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Donnerstag, 19. Januar 2017

Was macht man mit einem Nagelbrett, wenn man kein Fakir ist?

Man macht damit Filme - was sonst? So sahen das jedenfalls Claire Parker und Alexandre Alexeïeff. Sehen wir uns zunächst den ersten und vielleicht bekanntesten Film der beiden an:

UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE (EINE NACHT AUF DEM KAHLEN BERGE)
Frankreich 1933
Regie: Alexandre Alexeïeff und Claire Parker



Die Musik, die dem Film seinen Titel und sein Thema gab, ist die sinfonische Dichtung "Eine Nacht auf dem kahlen Berge" von Modest Mussorgski, hier in einer Orchesterbearbeitung von Nikolai Rimski-Korsakow. Es geht in der Musik (und somit auch im Film) um eine Art Hexensabbat auf dem slowenischen Berg Triglav. Es passieren die wildesten Dinge in dieser Nacht, und man sollte als gewöhnlicher Sterblicher besser nicht in der Nähe sein, aber am nächsten Morgen ist der Spuk vorbei. Damit ist das Stück thematisch mit "Danse macabre" von Camille Saint-Saëns verwandt, das auch mehrere filmische Interpretationen erfuhr. Zu Mussorgski sollten Parker und Alexeïeff noch zweimal zurückkehren.

Alexandre Alexeïeff und Claire Parker 1960 (À PROPOS DE JIVAGO)
Alexandre Alexeïeff (1901-1982), ursprünglich Alexander Alexandrowitsch Alexejew, war ein Russe im französischen Exil. Einige Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Istanbul, wo sein Vater Militärattaché war. Nach dem Besuch einer Kadettenanstalt in Sankt Petersburg emigrierte er 1921 und landete schließlich in Paris - Französisch hatte er auf Betreiben seiner Mutter schon als Kind gelernt. 1923 heiratete Alexeïeff die Schauspielerin und Zeichnerin Alexandra Grinevsky (oder, nach russischer Konvention, Grinevskaya), die uneheliche Tochter eines russischen Würdenträgers, der sie schon als Kind nach Paris abgeschoben hatte. Mit Alexandra hatte Alexeïeff eine Tochter, die Malerin Svetlana Alexeieff-Rockwell (1923-2015) - sie ist die Mutter des Regisseurs Alexandre Rockwell. Während der 20er Jahre betätigte sich Alexeïeff als Bühnenbildner und Kostümdesigner für Theatergrößen wie Louis Jouvet und Georges Pitoëff sowie als Buchillustrator - sein zeichnerisches Talent wurde schon in der Kadettenanstalt gefördert, und er hatte sich zum Graveur weitergebildet. Das Spektrum der von Alexeïeff illustrierten Autoren reichte von Gogol, Puschkin und Dostojewskij über Poe und Cervantes bis Apollinaire, Baudelaire und Malraux. 1931 lernte er die wohlhabende amerikanische Kunststudentin Claire Parker (1906-1981) kennen, die schon ein technisches Studium am Massachusetts Institute of Technology absolviert hatte und nun nach Paris gezogen war. Nach Alexeïeffs Scheidung 1940 oder 1941 (die Quellen sind sich nicht ganz einig) wurde Parker seine zweite Frau. Parker und Alexeïeff waren aber schon bald nach ihrer Bekanntschaft ein Liebespaar, und Alexandra Grinevsky arrangierte sich irgendwie mit der Situation.

Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an Illustrationen zu "Doktor Schiwago" (À PROPOS DE JIVAGO)
Irgendwann Ende der 20er oder Anfang der 30er Jahre verspürte Alexeïeff den Wunsch, die Bilder im Stil seiner Buchillustrationen in Filmen zum Leben zu erwecken. Die feinen Graustufen, Schattierungen und plastischen Wirkungen, die man mit Lithografie, Aquatinta und ähnlichen Techniken hervorrufen konnte, und die Alexeïeff schätzte, waren aber mit der klassischen Zeichentricktechnik der cel animation kaum zu erreichen, und was er keinesfalls machen wollte, waren Filme im Cartoon-Stil. Deshalb ließ er sich etwas anderes einfallen - etwas ganz anderes. Und damit kommen wir zum Nagelbrett (auf Englisch meist pinscreen, gelegentlich auch pinboard genannt, auf Französisch écran d'épingles). Zunächst mit Unterstützung von Alexandra Grinevsky, dann mit Parker, entwickelte Alexeïeff das Verfahren, zeitweise arbeiteten auch alle drei zusammen daran. Die technisch begabte Claire Parker hatte möglicherweise den größten Anteil, jedenfalls lief das 1935 erteilte französische Patent auf ihren Namen. Künstlerisch scheint Alexeïeff der Kopf der Gruppe gewesen zu sein. Bei den fünf eigenständigen Filmen sowie dem Prolog zu Orson Welles' LE PROCÈS, die mit dem Nagelbrett realisiert wurden, arbeiteten Parker und Alexeïeff als Animateure und Regisseure eng zusammen, so dass man sie alle als gemeinsame Werke der beiden bezeichnen muss. Grinevsky war daran nicht mehr beteiligt, aber bei etlichen der Werbefilme, die die Gruppe zum Broterwerb drehte (ohne Nagelbrett, was viel schneller ging), wirkte sie aktiv mit.

Die Hauptrichtungen des Dreiecksmusters werden sichtbar, wenn man das Nagelbrett frontal anstrahlt
(dieses und die nächsten vier Bilder: PIN SCREEN von Norman McLaren)
Wie funktioniert das Ding nun also? Das haben Parker und Alexeïeff selbst am besten erklärt. 1972 hielten sie auf Einladung von Norman McLaren am National Film Board of Canada (NFB) ein Seminar vor den dort tätigen Animationsfilmern, die auch selbst an einem mitgebrachten Nagelbrett unter Aufsicht der beiden Altmeister experimentieren durften (Ryan Larkin war auch mit dabei). McLaren machte daraus einen 40-minütigen Film, der laut Anfangscredits vollständig THE ALEXEIEFF-PARKER PIN SCREEN bzw. L'ÉCRAN D'ÉPINGLES ALEXEIEFF-PARKER heißt, aber meist nur kurz PIN SCREEN genannt wird. Der Film war wohl hauptsächlich als Lehrmaterial für zukünftige Studenten am NFB gedacht, aber heute bildet er auch (neben ihren Filmen natürlich) ein Vermächtnis von Parker und Alexeïeff. Daneben gab es weitere Dokus, z.B. den kurzen und ohne Worte auskommenden À PROPOS DE JIVAGO von 1960 (die beiden hatten damals mit dem Nagelbrett Illustrationen für eine Ausgabe von Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" erstellt), und einen noch kürzeren mit dem Titel TROIS THÈMES, der sie an der Arbeit zu ihrem gleich betitelten letzten Film zeigt. Die Bilder hier sind alle aus diesen Filmen.

Seminar vor kleinem, aber exquisitem Publikum; rechts das "kleine" Modell
mit 240.000 Nägeln und seine beiden Schöpfer
Das Nagelbrett ist eine vertikal stehende Tafel mit einem regelmäßigen Dreiecksmuster von Löchern. Und zwar sehr vielen Löchern - das erste einsatzfähige Exemplar hatte ungefähr eine Million davon. In den Löchern stecken spitze Metallstifte, die länger sind als die Dicke der Tafel. Die Stifte sind beweglich, können also so verschoben werden, dass sie entweder auf der Vorder- oder der Hinterseite der Tafel herausragen, oder eine beliebige Zwischenstellung einnehmen. Eine bestimmte Schmierflüssigkeit sorgt dafür, dass die Nägel weder zu leicht noch zu streng gleiten, so dass man sie nur mit einem gewissen Krafteinsatz verschieben kann. Der Clou ist nun, dass die Vorderseite der Tafel weiß ist, während die Nägel mehr oder weniger schwarz sind. Die Vorderseite der Tafel wird nun von einer starken Lichtquelle von der Seite her beleuchtet. Je nachdem, wie weit die Stifte hervorstehen, werfen sie einen mehr oder weniger langen Schatten. Während ein einzelner Nagel praktisch keinen wahrnehmbaren Effekt hat (er ist quasi ein einzelnes Pixel in einem hoch aufgelösten Bild), ergibt die Summe der Nägel in einem Gebiet der Tafel je nach ihrer Stellung eine beliebig einstellbare Mischung von beleuchteten und beschatteten Stellen auf der Tafel, und damit aus der Entfernung betrachtet (oder mit einer Filmkamera in Einzelbildschaltung aufgenommen) beliebige Grauabstufungen.

Das Prinzip wird am vergrößerten Modell erklärt
Damit das funktioniert, ist es wichtig, dass der Lichteinfall aus der richtigen Richtung erfolgt. Die jeweils benachbarten Löcher bzw. Stifte bilden gleichseitige Dreiecke. Wenn das Licht parallel zu einer der drei, um 60° gegeneinader gedrehten, Dreiecksseiten einfallen würde, dann würden sich "Korridore" ergeben, die nie beschattet werden, egal wie weit die Stifte herausstehen. Die Richtung des Lichteinfalls muss also um einen gewissen Winkel zu den drei "Hauptrichtungen" gedreht sein. Wenn dann die Stifte nur leicht herausstehen, wirft jeder einen isolierten Schatten. Wenn die Stifte weiter herausstehen, vereinigen sich diese einzelnen Schatten zunehmend zu einem zusammenhängenden Gebilde, das bei maximal hervorstehenden Stiften schließlich die ganze Fläche in diesem Bereich der Tafel bedeckt und so für Schwarz sorgt.


Um die Stifte für eine Aufnahme zu positionieren, wurden sie mit Gegenständen aller Art in die richtige Stellung gedrückt, und zwar von beiden Seiten der Tafel, je nach gewünschter Wirkung. Wenn man beispielsweise eine weiße Linie in eine dunkle Fläche "zeichnen" wollte, oder aber umgekehrt, so musste man im einen Fall zuerst alle Nägel dieser Fläche von hinten nach vorne drücken und dann die Nägel an der vorgesehenen Linie wieder von vorne nach hinten drücken - oder im anderen Fall genau spiegelbildlich vorgehen. "Gedrückt" wurde mit allen möglichen Gegenständen, etwa Linealen, Messern und Löffeln, und vielen weiteren Utensilien, die man in einem Haushalt findet, aber auch mit speziellen Anfertigungen von Alexeïeff und Parker. Vor allem kamen Rollen unterschiedlicher Breite und Form zm Einsatz, mit denen man Linien und Streifen beliebiger Breite in die "Matte" aus Nägeln walzen konnte. Wenn diese Rollen keine glatte Rollfläche hatten, sondern ein bestimmtes Muster darin aufwiesen, so konnte man dieses Muster in der Art eines antiken Rollsiegels auf die Nägel übertragen.


