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Samstag, 7. September 2013

Zwischenruf: Nehmt euch in acht!

Denn Filme gucken ist gefährlich! Es ist an der Zeit, diese seit Jahrzehnten bekannte, aber sträflich vernachlässigte Tatsache wieder einmal ins Gedächtnis zu rufen. Schon vor 100 Jahren warnte ein verdienstvoller Kämpfer für die Volksgesundheit vor den unvermeidlichen Folgen des Filmkonsums:
Der schnelle Bildwechsel in Verbindung mit dem Flimmern der Bilder strengen bei längerem Verweilen im Lichtbildtheater Augen und Nerven so sehr an, daß bei häufigerem Besuch dieser Veranstaltungen sicher Schädigungen eintreten. Es interessierte mich nun die Frage, wie lange kann ein Mensch derartigen Vorführungen beiwohnen?
Ich wählte aus: einen Durchschnittsmenschen robuster Konstitution, einen geistig tätigen Akademiker, beide mit gesunden Augen, alsdann einen nervösen Künstler mit einer Schwäche der Augennerven. Wir wohnten nun gemeinsam einer Kinodauervorstellung bei. Am frühesten versagte erstaunlicherweise der kerngesunde Mensch. Nach kaum mehr als 5 Stunden zeigte sich hochgradige Ermattung, eine Schwere der Lider. Der Akademiker hielt etwas über 5½ Stunden stand. Der nervöse Künstler, der schon vor Ablauf von 2½ Stunden Augentränen, nach 3 Stunden Kopfweh bekam, hielt 550/60 Stunden aus. Noch lange nach dem Niederlegen war ihm zumute, als hebe und senke sich die Bettstatt mit ihm.
Die hohe Schädlichkeit für Augen und Nerven dürfte damit erwiesen sein und man sollte jeder Einschränkung des Kinogewerbes aus gesundheitlichen Gründen zujubeln.
(Die Umschau in Wissenschaft und Technik 13, 1913. Zitiert nach Spektrum der Wissenschaft, März 2013, S. 97)
Die repräsentative Stichprobe von 3 (in Worten: drei) Probanden lässt keinen Zweifel an der Stichhaltigkeit dieses erschütternden Ergebnisses zu. Doch nicht nur gesundheitliche Zerrüttung, nein, schlimmer noch, auch moralische Verlotterung drohen, ja sind für die gefährdete Jugend geradezu unabwendbar:
Wahrlich: dieser Kino ist der passende Ausdruck unserer Tage. Dieser Abklatsch der nackten Wirklichkeit, diese brutale Bildreporterei konnte nur in einer Zeit zu Ehren kommen, in der die Phantasie in die Leichenschauhäuser und auf die Verbrecherfährten gedrängt ist. Nick Carter, Kino und Berliner Mietshäuser, diese triviale Dreiheit gehören zusammen. Und angesichts dieser Zeiterscheinungen ist es schwer, von Kulturfortschritten zu träumen.
(Franz Pfemfert. In: Die Aktion, 19.06.1911. Zitiert nach Jacobsen/Kaes/Prinzler1, S. 30)

Das zeigt, wie sehr in den Großstädten die Jugend unter dem Banne des Kino steht. Mag immerhin der einzelne Film nicht zweideutiger sein als manche Operette und manches Lustspiel, so muß man doch bei der Häufigkeit des Besuches, bei dem Interesse, das besonders den Sittendramen entgegengebracht wird, und in Anbetracht der Begleitung durch die "Freundin" oder den "Freund" von einer starken sittlichen Gefährdung der Großstadtjugend durch den Kino reden.
(Subrektor Eduard Mayrhofer. In: Volkswohl, Wien, Nr. 6, 1914. Zitiert nach Altenloh2, S. *32)

Es wächst im Volke unter dem Einfluß des Kinos ein ganz neuer seelischer Typus heran. Eine Menschenart, die nur noch in groben Allgemeinvorstellungen zuckend "denkt", die sich von Eindruck zu Eindruck haltlos hinreißen läßt, die gar nicht mehr die Fähigkeit hat, klar und überlegen zu urteilen. Eine Menschenart, die während der Revolution bereits unheilvoll genug gewirkt hat, und die, je mehr Generationen durch den seelischen Zermürbungsapparat des Kinos bearbeitet werden, immer mehr anwachsen und der Kultur (auch der politischen Kultur) ihr Gepräge geben wird. Das Kino bildet einen neuen, geistig wie sittlich minderwertigen Menschentyp: den homo cinematicus.
(Wilhelm Stapel: Der homo cinematicus. In: Deutsches Volkstum, Okt. 1919. Zitiert nach Jacobsen/Kaes/Prinzler1, S. 39)

