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Dienstag, 27. Februar 2024

Moonwalk in der Zahnarztpraxis und weitere Lustbarkeiten

Bericht vom 21. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (4.-7. Januar 2024)


Donnerstag, 4. Januar 2024


Nürnberg, KommKino

ab 15.00 Uhr


SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER
Regie: Harald Reinl
BRD/Italien 1972
35mm, dt. OV
Der Maler Stefan verliebt sich in die Krankenschwester Claudia. Dem trauten Liebes- und Eheglück steht nichts mehr im Weg, denn Stefan erhält von einem italienischen Mäzen einen großen Auftrag. Doch Claudia wird bei einem Unfall im Krankenhauslabor einer tödlichen Dosis radioaktiver Strahlung ausgesetzt...

Reinls Melodrama im Fahrwasser von LOVE STORY zeichnet durch eine ausgezeichnete Inszenierung im visuellen Bereich aus: den über Jahrzehnte gereiften Routinier sieht man in fast jeder Einstellung an, der Film ist wunderschön anzusehen und strotzt vor kleinen visuellen Einfällen (da ist natürlich immer wieder der Schwenk zur Büste von König Ludwig I. in Stefans Wohnung, oder der Einfall, das gemeinsame Einschlafen Stefans und Claudias mit einem Schwenk auf Claudias Pantoffeln zu beenden – die Pantoffeln, die dann nach einem Schnitt weg sind, wenn Stefan aufwacht und nach Claudia sucht, die sich im Badezimmer gerade übergibt). Im zweiten Teil des Films, wenn das Paar seine "Hochzeitsreise" in Rom feiert, kann der Film geradezu genüsslich in wunderschönen Postkartenmotiven schwelgen. Das sieht auch trotz des vorangeschrittenen Rotstichs der Kopie sehr beeindruckend aus.

Weniger beeindruckend sind das Drehbuch und die beiden Hauptdarsteller Amadeus August und Gundy Grand: die zentrale Liebesgeschichte (über die dann auch die großen Gefühle des Melodrama ausgelöst werden sollten) hat für mich einfach nicht funktioniert. Dass August mit wenig und Grand mit gar keinem Charisma gesegnet ist und beide überhaupt gar keine Chemie haben – geschenkt. Dass Stefan als manipulativer Stalker rüberkommt, der seine Angebetete auf Arbeit verfolgt, ihr Auto besetzt und seinen Ausweis in ihrer Handtasche "verliert", um ein Date zu erpressen, lässt ihn schon maximal dubios wirken – aber keinesfalls romantisch. Zudem ist SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER furchtbar verbos, zugekleistert mit furchtbaren, hölzernen Dialogen, bemüht witzig – es soll wohl Screwball-Comedy sein, aber meist ist es teutonischer Schraubenball-Klamauk.

Und wie Claudia durch schiere Dummheit den Unfall mit dem Strahlengerät im Labor auslöst (sie spielt mit einem nicht-gesicherten Prototypen rum – und lässt diesen mitten beim Rumspielen strahlend stehen, um mit Stefan zu telefonieren), lässt schon an ihre Eignung für irgendwelche Tätigkeiten außerhalb eines sehr passiven Trophy-Wife-Daseins zweifeln. Die Szenen mit dem Strahlengerät sind eh eine Sache für sich: innerhalb eines extrem detailverliebt ausgestatteten Films sind es karge, triste Studioräume, ein riesiger Hebel mit den Aufschriften "An" und "Aus" markieren den Eingang des Strahlungsraums (und auf etwas unterkomplexe Weise die Funktionalität des Geräts). Wenn es "spannend" werden soll, dröhnt eine karikatureske, plumpe "Spannungsmusik" aus der Dose – während das Hauptthema, das Liebesthema, eine aufwändig auskomponierte, filigrane und wunderschöne Musikbegleitung zum Film ist. Das wirkt fast so, als wäre der Erzählstrang zur Erkrankung Claudias später mit hurtigen Nachdrehs in den Film reingeschmuggelt worden.

Ich kann nicht drüber hinwegsehen, dass ich Stefan als absolut unsympathische Figur empfinde. Seine zwei Nachbar-Buddies hingegen haben einen Platz in meinem Herzen gefunden: da ist Boris, der Typus des "dicken Schlemmers", der bei einem Besuch bei Stefan schon mal die Hälfte von dessen Brot wegschneidet, dick (wirklich dick! also wirklich!) mit Butter bestreicht und schwärmt, wie toll es schmeckt – und zur Vermittlung einer Blutspende die "Dauerwurscht" aus dem Esspaket als "Kommission" verlangt. Und der Italiener Nino, der sich in eine bezaubernde junge Dame namens Rosy verliebt, die ihn nicht nur mit ihrer Präsenz, sondern auch mit schönen Geschenken beglückt – das Geld dafür sammelt sie ohne Ninos Wissen auf dem Straßenstrich, wie Stefan und Claudia bei einem späten Bummel durch die Straßen erschrocken und leicht angewidert merken. Angewidert sollte wohl auch das Publikum sein – als geneigter Besucher des Hofbauer-Kongresses wünscht man sich aber natürlich lieber einen eigenen Film zu Ninos und Rosys Geschichte.

Nach einer ersten Sichtung im Kommkino im September 2023 habe ich SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER nun zum zweiten Mal gesehen. Ich mag den Film als Gesamtpaket immer noch nicht, auch, wenn mir einzelne Elemente sehr gefallen. Eine gewisse Faszination kann ich nicht leugnen.



ab 17.00 Uhr


LA BALANDRA ISABEL LLEGÓ ESTA TARDE ("Das Teufelsweib von Santa Margarita")
Regie: Carlos Hugo Christensen
Argentinien/Venezuela 1949
35mm, DF
Der Schiffskapitän Segundo führt ein bescheidenes, aber grundsolides und gutbürgerliches Leben mit kleinem Eigenheim am Strand, liebevoller Ehefrau und heranwachsendem Sohnemann. Aber ist es wirklich so grundsolide? Bei Überfahrten zur Insel Santa Margarita verfällt er dort im Rotlichtviertel der Femme Fatale Esperanza.

Nach Salzwasser, Blut, Tränen und Schweiß schmeckt dieses noir'ische Melodrama des dänisch-stämmigen Argentiniers Christensen (seines Zeichens eine tragende Säule des argentinischen Kinos der Zeit). Besonders der Schweiß hat es Christensen und dem spanischen Kameramann José María Beltrán (der dafür bei Cannes einen Preis gewann) angetan: das tropische Klima in Venezuela ist natürlich schweißtreibend, aber noch mehr scheint es die innere Glut, ja die schiere Geilheit zu sein, die den Figuren Strömen von Schweiß ins Gesicht treibt. Bei Segundo ist der Fluss dieses Körpersafts nach Ankunft in Santa Margarita fast unaufhörlich. Bei Esperanza ist er kontrollierter – ein dünner, öliger Schweißfilm bedeckt ihr Gesicht und lässt sie dadurch nicht nur in der schummerigen Beleuchtung der Rotlichtviertel-Kaschemmen, sondern nachts besonders im hellen Mond-Licht als wahrlich verführerische Femme Fatale der Tropen erstrahlen.

Der Mexikaner Arturo de Córdova und die Argentinierin Virginia Luque sind vielleicht nicht die charismatischsten Schauspieler der Welt, aber sie machen ihre Sache gut (und feucht). Die Charisma-Kracher gibt es in den Nebenrollen: die Kubanerin América Barrios als komplett entrückt-verrückte Prostituierte Maria, die in ihrer eigenen Parallelwelt lebt und zwischendurch die Handlung aufbricht, wenn sie Segundo oder andere Seemänner in ein irrsinniges, absurd-surreales Gespräch verwickelt – eine Straßenphilosophin im Rotlichtviertel. Ihre lebensweltliche Cousine sitzt in der Kaschemme, in der Esperanza auftritt: eine ältere Frau, die von allem um sie herum – sei es Esperanzas expressiver Gesangsauftritt oder eine wüste Kneipenschlägerei – völlig kalt gelassen wird und ganz entspannt, wortlos ihr Bier trinkt, komme was möge. Ein weiterer Hingucker ist der Venezolaner Tomás Henriquez als Voodoo-Zauberer und Betrüger: ein Mann der wenigen Worte, der mit seinem markanten, vernarbten Gesicht alles Bedrohliche der Welt ausdrückt.

LA BALANDRA ISABEL LLEGÓ ESTA TARDE hat mir gut gefallen mit seinen Zutaten aus Melodrama, Noir-Elementen, Rotlicht-Seediness und tropischer Hitze. Inszenierung und Schnitt sind nicht immer ganz on point, aber der Film ist trotzdem voller beeindruckender und markanter Bilder: natürlich das schweißge Tête-à-tête zwischen Esperanza und Segundo im Mondschein, der von Regen- und Abwasser triefende Aufstieg zur Kaschemme auf der Anhöhe und beim Höhepunkt natürlich Esperanza, die bedrohlich vor einer lichterloh brennenden Hütte in einem geradezu apokalyptischen Tableau ihre Frau steht.



ab 21.15 Uhr


WUNDERLAND DER LIEBE – DER GROSSE DEUTSCHE SEXREPORT
Regie: Dieter Geißler
BRD 1970
35mm, dt. OV
Wie steht es um die Liebe im Land der teutonischen Begrenztheiten? Und was ist eigentlich mit Sex?

Auch wenn WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN im gleichen Zeit-Slot am nächsten Tag der emotionale Höhepunkt dieses Kongresses war – WUNDERLAND DER LIEBE war der Kracher to bang'em all! Eine Tour de Force des Unfassbaren und ein Strudel des Unglaublichen. Kinobesucher, Kondom-Produzenten, Kommunenbewohnerinnen und -bewohner, Aktionskünstler, homosexuelle Renegaten des katholischen Klerus, nordische Gigolos, Bewohner und Besucher von Sylt, provinzielle Stripclub-Betreiberinnen zwischen den Geschlechtern, Begründer exotischer Randparteien und Jürgen Drews als Liebhaber und Modellflugzeug-Liebhaber sind die Protagonisten dieser trotz rotstichiger Kopie kunterbuntester Nummer des diesjährigen Kongresses. Manch gestandener HK-Besucher sprach von "bester Reportfilm überhaupt".

Natürlich strotzt der Film nur so von unglaublichen Personen. Der Publikumsliebling der HK-affinen Herzen dürfte der Hamburger Gigolo sein, der in einem ununterbrochenen, stromartigen und mehrminütigen Monolog seine Tätigkeit als männlicher Prostituierter erklärt, diverse pikante, absurde und groteske Geschichten über seine verschiedenen Kundinnen preisgibt (manche wünschen sich eben, mit Bratkartoffeln beworfen zu werden) und seine teils libertären, teils zynischen Lebensweisheiten verrät (bei ihm sagen die Frauen offen, wenn sie sich lecken lassen wollen, weil ihre Männer zu sehr mit Arbeit beschäftigt sind, um das zu tun und ihre Frauen zu befriedigen) – 99% aller Poetry-Slammer und Rapper dieser Welt können sich nur im Traum wünschen, einen derartig dichten Strom der Gossenpoesie von sich zu geben. Knapp am Publikumslieblingspreis schrammte der Gründer der Deutschen Sex-Partei (Joachim Driessen), der in seinem biederen Anzug und dem Gesicht eines Schwiegermutter-Lieblings von der befreienden Kraft des Sex und einer gemeinsamen, deutsch-polnischen Anstrengung zur Erotisierung der Oder-Neisse-Grenze schwärmte, während seine leicht, na ja, eigentlich unbekleidete Sekretärin ihm ab und zu einen Zettel in die Hand drückte. Einer der denkwürdigsten Details des Kongress-Wochenendes gab es im Interview mit den Mitgliedern des Musiker-/Aktionskunst-Duos "Anima-Sound" zu sehen: beide Duo-Mitglieder und Eheleute saßen während der Befragung am Wohnzimmertisch und bissen zwischendurch in ihre Schnittchen – er hielt allerdings sogar mitten in seiner Antwort an, nahm das Konfitürenglas und tropfte die Konfitüre aus dem Glas geduldig auf seine Brotschnitte.

À propos Essen: besonders bizarr war das Buffet mit den Mitgliedern einer Kommune. Als Bedingung, um sich filmen zu lassen, hatte diese bei der Filmcrew ein großes Catering bestellt, knabberte einen Teil des Buffets an – und feierte mit den noch großen Mengen an Resten eine Art Essensschlacht. Da wurden nicht nur Erinnerungen an Chytilovás "Tausendschönchen" wach – sondern auch Gedanken über bourgeoise Verschwendung geweckt, die die Kommune durch ihren Lebensstil eigentlich überwinden wollte/sollte. Aber noch unbehaglicher wurde die Kombination aus Performance und Essen dann bei der Dokumentierung einer Kunstaktion von Otto Muehl an der Kunsthochschule Braunschweig, bei der ein Schwein auf der Bühne live geschlachtet wurde und eine Perfomance-Teilnehmerin nicht nur mit Schweineblut beschmiert, sondern auch von Muehl angepinkelt wurde.

Für eine der größten Überraschungen sorgten allerdings zwei ältere Herren in einer Sylter Kneipe, die zum naheliegenden FKK-Strand befragt wurden. Sichtlich nicht mehr beim ersten Bier, mit leicht angeschwitzten, roten Gesichtern – eigentlich Kandidaten für Tiraden über die heutige Jugend. Aber nein: zum FKK-Strand gehe man selbst nicht, denn "im Alter wird alles etwas kleiner" – aber die heutige Jugend solle mal schön selbst in Ruhe machen und ausprobieren und herausfinden, was sie wolle.

Klingt alles wüst? Damit WUNDERLAND DER LIEBE nicht komplett auseinanderfällt, gibt es eine Art Rahmenhandlung mit einem Liebespaar: Sabine Clemens als sie und Jürgen Drews als er. Sie dürfen am Ende dann auch Sex haben – also, na ja, nackt zusammen im Bett herumtoben, in eleganter Zeitlupe und in einem Kaleidoskop überlagerter Bilder gefilmt, während der fetzige Sound der Krautrock-Band Apocalypse (hier nach knapp 2 Minuten das Hauptthema des Films) sich auch noch drüber legt. Womit wir beim nächsten wichtigen Punkt wären: WUNDERLAND DER LIEBE ist absolut fantastisch anzuschauen und anzuhören! Regisseur Dieter Geißler war der Hauptdarsteller in Klaus Lemkes 48 STUNDEN BIS ACAPULCO, deutscher Co-Produzent für italienische Co-Produktionen wie MALASTRANA (durch Aldo Lados Prag geistert ein Straßensänger, der von Jürgen Drews verkörpert wird), CHI L'HA VISTA MORIRE, Roman Polanskis CHE?, Luchino Viscontis LUDWIG II, später Produzent von DIE UNENDLICHE GESCHICHTE (1 bis 3): WUNDERLAND DER LIEBE ist die erste von nur zwei Regiearbeiten.

Aber als umtriebiger Produzent schien er einen Riecher für die richtigen Leute zu haben: Hubertus Hagen an der Kamera, ein Veteran der Schwabinger Nouvelle Vague (und später von Lederhosen-Sexfilmen) und Jutta Brandstaedter an der Schere (Cutterin für Klaus Lemke, Roger Fritz, Rudolph Thome und Aldo Lado). Denn WUNDERLAND DER LIEBE ist auch ein Film der entfesselten Bilder und der wahnsinnigen Montagen. Nervenzerfetzende Thrills gibt es ebenso wie brüllende Lacher. Befragungen von Fabrikarbeitern sowie Marketing- und Produktmanagern einer Kondomfabrik werden montiert mit Bildern einer Qualitätskontrolleurin, die an einer Maschine Luft in ein Kondom strömen lässt und die Liter abzählt: "5 Liter" – O-Töne – "10 Liter" – O-Töne – "20 Liter"... und so weiter. Es steigert sich immer mehr, bis bei 50 Litern und der Offenbarung, dass die Geschmacksrichtung Pfefferminz am beliebtesten bei Nutzern abschneidet, schließlich die kathartische Explosion erfolgt! Toben im Kommkino-Saal! Und dass das Anbringen des Kondoms während des Liebesspiels, wie ein Marketing-Mensch der Fabrik versichert, keineswegs Erotik und Zärtlichkeit zerstört, wird in der Montage auch schön veranschaulicht: Schnitt zur Qualitätskontrolleurin, die mit ordentlich Schmackes Kondome auf die langen Phallen eines Kontrollfließbands zieht. Das Publikum im Komm tobt weiter!



ab 23:30 Uhr


SCREWBALLS ("Screwballs – Das affengeile Klassenzimmer")
Regie: Rafal Zielinski
Kanada 1983
35mm, DF
Fünf Jungs der Taft and Adams High School (abgekürzt: T & A) versuchen in gemeinsamer Anstrengung, endlich einen Blick auf die Brüste von Purity Bush zu werfen, dem schönsten Mädchen der Schule.