Im praktischen Einsatz war es so, dass Alexeïef als künstlerischer Kopf die Bilder auf dem Nagelbrett schuf (und zwar frei, also ohne Storyboard oder dergleichen), während Parker dabei assistierte und die Kamera bediente, so dass sich nach dem Stop-Motion-Prinzip nach und nach der Film zusammensetzte. War schon die Entwicklung des Nagelbretts eine komplizierte und nicht ganz billige Angelegenheit, so galt das auch für das Drehen von Filmen damit. Es war hohe künstlerische und technische Fertigkeit von Nöten, hohe Konzentration und vor allem viel Geduld. Die Arbeit an UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE begann 1931 und dauerte eineinhalb Jahre. Nach der Premiere in Paris gab es viel Lob von Künstlern und von der Kritik, doch dann stellten Parker und Alexeïeff das Nagelbrett erst mal in die Ecke und drehten Werbefilme (im Gegensatz zu den Nagelbrettfilmen in Farbe), zusammen mit Alexandra Grinevsky (wie oben schon erwähnt) sowie ein oder zwei angestellten Animateuren. Aber auch hier gaben sich Alexeïeff und seine Mitstreiter künstlerisch und technisch einige Mühe. Ab 1936 gab es auch eine Reihe von Auftragen aus Deutschland, so dass das Studio vorübergehend nach Berlin verlegt wurde. Das Spektrum der beworbenen Produkte reichte vom Loewe Opta Radioempfänger bis zu Klopapier. Anfang 1938 gingen Alexeïeff und seine Mitstreiter zurück nach Paris, und 1940 setzte sich die Ménage-à-trois Parker, Alexeïeff und Grinevsky (samt Tochter Svetlana) in die USA ab. Dort ließ sich Alexeïeff, wie schon erwähnt, von Grinevsky scheiden, die daraufhin eigene Wege ging, während Parker und Alexeïeff nicht nur als künstlerisches Team zusammenblieben, sondern dann auch heirateten.

Die Lichtquelle wird justiert (À PROPOS DE JIVAGO)
Im amerikanischen Exil drehten Parker und Alexeïeff keine Werbeclips, aber dafür den zweiten Nagelbrettfilm, und zwar beim NFB. Norman McLaren, der beim NFB die Animationsfilmabteilung aufgebaut hatte und für Jahrzehnte leitete, hatte UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE irgendwann in den 30er Jahren gesehen und war schwer beeindruckt, und er hatte wohl Wind davon bekommen, dass sich Parker und Alexeïeff in den USA aufhielten. 1944 produzierte McLaren am NFB eine Reihe von kurzen Animationsfilmen unter dem Sammeltitel CHANTS POPULAIRES, in denen jeweils ein franko-kanadisches Volkslied mit Bildern versehen wird, und er lud Parker und Alexeïeff ein, auch einen Beitrag dazu abzuliefern. Das Ergebnis war der (ohne den Serienvorspann) nicht mal eineinhalbminütige EN PASSANT. Da er als fünfter Film der Serie erschien, findet man ihn auch unter dem Titel CHANTS POPULAIRES N° 5.

Auf den Einfallswinkel des Lichts kommt es an: links oben ganz schlecht, dann zunehmend
besser, aber noch nicht perfekt (PIN SCREEN)
Nach dem Krieg kehrte das Paar nach Paris zurück und nahm Anfang der 50er Jahre zunächst seine Tätigkeit als Werbefilmer wieder auf. Alexeïeff erdachte in dieser Phase ein Verfahren, das er "Totalisation" nannte. Dabei wird eine Lichtquelle, die pendelt, rotiert oder sich sonstwie annähernd regelmäßig bewegt, mit sehr langer Belichtungszeit aufgenommen, so dass die Lichtspur festgehalten wird. Das kombinierte er mit konventioneller Stop-Motion-Technik und weiteren Verfahren und erzielte damit interessante Wirkungen, so dass sein Studio, wie schon in den 30er Jahren, großen Anklang bei den Werbekunden fand. Zwei Werbeclips aus dieser Phase, die bis Mitte der 60er Jahre dauerte, habe ich hier vorgestellt (allerdings beide ohne Totalisation). Bei den Werbefilmen wurde meist Alexeïeff als alleiniger Regisseur benannt, aber Parker beteiligte sich auch daran.

Dieselbe Konfiguration des Nagelbretts bei zwei verschiedenen Lichteinfallswinkeln (À PROPOS DE JIVAGO)
1962 gab es eine weitere Auftragsarbeit für das Nagelbrett: Den Prolog zu Orson Welles' Kafka-Verfilmung LE PROCÈS. Da es sich um eine Abfolge von Standbildern handelt, ist die Sequenz kein Nagelbrettfilm im engeren Sinn. Die Stimme gehört natürlich Meister Welles persönlich, der Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" rezitiert, die einen abgeschlossenen Text innerhalb von "Der Prozess" bildet. 1963 folgte dann der dritte "richtige" Nagelbrettfilm, LE NEZ (DIE NASE), zugleich der längste seiner Art von den beiden. Im Gegensatz zum frei-assoziativen UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE folgt diese Verfilmung der gleichnamigen absurden Parabel von Nikolai Gogol einer klareren Handlungslinie, wenn auch einer ziemlich surrealen: Einem Beamten kommt seine Nase abhanden, die daraufhin ein Eigenleben führt.

Werkzeuge: Verschiedene Rollen, aber auch Matrjoschka-Puppen; unten: eine sehr breite Rolle dient
als "Schwamm" zum Löschen der gesamten "Tafel" (PIN SCREEN)
Die letzten beiden Nagelbrettfilme von Alexeïeff und Parker markieren die Rückkehr zu Mussorgski. TABLEAUX D'UNE EXPOSITION (1972) ist natürlich eine Interpratation von "Bilder einer Ausstellung", ein Jahr nachdem sich Emerson, Lake and Palmer auf ihre Art dieser Musik angenommen hatten. Es spielt der österreichische Pianist Alfred Brendel. Bei diesem Film kommt eine Neuerung zum Tragen: Es werden nicht nur eines, sondern zwei Nagelbretter verwendet. Während das etwas größere im Hintergrund fixiert ist, ist das kleinere im Vordergrund um eine vertikale Achse drehbar gelagert. TROIS THÈMES von 1980 schließlich, wieder mit Brendel am Klavier, ist der Schwanengesang des Paars. Claire Parker starb 1981, Alexandre Alexeïeff 1982.

Werkzeugkasten (À PROPOS DE JIVAGO)
Das Nagelbrett, das Parker und Alexeïeff 1972 nach Kanada mitbrachten, ist kleiner als das Original aus den 30er Jahren (das sich heute im Centre national du cinéma et de l'image animée in Paris befindet) und hat "nur" ca. 240.000 Nägel. Dieses Exemplar wurde nach dem Seminar sogleich vom NFB erworben, und es ist (als einziges weltweit) noch immer im Einsatz. Für lange Jahre war Jacques Drouin vom NFB der einzige, der die Nachfolge von Alexeïeff und Parker antrat und die nötige Mühe und Geduld für Filme mit dem Nagelbrett aufbrachte. Besonders schön ist etwa LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE . Das Motiv der Leinwand, auf der sich der "reale" Hintergrund nahtlos fortsetzt, ist sicher von René Magritte inspiriert. Nagelbrettfilme sind naturgemäß zunächst einmal schwarzweiß, aber natürlich ist es nicht weiter schwer, ihnen eine monochrome Einfärbung zu verpassen, wie in Drouins EX-ENFANT / EX-CHILD. Auch nachdem sich Drouin mittlerweile im Ruhestand befindet, ist die Technik noch nicht tot - Michèle Lemieux hat 2012 mit LE GRAND AILLEURS ET LE PETIT ICI den bislang letzten Vertreter hervorgebracht. Hier erzählt sie etwas über die Entstehung des Films, und man bekommt noch einmal die Technik erklärt und demonstriert. Es kann also weitergehen!

Ein Ring mit einem Profil ähnlich einem Fahrzeugreifen erzeugt beim Abrollen
ein Muster, aus dem Getreide wird (À PROPOS DE JIVAGO)
In den 70er Jahren entwickelte ein Ward Fleming eine Vorrichtung, die dem Nagelbrett von Parker und Alexeïeff sehr ähnlich ist. Die Stifte sind hier nicht aus Metall, sondern Kunststoff, sie sind leichter verschiebbar, und sie sind wohl noch dichter gepackt als beim klassischen Nagelbrett - jedenfalls entstehen hier die Bilder nicht durch den Schattenwurf, sondern durch das dreidimensionale Relief der Stifte selbst. Dennoch ist die Verwandtschaft mit dem ursprünglichen Konzept unübersehbar. Das hielt Fleming nicht davon ab, sich als Erfinder seiner Entwicklung zu betrachten und diese zum Patent anzumelden. Eine kleine Spielzeugversion davon hat sich zig-millionenfach verkauft, Fleming dürfte also ziemlich reich damit geworden sein. Es gibt aber auch sehr große Exemplare, die sich auch für Live-Performances wie diese hier eignen.

Derselbe Ring wie oben erzeugte auch den Stamm und die Zweige
des Weihnachtsbaums (À PROPOS DE JIVAGO)
Alle Nagelbrettfilme von Parker & Alexeïeff (außer dem Prolog zu LE PROCÈS) und eine Auswahl von 20 Werbefilmen sowie À PROPOS DE JIVAGO, McLarens PIN SCREEN, Drouins LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE und einige weitere Bonusfilme sind zusammen in Frankreich auf der DVD Alexeïeff - Le cinéma épinglé erschienen. DVD und Booklet sind zweisprachig Französisch/Englisch. Eine amerikanische Lizenzausgabe davon gibt es auch. Wer beim Nagelbrett nicht kleckern, sondern klotzen will, kommt an einer dieser beiden Scheiben nicht vorbei. Die Bildqualität ist selbstredend besser als bei den YouTube-Videos. UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE ist auch im 7-DVD-Set Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941 enthalten, PIN SCREEN auch im 7-DVD-Set Norman McLaren. The Master's Edition. LE PROCÈS ist auf diversen DVDs und Blu-rays erhältlich.

TROIS THÈMES (Kurzdoku): Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an ihrem gleichnamigen letzten Film

Sonntag, 1. Januar 2017

Ölmultis, ein Auto und ein Haufen Glas

Einige Werbe- und Industriefilme aus vergangenen Jahrzehnten

Eigentlich wollte ich ja noch im Dezember einen Artikel über Alexandre Alexeïeff und Claire Parker veröffentlichen, der aber über Weihnachten steckengeblieben ist (aber hoffentlich in diesem Monat noch kommt [und hier ist er schon]). Deshalb zur Überbrückung bis Davids Jahresrückblick hier nur ein kleiner Pausenfüller. Und Alexeïeff (ohne Parker) ist hier auch mit dabei.



