you believe it's a zany comedy. But the jokes are too far and few between. And if it's a comedy, why is John Carpenter directing it? This is the man who did Halloween... if Memoirs wants to get serious, why is Chevy Chase in the lead?“

war im Washington Post zu lesen. Das drückt ein ernsthaftes Erwartungsproblem aus: weder Carpenter- noch Chase-Fans bekamen, was sie sich erhofft hatten – und die meisten anderen waren überall dazwischen, außer im grünen Bereich. So sagte ein US-Kritiker, Carpenter sei offensichtlich von Aliens entführt und durch eine seelenlose Imitation seiner selbst ersetzt worden, die den Film gedreht habe. MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN wurde als Mediokrität, als Genre-Mix ohne Kohäsion, als selbstzweckhaftes Spezialeffekt-Spektakel ohne richtiges Drehbuch und Charaktere, als kommerzieller Ausverkauf geschimpft. Auch in Deutschland kam der Film größtenteils nicht viel besser weg. Aber Carpenter hat einmal über sich selbst gesagt: „In France, I'm an auteur; in Germany, a filmmaker; in Britain; a genre film director; and, in the USA, a bum.“ So wurde sein Film dann auch in den Cahiers du cinéma gelobt:

„Der Film wäre nichts ohne Carpenters Stil, der in meinen Augen unnachahmbar und blendend ist: eine Figur durchquert die Straße in einer Totalen, der unsichtbare Mann wird im Regen lichtdurchlässig, oder die langen Verfolgungsjagden in den verlassenen Straßen San Franciscos. So viele Einstellungen, die aus Carpenter einen der letzten großen Stilisten Hollywoods machen, im besten Sinne des Wortes. Er nimmt das Kino ernst, ohne jemals das Bewusstsein darüber zu verlieren, was für ein leichtgewichtiges Thema er hier behandelt. Das reicht, um Memoirs Of An Invisible Man zu einem der verspieltesten, anregendsten und intelligentesten Filme zu machen, die uns das amerikanische Kino in letzter Zeit hat sehen lassen.“

Das schrieb Nicolas Saada (später selber Filmemacher) im Leitmedium der französischen Filmkritik. Recht hat er: MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist einer der sträflich unterschätztesten Filme Carpenters, und meiner Meinung nach auch einer seiner besten. Es besteht (für mich) kein Zweifel: Dieser Film wurde von einem Meisterregisseur im vollsten Besitz seiner Kräfte und Könnerschaft realisiert – auch wenn dieser sich selbst von dieser faktischen Auftragsarbeit (ursprünglich sollte Ivan Reitman Regie führen) distanziert hat, als er ihr den üblichen Zusatz „John Carpenter‘s“ vor dem Titel verweigerte.

Mit einem Mix aus erstaunlicher Erzählökonomie und ausdrucksstarken Bildern arbeitet MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN sein rasantes Drehbuch ab. Keine Schnörkel, nichts Überflüssiges. Ein perfekter Aufbau, makellos durchgeführt. Vom ersten Bild (ein atemberaubender langsamer Kamera-Schwenk über die Skyline San Franciscos) bis zu den End-Credits. Der vielschichtige Umgang mit dem Protagonisten, also mit dem unsichtbaren Mann, ist wohl der größte Genie-Streich des Films: Carpenter macht das Unsichtbare sichtbar. Gerade das wird immer wieder bemängelt, weil das angeblich vor allen Dingen Ausdruck davon sei, dass man den Star des Films immer zeigen „müsse“. Man sähe halt Chevy Chase zu oft. Das kann sicherlich gut sein, und ganz bestimmt standen dahinter auch ganz pragmatische Budget-Überlegungen zur Einsparung von Spezialeffekten (MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN war mit 40 Mio. Dollar damals im gehobenen Budget-Mittelsektor – inflationsbereinigt wäre er heute sogar im hinteren Mittelfeld).

Das Zeigen oder Nichtzeigen des Protagonisten – und die vielen Zwischenstufen: partielles Zeigen oder Verfolgung der Kamera im „leeren“ Raum oder Zeigen von Nicks Einwirkungen oder Einnahme von Nicks point-of-view (letzteres auffällig verschwommen und weichgezeichnet – damit quasi als Traum codiert): damit spielt Carpenter sehr bewusst. Geschickt jongliert er mit dem Wissensvorsprung der Zuschauer, und den Wissenslücken der (sichtbaren) Film-Figuren. So erzeugt er in einer klassischen Hitchcock‘schen Weise Spannung, die sich des öfteren humorvoll entlädt. Darin ähnelt MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN dem vier Jahre zuvor entstandenen THEY LIVE, steht jedoch im Gegensatz zu noch früheren Filmen wie ASSAULT ON PRECINCT 13 oder HALLOWEEN, wo die meiste Zeit Wissensgleichheit zwischen Figuren und Zuschauer herrschte. Das Spiel mit dem Sichtbaren und dem Sichtbarmachen durchzieht den kompletten Film und fordert dabei den Zuschauer stets dazu auf, sich die Illusion der Unsichtbarkeit mitzudenken – MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN mag möglicherweise ein ziemlich dummer Film sein, aber zu keinem Moment hält er die Zuschauer für dumm.