Geradezu vergiftend wirkt der Detektiv- oder Aufklärungsfilm auf die Jugend, bei der das ganze Geistesleben sich noch in der Entwicklung befindet, die Einbildungskunst viel lebhafter arbeitet, die Eindrücke stärker wirken, die verstandesmäßigen Hemmungen oft fehlen und daher die Gefahr der Verführung viel größer ist. Wie unendlich viele Jungen hat das Kino schon vor Gericht und ins Gefängnis gebracht, und jeder Tag fordert neue Opfer. Der Jugendrichter, der Seelsorger, der Verteidiger, der nach dem Grunde der Tat forscht, hört von den Angehörigen immer wieder: er konnte nicht anders, er mußte in alle Films rennen, und dort sieht und lernt er ja, wie er es zu machen hat!
(Dr. jur. Galleiske: Kino und Kriminalität. In: Der Reichsbote, 10.10. 1919. Zitiert nach Jacobsen/Kaes/Prinzler1, S. 42ff.)
Doch alles Mahnen war umsonst! Selbst eine so vorbildliche Publikation wie Die Hochwacht. Monatsschrift zur Bekämpfung des Schmutzes und Schundes in Wort und Bild konnte der bestürzenden geistig-moralischen Verwahrlosung nicht Einhalt gebieten!


"Der Kino ist eben in erster Linie für moderne Menschen da." (Emilie Altenloh)

Nun aber Schluss mit dem Unsinn! Denn ich möchte gar nicht den Eindruck erwecken, als hätten Wissenschaftler und andere Bedenkenträger damals nur Blödsinn zum Thema Film verzapft. Ganz im Gegenteil: Ebenfalls vor 100 Jahren entstand Emilie Altenlohs Dissertation Zur Soziologie des Kino (Heidelberg 1913, gedruckt 1914 in Jena), die als weltweit erste ernsthafte wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet gilt. Die Befragungen unter Kinogängern, die die Basis des zweiten Teils der Dissertation bilden (der erste Teil beschäftigt sich mit den Grundlagen der Filmproduktion), führte die Autorin 1911/12 in Mannheim und Heidelberg durch. Altenlohs Datenbasis war etwas größer als die des wackeren Mediziners von oben: Sie verteilte mehr als 3000 Fragebögen. Die rund 100-seitige Schrift des "Kinematographen-Mädels" - wie sie ihr Doktorvater Alfred Weber (Bruder von Max Weber) in einem Brief an seine Geliebte Else Jaffé einmal nannte - mit dem Untertitel Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, die ihr ein "summa cum laude" einbrachte, wurde oft zitiert, war aber lange schwer aufzutreiben. Doch seit 2012 wird das Buch als Faksimile nachgedruckt2, ergänzt um ca. 120 Seiten an alten und neuen Texten, die über Entstehung und Rezeption des Werks und über die Autorin informieren. Emilie Kiep-Altenloh, wie sie später hieß, ließ den Film im Stich und ging in die Sozialpolitik. In der Weimarer Republik war sie Abgeordnete der linksliberalen DDP in Altona und im Reichstag, und sie war Mitbegründerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Im Nationalsozialismus hatte sie politisches Betätigungsverbot, und sie vertrieb sich die Zeit, indem sie auch noch Biologie und Zoologie studierte, und sie beschäftigte sich mit der Ausbildung von Blindenhunden. Nach dem Krieg war sie für die FDP Abgeordnete und Senatorin in Hamburg, danach für eine Legislaturperiode im Bundestag. Sie starb 1985 mit 96 Jahren.


1 Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans Helmut Prinzler (Hg.): Geschichte des deutschen Films. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar, 1993.

2 Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Neu herausgegeben von Andrea Haller, Martin Loiperdinger und Heide Schlüpmann. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel, 2012.