THE BIRTH OF THE ROBOT
Großbritannien 1936
Regie: Len Lye


In Großbritannien haben eigene Filmabteilungen großer Konzerne, privatwirtschaftlicher ebenso wie (halb-)staatlicher, eine lange Tradition. Produziert wurden Werbe-, Industrie- und Dokumentarfilme, über die eigenen Tätigkeitsfelder, aber auch über andere Themen. Neben der vom General Post Office gestellten GPO Film Unit und British Transport Films, das von der Eisenbahn und weiteren öffentlichen Transportunternehmen betrieben wurde, ist hier vor allem die 1934 ins Leben gerufene Shell Film Unit zu nennen (noch detailliertere Informationen darüber hier). Alle diese Organisationen gehörten zum Dunstkreis der britischen Dokumentarfilmbewegung um John Grierson. Von Grierson, dem Chef der GPO Film Unit, beeinflusste Produzenten wie Edgar Anstey (später langjähriger Chef von British Transport Films) und vor allem Sir Arthur Elton prägten das filmische Geschehen bei Shell. Zu den Regisseuren, die sowohl für GPO Films als auch für die Shell Film Unit arbeiteten, zählte auch der geniale Neuseeländer Len Lye (1901-1980), der in den frühen 30er Jahren nach England gegangen war. Seine Domäne war der abstrakte Film, und hier ist er in einem Atemzug mit Oskar Fischinger und Norman McLaren zu nennen. THE BIRTH OF THE ROBOT, der eher nebenbei Werbung für Schmieröl von Shell macht, ist also ein für ihn ungewöhnlicher Film. Das verwendete Farbverfahren ist Gasparcolor, das ein ungarischer Chemiker erfunden hatte, und das auch von Fischinger und Alexeïeff mehrfach benutzt wurde. Lyes Auftraggeber von Shell waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und der Film wurde in den britischen Kinos von geschätzten drei Millionen Leuten gesehen.




Wir bleiben noch bei Shell. Am Anfang seiner Laufbahn arbeitete auch Geoffrey Jones (1931-2005), den ich hier schon vorgestellt habe, bei der Shell Film Unit, wo er einige Filme drehte, bis er sich 1961 selbständig machte und seine eigene Firma gründete. Die beiden hier vorgestellten Filme realisierte er also nicht als Angesteller des Ölkonzerns, sondern als unabhängiger Auftragnehmer.

SHELL SPIRIT
Großbritannien 1963
Regie: Geoffrey Jones



1962/63 drehte Jones drei kurze Werbefilme für Shell, und das ist einer davon. Der Soundtrack bei allen drei Filmen besteht aus südafrikanischer Kwela-Musik. Tragendes Instrument dabei ist die Blechflöte (Pennywhistle). SHELL SPIRIT gewann einen Ersten Preis einer Vereinigung von Designern und Art Directors, und er machte Edgar Anstey auf Jones aufmerksam, wodurch es dann zu seinen drei Filmen für British Transport Films kam.


THIS IS SHELL
Großbritannien 1970
Regie: Geoffrey Jones



Man glaubt es kaum, aber dieser wunderbare Film wurde gar nicht für die Öffentlichkeit gedreht, sondern nur für die Aktionäre von Shell UK. Nachdem zuvor bei der Jahreshauptversammlung von Dutch Shell ein eigens gedrehter Kurzfilm gezeigt worden war, wollte man im britischen Zweig des Konzerns auch sowas haben, und da griff man auf Jones zurück, mit dem Shell ja schon gute Erfahrungen gemacht hatte. Jones realisierte THIS IS SHELL unter großem Zeitdruck - er hatte genau zwei Monate, dann fand die Aktionärsversammlung statt. Die Musik für THIS IS SHELL schrieb Donald Fraser, der auch LOCOMOTION vertonte, und ebenso wie bei Jones' drei Eisenbahnfilmen war auch hier die geniale Daphne Oram für die elektronische Bearbeitung des Soundtracks zuständig.



LA SÈVE DE LA TERRE
Frankreich 1955
Regie: Alexandre Alexeïeff



Hier nun also der oben schon angesprochene Alexandre Alexeïeff, und statt Shell jetzt die Konkurrenz von Esso. Da ja hoffentlich bald der Artikel über Alexeïeff kommt [schon da], will ich hier nicht viele Worte über ihn verlieren. - Ölmultis brauchen natürlich Autos, also bauen wir uns eines:


AUTOMATION
Frankreich ca. 1960
Regie: J.P. Rhein, Alexandre Alexeïeff (Beratung)



Ein wunderbar modernistischer Werbeclip für Renault. Damit da keine Missverständnisse aufkommen: Bei der Musik hat sich nicht etwa ein heutiger Möchtegern-Künstler aufgespielt, wie man das so häufig auf YouTube findet, sondern das ist der Originalsoundtrack, und er stammt von einem Maurice Van Thienen. Alexeïeff fungiert hier in den Credits als Berater, über den nominellen Regisseur J.P. Rhein weiß ich nichts. Schade, dass bei diesem Video die Bildqualität so schlecht ist - auf DVD sieht das noch deutlich eindrucksvoller aus.



Die letzten beiden Filme verfolgen ein gemeinsames Thema - sie sind der Herstellung von Glasprodukten gewidmet.

GLAS
Niederlande 1958
Regie: Bert Haanstra

GLAS darf man getrost zu den Klassikern des Industriefilms zählen, und er zählt auch zu den Filmen, die Geoffrey Jones (seiner eigenen Aussage nach) inspiriert haben. Der Film ist deutlich zweigeteilt - während es in der ersten Hälfte mehr um traditionelle Glasbläserei geht, wechselt es ziemlich genau in der Mitte zur industriellen Glasherstellung, was sich auch im Soundtrack widerspiegelt.



Bert Haanstra (1916-1997) ist neben Joris Ivens wohl der bekannteste holländische Dokumentarist (mit nur seltenen Ausflügen zum Spielfilm). Und siehe da - auch Haanstra hat für die Shell Film Unit gearbeitet. Auf Einladung von Sir Arthur Elton drehte er ab 1952 eine Reihe von Dokus für Shell, neben Filmen über den Themenkomplex Erdöl beispielsweise auch DIJKBOUW über traditionelle und moderne Methoden des Deichbaus in Holland. Schon zuvor hatte Haanstra mit dem 1950 gedrehten SPIEGEL VAN HOLLAND Aufsehen erregt. In diesem schönen neunminütigen Film werden Szenen des Alltags aus Holland als Spiegelung im Wasser der Grachten gezeigt, so wie das später Kurt Steinwendner in VENEDIG gemacht hat.

Leerdam ist seit dem 18. Jh. ein Zentrum der Glasproduktion in Holland, und auf Einladung der dortigen Königlichen Glasfabrik drehte Haanstra 1957/58 seinen bekanntesten Film. Genauer gesagt, er drehte und schnitt parallel zwei Filme. Der knapp halbstündige OVER GLAS GESPROKEN ist sozusagen der offizielle Film, also der Film, den die Glasfabrik von ihm wollte (und laut dem von John Wakeman herausgegebenen World Film Directors ist es "an excellent instructional documentary"). GLAS dagegen ist Haanstras persönliche Variation des Themas - und er geriet ihm zum Triumph. GLAS gewann als erster holländischer Film überhaupt einen Oscar, und auf einem Dutzend Festivals gab es Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



100 WATTS 120 VOLTS
USA 1977
Regie: Carson Davidson



Den im letzten September verstorbenen Carson "Kit" Davidson (1924-2016) habe ich hier schon anhand seines 3rd AVE. EL von 1955 vorgestellt. Wer Davidson noch nicht kennt oder wieder vergessen hat, sei erneut auf diese Seite verwiesen. Mit GLAS kann es der knapp 20 Jahre später entstandene 100 WATTS 120 VOLTS an filmgeschichtlicher Relevanz nicht aufnehmen, aber schön ist er auch, und das Dritte Brandenburgische Konzert von Bach trägt seinen Teil dazu bei. Gedreht wurde in einer Glühlampenfabrik der Firma Duro-Test. Die "120 Volt" im Titel beziehen sich natürlich auf das nordamerikanische Stromnetz mit seiner im Vergleich zu unseren 230 Volt deutlich niedrigeren Spannung.



Von Len Lye, Geoffrey Jones und Alexandre Alexeïeff & Claire Parker gibt es jeweils eine DVD mit einer Auswahl ihrer Filme, die auch die hier behandelten beinhalten, von Bert Haanstra gar eine Box mit 10 DVDs unter dem Titel "Bert Haanstra Compleet" (der Name sagt schon alles Nötige), und das zu einem sehr gemäßigten Preis und mit engl. Untertiteln. Von Carson Davidson gibt es dagegen nichts.

Freitag, 18. November 2016

CŒUR FIDÈLE: Jean Epstein, der Impressionismus und die entsittlichende Wirkung

CŒUR FIDÈLE
Frankreich 1923
Regie: Jean Epstein
Darsteller: Gina Manès (Marie), Léon Mathot (Jean), Edmond van Daële (Petit Paul), Marie Epstein (Nachbarin), Claude Benedict (Hochon), Mme. Maufroy (Mme. Hochon), Madeleine Erickson (Hure)

Marie; rechts oben Jean; Petit Paul; rechts unten die Hochons mit Marie
Die Filmhistoriker sind gespalten über die Frage, ob es im französischen Film der 1920er Jahre die Bewegung des "Impressionismus" (die natürlich nicht mit der gleichnamigen Richtung in der Malerei verwechselt werden darf) gegeben hat. Während die einen, etwa David Bordwell und Kristin Thompson, mit meiner Meinung nach guten Gründen die Realität dieser Bewegung oder Stilrichtung bejahen und Regisseure wie Abel Gance, Marcel L'Herbier, Louis Delluc, Germaine Dulac und Dimitri Kirsanoff dazu zählen, streiten einige andere die Existenz einer geschlossenen Bewegung rundweg ab. Die Charakteristika, die die Befürworter des Impressionismus anführen, treffen geradezu exemplarisch auf CŒUR FIDÈLE zu, und so wird auch Jean Epstein zu den Hauptvertretern des Impressionismus gezählt - wenn es ihn denn gab (was ich im Folgenden aber voraussetze). Wie diese Charakteristika denn nun aussahen, darüber unten mehr. Zunächst zur Handlung.

Hafenkneipe mit Tiefenschärfe; Petit Paul betritt die Szene
Die junge Marie wurde als Findelkind von Monsieur und Madame Hochon in Marseille aufgezogen. Doch die beiden sind lieblose Rabeneltern. Marie muss als Bedienung in der schäbigen Hafenkneipe der Hochons schuften, eigene Bedürfnisse werden ihr nicht zugestanden. Und es kommt noch schlimmer: Sie soll mit dem Ganoven Petit Paul verkuppelt werden, mit dem die Hochons durch irgendwelche krummen Geschäfte verbunden sind. Doch Marie liebt den stillen Hafenarbeiter Jean. Als der in der Kneipe vorstellig wird, um seine Ansprüche auf Marie anzumelden, wird er aber von den Hochons und Petit Paul nur abgebügelt. Und Petit Paul verschwindet daraufhin mit Marie, der keine Wahl gelassen wird, in eine Kleinstadt im Hinterland von Marseille. (Gedreht wurde die Kleinstadt-Sequenz in Manosque, aber der Name der Stadt wird im Film nicht genannt und spielt keine Rolle.) Dort ist gerade ein Rummelplatz in Betrieb, den Petit Paul mit der jetzt völlig apathischen Marie besucht. Jean hat mittlerweile von Maries Verschwinden Wind bekommen und ist Petit Paul auf der Spur. Tatsächlich findet er ihn bald, und mitten auf der Straße der Kleinstadt kommt es zu einem wilden Kampf der beiden Kontrahenten. Petit Paul zückt ein Messer, doch statt Jean trifft er einen Polizisten, der die beiden trennen wollte. Während Petit Paul daraufhin das Weite sucht, wird Jean verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Marie, die wie gelähmt den Kampf verfolgt hat und für Jean aussagen will, wird von der Polizei nur abgewimmelt.