Vielleicht demonstriert dies am deutlichsten die kleine und unscheinbare Szene mit dem Lieferanten: ein junger Mann bringt Lebensmittel vorbei, stellt diese auf den Küchentisch ab, wo er eine Abwesenheitsnotiz findet und daraufhin fängt er an, sich im Haus nach Wertgegenständen umzuschauen. Ist Nick abwesend? Wir wissen es zunächst nicht. Bis ein Kameraschwenk uns verrät, dass er da ist, den Lieferanten skeptisch beobachtet und ihm schließlich folgt. Als der Mann weiterhin in Wertgegenständen wühlt, flüstert ihm Nick von der Seite etwas zu, worauf dieser panisch flieht. Eine sehr schlichte und einfach, aber dennoch sehr effizient gefilmte Szene: ein eigener Act mit dramatischem Spannungsaufbau (der Lieferant weiß nicht, dass Nick da ist, aber wir) und eine kleine Szene, die in nicht einmal zwei Minuten sehr viel über die informellen, aber sehr mächtigen Kontrollfähigkeiten des unsichtbaren Nick.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist zwar ein Multi-Genre-Film, leidet jedoch nicht eine Sekunde lang an Dissonanzen, wie sie zum Beispiel im oben genannten Zitat aus dem Washington Post erwähnt wurden: die Tonalitäten der verschiedenen Genres gehen flüssig ineinander über.

Natürlich ist MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN zunächst ein Science-Fiction-Film. Als solcher wurde er auch vielfach aufgrund seiner vermeintlichen Logiklöcher kritisiert: in einem Beitrag fragte jemand danach, warum man denn eigentlich den Dreck, der sich unter Nicks Fingernägeln sammelt, nicht sähe. Wie kleinlich. Natürlich sieht man den Mageninhalt Nicks, als er zum ersten Mal nach dem „Unfall“ isst (was zur vielleicht witzigsten Kotz-Szene der Filmgeschichte führt) – und später nicht mehr. Aber die Form folgt hier tatsächlich der Funktion: es geht in dieser ersten Szene darum, das Unbehagen eines Mannes mit seinem „neuen Körper“ darzustellen. Später hat er sich gewöhnt. Dogmatische Glaubwürdigkeitsfragen stünden hier nur der innerlich logischen Weiterentwicklung des Films im Wege.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN auch ein Neo-Noir, und zu Beginn eine direkte Hommage an DOUBLE INDEMNITY: jeweils ein körperlich angeschlagener Mann zeichnet in einer Art Geständnis seine kürzlichen Erlebnisse auf. Und hinter dieser Aufzeichnung steht ein zunehmend desillusionierter Mann, der aus dem Off verbittert, fast zynisch seine eigenen Handlungen kommentiert. Inwiefern allerdings Alice als „femme fatale“ zu bezeichnen ist, sei dahingestellt (ich denke, eher nicht). Allerdings ist sie auch keine archetypische „Hawks‘ianische Frau“.

Vielmehr ist sie tatsächlich das Objekt einer Romanze, einer tragikomischen Liebesgeschichte, die den Film ebenso vorantreibt wie das Problem der physischen Unsichtbarkeit. Es ist eine Liebe auf den ersten Blick, die sich in eine Liebe des unmöglichen Blicks verwandelt: Nick kann Alice in die Augen schauen, aber nicht umgekehrt – zumindest nicht ohne Hilfsmittel. Die trotz aller Verrisse vielgelobte „Regen-Szene“ ist daher nicht nur ein toller und geradezu poetischer Special-Effect. Der Regen führt auch dazu, dass Alice dem unsichtbaren Mann erstmals richtig in die Augen schauen kann. Vielleicht ist das auch ein Wendepunkt in der Entwicklung der Nick-Figur.