Ein Perpetuum-Mobile ist physikalisch nicht realisierbar. Aber das Großartige an Kino ist, dass da alles möglich ist: SCREWBALLS dürfte eine Art Perpetuum-Mobile der wüst-zotigen Teenager-Sexkomödie sein. Ein wildes Ungestüm, das, nachdem einmal in Gang gesetzt, im Autopilot-Modus wütet, nicht zu stoppen ist und ohne Energieverlust auf seinem Weg alles komplett verwüstet. SCREWBALLS ist vor allem auch ein sehr puristischer, in seiner geradlinigen Konsequenz fast radikaler Exploitationfilm, vollkommen auf seine Schauwerte konzentriert, die er als eine Art Nummernrevue aufzieht: natürlich gibt es – leichtes Zugeständnis an das klassische Erzählkino – eine Art Aufhänger als roten Faden. Aber SCREWBALLS ist vor allem an seinen Eskalationen interessiert, ja ist gar ein Kaleidoskop der Eskalationen, von denen jede einzelne minutiös vorbereitet und ausgeführt wird. Aus einer Idee wird eine kleine Zote, aus einer Zote ein größerer Unfug, der größere Unfug verwandelt dann beispielsweise die Turnhalle in ein Orgien-Schlachtfeld – vom Kauf des Extrakts spanischer Fliege im Sex-Shop über das versehentliche Verschütten in den Punsch bei der Schulfeier bis zur Orgie. Die Erwartung der Zuschauer wird immer sehr schön angefächert, angeteast, aufgebaut und schließlich befriedigt – dabei gibt es aber trotzdem immer einen Moment der Überraschung, denn wer hätte ernsthaft erwartet, dass eine Partie Strip-Bowling damit endet, dass eine Bowling-Kugel sich auf dem eregierten Penis eines Spielers festklemmt und diese erst durch Stimulation der weiblichen Mitspielerinnen orgiastisch und Strike-markierend abgestoßen werden kann? Wer?

Ja, SCREWBALLS ist zotig, schmierig, früh-pubertär (ob manche der Slapstick-Geräusche, wie Katzenfauchen zum Silhouetten-Sex, im Original zu hören sind oder das Zusätze der deutschen Synchronfassung sind, weiß ich nicht) und völlig geschmacklos. In Sachen komödiantischen Inszenierungshandwerk sind wir allerdings schon in der Top-Klasse. Der Versuch eines Schülers, bei Purity einzubrechen, ist ein Paradebeispiel dafür, wie gut SCREWBALLS ist: ein notgeiler Schüler, zwei Räume, eine Treppe, Purity kurz vor dem Einschlafen, eine sexuell frustrierte Dame, ein paranoid-antikommunistischer Herr mit Flatulenzen und einem geladenen Gewehr – Zutaten für darauffolgende raunende Lachsalven!


Nach dem letzten offiziellen Film des Programms wurde für die Hartgesottenen noch ein "Videoknüpel" kredenzt. Es war ein Film, den ein Mitglied des Hofbauer-Kommandos bei einem noch lebenden Co-Produzenten in 35mm für eine frühere, andere Filmreihe angefragt hatte – der Produzent reagierte sehr unfreundlich bei der Vorstellung, dass "dieser Scheiß" öffentlich gezeigt würde.

Am Ende lief der Film also von DVD auf dem Hofbauer-Kongress unter der Bitte, nicht zu offen mit Nennung von Titel und Namen darüber zu schreiben. Fällt mir nicht schwer: eine romantische Liebeskomödie, die weder romantisch, noch liebevoll und vor allem durch und durch unlustig war.




Freitag, 5. Januar 2024


ab 15:00 Uhr


UN ÉPAIS MANTEAU DE SANG ("Heiße Haut")
Regie: José Bénazéraf
Frankreich 1968
35mm, DF
Zwei Söldner klauen Diamanten in Katanga. Später betreibt einer von ihnen eine Klinik in Südfrankreich und ist der Liebhaber der Ehefrau des anderen, verschollen gegangenen Mannes. Das geht so lange gut, bis die Ehefrau sich einen einfachen Taucher als Liebhaber nimmt und der Ehemann wieder auftaucht.

"Ein paar Leute hängen am Strand in Südfrankreich ab und schauen mal, was so passiert" – so fasste ein Co-Kongressnik Bénazérafs Film zusammen (danke für diesen schönen O-Ton, Marcel!). Tatsächlich hat der "Godard du X" hier erst einmal einen schönen Atmosphärenfilm, ein Stück Kino zum Abhängen geschaffen, in dem nicht viel "passieren" muss, damit es sich toll anfühlt. Sex, Tanzen, Schauen, Sich-schaukeln-lassen auf dem Boot und ein bisschen Ringen – viel mehr braucht es zunächst nicht. Als Projektionsfiguren reichen da Valérie Lagrange mit ihrem blonden Bubikopf und Hans Meyer mit seinem bedrohlichen Narbengesicht völlig aus. Sie hat zwischendurch mit einem örtlichen Taucher Sex am Strand und er macht zum Training einen kleinen Ringkampf mit seinem Bodyguard (der verblüffenderweise wie der junge John Milius aussieht) – beide Tätigkeiten montiert Bénazéraf zusammen in einer gemeinsamen, sehr bizarren Szene. Nach dieser Anstrengung ein bisschen auf dem schaukelnden Fischerboot abhängen, während der Postkarten-Hintergrund in den Meereswellen auf- und abwippt...

War Bénazéraf dazu verpflichtet, einen als Thriller vermarktbaren Film abzuliefern? Der Prolog, die letzten 20 bis 25 Minuten und zwischendurch einige mysteriöse Expositionsdialoge scheinen ein wenig darauf hinzudeuten, dass da irgendetwas war. Leute beim Abhängen zu stören ist ja nie eine gute Idee, und die lange Verfolgungsjagd zwischen Auto und Schnellboot mit anschließender Schießerei in den Küstenfelsen zeigt, dass Bénazéraf wohl kein gutes Händchen und scheinbar sehr wenig Interesse für Thrills und Action hatte. Nein, gutes Nichtstun ist besser als halbgares Hetzen!



ab 17:00 Uhr


EIN HERZ VOLL MUSIK
Regie: Robert A. Stemmle
BRD 1955
35mm, dt. OV
Ein Spitzensportler, der auf allen Alpenpisten als "No 7" für Furore sorgt, muss zwischen den Wettkämpfen bei Hotels als Kellner anheuern, singt aber auch ganz gerne. Eigentlich ist er der Sohn eines reichen Hotelketten-Besitzers, verliebt sich zu dessen Leidwesen aber trotzdem in das Blumenmädchen eines Hotels. Eine reiche Millionärin aus den USA möchte ihren aktuellen Toyboy auch lieber mit "No 7" austauschen. Dessen Anstellung als Sänger im renommierten Orchester Mantovani stehen die Intrigen des Vaters und eines leicht bestechlichen Pianisten entgegen.


EIN HERZ VOLL MUSIK ist vor allem ein Vehikel für den schweizerischen Sänger Vico Torriani, der hier als singender Industriellensohn die Herzen der jungen Blumenmädchen, reiferen Millionärinnen und geneigten Zuschauer erobert. Komödie, Romantik, einige mehr oder minder fetzige Musik- und Tanznummern sowie eine ganze Riege an lieben oder kauzigen Charakteren geben sich die Klinke in die Hand – das ganze ansehnlich inszeniert und gespielt, und heraus kommt ein angenehmer, wohliger Nachmittagsfilm.

Wie das so oft ist bei solchen Filmen sind die zwei zentralen liebenden Protagonisten vielleicht die uninteressantesten – oder sagen wir mal: die glattesten Figuren. Wesentlich spannender war das Double aus Fita Benkhoff als reiche Amerikanerin Ellinor Patton und Boy Gobert als Baron Karl-Heinz von Schlankenhalten und Ellinors Toyboy (und nebenbei: Sekretär und Mädchen für alles): die erste Komödiennummer ist dann auch ein Dinner, bei der sie alles in die Küche zurückschickt, weil es zu kalt, zu warm, nicht gut genug etc. ist, während der Baron nebenbei und heimlich versucht, beim Kellner (unserem lieben "No 7") die Wogen zu glätten.

Der Anti-Held (aber auch heimliche Held) des Films war aber der Pianist, Peer, gespielt von Wolfgang Wahl: als Mitglied des Orchesters Mantovani ist er beauftragt, Vico mit allen Mitteln als Sänger zu akquirieren, von Vicos reichem Vater wird er beauftragt, die Aufnahme des Sohnemanns mit allen Mitteln zu verhindern – ideal, um von beiden Seiten Kommissionen (aka Schmiergeld) zu kassieren und sich lächelnd-genüsslich in die Jackett-Innentasche zu stecken. Dennoch: er ist kein Bösewicht, möchte nur ein bisschen Startkapital für die künftige Ehe mit seinem Blumenmädchen (einer Kollegin der Protagonistin) aufbauen. Das Miteinander und die Zwistigkeiten dieses "Neben-Paars", beide nicht mehr jung und schlank "genug" für erste Rollen, ist gewissermaßen die Herz-Nebenkammer des Films.

Und einen spektakulären, vom Publikum gefeierten und schließlich lautstark mitten im Film applaudierten Kurzauftritt gegen Ende, als Vico endlich seine Revue-Premiere hat, hatte ein besonders beweglicher Tänzer, der sich wie Gummi bewegte und leichtfüßig durch die Theaterkulisse moon-walkte.

Nach EIN HERZ VOLL MUSIK war das Publikum gespalten: einige trällerten "Blauäugelein", andere trällerten "Der neue Frühjahrshut" – ich gehörte zu letzteren. Die Nummer "Der neue Frühjahrshut" zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie tatsächlich ein wenig wie eine US-amerikanische Musical-Nummer als Bewegungskino durchchoreografiert war, mit eleganten Tanzschritten durch Rom (das gleiche Rom wie SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER übrigens, denn eine Panorama-Ansicht mit einem schönen Palmengarten im Vordergrund war klar wiedererkennbar). "Der neue Frühjahrshut ... und was sich drunter tut" wurde von einem Co-Kongressnik gar zum Lieblingsmotto der diesjährigen Kongressausgabe gekürt!



ab 21:15 Uhr


WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN
Regie: Tillmann Scholl
BRD 1985
16mm, dt. OV
Über 10 Jahre lang sammelt Tillmann Scholl dokumentarisches Material in St. Pauli und zeigt Impressionen von einer Jubiläumsfeier des Stadtviertels, portraitiert Stammkunden und Wirte von Eckkneipen, befragt zufällige Passanten, durchreisende Touristen und windige Geschäftsmänner, stellt Fragen über die Gentrifizierung Hamburgs.

Wenn WUNDERLAND DER LIEBE der lachende Geist dieses Kongresses war, dann war WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN dessen schlagendes Herz: eine emotionale, persönliche Liebeserklärung an Hamburg und St. Pauli, ein zärtliches Portrait seiner Bewohnerinnen und Bewohner, ein zorniges Manifest gegen die Marginalisierung des Unbürgerlichen durch das Kapital. Irgendwo zwischen impressionistischem Dokumentarfilm und politischem Essayfilm angesiedelt, hat WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN vor allem durch seine Pièce de Résistance, das Portrait der Eck- und Absturzkneipe "Am Schauermann", den Weg in die Herzen der meisten Kongressniki gefunden. Im Dunkeln der Nacht, bei schummeriger Beleuchtung versammelten sich hier die Glücklosen, die Kaputten, die Randgestalten, die Gescheiterten, die Kranken, die Sterbenden, die Lachenden und die Weinenden und die Ganoven bei Bier und Schnaps. Die ersten Reaktionen der Kneipenbesucher auf die Kamera, die sie filmt, ist sichtlich eher feindlich – der Blick der Kamera bleibt dennoch voller Zärtlichkeit, und obwohl hier das gleiche "Material" zu sehen ist, das etwa in einem Mondo-Film der Häme oder in einem "wohlmeinenden" Dokumentarfilm dem selbstgefälligen Mitleid freigegeben würde, ist hier davon nichts zu spüren. Nach der anfänglichen Feindlichkeit kommen die Performances: einige Gäste scheinen vor der Kamera zu "spielen", sich selbst oder wie sie sich vorstellen, dass ein Publikum sie sehen möchte – ein betrunkener Sturz vom Barhocker wird effektvoll demonstriert. WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN stellt hier auch grundsätzliche Fragen über das Wesen des Dokumentarischen: es mag keine Sicherheit über die "Wahrheit" des Gefilmten geben – doch die Zärtlichkeit des Kamerablicks, sie bleibt immer.

Auch wenn der Fokus auf den "Schauermann" (der etwa einen Drittel der Filmlaufzeit ausmachen dürfte) verschwindet: der eloquente, charismatische Kneipenwirt Jürgen bleibt als "roter Faden", als Leitfigur des Films den Zuschauern weiter erhalten – als Marker für die (scheinbaren?) Erfolge und die eklatanten Misserfolge der Gentrifizierung Hamburgs. Über seine Tage als Kneipenwirt, der auch mal mit Fäusten zwischen randalierende Gäste eingreifen muss, sinniert er auf einer von Müll und Bauschutt bedeckten Baustelle – der Ort, an dem sein früherer Arbeitsplatz stand, an dem jetzt finanzkräftigere Unternehmungen ihren Platz einnehmen. Immer wieder wird der O-Ton einer älteren Touristin, die davon erzählt, das "was Neues" gebaut wird, über die Bilder als elektronisch verfremdetes Echo gesampelt. Dass am Ende nicht nur Gebäude, sondern auch Menschen weichen müssen, wird immer wieder deutlich. Zunächst auf sehr lustige, humorvolle Weise: Gentrifizierung ist eben auch, wenn der Straßenstrich sich verschiebt, der geneigte Freier die Prostituierten nicht direkt vor noch existierenden Eckkneipen stehen hat, sondern (O-Ton) "ganze 10 Minuten" laufen muss. Am Ende gibt es aber für die Zuschauer trotzdem eine stahlharte Faust in die Fresse und einen harten Tritt in den Bauch: So abgrundtief traurig und niederschmetternd endete bei dieser Kongress-Edition kein anderer Film.


Als weitere Lektüre empfehle ich auch André Malbergs Text über den Film auf Eskalierende Träume

Als ich einem hamburgophilen Freund, der Ende 2023 auch nach Hamburg gezogen ist, von WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN schwärmte, schrieb er mir, dass der Film durchaus eine Hamburger Lokal-Berühmtheit sei.


ab 23:45 Uhr


HAKUJITSUMU ("Träume im Zwielicht")
Regie: Takechi Tetsuji
Japan 1964
35mm, DF
Ein Mann und eine Frau werden beim Zahnarzt behandelt. Unter dem Schleier der Narkosen verfallen sie in wüste, gewalttätige, erotische Träume.


Unter den sinnlichen Erfahrungen, die man als Mensch so macht, gehören Zahnarztbesuche zu den wahrscheinlich abscheulichsten: ich glaube, ich bin nicht der einzige Mensch, dem flau im Magen wird beim Gedanken an eine zahnärztliche Behandlung. Umso interessanter, wie "Träume im Zwielicht" zu Beginn fetischistische Erotik, quasi-pornografische Symbolik und zahnärztliches Unbehagen zusammenbringt: extreme Nahaufnahmen auf Münder, deren Lippen gestreichelt werden, in denen aber auch Spiegel und Bohrer reingesteckt werden, aus denen Unmengen an Speichel schaumig wie Sperma heraustropft, unterlegt von einer Kakophonie nervzerfetzender Zahnarztbohrergeräusche.

Ist das noch Exploitation oder ist das ein Experimentalfilm? Eine Frage, die so einige Exploitationfilme aus Japan bei mir auslösen. HAKUJITSUMU gilt als früher Vertreter des japanischen Pink-Film, als Meilenstein in der Darstellung von Nacktheit und Sex im japanischen Kino. Ein einfacher, gefälliger Film ist er keineswegs, und als kontemplativer, stark entschleunigter Avantgarde-Horrorfilm (der er auch ist) war er als Spätfilm keineswegs leichte Kost. Vom Prolog in der Zahnarztpraxis arbeitet sich der Film Stück für Stück durch verschiedene Set-Pieces, durch Fragmente eines großen Alptraums: ein Film-Noir-Nachtclub mit Gesang, eine lange Folter-Session beobachtet durch die Fenster-Fassade eines Hochhaus-Apartments, eine Konfrontation zwischen dem Protagonisten und der Frau (die sich zwischendurch in einen Affen verwandelt!) auf einem futuristischen Spielplatz, eine quälende Verfolgungsjagd durch ein Kaufhaus inklusive einem Spießrutenlauf auf einer Rolltreppe, eine belebte Straße mit einem brutalen Mord der komplett von den Passanten ignoriert wird.