Am Hafen von Marseille
Jeans Verurteilung ungefähr in der Mitte des Films bildet eine Zäsur. Es geht dann ein Jahr später mit Jeans Freilassung weiter, und die zweite Hälfte des Films spielt wieder in Marseille. Jean arbeitet jetzt als Kohlenschaufler im Hafen, und nebenbei sucht er nach Marie. Zunächst ohne Erfolg, doch dann läuft er ihr zufällig über den Weg. Und zu seinem Schreck muss er erfahren, dass Marie mit Petit Paul zusammenlebt und ein Baby von ihm hat. Doch Petit Paul hat sich nicht zum Besseren gewendet - ganz im Gegenteil. Er trinkt regelmäßig, und wenn er betrunken ist, schikaniert und tyrannisiert er Marie, die obendrein kaum Geld für sich und das Baby hat, weil Petit Paul alles versäuft oder verzockt. Jean besucht jetzt regelmäßig Marie in ihrer Wohnung, wenn Petit Paul auf Sauftour ist. Unterstützt wird das Liebespaar von einer freundlichen jungen Nachbarin mit verkrüppeltem Fuß (gespielt von Epsteins Schwester Marie, die auch am Drehbuch mitschrieb). Doch eine geschwätzige Hafenhure, die bei Jean abgeblitzt ist, hinterträgt Petit Paul das Treiben in seiner Abwesenheit. So macht er sich zu ungewohnt früher Stunde auf zu seiner Wohnung, ertappt Jean und Marie, und es kommt zum Showdown - diesmal hat er kein Messer, sondern eine Pistole dabei. Aber anders als beim ersten Kampf bleibt Petit Paul auf der Strecke, und Jean und Marie sehen einer gemeinsamen Zukunft ohne Angst vor dem Strolch entgegen.

Jean macht schwere Zeiten durch
Es ist keine freundliche Welt, die Jean Epstein uns zeigt. So wie ungefähr das erste Viertel von CŒUR FIDÈLE, spielt auch Marcel Pagnols Marseille-Trilogie (verfilmt 1931-36 als MARIUS, FANNY und CÉSAR) in einer Hafenspelunke in Marseille und ihrer näheren Umgebung (in einer der deutschen Zensurentscheidungen, auf die ich unten eingehe, als "Apachenviertel einer französischen Hafenstadt" bezeichnet). Doch von der Atmosphäre gegenseitiger Sympathie und Respekts, die diesen Mikrokosmos der "kleinen Leute" bei Pagnol prägt, findet sich in CŒUR FIDÈLE fast nichts (einziger Lichtblick ist die empathische, selbst vom Leben gebeutelte Nachbarin von Marie). Eher fühlt man sich, um einen weiteren Vergleich mit dem Film der 30er Jahre zu bemühen, an das triste Le Havre von Carnés LE QUAI DES BRUMES erinnert. Überhaupt wirkt manches schon wie eine Vorwegnahme des Poetischen Realismus, der 15 Jahre später seinen Höhepunkt erreichen sollte. Was die Handlung betrifft, so hatte sich Epstein selbst Zurückhaltung und Schlichtheit auferlegt - er wollte ein auf seine Grundmuster reduziertes Melodram erzählen. Das ist - auch nach Auffassung seiner Zeitgenossen - gelungen. "Seine Handlung ist banal", schrieb René Clair im Februar 1924 (seinen ersten Film hatte er da schon abgedreht, aber noch nicht veröffentlicht), "eine Art von BROKEN BLOSSOMS, durch französische Augen gesehen." Doch das sei nicht wichtig, beeilt er sich hinzuzufügen: "Das Thema eines Films ist nicht wichtiger als das Thema einer Symphonie. [...] Monsieur Jean Epstein, der Regisseur von CŒUR FIDÈLE, ist offensichtlich mit der Frage des Rhythmus befasst. [...] Ich fordere diese Leser nochmals auf, sich CŒUR FIDÈLE und seinen Karneval [gemeint ist der Rummelplatz] anzusehen, eine schöne Szene von visueller Berauschung, ein emotionaler Tanz in der Dimension des Raums, in der das Antlitz der Dionysischen Poesie wiedergeboren wird."

Rummelplatz
In der Tat bildet die Sequenz auf dem Rummelplatz den Höhepunkt des Films, gerade weil der Plot hier mehr oder weniger pausiert (denn Jean ist noch auf der Suche nach Marie und Petit Paul). Karussell, Kettenkarussell und Schiffschaukeln werden mit Hilfe von ungewöhnlichen Kamerapositionen, mehrfacher Bildüberlagerung, rasantem Schnitt und gezielter Bewegungsunschärfe zu einem sehr dynamischen und modern wirkenden Gebilde aus Bewegung und Geschwindigkeit verwoben. Aber auch sonst bildet die Kameraarbeit den zentralen Bestandteil von CŒUR FIDÈLE, ebenso wie im Impressionismus insgesamt. Fast alle Szenen des Films sind mit sehr großer Tiefenschärfe gefilmt (was damals nichts Besonderes war - als deep focus cinematography mit Filmen wie DIE SPIELREGEL und CITIZEN KANE wieder in Mode kam, war das eigentlich schon ein alter Hut). Die hohe Tiefenschärfe ermöglicht es Epstein und seinen drei Kameramännern, gezielt partielle Unschärfe (nicht nur Bewegungsunschärfe) als Stilmittel einzusetzen. Es gibt auch ausgiebig Doppel- und Dreifachbelichtungen. Viele Szenenübergänge sind nicht als normale Schnitte, sondern als Überblendungen realisiert, auch andere weiche Übergänge wie Iris- und Wischblenden kommen zum Einsatz. Fast alle diese kameratechnischen Mittel dienen dazu, innere Zustände der Protagonisten zu visualisieren - Gedanken, Träume, Visionen, Hoffnungen, Ängste, Erinnerungen. Auch das ein allgemeines Charakteristikum der impressionistischen Filme. Verzerrende Spiegel oder Linsen dienen dazu, Petit Pauls subjektiven Blick im betrunkenen Zustand zu vermitteln (und in Epsteins FINIS TERRAE von 1929 den Blick eines an Blutvergiftung mit hohem Fieber Erkrankten). In anderen impressionistischen Filmen kommt auch Zeitlupe zum Einsatz. Die Betonung des Innenlebens korrespondiert mit einer hohen Zahl von Großaufnahmen in CŒUR FIDÈLE.

Kettenkarussell: Die Kamera fixiert Petit Paul und Marie, während der Hintergrund verschwimmt
Was den rasanten Schnitt betrifft, so hatte Abel Gance in seinem viereinhalbstündigen Eisenbahnepos LA ROUE neue Maßstäbe gesetzt. Zwar war das durchschnitliche Schnitttempo nicht übermaßig hoch, doch gab es wahre Ausbrüche, in denen das Tempo rasant anzog. Beispielsweise eine Sequenz, in der die Einstellungen nacheinander 11, 14, 7, 6, 5 und 6 Frames lang sind (die Zahlen entstammen dem profunden Film History. An Introduction von Bordwell & Thompson). Bei einer Vorführgeschwindigkeit von 18 oder 20 Bildern pro Sekunde, wie damals meist üblich, dauern die kürzesten dieser Einstellungen nur ungefähr eine Viertelsekunde. In einer Szene, in der ein Protagonist über einem Abgrund hängt und gleich in den Tod stürzen wird, zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei - und jeder dieser Erinnerungsfetzen besteht aus nur einem einzigen Frame! Das war unerhört und ging über alles hinaus, was frühere Meister der Montage wie D.W. Griffith veranstaltet hatten. LA ROUE wurde denn auch neben Griffith zum wichtigsten Einfluss der sowjetischen Montage-Schule (und auch BORDERLINE mit seiner clatter montage wurde davon beeinflusst). Doch während die sowjetischen Meister um Eisenstein mit ihrer "intellektuellen Montage" Erkenntnisse über die äußere Welt vermitteln wollten, ging es Gance und seinen französischen Kollegen wiederum um das Innenleben der Protagonisten. CŒUR FIDÈLE war nun nach LA ROUE der zweite Film des Impressionismus, der sich der ultraschnellen Montage befleißigte. Zwar treibt es Epstein nicht ganz so wild wie Gance, aber in der Rummelplatzsequenz sind etliche Einstellungen auch gerade mal zwei Frames lang, und früher im Film gibt es in der Hafenkneipe auch schon einen wenn auch etwas gemäßigteren Ausbruch so eines Schnittgewitters. Nach diesen beiden Wegbereitern beinhalteten zwar nicht alle, aber doch recht viele weitere impressionistische Filme sehr dynamisch geschnittene Sequenzen, siehe etwa den ganz erstaunlichen Anfang von Kirsanoffs MÉNILMONTANT.

Der erste Kampf um Marie
Die Impressionisten bevorzugten einen zurückgenommenen, naturalistischen Schauspielstil, und der findet sich auch in CŒUR FIDÈLE. Nur Léon Mathot, der Darsteller von Jean, zeigt gelegentlich leichte Anflüge von Overacting, es hält sich aber immer in Grenzen. Dennoch scheint mir Mathot im Trio der Hauptdarsteller der Schwächste zu sein. Er wird allerdings auch ein bisschen vom Drehbuch benachteiligt. Petit Paul ist ein Widerling, aber auch ein dynamischer Charakter, und solange er nicht betrunken ist, strahlt er sogar ein gewisses Charisma aus. Im Vergleich zu ihm ist Jean fast ein Phlegmatiker, auch wenn er zweimal (in der Mitte und am Ende des Films) aus sich herausgeht. Trotzdem - 15 Jahre später hätte vielleicht Jean Gabin diese Rolle gespielt, und der hätte wesentlich mehr daraus machen können. Mathot (1885 [verschiedene Quellen nennen fälschlich 1886]-1968) war aber zu seiner Zeit ein populärer Darsteller, z.B. spielte er den Grafen von Monte Cristo in einem Serial von 1917/18. Später wechselte er ins Regiefach. - Edmond van Daële (1884-1960) alias Petit Paul war trotz seines holländisch klingenden Namens Franzose - eigentlich hieß er Edmond Jean Adolphe Minckwitz. Er spielte noch in zwei weiteren Filmen von Epstein, und in Gances NAPOLÉON gab er den Robespierre. Auch mit weiteren namhaften Regisseuren wie Maurice Tourneur und mehrfach Julien Duvivier und Marcel L'Herbier hat van Daële zusammengearbeitet. In der deutsch-französischen Coproduktion CAGLIOSTRO von Richard Oswald spielte er Ludwig XVI. - Gina Manès (1893-1989) schließlich kam in ihrer 50-jährigen Filmkarriere von 1916 bis 1966 auf rund 90 Filme. In NAPOLÉON spielte sie Kaiserin Joséphine de Beauharnais. In den späten 20er Jahren machte sie einige Abstecher in den deutschen Stummfilm, u.a. THÉRÈSE RAQUIN aka DU SOLLST NICHT EHEBRECHEN! von Jacques Feyder, DIE TODESSCHLEIFE von Arthur Robison und DIE HEILIGE UND IHR NARR von und mit William Dieterle. Im Tonfilm wurden ihre Rollen kleiner, aber sie blieb im Geschäft. Unter ihren Auftritten waren etliche Filme von namhaften Exilanten wie DIVINE (Max Ophüls), MAYERLING (Anatole Litvak) und MOLLENARD (Robert Siodmak). 1955 hatte sie einen Auftritt im letzten Film von Preston Sturges, dessen Karriere da eigentlich schon längst vorbei war.