Genauso wie dem Film vorgeworfen wurde, ein Science-Fiction-Film zu sein, wurde ihm auch vorgeworfen, eine Komödie zu sein und trotzdem von John Carpenter inszeniert worden zu sein. Ein hanebüchener Vorwurf: sind doch all seine Filme von Humor durchzogen (zugegeben der schwarzen und teils sehr brutalen Art) und war doch DARK STAR eine Art „gebrochene“ Slapstick-Komödie im Weltall. In MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN manifestiert sich der Slapstick in Form der schwierigen körperlichen und akrobatischen Herausforderungen, die das Leben als Unsichtbarer mit sich bringt. Herausforderungen wie zum Beispiel nachts ein Taxi zu bestellen (nämlich mit einem betrunkenen Mann als Hilfsmittel).

Freilich beherrscht Carpenter nicht nur Slapstick. Die Episode in Georges Haus lässt sich assoziativ als eine Art „gebrochene“ Woody-Allen-Komödie sehen: gutbürgerlich-neureiche Mittelschicht lässt sich bei einem Glas Wein über allgemeine und persönliche Befindlichkeiten aus, und diskutiert dabei über das Schicksal einer abwesenden Person, führt einen Diskurs über sie, na ja: lästert hauptsächlich über sie und verrät damit die allgemeine Flüchtigkeit der zwischenmenschlichen Bindungen, die Nick bis zum Unsichtbarsein pflegte – nur ist eben die diskutierte Person nur scheinbar abwesend.

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist nicht zuletzt auch eine milde Yuppie-Satire. Als Finanzanalyst ist Nick Halloway eigentlich ein eher unwahrscheinlicher Held für einen Film des dezidiert linken Alt-68er-Regisseurs Carpenter. In THEY LIVE (übrigens ein weiterer sträflich unterschätzter Film des Meisters) wäre er wahrscheinlich einer der kapitalistischen Aliens in Nadelstreifen-Tarnanzug gewesen. Zu Beginn hat Nick einen hervorragend bezahlten Job, eine schicke Wohnung, einen leichten und oberflächlichen Lebensstil. Er besucht regelmäßig einen Gentleman-Club für Neureiche, die sich ihres sozialen Status selbst vergewissern wollen (und wo der Barkeeper wohl Billig-Wodka in teuere Flaschen umfüllt). Viel Schein und wenig Sein. Im Rest des Films dreht sich diese Situation allmählich um. Nick hat seinen ganzen Schein verloren – wortwörtlich. Und findet sein Sein. Aber nicht sofort, denn das wäre ja zu einfach. Nach dem „Unfall“, in einer Situation existientieller Bedrohung, flieht er zunächst an bekannte Orte und denkt weiterhin den Kategorien, die er kennt. Daher kommt auch seine Absicht, sozial zurückgezogen ein Leben als millionenschwerer Börsenspekulant aufzubauen (so endet offenbar auch die gleichnamige Romanvorlage H. F. Saints aus dem Jahr 1988). In Georges Haus, und als er merkt, was Alice ihm bedeutet, denkt er schließlich doch um, und wandelt sich. Wird zum Menschen – auch „ohne“ Körper, ohne Schein. Aus dem Finanzanalysten Nick ist im Verlauf des Films ein Mensch geworden, der am Ende den 68er-Traum des „Aussteigers“ lebt (freilich in den Schweizer Alpen und nicht auf der „üblichen“ einsamen Insel). MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN glaubt an die Veränderlichkeit des Menschen, oder zumindest mancher Menschen, und ist damit die mildere „humanistische“ B-Seite des „zynischen“ THEY LIVE, wo die Kategorie (Un-)Sichtbarkeit bereits eine wichtige Rolle spielte.

Jetzt sind wir eigentlich schon bei der Frage, inwiefern der Film mehr als nur eine Sci-Fi-meets-Agenten-Gaudi ist. Abwegige Deutungsangebote gefällig? Wie wäre es damit: ein Film über prekäre Männlichkeit! Immer wieder entspinnt MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN fantastische Bedrohungsszenarien um die Hoden der männlichen Protagonisten. Verliert Nick mit seiner Sichtbarkeit auch seine Männlichkeit? Eine seiner ersten und dringendsten Ängste (er äußert sie, als er am „Unfallort“ in Ohnmacht fällt und kurze Zeit später abtransportiert wird) besteht jedenfalls darin, dass seine Eier bald in einer Petrischale landen könnten (O-Ton). Wem das nicht deutlich genug ist, sieht diese Angst in Nicks Traum manifestiert: sein Ruhmes-Traum (er ist sichtbar und ein allgemein beliebter Musik- und Sportstar) verwandelt sich in ein Alptraum, als Nick sich vor Alice auszieht und dabei offenbart, dass sein Geschlecht (noch?) unsichtbar ist. Jenkins (der am Ende dieses Traums auch plötzlich auftaucht) denkt ebenfalls in Hoden-Kategorien und bedroht seinen formellen Vorgesetzten Warren Singleton damit, dessen Testikeln in das Mittagessen seines bevorzugten Schlägers Morrissey zu verwandeln. Jedenfalls hat Nick, nachdem er seine Identität als oberflächlicher Yuppie abgelegt hat, schließlich seine Männlichkeit wieder gefunden und ein Kind gezeugt (der vielgescholtene Epilog erscheint so durchaus konsistent mit dem vorangegangenen).