HAKUJITSUMU lässt seine beiden Protagonisten durch einen qualvollen Alptraum taumeln (wobei aber mehrheitlich die Frau die Leidtragende der Folterungen und Quälereien ist). Zu Beginn scheint festzustehen, dass wir SEINEN Alptraum sehen, in denen seine Geilheit für die Co-Patientin Stück für Stück von zunehmend extremen Fantasien aufgelöst wird. Die bereits erwähnte lange Folterung in der Hochhaus-Wohnung, bei der die Frau vom Zahnarzt in bürgerlicher Zivilkleidung gefoltert wird (er schlägt sie, peitscht sie aus, verabreicht ihr Elektroschocks) beobachten wir als Zuschauer durch das Terrassenfenster – der Protagonist selbst steht auch als machtloser Beobachter auf dem Balkon, und wir sehen ihn auch beim Beobachten zu, während er teilweise von einer mysteriösen Alptraum-Kraft, teilweise vom Zahnarzt mit einer Pistole davon abgehalten wird, einzugreifen. Gerade diese Szene demonstriert die formale Radikalität und die gnadenlose Grimmigkeit von HAKUJITSUMU, die für einen Film von 1964 (und nicht aus den späten 1970er Jahren) verblüffend ist, den Atem stocken lässt – und auf gewisse Weise die Vierte Wand durchbricht: dieser Film-als-Alptraum quält nicht nur seine Figuren, sondern die Zuschauer auch mit, verhindert, dass sie sich gemütlich berieseln lassen, lässt sie Teil werden. Angenehm ist das nicht, aber sehr konsequent.

Die Verschiebung der Grenzen zwischen den Figuren und den Zuschauern schreitet im Lauf des Films immer mehr voran: es beginnt als SEIN Alptraum, aber der männliche Protagonist macht sich im dritten Viertel des Films rar, und langsam kommen wir in einen Zustand, in dem offensichtlich IHR Alptraum durchlebt wird. Bei ihrem endlosen langen Marsch entgegen der Fahrtrichtung einer Rolltreppe, ihrem erfolglosen, strapaziösen Versuch, nach unten zu kommen, war der männliche Co-Patient komplett aus den Augen und aus den Sinnen.

Takechi Tetsuji war ein Außenseiter in der japanischen Filmindustrie, da er von seinem Hintergrund ein Mann des Theaters war: ein experimenteller Erneuerer, der in den 1950er Jahren umgedeutete traditionelle japanische Theater-Formen, avantgardistische Experimente sowie Burlesque und Striptease zusammenbrachte, Schoenbergs "Pierrot lunaire" in japanische Ausdrucksformen adaptierte und erotisch gewagte Theaterstücke im Fernsehen präsentierte. HAKUJITSUMU war sein zweiter Film, war in Japan kommerziell erfolgreich, löste aber auch Kontroversen aus: der Film passierte erst nach dem "Fogging" einer Szene die Zensur und wurde sowohl von der japanischen Regierung (für seinen sexuellen Inhalt) wie auch von der Interessensvertretung der japanischen Zahnärzte angegriffen. Takechi Tetsuji selbst verfilmte den gleichen Stoff 1981 noch einmal in einer Farbfilm- und Hardcore-Variante (und inszenierte damit den ersten in Kinos gezeigten japanischen Hardcore-Porno).


Gegen Ende des Films bekommt der männliche Patient, dem ein Zahn gezogen wird, übrigens einen Cognac serviert. Bei meinem nächsten Zahnarzt-Besuch fände ich das auch ganz nett – also... nicht einen Zahn gezogen zu bekommen, sondern den Cognac!


so gegen 2:15 Uhr


KOKAIN – DAS TAGEBUCH DER INGA L.
Regie: Günter Schlesinger
BRD 1986
VHS, dt. OV
Der Dealer Bobo ist der neue, ganz heiße Typ in der Hamburger Unterwelt. Um beim großen Drogenhai Stone Eindruck zu schinden, zieht er brisante Deals ab und hinterlegt seine Freundin Inga als "Pfand" in einem von Stones Bordellen. Doch die macht sich aus dem Staub und rettet dabei noch eine minderjährige Kollegin.

Ein idealer Film für den Videoknüppel-Slot: trance-artig und vollkommen hinüber. No-Budget-Schlock, der so dermaßen versumpft statisch ist, dass es irgendwie auch eine eigene Faszination entwickelt. Stones raumeinnehmender Pornobalken und Bobos eklatant weiße Haifischzähne, die sichtbar werden, wenn er anfängt, grundlos psychopathisch vor sich hinzukichern (und das macht er sehr oft!) sind die eigentlichen Helden des Films. Die Handlung spielt sich zu etwa einem Drittel darin ab, dass Figuren sie sich gegenseitig mit sehr vielen, langen Pausen zwischen den Repliken erzählen. Stellenweise fühlt sich das eher nach einer sperrigen Avantgarde-Kunstperformance als nach einem Hamburg-Gangster-Thriller an, der KOKAIN "eigentlich" ist. Das völlig konzeptlos einmontierte Fremdmaterial, stets sichtbar, weil sich das Bildformat so deutlich ändert, ist wohl so etwas wie das Herz des Films: in einer Laufzeit von bestimmt etwa einem Viertel des Films gab es nicht nur eine komplette Nebenhandlung mit zwei anderen Prostituierten, die in einer "normalen" Umgebung unterwegs waren (und nicht in den absolut desolaten, tristen Abrissbuden, in denen KOKAIN sonst angesiedelt ist), nicht nur die immer gleiche Ansicht einer hübschen Villa, aus der ein für die Handlung völlig irrelevanter, elegant in Weiß gekleideter Gentleman immer wieder ins Freie tritt, sondern auch "zauberhafte" Ansichten vom Hamburger Hafen, seinen pittoresken Baustellen und Müllhalden (die Ansicht eines Bauschutt-Panoramas ließ mich ab dem zweiten Mal in meinem übermüdet-benebelten Zustand unkontrolliert kichern – und kam bestimmt sechs, sieben, acht Mal!). Ja, der Bauschutt ließ KOKAIN wie eine Art Kommentar zu WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN lesen. Und dann gab es natürlich noch der Moment, in dem sich Inga und Kollegin in einem Schiff verstecken und dafür durch endlose Schiffskorridore laufen, und laufen, und weiter laufen, und noch mal weiter laufen, und noch mal ein Weilchen weiterlaufen (bis sie schließlich ein sicheres Versteck gefunden haben) – wie ein Nachklang zur langen Rolltreppen-Szene in "Träume im Zwielicht".



Samstag, 6. Januar 2024



ab 14:45 Uhr


WANTED: BILLY THE KID
Regie: Jack Deveau
USA 1976
16mm, OV
Billy hat seinen Durchbruch als Schauspieler in New York noch nicht richtig vollbracht. In der Zwischenzeit verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Prostituierter für zahlungskräftige Herren und Paare.

WANTED: BILLY THE KID lief im September 2020 im Rahmen der kleinen Retrospektive des Filmkollektiv Frankfurt zu Filmen aus Jack Deveaus Produktionsfirma Hand in Hand in der "Pupille": warum auch immer, aber dort plätscherte der Film etwas gleichgültig an mir vorbei. Die Wiedersichtung in Nürnberg war nun eine kleine Offenbarung: ein sehr intimer, zärtlicher, ab und an auch sehr witziger Film. Die ersten zwei Sex-Nummern wirkten nun außerordentlich intim und erotisch. Zunächst Billy mit einem Freier bei sich zuhause: sehr schön, wie das Gefühl der Intimität beim After-Sex-Smalltalk behalten wurde, wenn sich der Kunde langsam beim Gespräch wieder anzog (und sich als gutbetuchter Anzugsträger offenbarte). Später die "Hausmeister-Sex"-Nummer im tiefen, dunklen, staubigen und vollgerümpelten Keller eines Brownstones: auch hier verzichtet Deveau komplett auf den Einsatz der Musik, und die Erotik im Sex zwischen Billy und dem Hausmeister (bzw. wie später klar wird: ein für ein Rollenspiel als Hausmeister gekleideter, reicher Anzugsträger) steigerte sich nur durch die zunehmend lauter werdenden Stöhngeräusche und vor allem das Knarzen von Billys Lederjacke.

Deveau interessierte sich immer wieder für Klassenunterschiede, in keinem Film wohl so explizit wie in WANTED: BILLY THE KID, in dem der mittellose Schauspielstudent Billy von einer Vielzahl reicher Freier bezahlt wird, die vielleicht gerade auch das Überschreiten der Klasse interessiert, oder das Tauschen der Identität: so ist Billy bei der "Hausmeister-Sex"-Nummer zunächst der anspruchsvolle Mieter, der seinen tropfenden Wasserhahn repariert haben möchte – und sein Freier der Hausmeister. Gängige Grenzen, Eindeutigkeiten werden hier wie so oft in Schwulenpornos der Zeit wieder mit einer bisexuellen Sexszene, einem Dreier mit Billy und einem Ehepaar überschritten – hier zur Abwechslung mit dem ironisch-witzigen Song "Sheltered Life" von Lou Reed unterlegt (in der Version aus dem Solo-Album "Rock & Roll Heart" – der Song geht aber zurück zu den Anfängen von Velvet Underground, ich persönlich bevorzuge die Demo-Version mit John Cale an der Viola und zwei Kazoo-Soli von Lou Reed).

Noch mehr Grenzen werden in der Zahnarztpraxis-Szene überschritten – die wunderbarerweise gleich einen inhaltlichen Anschluss an den letzten Film des offiziellen Kongressprogramms bildete: der Freier ist hier der Zahnarzt, aber wir sehen das Ganze aus Billys möglicherweise narkotisierten Perspektive – und in dieser Vision hat Billy Sex mit sich selbst. Eine surreale, beunruhigende, mit extremen, verzerrten Weitwinkelbildern und dissonanten elektronischen Klängen leicht in Horrorgefilde weisende Szene.

Wen das zu sehr beunruhigt: Yoga soll wohl ganz gut sein zum Runterkommen. Deshalb gibt es immer wieder Fragmente aus einem Yoga-Kurs, den Billy besucht: ein Wintergarten voller grünender Pflanzen, dazwischen ein Dutzend Männer in knappen weißen Slips, die entschleunigte Bewegungsübungen machen. Diese Fragmente werden in die "normale" Handlung, manchmal aber auch in Sexszenen eingestreut – Sex und Sport zusammen montiert, auch ein wiederkehrendes Motiv dieses Hofbauer-Kongresses!



ab 16:30 Uhr


AAN
Regie: Mehboob Khan
Indien 1952
35mm, OV mit englischen Untertiteln, internationale Exportfassung (ca. 135 statt 161 Minuten)
Der Bauer Jai bezwingt bei einem Wettbewerb die unzähmbare Stute der Prinzessin Rajshree, die aufgrund ihres hohen Adelsbewusstseins davon gar nicht begeistert ist. Während Jai versucht, das Herz Rajshrees zu erobert, spinnt ihr Bruder Putsch-Intrigen, um seinen Vater, einen reformerischen Fürsten, zu beseitigen.

Die Bollywood-Premiere des Hofbauer-Kongresses versprach interessant zu werden – aber so einen unfassbaren Knaller? Die Kopie wurde durch das britische Archiv fast nicht verliehen, weil es sie als "praktisch unspielbar" klassifizierte: zu sehen war eine absolut prachtvolle Technicolor-Kopie mit nur gelegentlichen Andeutungen von leichten, sehr oberflächlichen Laufstreifen. Man muss sagen: Rotstichige Kopien gab es bei diesem Kongress doch sehr viele zu sehen, und AAN war hier farblich eine absolute Wohltat für die Augen. Eine Explosion der Farben mit knallgelben blühenden Blumen auf saftig grünen Wiesen unter einem strahlend blauen Himmel. Barocke Dekors in allen möglichen Schattierungen von Farben, von zartem Pastell bis zu psychedelisch leuchtenden Tönen. In einem Film, der Abenteuerfilm, Action, Musical, Komödie, Melodrama, wüsten Klamauk, psychosexuelle Abgründe und eine Schmierigkeit, wie sie in dieser Form nur selten auf diesem Kongress sonst zu sehen war, freudig ineinander krachen ließ. Nicht nur, aber auch durch die Schnitte in der Exportfassung bedingt schlug AAN erzählerisch mit zunehmender Laufzeit immer größere Kapriolen – auf Kosten der Kohärenz zwar, aber dafür mit einem umso größeren Gewinn in Sachen Tempo, Geschwindigkeit und einem allgemeinen Gefühl des cineastischen Wahnsinns. Die oben aufgeschriebene, kurze Synopsis ist nur eine sehr ungefähre Annäherung an das, was AAN so alles entfesselt.

Fliegt das alles bei 135 Minuten nicht um die Ohren? Nein, denn die Cine-Göttin Nadira kam in ihren Hosen und manchmal einer Reitgerte in der Hand, um das alles zusammenzuhalten und wenn nötig mit bösen Blicken und harten Schlägen wieder auf seinen Platz zu bringen! Nadira, die ich ganz spontan die "indische Joan Crawford" gennant habe, besonders in Bezug auf die Ähnlichkeit zwischen der Prinzessin und Vienna aus JOHNNY GUITAR: wie Rajshree in eleganten Reiterhosen und hohen schwarzen Lederstiefeln gekleidet und mit drohendem Blick eine lange Treppe hinuntersteigt, nimmt um zwei Jahre Viennas ähnlichen Gang in JOHNNY GUITAR vorweg. Nadira – Rajshree, Hosenträgerin, Göttin des arroganten Blicks, des expressiv-entfesselten Zorns im Antlitz, des unendlich gekränkten Gesichtsausdrucks, Herrin über ungeheure Gefühle – nicht nur Jais, das ist noch konventionell. Nein, Rajshree scheint mit ihrer Hausdame zu Beginn eine sadomasochistische Beziehung zu unterhalten, denn sie ohrfeigt sie immer wieder genüsslich – und die Hausdame reagiert darauf immer mit einem lustvollen Blick, reibt sich wohlig die Wange, als wäre sie eben zärtlich gestreichelt worden, guckt dabei mit sanft-verliebten Augen. War das indische Zensursystem nur wenige Jahre nach der Staatsgründung wohl noch nicht so effizient? Oder ein Moment, in dem sich Rajshree den Annäherungsversuchen ihres Verehrers Jai in ihrem Schlafzimmer widersetzt, und die Kamera schwenkt auf die Statue eines Elefanten, dem ein rasender Tiger die Klauen in den langen phallischen Rüssel hineinkrallt – ich bin nur zu 95% sicher, dass ich das wirklich gesehen habe, so unfassbar ist das! Aber AAN strotzte vor solchen Momenten...

Komplett ins Delirium schlägt dann der Film in einer langen Fantasie- bzw. Traumsequenz, die ein wenig an den Traum in SINGIN' IN THE RAIN bzw. an die fantastische Ballettaufführung in THE RED SHOES erinnerte. Eine Allegorie auf die Demokratisierung von Rajshrees Haltung (nachdem sie, von Jai entführt, in einer Art perversen Proto-VERTIGO-Prozedur zur Doppelgängerin einer verstorbenen Bäuerin degradiert wird, damit sie den "peasant way of life" kennenlernt), die sich ganz in barocken Traumdekors und psychedelischen Farben auflöst.


Den Hunger passenderweise im indischen Restaurant in unmittelbarer Kinonähe gestillt. 



ab 21:15 Uhr

Bruno-Sukrow-Programm


DER WAHRE FROSCHÖNIG
Regie: Bruno Sukrow
Deutschland 2000er
digital, dt. OV
Die wahre, ungeschönte Geschichte des Froschkönigs...

...mit Flatulenzen, Schimpfwörtern und dem wahren Twist. Noch als "konventionelle" Animation und daher nur durch die unverkennbare Synchronstimme als Film Bruno Sukrows erkennbar. Im Hauptfilm des Abends kam dann der "typische" Sukrow-Stil zu voller Blüte.



IM NAMEN DES KÖNIGS
Regie: Bruno Sukrow
Deutschland 2015
digital, dt. OV
Sachsen im Mittelalter: der Sohn des Königs ist ein echter Frauenheld, doch sein Vater lässt die nicht-standesgemäßen Liebschaften gerne ermorden. Bei Kunigunde verpatzt der Knappe des Königs absichtlich den Mordanschlag und verhilft ihr zur Flucht in eine Bärenhöhle. Währenddessen sucht der König eifrig nach einer standesgemäßen Partie für einen Sohn.

Ein alter Mann über 80 Jahre erfindet an seinem Wohnzimmerrechner als One-Man-Show das Kino neu: ich habe beim letzten Hofbauer-Kongress einen ersten Einstieg in die wunderbar poetischen, fantastischen Filmwelten Bruno Sukrows erhalten, nun habe ich mich weiter in sie verliebt (zusammen mit vielen anderen Co-Kongressniki). Sukrow ist nicht nur ein begnadeter Erzähler, ein liebevoller Erschaffer unvergesslicher Figuren, sondern erfindet wirklich in jedem Film ein eigenes kleines Cine-Universum. Trotzdem es rein digital entstandene Filme sind, spürt man in jedem Frame das liebevoll Handgemachte: Imperfektionen bei den Bewegungen der Figuren, beim Freistellen von Formen, leichtes Pixelrauschen an den Rändern, Überlagerungseffekte – alle machen die Filme zu Wunderwerken eines sehr persönlichen Kinos, die UI-Bugs werden zum Gehilfen des Film-Auteurs.