Jean schippt Kohlen und denkt dabei an Marie
Der 1897 in Warschau als Sohn eines französisch-jüdischen Vaters und einer polnischen Mutter geborene Jean Epstein war nicht nur Regisseur, sondern neben dem jung verstorbenen Louis Delluc auch der wichtigste Theoretiker der Impressionisten. Etliche Schriften der beiden drehten sich um den etwas schwammigen Begriff photogénie. Mit seiner wilden Künstlertolle, die auch Grafiker und Bildhauer inspiriert hat, war Epstein in den 20er Jahren eine markante Erscheinung. In seinen Filmen ging er mehrfach neue Wege. Im Gegensatz zu den Verfechtern des cinéma pur hielten die Vertreter des Impressionismus am narrativen Kino fest, aber mit seinem Kurzfilm LA GLACE À TROIS FACES entfernte er sich weiter von klassischen Erzählmustern als die meisten seiner Kollegen. Epsteins heute bekanntester Film (zumindest bei uns) ist wohl LA CHUTE DE LA MAISON USHER, entstanden im selben Jahr wie die Version von Watson & Webber dieses Werks von E.A. Poe. Mit USHER hat sich Epstein dem Surrealismus angenähert, und manche Szenen erinnern an den vier Jahre später entstandenen VAMPYR von C.T. Dreyer. Regieassistent und Mitautor des Drehbuchs war Luis Buñuel, doch Buñuel und Epstein zerstritten sich, und ihre Wege trennten sich schnell. Aber Buñuel hatte dabei soviel über das Filmhandwerk gelernt, dass er daraufhin mit Salvador Dalí zu seiner ersten Großtat UN CHIEN ANDALOU schreiten konnte.

Klatschweiber in Marseille
Epstein dagegen trieb das Konzept von USHER nicht weiter auf die Spitze, sondern machte eine radikale Kehrtwende. In seinem nächsten Film FINIS TERRAE verzichtet er bis auf die schon erwähnte Szene mit dem verzerrten Blick eines Fieberkranken komplett auf die gewohnten Kameratricks. Vielmehr handelt es sich bei dem Film um ein proto-neorealistisches Drama, in der hintersten Bretagne (finis terrae = "Ende der Welt") mit einheimischen Laiendarstellern gedreht. Danach drehte Epstein noch mehrfach in der Bretagne. Seit den 30er Jahren konnte er nur mehr wenige Spielfilme realisieren, aber er drehte noch eine Reihe von Kurzfilmen, viele davon dokumentarisch. - Heute ist von den Impressionisten wahrscheinlich Abel Gance am bekanntesten, der nach den Großwerken J'ACCUSE! (keine Zola-Verfilmung, sondern eine Anklage des Ersten Weltkriegs) und LA ROUE mit dem Übergroßwerk NAPOLÉON noch eins draufsetzte. Aber die anderen Impressionisten, auch Epstein, sind außerhalb Frankreichs weniger bekannt, weil ihre Filme im Ausland wenig Erfolg hatten, und weil sie in den 30er Jahren von den Vertretern des Poetischen Realismus an Popularität weit übertroffen wurden. Aber CŒUR FIDÈLE kann man durchaus zu den Klassikern des französischen Kinos zählen.

Eine gesprächige Dame aus dem Hafenviertel
Weniger glorios verlief die Karriere von CŒUR FIDÈLE in Deutschland: Da wurde der Film nämlich verboten.

Entsittlichende Wirkung


Im November 1918 wurde mit dem Ende des Kaiserreichs auch die Zensur in Deutschland abgeschafft - jedenfalls auf dem Papier. Untergeordnete Behörden wie Polizeidirektionen konnten nach wie vor Filme verbieten (und taten es auch), aber einheitliche landesweite Verbote gab es nun nicht mehr, und das eröffnete einladende Schlupflöcher für "Sittenfilme" und "Aufklärungsfilme". Tatsächlich war die Zeit von Ende 1918 bis Mitte 1920 und nicht etwa die 60er und 70er Jahre die erste Blütezeit dieses Genres in Deutschland. Manche dieser Filme wollten tatsächlich aufklären oder eine progressive Sexualmoral (und eine entsprechende Gesetzgebung) propagieren (am bekanntesten wohl Richard Oswalds Homosexuellendrama ANDERS ALS DIE ANDERN), während die meisten eher spekulativ waren. So oder so - diese Filme waren natürlich den Konservativen in Gesellschaft und Politik (und auch dem einen oder anderen linken Kulturpessimisten) ein Dorn im Auge, und der Ruf nach einer speziellen Filmzensur wurde laut. So wurde auf Betreiben der Mitte-Rechts-Parteien von der Verfassunggebenden Nationalversammlung die Möglichkeit eines Zensurgesetzes in der Weimarer Verfassung verankert, und dieses Gesetz wurde dann als Reichslichtspielgesetz im Mai 1920 verabschiedet. Neben der Verbannung der "Schund- und Schmutzfilme" wurde damit auch eine politische Filmzensur etabliert, die im Verlauf der 20er Jahre immer rechtslastiger wurde.

Während Petit Paul keinen klaren Blick mehr hat, kümmert sich Marie um ihr Baby
Artikel 118 der Weimarer Verfassung (Fassung vom August 1919):
Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.
Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.

§ 1 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz (Fassung vom Mai 1920):
Die Zulassung eines Bildstreifens erfolgt auf Antrag. Sie ist zu versagen, wenn die Prüfung ergibt, daß die Vorführung eines Bildstreifens geeignet ist, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden, das religiöse Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden. Die Zulassung darf wegen einer politischen, sozialen, religiösen, ethischen oder Weltanschauungstendenz als solcher nicht versagt werden. Die Zulassung darf nicht versagt werden aus Gründen, die außerhalb des Inhalts der Bildstreifen liegen.

§ 3 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz:
Von der Vorführung vor Jugendlichen sind außer den im § 1 Abs. 2 verbotenen alle Bildstreifen auszuschließen, von welchen eine schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen zu besorgen ist.

Die Nachbarin von Marie und Petit Paul
Nun musste also jeder Film (deutsche ebenso wie importierte ausländische) vor der Veröffentlichung einer der beiden in München und Berlin ansässigen Filmprüfstellen zur Genehmigung vorgelegt werden, als Revisionsinstanz gab es die Oberprüfstelle in Berlin. Diese Prüfstellen waren dem Reichsinnenministerium zugeordnet, und das Ministerium bestimmte auch über die personelle Besetzung. Die Entscheidungen der Film-Oberprüfstelle waren endgültig, der Gerichtsweg war nicht vorgesehen. Ein nicht zugelassener Film konnte jedoch gekürzt oder sonstwie verändert erneut zur Prüfung vorgelegt werden.

Der Schurke und seine Spießgesellen
Wenn die verschiedentlich zu findende Angabe stimmt, dass die Originallänge von CŒUR FIDÈLE 1990 Meter beträgt, dann war die für Deutschland bestimmte Fassung bereits stark gekürzt, denn deren Länge betrug zunächst 1577 Meter. Die fehlenden 413 Meter entsprechen bei der für den Film laut Booklet der Blu-ray vermutlich vorgesehenen Abspielgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde einer Dauer von etwas mehr als 20 Minuten. Diese Fassung von CŒUR FIDÈLE wurde nun unter dem vorgesehenen Titel HERZENSTREUE von einem Berliner Verleih am 7. März 1925 der Filmprüfstelle Berlin vorgelegt und daraufhin auf Antrag eines der Beisitzer mit der Begründung "Exemplarischer Schundfilm, und daher seelisch verrohend" verboten. Gegen diese Entscheidung der Kammer legte der Vorsitzende Beschwerde ein (wie es wörtlich im Protokoll heißt), sowohl aus formalen wie auch aus inhaltlichen Gründen. Formal, weil der Begriff "Schundfilm" im Reichslichtspielgesetz nicht erwähnt war und deshalb kein gültiger Ablehnungsgrund sein konnte. Inhaltlich, weil die seelisch verrohende Wirkung nicht gegeben sei, u.a. weil "... das gute Prinzip am Ende siegt und das elende Leben Petit Pauls endet". Allerdings hielt der Vorsitzende, ein Regierungsrat Goetz, Schnitte für angebracht, "... besonders im letzten Akt jene Scenen, die das blutüberströmte Gesicht Petit Pauls zeigen".

Das hat dem Regierungsrat Goetz nicht gefallen
Am 12. März beriet die Film-Oberprüfstelle über die Beschwerde, wies diese jedoch ab. Zwar wurde dem formalen Teil stattgegeben: "Nach geltendem Recht bildet die Schundfilmeigenschaft eines Bildstreifens keinen Verbotsgrund im Sinne von § 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. Mai 1920. Zu diesem Teil ist die Beschwerde begründet." Inhaltlich schloss man sich der Vorinstanz aber an, was folgendermaßen zusammengefasst (und jetzt formal korrekt formuliert) wurde: "Der Bildstreifen ist in hohem Masse [sic] geeignet, entsittlichend zu wirken. Das hat wohl auch die Prüfstelle zum Ausdruck bringen wollen, als sie ihn für geeignet erklärte, "seelisch verrohend" zu wirken." Und das wird dann noch ausführlich begründet. Folgende Formulierung ließ dem Verleih wenig Hoffnung: "Diese Wirkung geht von dem g e s a m t e n Bildstreifen [Hervorhebung im Protokoll der Sitzung], nicht nur von einzelnen Bildfolgen aus, von denen Teile der Kampfscenen, insbesondere das Ende Petit Pauls geeignet sind, verrohend zu wirken, sodass ein Teilverbot nach § 1 Abs. 3 [also eine Freigabe mit Schnittauflagen] nicht in Frage kommt."