Ohne MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN all zu sehr in ein Korsett der Aktualität pressen zu wollen: er ist sicherlich auch ein Film über die Möglichkeiten und Gefahren staatlicher Überwachung. Schließlich zeigt er die Konfrontation zwischen einem Agenten, der alles komplett unter Kontrolle und Überwachung halten möchte (es aber nicht kann und deshalb regelmäßig zu tödlicher Gewalt greift), und einem Unsichtbaren, der kraft seines physischen Zustands manchmal freiwillig, die meiste Zeit aber unfreiwillig zum Überwacher wird (und dem wir dann bei diesem Überwachen auch zusehen können, dürfen und müssen). Ein Film der überkreuzten Überwachungen, sowohl auf staatlicher wie auf privater Ebene. In letzterer verwandelt sich die besondere Beobachtungsgabe in Voyeurismus, und in diesem Bereich ist Nick dann auch durchaus überwachungsfreudiger: als er sich in Alices Zimmer befand und sie sich auszog, habe er sich bestimmt die Hände vor die Augen gehalten, versichert ihr Nick...

Howard Hawks abgöttisch zu lieben hindert nicht daran, Alfred Hitchcock ausgiebig zu huldigen und bei Carpenter sind das stets zwei Ergänzungsoptionen, und keine Gegensätze. MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist nicht nur ein sträflich unterschätzter Film, sondern auch eine vergessene Perle unter den vielen Hitchcock-Hommagen-Film dieser Welt. Er wurde schon als Carpenters persönlicher NORTH BY NORTHWEST bezeichnet, mit Chevy Chase als Cary Grant, Daryl Hannah als Eva Marie Saint und Sam Neill als James Mason. Die Darsteller-Analogien passen vielleicht weniger gut als die Ähnlichkeiten in Erzählform und Geschichte: Carpenters Film ist ebenso eine furiose Hetz-Jagd nach einem (hier: wörtlich) unsichtbaren Mann. Wie in einem guten Hitchcock ist die Hauptfigur kein Held, sondern ein „gewöhnlicher“ Mann, der in widrige Umstände gerät und von Kräften verfolgt wird, die er nicht kontrollieren kann. Wie oft bei Hitchcock gibt auch in MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN einen (sexuell aufgeladenen) Voyeurismus. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in seinem unterschätztesten Film Carpenter eine Einstellung aus einem oft vergessenen, weil angeblich so „untypischen“ Hitchcock-Film, namentlich THE WRONG MAN, nachgestellt hat: das Gesicht einer unschuldigen Person verliert sich im Gesicht eines Verbrechers. Bei Hitchcock ist es ein Szenen-Übergang, bei Carpenter eine reflektierende Zugabteil-Scheibe. (Die Einstellung muss nicht nur als Spielerei abgetan werden: verschmelzen doch die Gesichter zweier Personen, die auf sehr dringliche, freilich aber verschiedene Weise Nick begehren)


Bei allen Meriten, die MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN sowieso hat, sollte man nicht vergessen, dass er auch ein hervorragender Schauspieler-Film ist. Den Unkenrufen zum Trotz: Chevy Chase passt perfekt in der Rolle als unsichtbarer Mann und die Chemie mit Daryl Hannah hat zumindest mich überzeugt. Die Unsicherheit, die Hannah teilweise ausstrahlt, kann man natürlich als Schwäche kritisieren, oder aber als glaubwürdige Erdung der Alice-Figur sehen (die eben keine unnahbare „Hitchcock-Blondine" ist, sondern eine Frau mit beiden Füßen auf dem Boden). Sam Neill, damals noch relativ unbekannt – JURASSIC PARK kam ein Jahr später raus –, spielt einen herrlich schmierigen Bösewicht, dem man seine Charme-Offensiven fast glauben möchte: dieses „fast“, das immer durch seine unangenehme und bedrohliche Erscheinung zerstört wird, kriegt er wunderbar hin! Seit jeher komme ich persönlich auch nicht darum herum, Michael McKean in der Rolle George Talbots herrlich komisch zu finden. Nur durch seine Äußerlichkeit: seine entfernte Ähnlichkeit mit einem gewissen langjährigen Premierminister Großbritanniens ist faszinierend.