Trotz des oberflächlich "rohen" Looks sind Sukrows Filme voll mit witzigen, mehr oder minder sichtbaren kleinen Details, die oft neben der "eigentlichen" Haupthandlung laufen: dazu gehören die unzähligen Tier-Figuren, die Sukrow sichtlich liebt und aufwändig in seine Filme integriert. Watschelnde Enten, huschende Mäuse, faulenzende Cocker-Spaniels. Tierischer Star von IM NAMEN DES KÖNIGS war der vegetarische (und daher harmlose) Bär Beppo, in dessen Höhle der mitfühlende Knappe die flüchtende Kunigunde versteckt: sein verdutzt fragender Blick, wenn er den Kopf zwischen dem Knappen und Kunigunde während ihres Gesprächs langsam hin- und herbewegte – unbezahlbar! Auch merkwürdige (und im Rahmen dieser Geschichte nicht in die Zeit passende) Gegenstände streut Sukrow immer wieder ein: ein Windrad am Horizont, ein filigranes Damenfahrrad im Burginnenhof, eine Flasche Duschgel neben dem Waschzuber. Und natürlich immer wieder Bierflaschen und Bierkästen der Marke Grolsch an passenden Stellen (in der rustikalen Schänke etwa) oder an den absolut unmöglichsten Orten – als die Handlung uns in den Thronsaal des Königs von Burgund führte, musste ich laut auflachen: ein Kasten Grolsch hatte sich neben dem Thron des Königs reingeschmuggelt.

Bei aller Erzähllust sind Sukrows Filme auch Oasen der Entschleunigung. Pferdekutschen bewegen sich langsam durch reale Standbilder von Straßen, Reiter durchschreiten im gemäßigten Tempo die ganze Breite der Leinwand, Figuren schreiten in Sukrow-typischen, elastischen Moonwalk-Schritten langsam zu ihrem Ziel.


Ein entspanntes Programm, bevor es dann mit rasenden und hosenlosen Verfolgungsjagden weiterging.


ab 23:30 Uhr


OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG
Regie: Hubert Frank
BRD 1975
35mm, dt. OV
Der deutschstämmige Texaner Joe Schmidinger ("Schmid'intscher" auszusprechen!) kommt nach dem Tod eines entfernten Verwandten nach Deutschland, um dort seine Erbschaft, ein Hotel, zu übernehmen. In München wird ihm erst mal der Koffer geklaut. In Heidelberg stellt sich heraus, dass das Hotel eigentlich ein Bordell ist – und trotz seiner Prüderie schafft es Schmidinger immer wieder, seine Hose zu verlieren!

OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG aka MEI HOS' IST IN HEIDELBERG GEBLIEBEN aka JAGDREVIER DER SCHARFEN GEMSEN: die Editionsgeschichte dieses Films ist wohl ebenso kompliziert und bewegt wie die Geschichte des Joe Schmidinger selbst, mit mehreren Titeln und Laufzeiten. Das widerspiegelte sich auch in der gezeigten Kopie, die offensichtlich aus mehreren Quellen unterschiedlichen Materials zusammengestellt war (aufgrund von mechanischen Schäden zu Beginn des ersten Akts war kein Titel mehr zu sehen). Farbechte Agfa-Akte mit hoher Bildschärfe und rotstichige (bzw. genauer gesagt: orange-stichige) Eastmancolor-Akte mit eher mittlerer Bildschärfe waren durcheinander geworfen. Filmarchäologisch interessant, ohne, dass es dem Vergnügen des Films irgendeinen Abbruch tat. Denn OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG (ein Originalplakat war im Foyer des KommKino zusammen mit anderen Plakaten von Filmen dieser Kongress-Edition ausgestellt worden, deshalb nutze ich diesen Titel) war tatsächlich ein Sexklamauk-Kracher, ein Gag-Feuerwerk, ein mit dreifacher Geschwindigkeit laufendes Zoten-Fließband erster Güte, ein entfernter Verwandter von SCREWBALLS aus dem gleichen Zeit-Slot zwei Tage zuvor.

Während SCREWBALLS in Bezug auf die Charaktere doch sehr abstrakt blieb, war Josef Moosholzer als Mister Schmid'intscher das charismatische Herz und die menschliche Seele des Films – und eine Slapstick-Ikone vor dem Herren. Indem er seine Hose verliert, gewinnt er die Zuneigung des Publikums. Wenn er allerdings auf das Heck eines anfahrenden Cabrios springt und sich hartnäckig an der Kante der Hintersitze festhält, während das Auto durch die Straßen Münchens rast, wähnt man sich fast in einem italienischen Polizeifilm der gleichen Ära: war es ein hosenloses Double? Oder hat Moosholzer höchstpersönlich nach dem Rezept des Slapstick-Gottes Buster Keaton höchstselbst diesen Stunt ausgeführt? Wer weiß... Weniger gefährlich für Moosholzers Leib, aber durchaus ein Stresstest für die Lachmuskeln des geneigten Zuschauers ist seine "missglückte" Begehung seines geerbten "Hotels": durchaus ganz unmetaphorisch stolpert Joe durch verschiedene besetzte Zimmer, kann kurz das Treiben der angestellten Damen mit den Freiern beobachten, bevor er panisch hinausstolpert oder hochkant rausgeworfen wird: in ihrer rasendem Eskalation war diese Szene zweifelsohne der Höhepunkt des Films.

Später gibt es auch Helikopterflüge, Fallschirmsprünge und Verfolgungsjagden auf Fahrrädern – und im letzten Drittel auch ab und an ein paar spürbare Längen. Was soll's – eine erfrischende, hosenlose Frechheit von einem Film!


so gegen 2:15 Uhr


VIRIGNIA
Regie: François About
Frankreich 1990
VHS, dF
Die Deutsche Virginia, die von einer Schauspielkarriere in Paris träumt, muss sich zunächst mit etwas weniger glamourösen Jobs begnügen. Eine Stelle als Vorleserin für einen reichen, blinden Mann klingt zunächst einfach, aber dessen Gelüste jenseits der Lektüre werden zunehmend fordernd.

Es ist das Frühjahr 1990, es gibt noch zwei deutsche Staaten, aber keine Mauer mehr: die Titelfigur (und mit ihr die Filmcrew) nimmt das zum Anlass zu einem kleinen Spaziergang durch Ostberlin (inkl. Besuch der Mauerruinen), und so fängt VIRGINIA zunächst als Berliner Promenier-Film an, bevor das Schlendern dann in Paris weitergeht, durch die alten, ehrwürdigen, ein bisschen auch angestaubten Viertel der Stadt, dann aber auch durch die Neubauten, die gentrifizierten Viertel. Dieser Prolog hat mit der "Haupthandlung" wenig zu tun, aber gibt Tempo und Atmosphäre vor: schlendernd, langsam, kontemplativ, zu den Seiten blickend. Ein Atmosphärenfilm, der sich – für ein noch waches Publikum – als ideales Spätnachtprogramm erwies. Nachdem erst mal ziellos durch europäische Hauptstädte geschlendert wird, konzentriert sich die Stimmung im Hauptteil, in der ländlichen Villa des reichen Blinden, auf ein elegisches, erotisches, melancholisches, leicht gotisch angehauchtes Unbehagen. Dass das Dienstmädchen Virginia erst einmal K.O.-Tropfen mit dem Kräutertee verabreicht und die vernebelte junge Frau anschließend im stroboskobischen Blitzlicht eines Gewitters verführt, ist natürlich erst mal ein Knüppel (ein visuell spektakulärer, sehr markanter Moment, der in einem ansonsten größtenteils in elegische, sanft ausbeleuchtete Tableaus inszenierten Film hervorsticht). So schleicht sich für den Rest des Films ein leises Unbehagen ein, die unbewusste Ahnung, dass da irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Wahrscheinlich spüren das auch die zahlreichen Tiere auf dem Anwesen. Sex-Filme mit Animal-Reaction-Shots sind natürlich grundsätzlich großartig: hier gibt es zunächst einmal Pferde – unter anderem ein Hengst namens Igor – die das Treiben der Ehefrau des Blinden mit ihrem heimlichen oder nicht so heimlichen Liebhaber beobachten ("Ich gehe Igor reiten", teilt sie morgens ihrem Mann mit). Später ist es eine Gans, die ganz verdutzt durch das Fenster schaut ob des Treibens des Blinden mit seiner Lektorin.

Der dramatische Höhepunkt wird schließlich noch von einem Twist getoppt, bei dem Brian De Palma wohl glatt seine Hose verloren hätte! Ein erschütternder, lange nachhallender Abschluss für einen größtenteils unaufgeregten, kontemplativen und sehr schön inszenierten Film: eine von wenigen (Softcore-)Regiearbeiten des Kameramanns François About, einem der großen Handwerker der französischen Pornoindustrie (hetero und schwul) – er fotografierte mehrere Filme Jacques Scandelaris, unter anderem NEW YORK CITY INFERNO und den erzählerisch wesentlich experimentelleren und abstrakteren, aber atmosphärisch durchaus mit VIRGINIA verwandten ÉQUATION À UN INCONNU.



Sonntag, 7. Januar 2024


ab 14:45 Uhr


I MIRACOLI ACCADONO ANCORA ("Ein Mädchen kämpft sich durch die grüne Hölle")
Regie: Giuseppe Maria Scotese
Italien 1974
35mm, DF
Nach einer wahren Geschichte: die junge Juliane Koepcke überlebt den Absturz eines Flugzeugs über den Amazonas und irrt danach tagelang durch den Urwald auf der Suche nach Rettung.

"Familienfreundliche Exploitation" – diese Begriffs-Kombination geisterte mir während und auch nach dem Film etwas im Kopf rum. Vielleicht bin ich von nicht ganz so familienfreundlichen, italienischen Exploitationfilmen, die im südamerikanischen Urwald spielen, etwas zu sehr "verdorben", aber "Ein Mädchen kämpft sich durch die grüne Hölle" war ganz und gar nicht meins. Nach meinem Gefühl kam die endlose Exposition mit der abfliegenden Maschine und den am Boden verbliebenen Familienmitgliedern und Flughafenmitarbeitern einfach nicht aus den Puschen: übertrieben umständlich wurde erzählt, teilweise auf komplizierte Weise Figuren eingeführt, die dann später einfach nicht mehr aufgetaucht sind (umso verwunderlicher, dass der Film am Ende auf eine Wiedersehensszene mit dem Vater einfach verzichtet). Hinzu kam, dass die Darstellerin der Juliane Koepcke zwar in einem kurzen, durch das beständige Regnen am Körper eng klebenden Minikleid durch den Urwald läuft, von Susan Penhaligon allerdings auch recht persönlichkeitsfrei gespielt wird. Da helfen auch Nahaufnahmen auf Maden, die aus Hautwunden herausgekratzt werden, nicht.

Dennoch ein sehr schöner Moment: der erste Nachtanbruch in Julianes Abenteuer. Das Licht wird gedimmter, die Geräusche im Urwald werden lauter und bedrohlicher, die Schnittfrequenz nimmt zu und überschlägt sich schließlich in Bildern von Extremnahaufnahmen auf Julianes Augen und die Augen diverser Urwaldtiere.


ab 17:00 Uhr


OTTO UND DIE NACKTE WELLE
Regie: Günther Siegmund
BRD 1968
35mm, dt. OV
Der Schauspieler Otto geht gerne in der Lüneburger Heide wandern. Was er nicht so gerne hat, ist diese "nackte Welle" mit dem ganzen Sex. Als er erfährt, dass ein konkurrierender Schauspieler nebenbei "Nackedeifilme" dreht und seiner Tochter auch noch Avancen macht, gerät Otto vollends in Panik – aber... vielleicht bietet die "nackte Welle" trotzdem auch wirtschaftliche Chancen?

"Was für eine Stahlbombe!" sagte mir ein Co-Kongressnik lachend, als wir uns während des Films auf dem Weg in Richtung Toilette kreuzten. Recht hat er!

OTTO UND DIE NACKTE WELLE war "der Sexfilm des Ohnsorg-Theaters", gespielt von Schauspielern des berühmten Hamburger Theaters und inszeniert vom späteren, langjährigen Intendanten Günther Siegmund. Diese Kuriosität ist dann auch das einzige interessante an dieser "Stahlbombe". Ja, der Spruch "Auch ein blindes Huhn findet mal ein Doppelkorn" war ganz witzig, ansonsten war der Film schon von einer sehr porentiefen Unwitzigkeit, gespickt mit eher peinlichen schulterklopfenden Momenten der Selbstreferentialität, wenn Otto Lüthje verkrampft-kumpelhaft in die Kamera hineinzwinkert und inszenatorisch von einer nägelrollenden Tristesse. Etwa eine Viertelstunde (?) des Films besteht aus Inserts aus frühen Sexploitationfilmen des Briten George Harrison Marks: ganz offensichtlich auch keine grandios inszenierten Filme, aber im direkten Vergleich mit den trist-grauen, statisch gefilmten Intérieurs wirkten sie geradezu perlend-spritzig, aufregend, ja fast genial. Kein großes Kompliment für einen Film, wenn die Inserts besser sind als der "Hauptteil".


ab 21:15 Uhr


ANNA UND ELISABETH
Regie: Frank Wisbar
Deutschland 1933
35mm, dt. OV mit englischen Untertiteln
Ein Dorf in Deutschland zu einer unbestimmten Zeit: die reiche Elisabeth ist an einen Rollstuhl gefesselt und eine ärztliche Untersuchung bestätigt, dass sie nie wieder wird gehen können. Derweilen ist der kleine Bruder von Anna, einer Bauerstochter, gestorben. Nachdem Anna intensiv für dessen Seelenheil gebetet hat, erwacht er wieder zum Leben. Fortan hat Anna den Ruf einer Wunderheilerin und weckt besonders Elisabeths Interesse.


Auch viele Tage später bleibt es dabei: ANNA UND ELISABETH war der bei weitestem bizarrste, eigenartigste Film, den ich bei diesem Hofbauer-Kongress gesehen habe. Auf der oberflächlichen Erzählebene scheint ANNA UND ELISABETH banal zu sein, etwas trocken. Aber "Der neue Frühjahrshut... und was sich drunter tut" – ja, was sich hier so drunter tut, was zwischen den Zeilen schlummert, was in der Luft liegt: ein Film der Unterschwelligkeiten.

Natürlich zunächst die angedeuteten lesbischen Vibes zwischen den beiden Titelfiguren: die beiden Hauptdarstellerinnen Hertha Thiele und Dorothea Wieck hatten bereits in MÄDCHEN IN UNIFORM von 1931, einem Pionierwerk in der Darstellung lesbischen Begehrens im Kino, zusammen gearbeitet. In ANNA UND ELISABETH interessiert sich die gelähmte Elisabeth vor allem für die angeblichen Wunderheilkräfte Annas, die sie von ihrer Lähmung – ihrer sexuellen Blockade? – befreien wird. In den lustverzehrten Blicken, die Elisabeth auf Anna wirft, im zerschmelzenden Ton, mit dem sie Annas Namen ausspricht, liegt aber mehr als nur Interesse an medizinischen Heilkräften. Als der Tag sich nähert, an dem Anna auf Drängen Elisabeths ihre Wunderheilkräfte öffentlich demonstrieren soll, werden beide Frauen im wohl explizitesten Bild des Films vereinigt: Elisabeths Kopf schräg unter Annas Kopf, beide sich tief in die Augen schauend, sagt Elisabeth "Morgen" – nach einem Schnitt ist Elisabeth über Anna gebeugt und haucht "Heute".

Wahrscheinlich weit noch wichtiger ist die Grundatmosphäre religiöser Hysterie und abergläubischen Wahnsinns, die sich über den ganzen Film wie ein halbdurchsichtiger Schleier legt. Ein Teil des Konflikts des Films besteht darin, dass eine einfache junge Frau unter dem psychischen Druck, vom ganzen Dorf für eine Wunderheilerin gehalten zu werden, immer mehr zerfällt – sich aber auch fängt, als sie selbst beginnt, ihre Wunderheilkräfte als reale Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Auch sie wird Stück für Stück vom religiösen Fieberwahn ergriffen, der Elisabeth geradezu zum Brennen bringt und die ganze Dorfbevölkerung in Aufruhr bringt, zu latent bedrohlichen Massenversammlungen vor Annas Wohnhaus führt, sämtliche Leute leicht wahnsinnig schauen lässt. Ausgerechnet der Dorfpfarrer ist der größte Skeptiker, wahrscheinlich aber vor allem, weil die abergläubische Bewegung von unten der offiziellen Kirchendoktrin zuwiderläuft.

Es gibt zwar nur eine klerikale Person im Dorf und kein Nonnenkloster, aber ANNA UND ELISABETH hat mit seiner Thematik religiöser Hysterie durchaus eine assoziative atmosphärische Geistesverwandtschaft mit späteren, an Nunsploitation angrenzenden Filmen wie Michael Powells und Emeric Pressburgers BLACK NARCISSUS, Jerzy Kawalerowicz' MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW und Ken Russells THE DEVILS.