Unschärfe - kein handwerklicher Fehler, sondern ein Stilmittel

Die im Beschauer schlummernden rohen Instinkte


Trotzdem machte der Verleih tapfer einen zweiten Versuch, kürzte CŒUR FIDÈLE um weitere 23 Meter (was bei einer Abspielgeschwindigkeit von 18 fps einer Dauer von 1:07 min entspricht) und legte ihn am 15. April erneut der Filmprüfstelle Berlin vor. Zwei der vier Beisitzer waren schon beim ersten Durchgang dabei gewesen (was anscheinend ungewöhnlich war, denn sie wurden vom Vorsitzenden ausdrücklich befragt, ob sie nicht befangen seien), die anderen beiden und der Vorsitzende der Kammer waren neu. Doch auch die gekürzte Fassung fiel durch und wurde verboten: "Der Gesamteindruck ist so verrohend, dass durch die Beseitigung einzelner roher Handlungen in der Wirkung nichts wesentliches geändert wird. Aus diesem Grunde sind die inzwischen vorgenommenen Kürzungen belanglos, wie auch weitere Ausschnitte die verrohende Wirkung nicht aufheben können, weil diese hervorgerufen wird durch den Gesamtinhalt der Handlung, durch die sich, wie ein roter Faden, die nackte brutale Gewalt hindurchzieht. [...] Es besteht die Gefahr, dass im Beschauer schlummernde rohe Instinkte ausgelöst werden, die andererseits durch die Geschehnisse keinerlei Dämpfung finden. [...] so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das allgemeine sittliche Niveau durch das Zeigen des Martyriums, das eine wehrlose Frau durch das brutale Verhalten eines gewissenlosen Mannes erleidet, herabgemindert und gesenkt wird."


Der bei der Sitzung anwesende Vertreter des Verleihs legte wiederum Beschwerde ein, so dass es am 22. April 1925 vor der Oberprüfstelle zur vierten und letzten Verhandlung über CŒUR FIDÈLE kam. Die Besetzung war identisch mit der vom 12. März (ob das üblich war, ist mir nicht bekannt). Und neuerlich wurde die Beschwerde abgeschmettert: "Das Verbot des Bildstreifens durch die Entscheidung der Oberprüfstelle vom 12. März 1925 tat [sic] auf den Verbotsgrund der entsittlichenden Wirkung gegründet, die die Oberprüfstelle darin gesehen hat, dass der Gesamtinhalt des Bildstreifens derart herabziehend und auf das Gefühl des Beschauers abstumpfend wirke, dass von seiner Vorführung eine Verschlechterung des sittlichen Fühlens und Denkens zu besorgen sei. An dieser Feststellung wird durch die von dem Beschwerdeführer vor der Widervorlage [sic] des Bildstreifens gemachten wenigen Ausschnitte nicht [sic] geändert."

Überblendung
Während gemäß der zum Reichslichtspielgesetz erlassenen Gebührenordnung die erste Verbotsentscheidung samt Berufung gebührenfrei erfolgte, trug nach der zweiten Runde der Antragsteller (also der Verleih) die Kosten. Und damit war dann die Karriere von CŒUR FIDÈLE bzw. HERZENSTREUE in Deutschland beendet, bevor sie begonnen hatte. Das Lexikon des internationalen Films kennt CŒUR FIDÈLE nicht, er lief also anscheinend auch nie in der Bundesrepublik und der DDR. Auf der Website des Österreichischen Filmmuseums in Wien wird CŒUR FIDÈLE als TREUES HERZ erwähnt. Ich weiß aber nicht, wann er diesen Titel verpasst bekam, und ob er zeitnah zu seiner Entstehung in Österreich lief.

Noch eine Überblendung
Die so ausgiebig bemühte "verrohende" und "entsittlichende" Wirkung eines Films war eine Universalkeule des Reichslichtspielgesetzes. Das Schöne daran (aus Sicht der Zensoren) war, dass man diese Wirkung gar nicht schlüssig nachweisen, sondern nur vermuten bzw. behaupten musste (darin der "sozialethischen Desorientierung" nicht unähnlich, vor der die heutige Bundesprüfstelle und weitere Gremien seit den 50er Jahren die gefährdungsgeneigte Jugend schützen zu müssen glauben). Das war auch so gewollt. Leiter der Oberprüfstelle war seit 1924 ein Oberregierungsrat Dr. Ernst Seeger, der auch die beiden Berufungsverhandlungen HERZENSTREUE betreffend als Vorsitzender leitete. Dr. Seeger war auch an der Abfassung des Reichslichtspielgesetzes beteiligt, und in einem 1923 von ihm verfassten Kommentar zum Gesetz kann man lesen: "Der Inhalt des Bildstreifens ist nur insoweit Gegenstand der Prüfung, als von ihm aus Schlüsse auf die mutmaßliche Wirkung bei der Vorführung auf den Beschauer zu ziehen sind" (Hervorhebung von mir). 1933 konnte Dr. Seeger, inzwischen zum Ministerialrat befördert, seine Laufbahn nahtlos im Propagandaministerium fortsetzen - "Die Lücke, die sein Tod im Reichspropagandaministerium gerissen hat, wird schwer auszufüllen sein", hieß es in einem Nachruf im Film-Kurier vom 18. August 1937. - Aus heutiger Sicht ist das Verbot von CŒUR FIDÈLE natürlich ein schlechter Witz, aber damals war das ein ganz normaler Vorgang, und meist ging sowas sang- und klanglos über die Bühne. Öffentlich ausgetragene Zensurskandale wie bei DIE FREUDLOSE GASSE, PANZERKREUZER POTEMKIN oder KUHLE WAMPE blieben die Ausnahme. - Wer sich die erbauliche Lektüre der famosen Filmprüfer gönnen will, findet hier die Sitzungsprotokolle verlinkt.

Links Dreifachbelichtung, rechts ein natürlicher Schleier im Bild
CŒUR FIDÈLE ist in England bei Masters of Cinema als Blu-ray/DVD-Combo mit ausgezeichneter Bildqualität erschienen. Eine französische DVD gibt es auch. Und für die, die mehr von Epstein sehen wollen, gibt es ebenfalls in Frankreich drei DVD-Boxen: "Jean Epstein - Première Vague" mit vier Filmen auf zwei DVDs, "Jean Epstein - Poème Bretons" mit seinen sieben bretonischen Filmen auf drei DVDs sowie (zu einem sehr gehobenen Preis) den "Coffret Jean Epstein" mit 14 Filmen auf acht Scheiben sowie einem beigelegten Buch.

Großaufnahmen ...
... und noch mehr Großaufnahmen

Mittwoch, 20. April 2016

Monsieur Fantômas, fliegende Fäuste, ein Glasauge und ein Abstecher nach Lourdes

Belgische Avantgarde 1927-1937

Fantômas und seine Herzensdame
Die Königlich Belgische Cinematek (früher mal Cinémathèque, aber man muss ja mit der Zeit gehen) ist eine ehrwürdige Einrichtung, die sich vor allem unter ihrem langjährigen Leiter Jacques Ledoux (der in Chris Markers LA JETÉE den sinistren Chefwissenschaftler gab) große Reputation erwarb. In der Öffentlichkeit bei weitem nicht so bekannt wie sein französischer Kollege Henri Langlois, genoss Ledoux bei Filmhistorikern und filmhistorisch interessierten Filmschaffenden einen ähnlich legendären Status. Zu den heutigen Aufgaben der Cinematek gehört es auch, belgisches Filmschaffen aus vielen Jahrzehnten auf DVD und Blu-ray herauszubringen. Hier geht es nun um ein 2009 erschienenes Set aus zwei DVDs, das zehn belgische Avantgardefilme aus den Jahren 1927 bis 1937 von vier Regisseuren versammelt. Alle Filme sind schwarzweiß, und alle sind Stummfilme, auch die aus den 30er Jahren, als sich im kommerziellen Kino längst der Tonfilm durchgesetzt hatte. Für das DVD-Set wurden die Filme mit Musik versehen, eigens von sieben belgischen Komponisten geschrieben und vom Antwerpener HERMESensemble eingespielt. Sie werden alle im Booklet vorgestellt, ich will hier aber nicht weiter auf die Soundtracks eingehen. Das informative Booklet ist dreisprachig (Französisch/Niederländisch/Englisch), und für die Zwischentitel der Filme (falls vorhanden) liegen entsprechende Untertitel vor. Genau betrachtet ist das Booklet ein Buch, und an den Innenseiten der Buchdeckel sind die Halterungen der DVDs eingeklebt. Die meisten der für das Set verwendeten Kopien sind mehr oder weniger zerkratzt, und eine ist schon etwas von Zersetzung befallen. Besonders gute Bildqualität sollte man also nicht erwarten. Bestellen kann man das Set direkt bei der Cinematek, man bekommt es aber auch bei Amazon und anderswo.

Bei den Regisseuren handelt es sich um Henri Storck, Charles Dekeukeleire, Henri d'Ursel und Ernst Moerman. Henri Storck ist sicher der bekannteste von ihnen - er ist auch der einzige, den ich schon kannte, bevor ich von dem DVD-Set zum ersten Mal las. Storck und Dekeukeleire waren produktive Regisseure, die sich nach ihren Anfängen in der Avantgarde vorwiegend oder ausschließlich dem Dokumentarfilm zuwandten. Jeder der beiden ist hier mit vier Filmen vertreten. Die anderen beiden dagegen haben jeweils nur einen Film gedreht. Keiner von ihnen war ein künstlerischer Einzelkämpfer, vielmehr pflegten sie vielfältige Kontakte zu anderen Mitgliedern der zeitgenössischen belgischen und französischen Avantgarde - Regisseure, Maler, Dichter und Schriftsteller. Storck, Dekeukeleire und d'Ursel waren auch miteinander befreundet. Moerman gehörte wohl nicht zu diesem engeren Kreis, dafür zählte beispielsweise Jean Cocteau zu seinen Freunden. Zwei der Regisseure waren direkt mit der Cinematek verbunden: Henri Storck war 1938 einer ihrer drei Gründer, und Henri d'Ursel war 25 Jahre lang Vizepräsident der Institution.

Henri Storck (ganz links) in ZÉRO DE CONDUITE; Jacques Ledoux in LA JETÉE
Und nun zu den einzelnen Filmen. Die Anordnung auf den DVDs ist etwas eigenwillig. Ich weiche hier davon ab und bespreche die Filme nach den Regisseuren geordnet, und bei Storck und Dekeukeleire in chronologischer Reihenfolge.



Der aus Ostende stammende Henri Storck (1907-1999) hatte schon in jungen Jahren Kontakt zu Künstlern wie James Ensor, Léon Spilliaert und Michel de Ghelderode. 1927 sah er in einem Filmclub Robert Flahertys MOANA und wurde dadurch für den künstlerisch ambitionierten Dokumentarfilm gewonnen, 1928 gründete er mit einem Freund einen Filmclub, und ab 1929 drehte er selbst Filme. Anfang der 30er Jahre verbrachte Storck einige Zeit in Paris, wo er als (unbezahlter) Kameraassistent für Germaine Dulac arbeitete und einen Job bei Gaumont hatte. Er befreundete sich auch mit Jean Vigo, hatte einen kurzen Auftritt als ein Priester in dessen ZÉRO DE CONDUITE (1933) und wirkte auch hinter der Kamera bei diesem Film mit, wohl als Regieassistent (aber bei Vigos freier und familiärer Arbeitsweise ließ sich das nicht so säuberlich abgrenzen). 1933 entstand auch MISÈRE AU BORINAGE, der auf Storcks Initiative gemeinsam von ihm und seinem holländischen Kollegen Joris Ivens inszeniert wurde. Dieser Dokumentarfilm zeigt ungeschminkt die miserablen Lebensbedingungen der Arbeiter in einem belgischen Kohlerevier, vergleichbar vielleicht mit Luis Buñuels LAS HURDES aus demselben Jahr über eine bettelarme Region in Spanien. Er enthält auch einige Spielszenen, in denen sich die Bergarbeiter im Stil Flahertys selbst darstellen. MISÈRE AU BORINAGE und der 1944 gedrehte zweistündige BOERENSYMFONIE dürften Storcks bekannteste Filme sein. 1985 drehte er den letzten seiner rund 30 Filme, über den Maler Constant Permeke aus Ostende, den er selbst gut gekannt hatte, und der sogar mit seiner Familie verschwägert war.