Vier Facetten des Gregory Paul Martin
Das schauspielerische Sahnehäubchen des ganzen Films bildet jedoch der charismatische Gregory Paul Martin in seiner Rolle als Richard. Diese Figur wird vom Talbot-Ehepaar zusammen mit Alice zu einem Kurz-Urlaub in Georges Wochenendhaus eingeladen – offenbar ist der Hintergedanke dabei, dass Richard eine potentiell gute Partie für Alice sein könnte. Der Aufschneider, der große Töne schwingt, sich gerne in den Mittelpunkt stellt und für absolut toll hält, denkt das wohl auch. Aber daraus wird nichts. Denn schnell wird deutlich, dass sich hinter der Fassade eine gebrochene und fast lächerliche Figur verbirgt. Ein Style-Proll als Yuppie bzw. Yuppie als Style-Proll, dem Carpenter in THEY LIVE wahrscheinlich gnadenlos Nada auf den Hals gehetzt hätte, hier aber letztendlich doch irgendwie sympathisch ist (wenn auch nicht aus den Gründen, die Richard selbst denkt). Es ist eine ziemlich undankbare Rolle, die der Brite Gregory Paul Martin mit großer Bravour und einer „powerful commanding voice“ (O-Ton imdb: sehr treffend!) spielt. Im richtigen Leben scheint Martin ebenfalls ein Original zu sein. Er ist der Sohn des Musik-Produzenten und von manchen Leuten als „fünfter Beatle“ bezeichnete George Martin und ist von Haus aus Theaterschauspieler. Er besuchte Klassen zusammen mit Alan Rickman und stand auf der Bühne neben Daniel Day-Lewis und Ian McKellen. Zu sehen war er auch vor allen Dingen in US-amerikanischen TV-Serien. Daneben hat er auch einige Drehbücher verfasst, ein Bio-Lebensmittelunternehmen lanciert und sich als Astrologe betätigt (ist an einer Stelle die Aufforderung von Georges Frau an Richard, sein Ouija-Brett zu holen und eine Scéance zu halten, vielleicht eine Anspielung darauf?).

Was wäre aber auch ein Carpenter-Film ohne Carpenters Musik? Auch auf diese Frage hat MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN eine klare Antwort: es geht auch ohne den musikalischen Beitrag des Meisters selbst. Komponistin Shirley Walker hat, wenn man imdb glauben will, eine Premiere gefeiert: es war der erste Hollywood-Film mit einem komplett von einer Frau komponierten Orchester-Soundtrack. Später komponierte sie für Carpenter auch die Musik zu ESCAPE FROM L.A. und erreichte ein wesentlich größeres Publikum mit der FINAL DESTINATION-Reihe. Elektronischer Minimalismus à la früher Carpenter war ihr jedoch nicht gänzlich unbekannt: Ihren ersten Film-Credit hat sie als Synthesizer-Spielerin für APOCALYPSE NOW. Wenn sie nicht komponierte, wirkte sie als Dirigentin bei anderen Scores mit (z. B. Burtons BATMAN, BLACK RAIN, DAYS OF THUNDER, CHILD‘S PLAY 2, EDWARD SCISSORHANDS, BATMAN FOREVER). 2006 verstarb Walker mit nur 61 Jahren. Ihr wunderbarer Score für MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN bringt einen Hauch Pathetik, vor allen Dingen unterstützt er aber trefflich die Spannung der Bilder. Er ist dabei weniger hart und rhythmisch pointiert als Bernard Herrmanns Hitchcock-Arbeiten.

Es ist gut möglich, dass ich nunmehr bei MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN schon im zweistelligen Sichtungsbereich liege. Mit jeder weiteren Sichtung verliert der Film nicht nur nichts, sondern gewinnt vielleicht sogar an Wertschätzung meinerseits. Unter anderem diese wollte ich mit dieser Besprechung auch ausdrücken (und die „Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk“ als potentielle Reihe im Blick behalten). Sie ist auch ein Aufruf dazu, gegenüber Sick Boys Lebenstheorie aus TRAINSPOTTING („at one point you've got it, then you lose it, and it's gone forever“) skeptisch zu sein und mit offenen Augen vermeintlich schlechte und nichtige „Spätwerke“ zu entdecken.


MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist zwar wie gesagt kein allgemein geliebter Film, aber dennoch in zahlreichen DVD-Editionen in Deutschland, Frankreich, UK und USA gut erhältlich.