ANNA UND ELISABETH startete im April 1933 in den deutschen Kinos. Die Nazis verboten den Film nicht, warfen ihm aber vor, das "gesunde Volksempfinden" zu verletzen. Frank Wisbar hatte bei den Nazis schlechte Karten, emigrierte 1938 mit seiner jüdischen Ehefrau in die USA. ANNA UND ELISABETH startete gemäß IMDb auch in Japan, in Großbritannien, in Ungarn, Spanien, Schweden und in den USA. In der New York Times wurde der Film im Grundton positiv besprochen, die Leistung von Dorothea Wieck als herausragend hervorgehoben, Hertha Thiele als eher schwach bezeichnet und die Langsamkeit von Wisbars Inszenierung kritisiert. Ich würde dem widersprechen insofern vor allem Hertha Thiele als Anna für mich heraussticht: neben Nadira in AAN für mich die zweite große Schauspiel-Ikone dieses Kongresses. Die Langsamkeit der Regie ist hingegen quasi ein Wunder: viele Szenen sind tatsächlich von der spektakulären, trance-artigen Langsamkeit eines die Sinne und den Verstand vernebelnden Fiebertraums. Zugleich aber war ANNA UND ELISABETH in der gefühlten Laufzeit der kürzeste Film des Kongresses: die 70 Minuten fühlten sich eher wie 45 an (ein Gefühl, das einige Co-Kongressniki in der anschließenden Pause auch so bestätigten). Das bestätigt meine anfängliche Annahme: der merkwürdigste Film dieses Kongresses.


ab 23:15 Uhr


AMERICAN FLYERS
Regie: John Badham
USA 1985
35mm, engl. OV
Der begeisterte Hobby-Rennradfahrer David Sommers bricht mit seinem älteren Bruder, dem Sportmediziner und ehemaligen Profi-Rennfahrer Marcus, zum berüchtigten "Hell of the West"-Wettkampf auf. Der frühe Tod des Vaters durch ein Aneurysma hat die Beziehung der Brüder überschattet – und die Möglichkeit, dass die Krankheit vererbt wurde, macht den gemeinsam angetretenen Wettkampf umso wichtiger.


Eine der größten Vorfreuden des Kongresses: AMERICAN FLYERS sollte ursprünglich in der Samstagabend-Prime-Time des Karacho-Actionfilm-Festivals im November 2023 laufen, die Kopie blieb allerdings im deutschen Zoll hängen, als würdiger Ersatz wurde der sehr eigensinnige Boxerfilm DIGGSTOWN gezeigt. Schon beim Karacho versprach der Hofbauer-Kommandant im Karacho-Orgateam, AMERICAN FLYERS beim nächsten Kongress zu zeigen.

"Wie ein Schwulenporno, bei dem die Sexszenen entfernt wurden" – so ungefähr wurde die HK-Relevanz des Films seitens des Hofbauer-Kommandos in der Einführung begründet. Ganz so würde ich das nicht sagen, auch wenn das Bonding zwischen den beiden Brüdern untereinander und jeweils zu ihren Stahlhengsten sehr fetischistische Züge hatte. Der pornöse Schnurrbart, den Kevin Costner in diesem Film trägt und ihn wie der vergessene Cousin Harry Reems' (danke an jemand aus der Reihe hinter mir, der ganz erstaunt "Oh, Harry Reems" geflüstert hat, als Costner das erste mal auftauchte) aussehen lässt, hätte aber als Begründung auch ausgereicht. Na ja, und das Motto des medizinischen Sportzentrums, in dem Your Porn Moustache Highness arbeitet: Once you get it up, keep it up!

Von diesen Überlegungen abgesehen: mit John Badham, einem journeyman extraordinaire des Post-New-Hollywood-Genrekinos, kann man ja eigentlich nie etwas falsch machen. Er macht meistens Filme, die zwar gut inszenierte Attraktionen des Genrekinos abliefern, aber eben auch von den Charakteren her entwickelt werden. In AMERICAN FLYERS geradezu idealtypisch: die erste Hälfte dient erst einmal dazu, die Figuren einzuführen und sie erst einmal in Ruhe miteinander abhängen zu lassen. Das fängt an mit Davids langer Radtour unter den Anfangs-Credits: ein Obsessiver, der nicht nur draußen auf den Straßen Fahrrad fährt, sondern auch, mit einem ganz kurzen Absteigen im Fahrstuhl, bis in seine Wohnung hinein sein Drahtesel reitet und erst einmal beim Stoppen davon stürzen muss, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Marcus hat natürlich seinen ultra-pornösen Schnurrbart, ist aber auch der "bürgerliche", ältere Bruder, der seiner Mutter immer noch nicht ihren Umgang mit dem Tod des Vaters verzeihen kann. Zum "Hell of the West" kommt auch Marcus' Lebensgefährtin Sarah (Rae Dawn Chong in einer wunderbaren Rolle) und irgendwann gabelt das Trio unterwegs die Tramperin Becky auf, die schließlich mit David anbandelt. Von einigen Geschwindigkeitsspitzen abgesehen – die Fahrradverfolgungsjagd mit dem bissigen Hund und das kleine Wettrennen mit den Cowboys auf den Pferden aus Fleisch und Blut – hat AMERICAN FLYERS in der ersten Hälfte das tiefenentspannte Tempo einer kleinen Urlaubsspritztour...

...um dann in der zweiten Hälfte umso mehr die Geschwindigkeit anzuheben und die Spannungsschrauben (und die Emotionalitätsschrauben im eskalierenden Melodrama!) anzuziehen, wenn es zunächst um die Qualifikation zum "Hell of the West"-Rennen geht, dann um den Wettkampf selbst. Da gibt es nicht nur die harten Anstiege in den Bergen von Colorado zu besiegen, sondern auch einige wunderbar fiese Konkurrenten, den "Cannibal" zum Beispiel (pikanterweise Sarahs Ex-Mann) und um noch ein wenig Kalte-Kriegs-Atmosphäre reinzubringen den bärig-bärbeissigen Russen Belov. Point-of-Views aus der Fahrerperspektive und Hubschrauber-Panoramen der verschlungenen Wege in der kargen Berglandschaft Colorados (das Cinemascope kommt hier im Kino ganz besonders schön zur Geltung) sorgen für einen andauernden Nervenkitzel. Vor extremer Anspannung habe ich im Showdown in der letzten Viertelstunde meine rechte Hand krampfhaft in die Armlehne gekrallt: robust gebaut das Ding, ansonsten hätte ich es wohl komplett zerbröselt! Großes Kino kann eben auch ein Stresstest für Kinositze sein.


EPILOG

"Once you get it inside, keep it inside!"


Mittwoch, 7. Februar 2024

Jena, Kino im Schillerhof, 20.00 Uhr

Die Organisatoren des 35mm-Kino beim Film e.V. Jena haben AMERICAN FLYERS aufgrund einer etwas früheren Abreise schweren Herzens verpasst (einer hat aber kurz vor Abfahrt des Zuges einen Blick in die ersten 20 Minuten geworfen). Das Programm des Jenaer 35mm-Kinos war noch nicht festgelegt. Die Kopie von AMERICAN FLYERS war noch im Lande... Kurz: Synergieeffekte wurden geschaffen, AMERICAN FLYERS zum Eröffnungsfilm 2024 des 35mm-Kinos auserkoren und die Reihe "Auto & Geschwindigkeit" mit "Geschwindigkeit Teil 2" verlängert. Genial!

AMERICAN FLYERS war zweifelsohne ein toller Kongress-Abschlussfilm, aber diese haben natürlich immer auch den Haken, dass man sie durch einen etwas getrübten Schleier der angesammelten Festivalmüdigkeit sieht. Die Zweitsichtung genau einen Monat später hat den Film bei mir noch mal gesteigert: ganz großes, mitreissendes Kino, ein Fest der großen Gefühle, der herzlichen Lacher, des adrenalintreibenden Geschwindigkeitsrausches. Definitiv ein Nachrücker in die Reihe meiner diesjährigen Kongress-Lieblinge (WUNDERLAND DER LIEBE, WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN, IM NAMEN DES KÖNIGS).

Nach dem Ende dieser Vorstellung war ich mental bereit, mit Kevin Costners Schnurrbart bis in die höchsten Gipfel der Berge von Colorado zu radeln, von Glenn Shorrocks ohrwurmigem Titelsong zu pedaltretender Trance angetrieben!


Dienstag, 2. Januar 2024

2023 im persönlichen Rückblick


 

Und wieder ein Jahr vorbei... Mit vielen schönen




Festivals und Filmwochenenden

Über den wunderbaren 20. Hofbauer-Kongress im Januar habe ich bereits hier geschrieben: tried & tested, bekannt und immer wieder wunderschön. Eine Premiere für mich war 2023 der Besuch des Technicolor-Festivals in der Schauburg in Karlsruhe: der Kinosaal mit der riesigen Cinerama-Leinwand, viele bekannte Gesichter und eine unschlagbare Verköstigung mit Frühstück, Kaffeepausen und Abendessen (und eine größere Runde Freibier mit einer lokalen Brauerei an einem Abend) machten dies zu einem wunderschönen verlängerten Pfingst-Wochenende – und natürlich die tollen Filme: die stark geschnittene Wiederaufführungsfassung von GIÙ LA TESTA hat mir noch mal gezeigt, wo das eigentliche Herz des Films liegt, das Double-Feature aus JAWS und MORTE À VENEZIA war verblüffend stimmig (beide morbid-maritim und mit einer korrupten lokalen Verwaltung, die etwas Störendes – hier ein mörderischer Hai, dort eine Cholera-Epidemie – zu vertuschen versucht). Auch über das 9. Terza Visione, diesen wunderschönen cineastischen Kurzurlaub in Italien, habe ich schon geschrieben.

Zum Frankfurter Filmmuseum zog es mich dann wieder Ende September zur Mini-Retrospektive "Pre-Code Musicals Maudits", die sich gefloppten, genre-hybriden Musicals der Pre-Code-Ära widmete, mit MADAM SATAN von Cecil B. DeMille (eine Ehefrau versucht ihren untreuen Ehemann bei einer wilden Party als Femme Fatale verkleidet "zurück" zu verführen – aber dann gibt es eine Zeppelin-Katastrophe), I AM SUZANNE von Rowland V. Lee (eine verunglückte Tänzerin verliebt sich in einen Puppenspieler, der eine verstörende fetischistische Beziehung zur Puppen-Version seiner Geliebten entwickelt), IT'S GREAT TO BE ALIVE von Alfred L. Werker (nach einer für Männer tödlichen Pandemie wird ein letzter überlebender Mann von allen Frauen der Welt heiß begehrt) und MURDER AT THE VANITIES des langjährigen DeMille-Mitarbeiters Mitchell Leisen (ein Serienmörder versetzt eine Revue-Premiere in Angst und Schrecken). Eine wirklich entgrenzte "wilde Sause" der Freizügigkeiten (so viele so extrem kurze Miniröcke habe ich in dieser Ballung selten gesehen) und der totalen Unfassbarkeiten, bevor der "Code" den Stecker zog.

Wieder nach Italien (bzw. zur Nürnberger Filiale im KommKino) ging es zum Italo-Cinema-Wochenende im Oktober, wie 2018 mit Giallo-Schwerpunkt. Leider auch eine Schau des Materialverfalls, mit vielen rotstichigen, komplett entfärbten, teils in den Aktenden materiell komplett zerstörten und unabspielbaren Kopien. Die ab Samstag 16 Uhr drei aufeinanderfolgenden Filme hatten zum Glück alle Farbe und gutes Material, und zwischen dem Giallo-Gothic-Horror-Klamaukkomödien-Hybrid TUTTI DEFUNTI... TRANNE I MORTI von Pupi Avati und dem als Giallo getarnten entschleunigten Sleazer cum Kinski LA BESTIA UCCIDE A SANGUE FREDDO von Fernando Di Leo lief passenderweise in der Prime-Time das große Tier-Giallo-Meisterwerk UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE in strahlendem Technicolor.

Wenige Wochen später dann wieder Nürnberg, diesmal zum Karacho-Festival des Actionfilms. Mehr bekannte Titel denn je (ROBIN HOOD, THE FRENCH CONNECTION, DEATH WISH 3, LICENCE TO KILL, STRIKING DISTANCE), aber auch schöne Überraschungen aus den Philippinen und aus der Reservekiste für nicht rechtzeitig gelieferte Kopien. Ein besonderer Schmankerl, der den Blick jenseits der klassischen Regisseurs- oder Darsteller-Perspektiven erweiterte, waren die zwei Einführungen zur Musik von Michael Kamen (ROBIN HOOD, LICENCE TO KILL). Und bei aller Liebe zu Kongress und Terza: sehr schön bei Karacho (auch, wenn es in einer idealen Welt anders sein sollte) ist auch die stets kleine, gemütliche, intime Publikumsrunde.

Noch kleiner, gemütlicher und intimer ging es dieses Jahr auch beim Filmarchäologen-Symposium zu (ich war einer von zwei extern Angereisten). Auch hier keineswegs zulasten der Veranstaltungsqualität, im Gegenteil (und einen Tisch im Restaurant zu finden bei dieser Anzahl ist auch gleich viel einfacher!). 

Als unterjährige Reihe ein stetiger Begleiter meines Filmjahres war das 35mm-Kino des Film e.V. Jena. Mein erster Miyazaki (SEN TO CHIHIRO NO KAMIKAKUSHI – SPIRITED AWAY) habe ich bei einer Kindervorstellung (mit einigen ob des verblüffenden Gore- und Splatter-Content des Films recht eingeschüchterten sehr jungen Co-Zuschauern) erleben dürfen. Meine Entfremdung von Kubrick schreitet zwar immer weiter voran (wie ich bei THE KILLING und A CLOCKWORK ORANGE gemerkt habe), nur 2001: A SPACE ODYSSEY scheint davon nicht tangiert zu sein: interessanterweise gab es eine Roadshow-Kopie mit Prolog-Musik (ca. 8 Minuten Ligeti mit Schwarzbild) und Intermission (Penderecki mehrere Minuten lang über die Einblendung "Intermission"). Die Mini-Retro zum asiatischen Arthouse-Kino umfasste Zhang Yimous verblüffend dreckig-naturalistisches Dorfdrama und Filmdebüt HONG GAO LIANG – RED SORGHUM und Kurosawas bizarr-exzentrisches Epos bzw. Nicht-Epos RAN als Höhepunkte. Doch die großen Highlights kamen dann im Herbst in der Reihe "Auto & Geschwindigkeit": eine die Großartigkeit dieses Films noch mal unterstreichende Projektion von Tarantinos DEATH PROOF in einer kristallinen Kopie, eine Sonderveranstaltung in 16mm mit Wim Wenders IM LAUF DER ZEIT (der Slowburner der Reihe), John Carpenters wunderbarer CHRISTINE, eine interessante Wiederentdeckung eines Films, den ich bei der Erstsichtung halb verschlafen hatte und der trotz schwerer Verregnung und Braunstich nun gerade im Kino voll einschlug (VANISHING POINT) und last but not least der Höhepunkt, die Gottwerdung der Reihe, das Kino-Erlebnis des Jahres, TWO-LANE BLACKTOP.

Auch eine schöne unterjährige Filmreihe gab es im Leipziger LURU-Kino zu sehen: "LURU Archive" zeigte in sonntäglichen Double-Features Schätze aus dem Kopienarchiv des Kinos. Mitgenommen habe ich das Doppel über schwierige Liebe mit dem Melodrama auf dem schwedischen Dorf HON DANSADE EN SOMMAR (Arne Mattson: Schweden 1951) und dem Mafia-Drama LA MOGLIE PIÙ BELLA (Damiano Damiani: Italien 1970), das urbane Neo-Noir-Doppel mit dem überaus faszinierenden Rape-and-Revenge-Kracher LIPSTICK (Lamont Johnson: USA 1976) und dem "nur" okayen Polizei-Actionfilm NIGHTHAWKS (Bruce Malmuth: USA 1981) sowie das italienische Sleaze- und Exploitation-Doppel mit Ruggero Deodatos fiesem Home-Invasion-Schocker LA CASA SPERDUTA NEL PARCO und Marcello Andreis etwas zerfahrenem, dafür aber mit Joe Dallesandro umso mehr charismatisch besetzten urbaner Gang-Film IL TEMPO DEGLI ASSASSINI.