POUR VOS BEAUX YEUX
POUR VOS BEAUX YEUX
1929
6:31 min (die Zeitangaben stammen alle aus dem Booklet, in Wirklichkeit sind alle Laufzeiten etwas länger)
Darsteller: Henry Van Vyve (der junge Mann), Félix Labisse, Ninette Labisse, Alfred Courmes

POUR VOS BEAUX YEUX
Ein junger Mann findet auf der Straße zufällig ein Glasauge und entwickelt eine Obsession dafür. Dieser surrealistische Film ist deutlich von Buñuels und Dalís UN CHIEN ANDALOU inspiriert. Der war zwar 1929 noch gar nicht in Belgien gezeigt worden, aber sein Ruf war ihm vorausgeeilt. Schockmomente wie das durchgeschnittene Auge gibt es bei Storck aber nicht. Die Idee zu dem Film und das Drehbuch stammten von dem mit Storck befreundeten surrealistischen Maler Félix Labisse, der auch eine kleine Rolle spielt (in ZÉRO DE CONDUITE spielte Labisse ebenfalls mit). POUR VOS BEAUX YEUX war lange verschollen, tauchte aber irgendwann wieder auf.

IMAGES D'OSTENDE - der Hafen


IMAGES D'OSTENDE
1929
10:55 min

IMAGES D'OSTENDE - Uferpromenade und Strand
Die "Bilder von Ostende" sind ein Film ohne Handlung, auch ohne dokumentarische Narration. Stattdessen gibt es poetisch aneinandergereihte Bilder, die vor allem zeigen, dass Ostende eine Stadt am Meer ist: Zu sehen sind der Hafen, die windgepeitschte Uferpromenade, Strand und Sanddünen, und das Meer selbst, Wellen, die sich am Ufer brechen, schaumige Gischt. IMAGES D'OSTENDE ist der erste von Storcks Ostende-Filmen, dem im Lauf der Jahre noch etliche weitere folgen sollten, was Storck zu so etwas wie dem offiziellen Filmchronisten seiner Heimatstadt machte.

HISTOIRE DU SOLDAT INCONNU
HISTOIRE DU SOLDAT INCONNU
1932
10:38 min

HISTOIRE DU SOLDAT INCONNU
Für diese "Geschichte des unbekannten Soldaten" drehte Storck keinen Meter selbst, sondern er montierte dafür 1928 gedrehtes Wochenschaumaterial. In diesem Jahr 1928 wurde der Briand-Kellogg-Pakt, der Angriffskriege völkerrechtswidrig machte, von zunächst elf und am Ende 62 Staaten unterzeichnet, und Storcks Film ist ein pessimistischer Kommentar dazu. Zu sehen sind Szenen militärischer Natur, dazwischen auch Gewaltszenen anderer Art. Es gibt damals modernes Kriegsgerät wie Kampfflugzeuge und Schlachtschiffe, doch im Mittelpunkt steht nicht die Kriegstechnik, sondern der ungebrochene Geist des Militarismus. Ehrenwerte und weniger ehrenwerte Figuren des Zeitgeschehens von Aristide Briand über Marschall Pétain bis Mussolini treten auf, Geistliche segnen Waffen, es gibt Truppenparaden, militärische Umzüge und Zeremonien - jede Menge Pomp und Brimborium, das sich kaum von dem des Hurra-Patriotismus im Ersten Weltkrieg unterscheidet. Storck sagt damit recht unverblümt, dass der Friedensvertrag kaum das Papier wert ist, auf dem er geschrieben steht - wie wir wissen, sollte er Recht behalten. In Frankreich wurde HISTOIRE DU SOLDAT INCONNU als "Beleidigung der Armee" klassifiziert und verboten.

SUR LES BORDS DE LA CAMÉRA
SUR LES BORDS DE LA CAMÉRA
1932
10:47 min

SUR LES BORDS DE LA CAMÉRA
Ein Film im selben Modus wie der vorige, wiederum aus Wochenschauschnipseln von 1928 montiert - ich nehme an, dass sich Storck für beide Filme gleich beim selben Fundus an Ausgangsmaterial bedient hat. Doch hier gibt es kein einzelnes hervorgehobenes Thema, sondern eine wilde Mischung: Kollektive sportliche Aktivitäten verschiedener Art auf freiem Feld, auch ein Skispringer in Zeitlupe mit den damals üblichen rudernden Armbewegungen, ein nacktes Baby, eine Erwachsenen-Ganzkörpertaufe, Seelöwen auf einem Felsen in der Brandung, ein Dirigent - vorwiegend harmlose oder positiv besetzte Szenen, teilweise ironisierend aneinandergereiht. Aber dazwischen auch Negatives wie ein Begräbnis, Strafgefangene im Gefängnishof, brennende Gebäude und Schiffe. Die fehlende Fokussierung auf ein Thema, das mehr freie Assoziieren rücken diesen Film mehr als den Vorgänger in die Nähe der Filmcollagen von Joseph Cornell, dem amerikanischen Großmeister des found-footage-Films (als dieser Begriff noch auf echtes und nicht selbst fabriziertes "Fremdmaterial" abhob).



Charles Dekeukeleire (1905-1971) aus dem Großraum Brüssel gehörte in seinen Anfängen zum Dunstkreis der Künstlergruppe 7 Arts und ihrer gleichnamigen Zeitschrift. Diese Gruppierung stand dem Surrealismus ablehnend gegenüber, auf filmischem Gebiet wurde stattdessen das cinéma pur favorisiert, und zu Dekeukeleires Einflüssen zählten Germaine Dulac, Jean Epstein und auch Dsiga Wertow. Dekeukeleire war als Regisseur noch produktiver als Storck; er hinterließ ungefähr 80 Filme (nach einer Quelle sogar 100), seit den frühen 30er Jahren vorwiegend konventionelle Dokumentarfilme.


COMBAT DE BOXE
1927
7:30 min

COMBAT DE BOXE
Dekeukeleires erster Film gilt zugleich als einer der ersten, wenn nicht der erste belgische Avantgardefilm - und es ist cinéma pur in Reinkultur. Es gibt das zu sehen, was der Titel verspricht, nämlich einen Boxkampf. Wer da gegeneinander kämpft, und wer am Ende gewinnt, wird nicht verraten, denn es spielt keine Rolle. (Tatsächlich war es kein echter Kampf, sondern er wurde von zwei Boxern für den Film gestellt.) Der Weg ist sozusagen das Ziel. Zwar wird die gewohnte Dramaturgie beibehalten - es beginnt mit dem Ticketverkauf am Schalter, dann findet der Kampf statt, und am Ende ist einer K.O. - doch das alles wird durch schnelle Montage, sehr harte Kontraste, extreme Nahaufnahmen, Doppelbelichtung und teilweise sogar Negativaufnahmen fast bis zur Abstraktion verfremdet. COMBAT DE BOXE ist sozusagen die reine Essenz eines Boxfilms, und er wirkt auf mich ungemein modern. Inspiriert wurde er von einem Gedicht von Paul Werrie, wie Dekeukeleire Mitglied von 7 Arts.


IMPATIENCE
1928
36:20 min
Darstellerin: Yonnie Selma

IMPATIENCE
Mit IMPATIENCE setzte Dekeukeleire die Tendenz zur Abstraktion und zum "reinen Kino" fort. Eine Texttafel am Anfang stellt die "Personen" vor:

DER BERG
DAS MOTORRAD
DIE FRAU
ABSTRAKTE BLÖCKE

IMPATIENCE
Und das gibt es dann auch zu sehen, abwechselnd in einem durchkalkulierten Rhythmus: Der "Berg", bestehend aus belgischen Mittelgebirgslandschaften, die aus der Fahrt (vielleicht mit dem Motorrad) heraus gefilmt werden, gelegentlich in Bewegungsunschärfe verschwimmend; das Motorrad, das nie als Ganzes gezeigt wird, sondern einzelne Teile in Großaufnahme - meist der Motorblock aus verschiedenen Richtungen, aber gelegentlich auch andere Bestandteile, wie der Gummiball der Handhupe. Das Motorrad ist in Bewegung, oder zumindest läuft der Motor, so dass die gezeigten Teile mehr oder weniger stark vibrieren. Die Frau, gespielt von Yonnie Selma von der reisenden Theatertruppe Vlaamsche Volkstooneel; mal in schwarzer Motorradkluft, mal völlig nackt, wobei sie aber nur entweder schulterfrei von vorne oder so von hinten oder der Seite zu sehen ist, dass voyeuristische Blicke kaum bedient werden. Und schließlich die grafisch-abstrakten quaderförmigen Blöcke. Diese vier Bestandteile oder "Darsteller" sind nie gleichzeitig zu sehen, sondern wechseln sich immer wieder ab. Zu so etwas wie einer Handlung fügt sich dieses Wechselspiel nicht zusammen, was die Geduld des einen oder anderen Zusehers sicher auf die Probe stellt. Ich finde die Idee und die Durchführung durchaus ansprechend, hätte aber auch nichts dagegen, wenn der Film zehn Minuten kürzer wäre.


HISTOIRE DE DÉTECTIVE
1929
50:52 min
Darsteller: Pierre Bourgeois (Monsieur Jonathan)

HISTOIRE DE DÉTECTIVE - der Detektiv und sein Arbeitsgerät
Hier nun gibt es (vordergründig) einen echten Plot: Madame Jonathan beauftragt den Privatdetektiv T, herauszufinden, was ihr Mann während langer unerklärter Abwesenheiten so treibt. (Dargestellt wird Monsieur Jonathan von dem Dichter Pierre Bourgeois, der zusammen mit seinem Bruder, dem bekannten Architekten Victor Bourgeois, 1922 die 7 Arts gegründet hatte.) Detektiv T, dessen bevorzugtes Arbeitsgerät eine tragbare Filmkamera ist, findet schnell heraus, dass es um keine amourösen Abenteuer geht. Vielmehr ist Monsieur Jonathan auf der Suche nach etwas, von dem er selbst nicht genau weiß, was es ist. Er ist leer, ausgebrannt, depressiv - "neurasthenisch", wie man früher sagte, und wie auf einer Texttafel am Anfang geschrieben steht. Es folgen weitere Zwischentitel (die teilweise grafisch aufwändig gestaltet sind), doch bald dienen sie immer weniger dazu, die Handlung voranzutreiben, und die Bilder, die das von T gefilmte "Beweismaterial" repräsentieren, korrespondieren auch immer weniger damit. Das wurde schon in der ersten Texttafel angekündigt: Es wird Lücken im Bildmaterial geben, und der in der ersten Person sprechende Dekeukeleire (oder ein fiktiver Erzähler) wird aus Respekt vor "seinem Freund T" diese Lücken nicht schließen.