Und last but not least fand das 23. Internationale Jenaer Kurzfilmfestival cellu l'art mit meiner Wenigkeit als Teil des Orga-Teams statt. Ein auszehrendes, nervenaufreibendes, ultrastressiges – aber eben am Ende auch sehr belohnendes Event. Besonders stolz bin ich nicht nur darauf, ein 35mm-Programm aus dem Archiv des KommKinos nach Jena gebracht zu haben, sondern auch auf das von mir kuratierte Special zu erotischen Kurzfilmen weiblicher Regisseure (das vor einem aus allen Nähten platzenden ausverkauften Kinosaal stattfand). Nicht organisatorisch beteiligt war ich an der Programmsektion, die dieses Jahr wohl der Höhepunkt war: der Länderschwerpunkt Estland. Zwei historische Programme zum estnischen Animationsfilm der 1950er bis 1980er auf 35mm, ein Programm zum zeitgenössischen estnischen Animationsfilm (inklusive einer Deutschlandpremiere) und ein Kinderprogramm mit Filmmix aus über über sechs Jahrzehnten. Besonders erwähnenswert finde ich


EINE MURUL – BREAKFAST ON THE GRASS (Priit Pärn: Sowjetunion [Estland] 1987)

Priit Pärn gehörte zu den jungen Rebellen der frühen 1980er Jahre, die vom "familienfreundlichen" Animationsstil der Überväter Elbert Tuganov und Heino Paars die Schnauze voll hatten. EINE MURUL ist sichtlich ein Perestrojka-Film, weil Pärn hier dem Zuschauer mit einer unglaublichen Wut die Verrohung des Alltags in der Sowjetunion in grotesken Bildern vor die Füße kotzt: Strafgefangene werden durch graue Straßen geprügelt, Schwarzhändler zwingen Frauen zur Prostitution, in Ämtern wird brav nach Hierarchie immer weiter nach unten getreten, Frauen werden zu Gebärmaschinen degradiert und verlieren dabei wörtlich das Gesicht. Eine finstere, apokalyptische Vision, von galligem Humor durchzogen.
Etwas weniger finster-nihilistisch ging es in Pärns AEG MAHA – TIME OUT (Sowjetunion [Estland] 1984) zu, in dem eine Katze in einer Art infernalischem Perpetuum-Mobile der stressigen Alltagsroutinen gefangen ist, sich in einem Nervenzusammenbruch in eine grotesk-surreale Traumwelt flüchtet – und dort wieder in eine infernalische Stressmaschine gerät.


KOERKORTER – THE DOG APARTMENT (Priit Tender: Estland 2022)

Willkommen zurück zur Apokalypse, diesmal postsowjetisch: ein Wasteland mit grotesk entstellten Figuren, eine hündische Wohnung die bereit ist ihre Mieter zu fressen, eine surreal-absurde Tagesroutine um die Brötchen bzw. Würstchen zu verdienen. Und dazwischen ein poetischer Ballett-Tanz, "Schwanensee", inmitten eines Kuhstalls. (Zu sehen in der arte-Mediathek bis Dezember 2024)




Ekstatische Kinoerlebnisse der Extraklasse mit alten Bekannten


BASIC INSTINCT (Paul Verhoeven: USA/Frankreich 1992)

7. Februar 2023, Kino am Markt: auf einer großen Leinwand sind die Closeups auf die Wortgefechts-Duelle zwischen Sharon Stone und Michael Douglas noch mal erotischer! "Nicky! Nicky..."


TWO-LANE BLACKTOP (Monte Hellman: USA 1971)

22. November 2023, Schillerhof, 35mm: gesehen in der wahrscheinlich einzigen erhaltenen 35mm-Kopie in Europa. Das Sound-Design ist im Kino wirklich der Wahnsinn. Aber auch die Textur der Bilder kam in der Kopie besonders schön zum Tragen (die schöne Struktur von Warren Oates' farb-wechselndem Pullover!). Das legendäre Ende analog zu sehen ist natürlich atemberaubend. Totales Kino!




Spezialkategorie Film & Whisk(e)y


Nur ein Symbolbild: Charlotte Ramplings Figur trinkt Vodka (und guter Whisky gehört natürlich in Nosing-Gläser)

UN TAXI MAUVE (Yves Boisset: Frankreich/Irland/Italien 1977)

Boissets erster "unpolitischer" und "unproblematischer" (also: ohne schwierige Zensurgeschichten oder Morddrohungen) Film. Als Irland-Film enthält er zahlreiche Szenen mit Whisky-Genuss, die zugegeben sehr anregend auf mich gewirkt haben. Am gleichen Abend probierte ich dann mit einem Whisky-erprobteren Freund im Café Central zwei Whiskies – und habe mich seitdem langsam vom Gelegenheitsprobierer zum Single-Malt-Scotch-Liebhaber entwickelt. In Hommage an die genuss-induzierende Wirkung von UN TAXI MAUVE hier eine  kleine Nicht-Filmliste:


Lagavulin 16

Ardbeg Uigeadail

Laphroaig PX Cask

Oban 14

Glenmorangie Nectar d'Or




Tops aktuelle Filme 2023


PACIFICTION (Albert Serra: Frankreich/Spanien/Deutschland/Portugal 2022)

Benoît Magimel, ehemals so was wie ein Beau des französischen Kinos, schlurft als französischer Hochkommissar Polynesiens durch die schummerigen Nachtclubs, schaut immer entweder leicht verkatert oder besoffen aus der Wäsche, während ihm die Gerüchte um eine mögliche Wiederaufnahme der Atombombenversuche immer mehr um die Ohren fliegen. Knapp drei Stunden lang schlurfen wir in einem unklaren, trance-artigen Dämmerzustand mit ihm durch diesen Film: wie ein Paranoia-Thriller à la Jacques Rivette, der von Edward Hopper fotografiert wurde – mit Polynesien-Motiven statt Americana.


EO (Jerzy Skolimowski: Polen/Italien 2022)

EO ist ein wenig der Film, der AU HASARD BALTHAZAR hätte werden können, der Film, der wahrhaftig radikal den Esel zum wirklichen Protagonisten macht. Und zwischendurch einfach mal dessen Träumen und Visionen (?) folgt, wenn wir durch einen blutrot gefärbten Himmel fliegen, vorbei an den Windrädern und beginnen, uns dabei im Kreis umzudrehen (dieser experimentelle Einschub ist im Kino von schwindelerregender Unfassbarkeit). Oder in einem inzestuösen Subplot Isabelle Huppert als dominante Mutter Geschirr zertrümmern lässt.


PEARL (Ti West: USA/Neuseeland 2022)

Wenn Douglas Sirk einen Slasher inszeniert hätte... so ungefähr lautete die Anteaserung bei West-Bewunderern im Vorfeld des Kinostarts. Alternativ könnte man aber auch sagen: was, wenn Dorothy in Kansas hätte bleiben müssen? PEARL ist wie eine Variation von WIZARD OF OZ als Origin-Story einer Serienkillerin erzählt, mit den Mitteln eines Technicolor-Melodrama. Neben der anbetungswürdigen Farbfotografie ist es – mehr noch als im Vorgänger X – die Hauptdarstellerin (und Co-Autorin und Co-Produzentin) Mia Goth und ihre komplexe Darstellung der Titelfigur, die PEARL zu einem Original macht: ihre Pearl ist natürlich auch eine derangierte Psychopathin, aber eben auch eine junge Frau mit großen Träumen, die in einem von der Spanischen Grippe gelähmten Kleinstädtchen bei streng-protestantischen deutschen Eltern vor sich hin trüben muss.               


THE FABELMANS (Steven Spielberg: USA 2022)

Auf eine gewisse Weise fühlt sich THE FABELMANS wie eine Variation von A.I. – ARTIFICIAL INTELLIGENCE an: wo dort ein Roboterjunge unbedingt ein richtiger Junge werden wollte, um mit seiner "Mutter" ins Bett zu gehen, versucht hier ein richtiger Junge ein Filmemacher zu werden, um mit seiner Mutter nur mittels des Medium Film ins Bett gehen zu müssen. Es ist einer der großen Momente dieses unrunden und doch durch und durch faszinierenden Films, wenn Mitzi Fabelman beim Camping im semidurchsichtigen Nachthemd von den Autoscheinwerfern beleuchtet tanzt und von drei Männern lustvoll beobachtet wird: von ihrem Ehemann, der sie anschaut; von ihrem Geliebten, der sie anschaut; und von ihrem Sohn Sammy, der sie... filmt!
In PEEPING TOM greift der Serienkiller-Filmemacher Mark Lewis bei einem Spaziergang mit der Nachbarstochter intuitiv an seine Hüfte, wo üblicherweise seine Kamera hängt, um ein sich küssendes Paar im Park zu filmen (seinem Date zuliebe hat er auf die Mitnahme der Kamera verzichtet). Hier in THE FABELMANS beobachtet Sammy einen epischen Streit zwischen seinen Eltern – und fängt dann prompt in seinem Kopf an, sich vorzustellen, wie er das mit seiner Kamera filmen und zusammenschneiden würde. Hier wie dort zwei Menschen, die mit der Welt hadern und versuchen, sie mittels von Filmemachen zu interpretieren, zu verstehen, zu exorzieren (auch wenn Sammys Filmemachen weniger tödlich ist als Marks).
In einem sehr interessanten Artikel auf dvdclassik argumentiert Claude Monnier, dass das kommerzielle Kino Steven Spielbergs von kommunikationsunfähigen Figuren bevölkert ist, die von ihren Obsessionen zerfressen werden. Was in anderen Filmen vielleicht nur versteckt mitschwingt, wäre in THE FABELMANS der eigentliche Text. Es ist faszinierend, dass THE FABELMANS eben keine Geschichte NUR über die Wunder des Filmemachens ist (das ist sie auch, und die Offenbarung der Pistolenschüsse-Spezialeffekte in Sammys Schüler-Amateur-Kriegsfilm ist wirklich großartig – zumal Sammy hier auch kurz einen Draht zu seinem kunstfeindlichen, aber technikaffinen Vater findet), sondern auch über die Gefährlichkeit und die Abgründigkeit von Filmemachen, über das Kino als Waffe: eine Erkenntnis, die Sammy selbst machen muss, als er beim Schneiden seines Urlaubsfilms merkt, dass er ohne Absicht die verheimlichte Affäre seiner Mutter mit "Onkel" Bennie gefilmt hat.


DOGMAN (Luc Besson: Frankreich 2023)

DOGMAN ist der erste Besson-Film seit ANGEL-A (2005), den ich gesehen habe, insofern erzähle ich möglicherweise gleich Quatsch: er wirkt wie der Film eines Altmeisters, der sich von der Last befreit hat, irgendetwas zu drehen, was "gefällt", und stattdessen mit Sachen rumspielt, an denen er sichtlich Spaß hat. Ein verständnisvolles psychologisches Drama, ein quatschiger Tierfilm, ein kindskopfiger Heist-Movie, ein fetziges Drag-Queen-Musical (die Drag-Interpretationen von Édith Piaf ("La foule") und Marlene Dietrich ("Lili Marleen") sind große Höhepunkte), voyeuristisch-schmierig-sadistische White-Trash-ploitation, ein latent verstörender Serienmörder-Thriller, kathartische Action mit Schießereien, das Empowerment eines körperlich behinderten Transmenschen und vor allem ein hemmungslos in großen Emotionen badendes Melodrama – das alles steckt in DOGMAN drin. Die Rahmenhandlung ist das Gespräch zwischen dem Protagonisten in U-Haft und einer Polizeipsychologin und die Rückblendenstruktur fliegt dem Film in ihrer erratischen Erzählweise fast um die Ohren: man kann dem Film bei seiner eigenen Entstehung fast zusehen, doch am Ende muss ich sagen ist er eben tatsächlich mehr als nur die Summe disparater Einzelteile – Caleb Landry Jones hält das alles mit seinem mysteriösen, androgynen Charisma zusammen.


AS BESTAS (Rodrigo Sorogoyen: Spanien/Frankreich 2022)

STRAW DOGS bzw. das ganze Backwood-Genre in einer interessanten Neu-Interpretation und Variation: ein französisches Bauern-Ehepaar wird in einem galizischen Bergdorf von zwei Brüdern in der Nachbarschaft angefeindet und zunehmend bedroht, weil sie Ausländer sind und weil sie gegen ein lokales Windradprojekt gestimmt haben, das finanzielle Entschädigungen gebracht hätte. Sorogoyen, geübt im Polizeifilm (QUE DIOS NOS PERDONE) und im Korruptions-Politthriller (EL REINO), beherrscht meisterhaft die Mittel des langsamen Spannungskinos, um die Eskalationsschraube Stück für Stück anzuziehen und mit Entspannung oder plötzlichen Gewaltausbrüchen zur arbeiten. Bemerkenswert ist auch, wie Antoine, dank Denis Ménochets bulligem Äußeren, zunächst klar im Zentrum steht, seine Frau Olga (Marina Foïs) sich aber Stück für Stück zur zentralen Figur entwickelt.
Als eine Art spanischer, zeitgenössischer Heimatfilm-Thriller interessanterweise fast zur Hälfte französischsprachig, scheint der Film sich dennoch nach und nach zu einer Art Reflektion über das Leben nach dem Spanischen Bürgerkrieg zu entwickeln.


INDIANA JONES AND THE DIAL OF DESTINY (James Mangold: USA 2023)

Im Laufe der drei-parteiigen Tuk-Tuk-Verfolgungsjagd durch die Straßen von Tangier bin ich von meinem Kinositz aufgesprungen und habe mit einem Freudeschrei die Arme siegend nach oben gestreckt. Man könnte auch sagen: INDIANA JONES AND THE DIAL OF DESTINY hat mir zwischendurch schon mordsmäßig Spaß gemacht! Es ist kein perfekter Film und nicht alle Einfälle (Personal-Recycling aus früheren Filmen und De-Aging) sind gelungen. Als bislang längster Indiana-Jones-Film fühlte er sich trotzdem angenehm kurzweilig an. Das große Highlight war für mich am Ende Phoebe Waller-Bridge als Indianas Patenkind, die leichte Katherine-Hepburn-Vibes versprüht (und genau so "hard-talking" wie sie ist) und den wohl besten Indy-Sidekick der ganzen Reihe abgesehen von Sean Connery spielt (und auch die beste und komplexeste Frauen-Figur in der Reihe). 


ROTER HIMMEL (Christian Petzold: Deutschland 2023)

"Die Arbeit lässt es nicht zu!" Und deshalb nimmt Leon aka Thomas Schubert übel und zieht die spritzig-frische Rohmer'ianische Sommerkomödie mit seiner Arschlochigkeit runter – oder wenn man möchte: hoch. Für mich nicht das große Highlight in Petzolds Filmografie (PHOENIX und seine Fernseh-Polizeifilme stehen bei mir deutlich drüber) – aber nachdem mir TRANSIT und UNDINE nur so-la-la gefallen hatten, war ROTER HIMMEL doch überraschend vergnüglich.


von 2022 noch nachgeholt:

BENEDETTA (Paul Verhoeven: Frankreich/Belgien/Niederlande 2021)

Der Körper und die Lebenssäfte Jesu in einer sehr interessanten Variante des katholischen Glaubens neu gefeiert! Mit einer passend zu ihrer Rolle ikonisch spielenden Virginie Efira.




Tops 15 der Erstsichtungen 2024 (nach Sichtungsreihenfolge geordnet)


DIE DRESSIERTE FRAU (Ernst Hofbauer: BRD 1972)

Explodierende Cine-Emotionen zu Tschaikowskis erstem Klavierkonzert #1 – erster Kinofilm des Jahres, erster Knaller. Gesehen beim 20. Hofbauer-Kongress.


ANGEL (Robert Vincent O'Neil: USA 1983)

Was auf den ersten Blick wie Teenager-Straßenstrich-Sleaze aussieht (und stellenweise natürlich auch ist), entpuppt sich rasch als Film mit einer fast unendlichen Zärtlichkeit für seine Charaktere am Rand der respektablen Gesellschaft im Großstadt-Moloch Los Angeles: die Titelfigur selbst (tagsüber Molly genannt und Schülerin und De-facto-Waise), aber auch der Transvestit Mae, seine beste Freundin, die burschikose exzentrische Künstlerin Solly, der Straßen-Cowboy Kit. Gescheiterte Menschen nach bürgerlichen Maßstäben, die in gemeinsamer Solidarität ein bisschen Glück suchen.


Oben: Thelonious Monk; eine eis-essende Journalistin
Unten: zwei gutgelaunte Freunde im Publikum; Dinah Washington freudestrahlend nach einem geglückten Vierhände-Solo mit ihrem Vibrafonisten

JAZZ ON A SUMMER'S DAY (Bert Stern, Aram Avakian: USA 1959)

Von Jazz-Möchtegerne-Puristen verurteilt, weil der experimentelle Inszenierungsansatz des Films sich selten komplett nur auf die Musiker fokussiert, ist JAZZ ON A SUMMER'S DAY eben nicht nur ein "schnöder" Konzertfilm, sondern ein ganzheitliches Portrait des Newport Jazz Festival 1958. Jimmy Giuffre, Anita O'Day, Louis Armstrong, Dinah Washington, Thelonious Monk, Mahalia Jackson und Chuck Berry (unter anderen) mögen die "Hauptdarsteller" sein, aber gerade der Blick auf die Zuschauer und die Bewohnerinnen und Bewohner Newports macht den Film ganz besonders. Meine Lieblinge: zwei Freunde, die im Partner-Look zum Festival gekommen sind, einen Heidenspaß haben, sich unterhalten (und dann merkt man vielleicht auch, dass einer weiß und der andere schwarz ist).


L'ANNONCE FAITE À MARIE (Alain Cuny: Frankreich/Kanada 1991)

Die einzige Regiearbeit Alain Cunys (womit er sich unter anderem bei Charles Laughton, Leonard Kastle, Akramzadeh, Aleksandr Askol'dov einreiht) ist eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des katholischen Autors Paul Claudel: eine ausgestoßene Lepra-Kranke lässt das verstorbene Kleinkind ihrer Schwester in einem Wunder wiederauferstehen. Ein kürzlich wiederentdeckter "film maudit", ein visionäres und vollkommen singuläres Werk, das schwer zu beschreiben ist: Vergleiche mit Bresson wurden gezogen (Bresson auf LSD würde es besser treffen), aber der strukturelle Vergleich mit Laughton – als unklassifizierbares Unikum – ist passender. Ein Mittelalter-Film mit einem stark verfremdeten und ironisierten Period-Setdesign (ein Maneki-neko ist in einer Szene zu sehen), in Tableaus gefilmt, zwischendurch von experimentellen Montagen durchbrochen, mit trance-artig agierenden Darstellerinnen und Darstellern.


RITI, MAGIE NERE E SEGRETE ORGE NEL TRECENTO (Renato Polselli: Italien 1973)

Als "primitiven Expressionisten" habe ich Renato Polselli einmal bezeichnet. Im dritten Film, den ich von ihm sehe, geht er am weitesten: ist das noch hysterisch-psychotische Exploitation oder schon reines Avantgarde-Kino? Die Handlung spielt in einem Schloss im titelgebenden 13. Jahrhundert, und in der Jetztzeit, schwarze Messen werden im Folterkeller zelebriert, eine mondäne Party wird gecrasht, Figuren werden gnadenlos in einer der beiden Zeitebenen abgemurkst, um später wieder quicklebendig aufzutauchen, sämtliche Charaktere agieren wie am Rand eines Nervenzusammenbruchs oder kurz vor einem Amok-Lauf. Der Soundtrack enthält ein Klavier, das nicht "normal" auf den Tasten gespielt wird: der Pianist kratzt über die Saiten mit den Fingern. So ist auch der ganze Film inszeniert.


HÄXAN (Benjamin Christensen: Schweden/Dänemark 1922)

Avantgardistische Horrorfilme, zum Zweiten. HÄXAN wirkt ein wenig wie der erste Torture-Porn-Horrorfilm, der erste Mondo-Film, der erste Essay-Film (und Polsellis psychotisch-sexuelle Cine-Hysterie scheint er stellenweise auch vorwegzunehmen). Es ist mir ein wenig ein Rätsel, warum dieser Film NOSFERATU nicht den Rang als ultimativen Horrorfilm der 1920er Jahre abgeknüpft hat, wahrscheinlich steht ihm seine verblüffend transgressive Natur (Kinderschlachtungen, Folterungen, Menschenverbrennungen, sadomasochistische-lustvolle Selbstauspeitschungen, grotesk entstellte Figuren etc.) im Wege?


JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES (Chantal Akerman: Belgien/Frankreich 1975)

Ein obsessiver Film über obsessive Alltagsrituale. Und wie das Leben ins Schwanken gerät, wenn diese Rituale gestört werden. Das letzte Drittel, als Jeannes Routinen zunehmend harsch gestört werden, hat etwas von einer schwarzen Komödie: gerade dieser Moment, wenn sie sichtlich aufgelöst darüber ist, dass ihr Stammplatz im Café besetzt ist... Zunächst bin ich aber vor Verblüffung fast bis zu Decke gesprungen, als Jeanne am dritten Tag vergisst, den Deckel auf ihre Sparschwein-Ersatz-Terrine zurückzustellen. Ein großartiger Film über Zeit, Dauer, Weile, der sich wie ein Alterswerk eines über viele Jahrzehnte gereiften Regisseurs anfühlt (und doch von einer 25-jährigen Kino-Rebellin inszeniert wurde). Und natürlich Delphine Seyrig...


BUIO OMEGA (Joe D'Amato: Italien 1979)

Ein dunkel-romantischer Film über eine unsterbliche Liebe bis zum Tod – und darüber hinaus. Gesehen und bewundert beim 9. Terza Visione.


PROFUMO (Giuliana Gamba: Italien 1987)

Ein außergewöhnlicher Film über eine Ehekrise, mit einer Anleitung, wie man mit einer Dose Coca-Cola sein Liebesleben bereichern kann. Der große Überraschungs-Hit des 9. Terza Visione.


MALIZIA (Salvatore Samperi: Italien 1973)

Trotz des Titels (nicht ein italienischer Mädchenname, sondern "Bosheit" / "Hinterlistigkeit" / "Heimtücke") bis heute verblüffend eintönig in der Schublade "commedia sexy" eingeordnet. Die Komödie ist auch ein Teil des Films, aber er ist auch eine sehr finstere Studie über die dunklen Seiten der Sexualität im Spiegel von Klassenunterschieden. Wie der Teenager und Unternehmersohn Nino dem Dienstmädchen Angela nachstellt, ist oft nicht lustig, sondern hat eher etwas Psychotisches. Der Film ist in vielen Momenten passenderweise auch wie ein Psycho-Thriller inszeniert (gegen Ende gibt es Passagen wie aus einem Horrorfilm). Dieser Atmosphären-Mix aus lustig und unbehaglich, entspannt und beängstigend, lieblich-zärtlich und brutal-sadistisch, zusammen mit der unvergesslichen Musik Fred Bongustos und Laura Antonellis und Alessandro Momos Präsenz machen das perverse Katz-und-Maus-Spiel MALIZIA zu einem weiteren Meisterwerk des damals gerade einmal 29-jährigen Salvatore Samperi.


HERZKÖNIG (Helmut Weiß: Deutschland – französische Besatzungszone 1947)

Meine Vermutung, geäußert bei der Besprechung von CHEMIE UND LIEBE, dass zwischen 1945 und 1949, im Interregnum zwischen Nationalsozialismus und doppelter deutscher Staatsgründung, so etwas wie ein "pre-code-Zeitalter" des deutschen Kinos schlummert, scheint sich hier zu bestätigen (und Hans Nielsen ist auch wieder dabei). In einer Königsdiktatur wird ein verbotener Schriftsteller, der dem König zum Verwechseln ähnlich sieht, als Hochzeits-Double für den (wieder einmal) hoffnungslos besoffen irgendwo herumstreunenden Potentaten rekrutiert. Den Hinweis des Polizeipräsidenten und des Innenministers, gefälligst nach dem Essen Ohnmacht vorzutäuschen, ignoriert er – und gönnt sich lieber sehr gerne die Hochzeitsnacht mit "seiner" Angetrauten. Ein Feuerwerk von geschliffenen Dialogen, begnadet inszenierten Verwechslungen und ein wahrhaft vergnügliches Dauerfeuer an teils nur sehr leicht verschleierten Anzüglichkeiten und Doppeldeutigkeiten.


UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE (Duccio Tessari: Italien/BRD 1971)

Explodierende Cine-Emotionen zu Tschaikowskis erstem Klavierkonzert #2 – "Ein Engel mit blutigen Flügeln" (wörtlich, deutsche Titel "Das Messer" oder "Blutspur im Park") tarnt seine extreme Emotionalität zunächst mit den Mitteln eines minutiösen, fast obsessiv in Details selbstvergessenen Police-Procedurals und einer längeren Gerichtsszene, doch es hilft nicht: die angestaute Verzweiflung, Schwermütigkeit, Melancholie, die unterdrückten Triebe, die Abgründe hinter der bürgerlichen Fassade, die Perversionen und der Wahnsinn werden sich Bahn brechen. Dazu gibt es nicht nur wie gesagt Tschaikowskis berühmter erster Satz des ersten Klavierkonzerts, sondern auch einen verzweifelt-melancholischen Score von Gianni Ferrio (Kostprobe hier), den wunderbaren Silvano Tranquilli als ruhelosen Polizeiinspektor, Helmut Berger als psychisch labilen Konzertpianisten und die pittoreske (und doch leicht gothisch-bedrohlich gefilmte) Altstadt von Bergamo als Kulisse.


L.A. WARS (Tony Kandah, Martin Morris: USA 1994)

Eine wunderschöne Perle aus der verbeultesten Grabbelkiste des 1990er-Direct-to-Video-Schlock (bei mir: im Regal für ausländische Editionen in einem Nürnberger Laden für gebrauchte Schallplatten, CDs, DVDs und Blu-rays als preisgünstige, offiziell OOP-Vinegar-Syndrome-Ausgabe). Eine ziemlich unoriginelle Undercover-Cop-among-Gangsters-Geschichte, aber mit so viel Druck auf der Tube inszeniert, dass es die hellste Freude ist. Der No-Name-Hauptdarsteller Vince Murdocco wirkt mit seiner leichten Verträumtheit ein wenig wie die Pfennigfuchser-Variante von Michael Dudikoff mit sehr gutem Preis-Leistungs-Verhältnis, wird von einer ganzen Riege an großartigen Nebendarsteller-Charakterfressen begleitet (besonders Johnny Venokur als sadistischer Handlanger und eine sehr charismatische Femme-Fatale-Henchwoman) und wandelt durch ein verblüffend elegant fotografiertes L.A. – warm sonnengebadet bei Tage, melancholisch neonlichter-beleuchtet bei Nacht.


HARDCORE (Paul Schrader: USA 1979)

Paul Schraders zärtlich-melancholischer Hassliebesbrief an seinen eigenen calvinistischen Hintergrund schickt George C. Scott vom oberflächlich aufgeräumten, übersichtlichen, konfliktlosen Paradies für Mittelstandsunternehmer Grand Rapids in das oberflächlich chaotische, apokalyptische, unmoralische und konfliktzerfressene Porno-Moloch Los Angeles – nachdem dieser eine cineastische Epiphanie hatte, als er seine verlorene Tochter in einem Pornofilm vorgeführt bekommen hat (eine schauspielerische und inszenatorische Tour-de-Force, wenn Scott sich zunehmend auflöst und er schließlich in seinem Zusammenbruch erleuchtet wird, weil kein Film mehr durch den Projektor läuft und nur noch die Projektorlampe alles gleißend bestrahlt). Scott verliert sich, findet fast schon so was wie Spaß, sich als schmieriger Porno-Casting-Agent zu verkleiden – und wirkt doch wie ein obsessiv suchender Odysseus, weil vielleicht auch echte Menschen mit echten Träumen in Los Angeles wohnen (es ist wahrscheinlich das gleiche Los Angeles wie in ANGEL), und Grand Rapids (schon rein etymologisch suggeriert) natürlich auch Abgründe hat. Wenn die calvinistische Lehre sagt, dass jeder einen vorbestimmten Platz hat, dann gibt es für den Vater möglicherweise auch keine Rückkehr: Grand Rapids ist am Ende für immer verloren.




Einige weitere schönen Neuentdeckungen 2024 (chronologisch nach Premiere innerhalb von Themen geordnet)


Auf Reisen


LES CHEMINS DE KATMANDOU (André Cayatte: Frankreich/Italien 1969)

Ein desillusionierter 68er auf der Flucht vor der Polizei flieht nach Nepal, um dort seinen halbseidenen Vater wiederzufinden und verliebt sich in eine Aussteigerin (Jane Birkin) – und gerät in eine infernalische Drogen-Höllle. Für mich die bessere Version von MORE: stark und kontrolliert inszeniert und dabei doch auch erzählerisch stellenweise fast anarchisch frei (ein Subplot um den Raub einer heiligen Tempelstatue ist fast ein Mini-Heist-Movie im Film).


SANATORIUM POD KLEPSYDRĄ (Wojciech Jerzy Has: Polen 1973)

Bruno Schulz' extrem komplexe, verschlungene, in alle möglichen Richtungen explodierende Prosa ist auf klassische Weise kaum verfilmbar – stattdessen hat Has tatsächlich den Geist, den Flow von Schulz adaptiert zu einem abenteuerlichen, fordernden und faszinierenden zweistündigen audiovisuellen Bewußtseinsstrom.


THE AMUSEMENT PARK (George A. Romero: USA 1975)

Der wiederentdeckte Industriefilm Romeros: eine Auftragsarbeit über Achtsamkeit gegenüber alten Menschen, die von einem christlichen Verein bestellt und nach Fertigstellung erschrocken in den Giftschrank verbannt wurde. Der grausige Horrortrip eines Rentners durch die Hölle eines Vergnügungsparks dürfte die Auftragsgeber nicht nur inhaltlich abgeschreckt haben: statt eines erbauenden Films gab es einen Avantgarde-Horrorfilm, denn Romeros experimentelle Ader, besonders beim Schnitt, kommt hier so stark wie allenfalls noch bei THE CRAZIES zum Tragen.


ROADGAMES (Richard Franklin: Australien 1981)

Wenn der Serienmörder-Thriller auf das Roadmovie im Outback trifft – oder der wunderbare Stacy Keach als Mensch, der einen Truck fährt, auf Jamie Lee Curtis, die in Trucks trampt. Ein sehr schöner Slowburner, der sich ganz auf Keachs Lächeln verlassen kann, wenn grad nicht die Spannungsschraube zugedreht wird.


BOCKSHORN (Frank Beyer: DDR 1984)

Zwei Jugendliche trampen durch ein mysteriöses Land, in Richtung Westen, hin zum Meer – und begegnen Seelenverkäufern, streng-religiösen Bauern, wie Babies sprechende Propheten, bedrohlichen Serienmördern und Schickimicki-Punks auf der Suche nach der nächsten großen Sause. Die erste in den USA gedrehte DEFA-Produktion ist ein Kinnladen-Klapper erster Güte: ein entfesselter surreal-poetischer Roadmovie, dessen Ursprung man nicht in einem eingemauerten Staat vermuten könnte. Gesehen als "Zeitfüller" zwischen zwei "Pre-Code Musicals" im Frankfurter Filmmuseum: wie passend für einen Film, der sich wie die "Pre-Code-Variante" eines DDR-Films anfühlt (oder wie eine Vorwegnahme der wahnsinnigen Filme, die zwischen 1989 und 1991 bei der DEFA produziert wurden).


SPEED (Jan de Bont: USA 1994)

In seiner Struktur (Hochhaus / Straße mit Bus als das längste Segment / U-Bahn) ein kleines, köstliches Triptychon der Action-Setpieces – und effiziente Arbeitsteilung: Keanu Reeves und Sandra Bullock lenken am Lenkrad, Dennis Hopper dreht am Rad.



In der Liebe


JIGOKUMON (Kinugasa Teinosuke: Japan 1953)

Der erste im Ausland bekannte japanische Farbfilm wirkt in der ersten Hälfte fast schon psychedelisch in seinen explodierenden Farben: passend zur Geschichte eines Mannes, der in seiner Obsession zur Frau eines anderen Mannes komplett den Bezug zur Realität verliert und die Welt wohl nur noch durch einen (offenbar farbengestörten) Schleier des Wahnsinns sieht.


SOROK PERVIJ (Grigorij Čuchraj: Sowjetunion 1956)

Die Liebesgeschichte zwischen einer Scharfschützin der Roten Armee und einem gefangenen weißen Offizier ist in einem Wüsten-Kriegsfilm bzw. -Roadmovie eingebettet und ist vor allem farbdramaturgisch ein absoluter Hingucker: in seinem Erstling scheint Grigorij Čuchraj den Farbfilm quasi neuerfinden zu wollen. Bei seinem berühmtesten Film (BALLADA O SOLDATE) fehlten mir persönlich nicht nur wortwörtlich, sondern auch metaphorisch die Farben, aber sein ČISTOE NEBO über die Liebe einer Arbeiterin zu einem Flieger, der nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft zum Opfer des stalinistischen Terrors wird, schlägt in eine ähnliche Kerbe und sei deshalb hier auch erwähnt.


FRANÇOISE OU LA VIE CONJUGALE (André Cayatte: Frankreich/Italien/BRD 1964)

Der weibliche Teil von André Cayattes Ehe-Diptychon LA VIE CONJUGALE entfaltet seine ganze Kraft besonders, wenn man ihn nach dem männlichen Teil JEAN-MARC sieht. Wo JEAN-MARC "nur" ein ausgezeichnetes Ehedrama und Portrait eines sozial engagierten Anwalts (teilweise ein idealisiertes Selbstportrait Cayattes?) ist, wirkt FRANÇOISE in seiner Thematisierung von (struktureller) sexueller Übergriffigkeit, aber auch von unbezahltem "Rückenfreihalten", den Ehefrauen für Ehemänner leisten fast schon proto-feministisch. Er ist auch zackiger, pointierter, erzählerisch freier inszeniert als der männliche Teil. Und wieder ein Beweis, dass Cayatte eine Wiederentdeckung wert ist.


LE CHAT (Pierre Granier-Deferre: Frankreich/Italien 1971)

Ein emotionaler Torture-Porn über eine extreme Hassliebes-Beziehung zweier Menschen, die nur noch sich selbst haben (na ja, und natürlich die Katze), während Paris um sie herum gentrifiziert wird. Fantastische Musik von Philippe Sarde – die bei der Montage mit den beiden Protagonisten, der Abrissbirne und den Katzen auf dem Klettergerüst emotional besonders stark einschlägt (hier eine Impression dieses halluzinatorischen Moments).


ROAD TO NOWHERE (Monte Hellman: USA 2010)

Monte Hellmans letzter abendfüllender Film, persönlicher "Achteinhalb", ein autobiografischer gefärbter Film, der Hellmans Affäre mit Laurie Bird beim Dreh von TWO-LANE BLACKTOP verarbeitet: ein Regisseur dreht einen Polit-Thriller über eine reale, brisante Korruptionsaffäre, in der eine mysteriöse Exil-Kubanerin involviert war und verliebt sich in seine Hauptdarstellerin, während die realen Ereignisse beginnen, den Dreh zu überschatten. Trotz seiner extremen Verschlungenheit (Rahmenhandlung, Ausschnitte aus dem Film, Dreh-Impressionen und -Proben gehen komplett nahtlos ineinander über) ein Film von einer verblüffenden Klarheit und Einfachheit: eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann, einer Frau und dem Kino. Der Titel ist dabei nicht als nihilistisch und zynisch zu verstehen, sondern als Ausdruck einer totalen (und in dieser Konsequenz sehr radikalen) Offenheit: es gibt kein festes Ziel.


Bei Verbrechern und Mördern


L'ARGENT (Marcel L'Herbier: Frankreich 1928)

Wenn ich mich recht erinnere eine eher langweilige Geschichte – aber mit seiner extravaganten, experimentellen, ja stellenweise ekstatischen Inszenierung verwandelt L'Herbier das in einen fesselnden Film. Wenn Brigitte Helm dabei ist, kann da eh wenig schief gehen.


MURDER AT THE VANITIES (Mitchell Leisen: USA 1934)

Ein Lieblingsfilm von Hugh Hefner (der die Restaurierung und die Erstellung einer neuen 35mm-Kopie finanziert hat!). Ein Mörder treibt sein Unwesen hinter den Kulissen einer Revue-Premiere und prägt damit den hybriden Charakter des Films als Krimi/Thriller und als Musical. Die Musical-Nummern gehen mit ultra-knappen Kostümen und schlüpfrig-gewagten Inhalten (ein Songtitel lautet "Sweet Marijuana") komplett in die Vollen: die letzte Sause, bevor ein paar Wochen nach der Premiere der "Production Code" endgültig verschärft wurde. Duke Ellington hat ein Cameo mit seinem Orchester, das die Band der Nummer vorher an die Wand spielt, bis eine Frau auf die Bühne stürmt und eine Dutzend-Reihe von Tänzern mit einer Maschinenpistole niedermäht. Alles ziemlich unglaublich.
Mitchell Leisen, langjähriger Set-Designer von Cecil B. DeMille, wurde gleich von zwei Drehbuchautoren, mit denen er später zusammengearbeitet hat, und die später berühmtere Regisseure wurden, runtergeputzt (nämlich von Preston Sturges und Billy Wilder), was seinem Ruf wohl nicht gut getan hat – offensichtlich zu Unrecht. 


LA CONTROFIGURA (Romolo Guerrieri: Italien 1971)

Giallo als wildes, paranoides Puzzle-Spiel. Gesehen beim Terza Visione.


UNE JOURNÉE BIEN REMPLIE (Jean-Louis Trintignant: Frankreich/Italien 1973)

Ein Giallo (es ist ja eine italienisch co-finanzierte Produktion, Bruno Nicolai hat die Musik geschrieben und der verrückte vollständige Titel "Une journée bien remplie ou Neuf meurtres insolites dans une même journée par un seul homme dont ce n'est pas le métier" erinnert an ähnlich verrückte lange italienische Titel) als dadaistische Farce: ein Bäcker bricht eines morgens auf, um an einem Tag neun bestimmte Menschen kaltblütig zu ermorden bzw. sorgfältig choreografiert hinzurichten. Autor und Regisseur Trintignant (er hat ein kleines Cameo als Theater-Regisseur) schickt Jacques Dufilho auf einen mörderischen Trip, der in seiner extremen Reduktion fast schon ein alles zersetzendes Konzentrat des Serienkillerfilms ist, in seiner Abstraktion das Experimentelle streift (einige sehr wilde Montagen sorgen für heruntergeklappte Kinnladen) – und trotzdem bleibt der Ton dabei immer scherzhaft und komödiantisch. Bin sehr gespannt auf Trintignants zweiter Film als Regisseur!


THE PARALLAX VIEW (Alan J. Pakula: USA 1974)

Ein eiskalter Film (der abrupte Schnitt auf die Leiche im Leichenschauhaus am Anfang – puh!). Der Paranoia-Thriller als unausweichlicher Alptraum. Nach der Vorstellung in der Karlsruher Schauburg beim Technicolor-Festival gab es zum Glück Freibier für die Dauerkarteninhaber, um etwas runterzukommen.


DOG DAY AFTERNOON (Sidney Lumet: USA 1975)

Ein Klassiker, den ich schon seit Jahren sehen wollte (besonders, weil er einer der meistgenannten Filme in Lumets Buch "Filme machen" ist). Nach einer überbordenden Liebeserklärung an New York City im Prolog ein verblüffend nüchtern, fast semi-dokumentarisch inszenierter Heist-Movie ohne große "knallige" Attraktionen – und dennoch keineswegs spröde, sondern involvierend, menschlich und emotional.


SCRUBBERS (Mai Zetterling: UK 1982)

Missverstanden und unterbewertet als vermeintlicher Abklatsch von Alan Clarkes Jugendknastfilm SCUM ist SCRUBBERS vor allem ein wunderbarer Vertreter des Frauenknastfilms. Der Blick der schwedischen Regisseurin und Autorin Mai Zetterling ist so einfühlsam und verständnisvoll wie realistisch und ohne Illusionen ob der menschlichen Schwächen. "Jede hat ihre Gründe" ist im Knast natürlich eine Spur härter als bei einer Lustpartie im Schloss.


PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN aka LADY TERMINATOR (Tjut Djalil: Indonesien 1989)

The Terminator to terminate'em all! Gesehen beim internationalen Tag des Terza Visione.


TOUTES PEINES CONFONDUES (Michel Deville: Frankreich 1992)

Ein Korruptionssumpf-Krimi, wo der Teufel im Detail liegt: Gruppen-Pinkeln um die feine Limousine, die bunten Cocktails die die kleine Wirtstochter den beiden Kontrahenten mitten in einer ernsten Auseinandersetzung bringt weil sie eben bunter sind, die fußfetischistischen Einlagen.
Michel Deville, dessen experimenteller Polit-Thriller LE DOSSIER 51 mich letztes Jahr begeistert hat, ist eh ein Toller. Seine manchmal leicht surreale Erotik-Komödie LA LECTRICE (1988) mit Miou-Miou als Titelheldin in literarischer Verführungsmission und NUIT D'ÉTÈ EN VILLE (1990), sein One-Night-Stand-Zweipersonen-Kammerspiel mit Jean-Hugues Anglade und Marie Trintignant möchte ich hier auch noch explizit lobend erwähnen.


DIGGSTOWN aka MIDNIGHT STING (Michael Ritchie: USA 1992)

Gerade in den ersten zwei Dritteln gefühlt unpassend zu einem Festival des Actionfilms (der Film war der Ersatz für einen nicht rechtzeitig im deutschen Zoll abgefertigten Rennrad-Sportfilm), sondern eher eine Art schwarze Komödie über eine korrupte Stadt, die von einem kriminellen Unternehmer (Bruce Dern – loved to hate him!) mit eiserner Hand regiert wird und von einem windigen Gauner (James Woods – loved to hate him too!) herausgefordert wird, den Rekord eines lokalen Boxers, der 10 Einheimische hintereinander geschlagen hat, mit seinem eigenen Kämpfer (Louis Gossett Jr. – mit Haaren zunächst für mich nicht erkennbar!) zu brechen. Atmosphärisch komplett all over the place zwischen schwarzer Gaunerkomödie, Southern Gothic, ultrafinsterem Polit-Thriller, Klamauk-Spitzen und am Ende einem verblüffend brutalen, brachialen, schmerzhaften Boxerfilm erzählt DIGGSTOWN fast komplett plotbefreit, nur mit seinen Figuren: Dern und Woods liefern sich ein Duell der Schmierigkeit, Arroganz und Niedertracht, die Menschlichkeit, Melancholie und Gebrochenheit gibt es bei den Nebenfiguren. Bizarr und sehr faszinierend.


THE THOMAS CROWN AFFAIR (John McTiernan: USA 1999)

Ein auf jeglicher Ebene vergnüglicher Film, bei dem das Katz-und-Maus-Spiel (im Original, wenn ich mich richtig erinnere, schon eher distanziert-spröde) wirklich komplett in die Vollen geht. Ich denke vielleicht zu schmutzig, aber da gibt es natürlich diese "verschleierte" Natursekt-Einlage (Pierce Brosnan kniet unterwürfig vor Rene Russo und empfängt einen Flüssigkeitsstrahl) – zumindest aber die Karibikreise zum Luxus-Bungalow: Thomas Crown beugt sich mit offenem Hemd über ein Gericht, das er gerade kocht, ein bisschen Gemütlichkeitsplauze hängt über den Hosenbund, Catherine Banning huscht oben ohne vorbei und gibt ihm einen Po-Klaps. Ja, Katz-und-Maus-Spiel nicht als Trockenübung, sondern als sinnliches Vergnügen zum Fallenlassen!


THE CAT'S MEOW (Peter Bogdanovich: USA/Deutschland/UK 2001)

Eine kleine Yacht-Spritztour mit William Randolph Hearst und Charlie Chaplin – was kann da schon schief gehen? Zum Glück sehr vieles!


LES MISÉRABLES (Ladj Ly: Frankreich 2019)

Die Langfilmversion des gleichnamigen Kurzfilms mit größtenteils der selben Kern-Crew, der alle Qualitäten beibehalten hat und aus einem kurzen Schlaglicht eine dichtere und breitere Impression macht (die Eskalationsschraube allerdings weiter anzieht): ein toller Polizeifilm, wo die Ambivalenzen der Polizeiarbeit auf die undurchdringbare Komplexität der Cité treffen.



Familie, Nachbarn und andere Gestörte


WO DER WILDBACH RAUSCHT (Heinz Paul: BRD 1956)

Der Heimatfilm als Film Noir und Horrorfilm über dörfliche Niedertracht. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


BOOM! (Joseph Losey: UK 1968)

Mit SKIDOO (Preminger) und THE LEGEND OF LYLAH CLARE (Aldrich) reiht sich BOOM! in eine Kollektion angeblicher "Total-Entgleisungen" großer Studio-Regisseure anno 1968 ein. Richard Burton zieht ein Katana und fuchtelt damit im Kimono gekleidet auf einer Balustrade rum, während Elizabeth Taylor schreit, keift und rum-taylort. Einer ihrer Hüte sieht aus wie aus einer Junkie-Müllhalde zusammengeklaubt. Und wenn sie zwei Minuten lang dem Publikum ins Gesicht hustet, sieht das auf einer 17 Meter breiten Cinerama-Leinwand schon sehr beeindruckend aus. Wie bei den erstgenannten sieht man dabei die ganze Zeit einen inszenatorisch komplett kontrollierten Film (das Gerücht, Losey sei während des Drehs dauerhaft unkontrolliert besoffen gewesen, scheint totaler Quatsch zu sein – unkontrolliert war er ganz bestimmt nicht). Unglaublich.


LA MANDARINE (Édouard Molinaro: Frankreich/Italien 1972)

Nach dem Sex schläft er (Philippe Noiret) entspannt ein, sie (Annie Girardot) aber geht hinunter in die Hotelküche und veranstaltet dort mit den Resten ein veritables kleines Fressgelage. So beginnt diese heitere Hotel-Komödie, die komplett plotfrei, leicht wie eine Wolke vor sich hin spaziert, weil wir nur einigen Figuren dabei folgen, wie sie mit ihren kulinarischen und sexuellen Gelüsten umgehen, wie sie tanzen und spazieren und Spaß haben (und na gut: manchmal auch, wie sie versuchen, mit Eheproblemen umzugehen).


MAA ON SYNTINEN LAULU (Rauni Mollberg: Finnland 1973)

Das Kino Finnlands außerhalb der Kaurismäki- und Unterkühlte-Nordeuropäer-Klischeekiste-Komfortzone ist offenbar eine wahre Fundgrube: "Die Erde ist ein sündiges Lied" ist weniger die in der Synopse erzählte Liebesgeschichte zwischen einer Finnin und einem Samen als eher das impressionistische Stimmungsportraits eines Dorfs nach dem Weltkrieg und dessen Zyklen von Geburt, Sex, Trunksucht und Tod. Der Naturalismus des Films ist von einer verblüffenden Krassheit und erreicht bei der realen Onscreen-Schlachtung und -Zerlegung eines Rentiers fast eine halluzinatorische Qualität. Film als ein sinnlicher, reißender, gefährlicher Strudel!


CHOCOLAT (Claire Denis: Frankreich/BRD/Kamerun 1988)

Impressionistische Kindheits-Erinnerungen an Episoden in der afrikanischen Halbwüste. Keine Idealisierung, keine Romantisierung, keine Verklärung, aber auch keine echten Konflikte, sondern immer nur ein leichtes Dauer-Unbehagen.


DEMAIN ON DÉMÉNAGE (Chantal Akerman: Frankreich/Belgien 2004)

Wie würde es also aussehen, wenn eine Avantgardistin und Rebellin des europäischen Autorenkinos eine spritzige Komödie über eine schreibblockierte Sexbuchautorin dreht, in deren Wohnung aus heiterem Himmel die überdominante Mutter einzieht? Leicht off-beat (ein Double-Feature mit einem Helge-Schneider-Film wäre wohl interessant), aber absolut vergnüglich.


ROIS ET REINE (Arnaud Desplechin: Frankreich 2004)

Eine Mini-Retrospektive zu Arnaud Desplechin bereitete mir vor allem im "großen" Desplechin-Amalric-Zyklus viel Vergnügen, also: COMMENT JE ME SUIS DISPUTÉ... (MA VIE SEXUELLE), ROIS ET REINE, UN CONTE DE NOËL, JIMMY P. (PSYCHOTHÉRAPIE D'UN INDIEN DES PLEINES), LES FANTÔMES D'ISMAËL (in TROIS SOUVENIRS DE MA JEUNESSE spielt Amalric zwar auch mit, aber den würde ich nicht zu den Guten zählen, und in LA SENTINELLE ist er wirklich nur in einer Mini-Rolle zu sehen, der ist aber auch toll). Ich habe etwas Mühe, die Details vieler der Filme auseinanderzuhalten, weil Mathieu Amalric und Emmanuelle Devos meistens mitspielen, ein Teil der Figuren jüdisch ist und sich mit jüdischer Identität auseinandersetzt, psychologische oder psychiatrische Behandlung immer wieder eine zentrale Rolle spielt, der Vornamen Ismaël und der Nachname Vuillard immer wieder vorkommen (aber es sind nicht die gleichen Figuren) und die nordfranzösische Stadt Roubaix als Heimatstadt immer wieder Handlungsort ist.
Daher: ROIS ET REINE als Stellvertreter für Desplechins nicht unbedingt konsistent großartiges, aber über weite Strecken faszinierendes Kino mit Mathieu Amalric als schauspielerisches Herz und emotionale (manchmal auch: emotional gestörte) Seele. Besonders schön: der Subplot um die Freundschaft / Liebe zwischen Amalrics Ismaël und der Co-Patientin "La chinoise" in der Psychiatrie.
Eine weitere ehrenvolle Nennung spreche ich hiermit noch für LES FANTÔMES D'ISMAËL aus, der quatschkopfigste, verrückteste, aber auch zärtlichste Desplechin-Amalric-Film (der leider von der französischen Filmkritik unverständlicherweise verrissen wurde).





Mit dem Zweiten sieht man besser

DEATH WISH 3 (Michael Winner: USA 1985)

Gesehen als "Midnight Nasty" bzw. Spätschienen-Film beim Karacho. Beim ersten Mal (auf einem kleinen Röhrenfernseher in der WG eines Freundes) ist er etwas an mir vorbei getrübt. Auf großer Leinwand entfaltet er sein ganzes anarchisches, zersetzerisches, krankes, gestörtes Potential: ein Meisterwerk des totalen Over-the-Top-Unfassbarkeitskinos. Eine Extrem-Satire über entfesselte kleinbürgerliche Mordlust. Da ist natürlich Paul Kersey, der seinen besten Anzug anzieht, um bei den netten Nachbarn von nebenan Kohl zu essen, sich zwischendurch höflich entschuldigt, aufsteht, seine Serviette säuberlich zusammenfaltet und niederlegt, rausgeht, zwei Gang-Mitglieder draußen vor seinem Auto niederknallt und dann seelenruhig zurückkehrt, um seinen restlichen Kohl gentleman-like aufzuessen. Die völlig wahnsinnige Szene mit Eis-Essen, um die Schulter baumelnde Kamera und die zur Elefantenjagd konzipierte Monsterpistole. Dann der Showdown, der wie eine ausgelassene Kindergeburtstagsfeier gefilmt ist, mit Blutbad und Massaker statt Limonade und Topfschlagen. Überhaupt die Inszenierung, die immer leicht off ist und den Film immer wieder auflaufen lässt: DEATH WISH 3 enthält den wahrscheinlich unromantischsten, widerwärtigsten Kuss der Filmgeschichte, wenn kurz, bevor sich die Lippen treffen, auf ein extrem unvorteilhaftes Closeup von Charles Bronsons runzelig-faltigem Schnurrbartmund geschnitten wird.




Mit diesem letzten Bild im Kopf...

wünsche ich allen Leserinnen und Lesern von Whoknows Presents ein schönes Jahr 2024!