Startpunkt ist Brüssel, das von einem Gewitter aus schnellen Schnitten, Bewegungsunschärfe und Doppelbelichtung visualisiert wird, und von dort fährt Jonathan (und in seinem Kielwasser der Detektiv) kreuz und quer durch Belgien (mit einem Abstecher nach Luxemburg), um schließlich in Brügge zu landen. Und dort, wo dann mehr als die Hälfte des Films spielt, versandet der Plot endgültig, dreht sich im Kreis, verliert sich in (scheinbaren?) Nebensächlichkeiten. So fährt Jonathan x-mal zwischen Brügge und dem Nordseestrand hin und her, und es ist wiederholt eine kleine Brücke vor alten Gebäuden zu sehen, auf der Jonathan herumsteht oder ziellos mal in die eine, mal in die andere Richtung geht. HISTOIRE DE DÉTECTIVE ist nicht wirklich ein Detektivfilm, sondern eher die Dekonstruktion eines Detektivfilms (und die Bezeichnung "Thriller" in der IMDb ist komplett daneben).

HISTOIRE DE DÉTECTIVE
Dafür geht es zwischen den Zeilen auch um andere Dinge. Der filmende Detektiv T ist zu sehen, wie er mit seiner Kamera und weiteren Filmutensilien hantiert, und wie er entwickelte Filme in der Hand hält und betrachtet. In diesen Szenen erinnert HISTOIRE DE DÉTECTIVE ein bisschen an Dsiga Wertows DER MANN MIT DER KAMERA. Der hatte schon im Januar 1929 Premiere, und auch wenn er wahrscheinlich nicht so schnell in Belgien zu sehen war, könnte die Kunde davon rechtzeitig zum Wertow-Bewunderer Dekeukeleire vorgedrungen sein, um ihn noch zu beeinflussen. T filmt nicht nur sein Zielobjekt Monsieur Jonathan, sondern auch seine Auftraggeberin, und implizit geht es auch um den voyeuristischen Blick des Detektivs (= des Kameramannes/Regisseurs), was auch an Wertows Konzept des "Kino-Auge" (dokumentarisches Filmen mit versteckter Kamera) anknüpft. HISTOIRE DE DÉTECTIVE zeigt auch eine leichte Annäherung an den Surrealismus. Einzelne kurze Sequenzen könnten durchaus aus einem surrealistischen Film stammen, oder würden da zumindest auch hineinpassen. Doch in seiner Gesamtwirkung ist HISTOIRE DE DÉTECTIVE für mich nach wie vor kein surrealistischer Film - er ist irgendwas anderes, ohne dass ich ihn klassifizieren könnte. - Eine ausführliche Analyse von IMPATIENCE und HISTOIRE DE DÉTECTIVE mit weiteren Hintergrundinformationen über Dekeukeleire gibt es in diesem Artikel von Kristin Thompson.

VISIONS DE LOURDES
VISIONS DE LOURDES
1932
17:54 min

VISIONS DE LOURDES
Der Titel verrät, worum es geht: Um Ansichten von Lourdes. Es beginnt mit den schroffen, von Schnee und Eis bedeckten Pyrenäengipfeln in der Nähe des Wallfahrtsorts, die in einer eigenwilligen Montage (mit Meereswellen als Überbrückung) in die berühmte Grotte überführt werden. Und dann folgen Bilder von der Architektur, den sakralen Plätzen und vor allem von den Pilgern und Wallfahrern, die Heilung von ihren Leiden suchen, und vom medizinischen und klerikalen "Bodenpersonal" vor Ort. VISIONS DE LOURDES markiert Dekeukeleires Hinwendung zum Dokumentarfilm, aber er ist noch alles andere als konventionell. Obwohl Dekeukeleire kritischer Katholik war und der Film von einer katholischen Jugendorganisation beauftragt wurde, wirkt Lourdes hier irgendwie unheimlich, morbid, fast bedrohlich auf mich. Streckenweise hat mich der Film etwas an TRÍPTICO ELEMENTAL DE ESPAÑA erinnert, auch wenn er dann doch nicht so radikal ist wie Val del Omars erstaunliches Werk.




Henri Charles François Joseph Marie, 8e duc d'Ursel et d'Hoboken, Comte de Saint-Empire, oder etwas handlicher Henri d'Ursel (1900-1974), verbrachte schon einen Teil seiner Schulzeit in Frankreich, und ab 1925 lebte der gut betuchte Aristokrat und Bankier für einige Jahre in Paris, wo er vielfältige künstlerische Kontakte pflegte, etwa mit Abel Gance, René Clair und dessen Bruder Henri Chomette (der mit Filmen wie JEUX DES REFLETS ET DE LA VITESSE und CINQ MINUTES DE CINÉMA PUR ein wichtiger Vertreter des cinéma pur war). Er war mit dem Vicomte Charles de Noailles verwandt, der zusammen mit seiner Frau Marie-Laure de Noailles Man Rays LES MYSTÈRES DU CHÂTEAU DE DÉ (1929), Buñuels und Dalís L'ÂGE D'OR (1930) und Cocteaus LE SANG D'UN POÈTE (1932) finanzierte, und in ersterem Film hatte d'Ursel einen kleinen Auftritt. Er war auch als ein Assistent an den Dreharbeiten zu Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D'ARC beteiligt. 1929 lernte d'Ursel den surrealistischen Dichter Georges Hugnet kennen, und nachdem dieser erfuhr, dass d'Ursel auch mal einen Film drehen wollte, schrieb Hugnet das Drehbuch, und er spielte dann die männliche Hauptrolle. - In den 30er Jahren kehrte d'Ursel nach Belgien zurück. 1937 stiftete er den Preis Le prix de l'image für innovative Drehbücher, 1944 gründete er den prestigeträchtigen Filmclub Le Séminaire des Arts, und er entfaltete weitere Aktivitäten. Wie schon erwähnt, war er mit Storck und Dekeukeleire befreundet, und er war 25 Jahre in leitender Funktion in der Cinematek tätig. Professor für Filmgeschichte an der Brüsseler Kunsthochschule La Cambre wurde er auch irgendwann. Die Monate, in denen LA PERLE entstand, hat er später als die aufregendste Zeit seines Lebens bezeichnet.

LA PERLE - delikates Versteck für eine Perlenkette; Diebin à la Irma Vep
LA PERLE
1929
33:23 min
Darsteller: Georges Hugnet (Georges, der Mann), Kissa Kouprine (die Diebin), Mary Stutz (Lulu, die Verlobte), Renée Savoye (Schlafwandlerin)

LA PERLE - die Schlafwandlerin
So wie in POUR VOS BEAUX YEUX ein Glasauge, wird in dem in und um Paris gedrehten surrealistischen LA PERLE eine Perle zum obskuren Objekt der Begierde eines jungen Mannes. Es beginnt harmlos: Eine Auster wird aus dem Meer (eine Fantasie-Unterwasserwelt à la Méliès) geholt, die Perle daraus befreit und zu einer Perlenkette verarbeitet. Unterdessen sitzt eine schöne blonde Frau in einem paradiesischen Garten und wartet auf ihren Verlobten Georges. Dieser ist schon zu ihr unterwegs, und auf dem Weg kauft er in einem Juwelierladen die Kette mit der fraglichen Perle. Er hatte den Laden auf einer belebten Straße mitten in Paris betreten, doch als er den Laden durch dieselbe Tür verlässt, befindet er sich in einer ländlichen Gegend - und damit beginnen die Merkwürdigkeiten. Eine schöne Juwelendiebin setzt sich auf seine Fersen und will die Kette stehlen. Als die Kette zerreißt, kann sich die Diebin der einen besonderen Perle bemächtigen und entkommen. Georges trifft sie wieder, erwürgt sie und holt die Perle aus ihrem Mund - doch vielleicht ist das nur ein Traum. In einem Hotel begegnet Georges abermals der Diebin, die nun einen Bodysuit à la Irma Vep trägt, der von Musidora gespielten Schurkin aus Louis Feuillades LES VAMPIRES. (Die französischen Dadaisten und Surrealisten waren große Fans von Fantômas, der Pulp-Romane ebenso wie von Louis Feuillades Verfilmungen, und von weiteren Serials von Feuillade wie eben LES VAMPIRES.) Doch plötzlich gibt es zwei der Diebinnen im Bodysuit, vielleicht sogar viele, die sich in den Korridoren herumtreiben. Eine ganze Diebesbande, oder multiple Inkarnation derselben Frau? Georges verfällt der Diebin und schläft mit ihr, will ihr sogar die Kette schenken, doch die gelangt auf unergründliche Weise in den Besitz einer Schlafwandlerin auf dem Dach des Hotels. Am Ende gelingt es der Diebin noch einmal, die Kette an sich zu bringen, doch das geht schlecht für sie aus ...

MONSIEUR FANTÔMAS - der Erzschurke in 1000 Verkleidungen
Es herrscht eine gewisse düstere und fatalistische Grundstimmung in LA PERLE, und obwohl viel gerannt wird, bewegen sich die Personen auch immer wieder wie in Trance. Mich hat das mehr an Maya Deren erinnert als an Buñuel und Pariser Kollegen. Der Film schlug auch weniger ein als UN CHIEN ANDALOU und L'ÂGE D'OR, fand aber doch gewissen Anklang, und offenbar zog der Autor Hugnet mehr Aufmerksamkeit auf sich als der Regisseur d'Ursel (was Letzteren aber seiner eigenen Aussage nach freute). Vielleicht trug LA PERLE dazu bei, dass Hugnet Aufnahme in den engeren Kreis der Surrealisten um André Breton fand (aus dem er 1939 wieder ausgeschlossen wurde). Als sie den Film drehten, hatten d'Ursel und Hugnet von den praktischen Dingen des Filmemachens keine Ahnung, aber ihr Kameramann Marc Bujard hatte schon bei Abel Gances J'ACCUSE! und LA ROUE hinter der Kamera gestanden. Kissa Kouprine ist die einzige professionelle Filmschauspielerin in allen hier versammelten Filmen. Sie kam auf ungefähr ein Dutzend Filme, darunter mindestens fünf von Marcel L'Herbier. 1956, in der Tauwetterperiode nach Stalins Tod, ging die gebürtige Russin in ihre Heimat zurück.



MONSIEUR FANTÔMAS
Wie gerade eben erwähnt, pflegten viele französische Avantgardisten eine Leidenschaft für Fantômas, und das galt auch für manche der belgischen Kollegen, darunter Ernst Moerman (1897-1944). In seiner Kindheit flog er von einigen Schulen, darunter eine Kadettenanstalt (in die ihn vermutlich sein Vater, ein Offizier, gesteckt hatte), weil er vor einem General pinkelte. Vielleicht war es auch der Vater, der indirekt für Moermans starken Antimilitarismus, Antiklerikalismus und Spöttertum verantwortlich war. Trotz seines etwas unsteten Bildungswegs absolvierte Moerman ein Jura-Studium und erhielt die Zulassung zum Rechtsanwalt. Zuvor hatte er einige Monate auf See und dann, während des Ersten Weltkriegs, längere Zeit in holländischem Gewahrsam verbracht. Passenderweise arbeitete er dann einige Zeit als Rechtsvertreter der Vereinigung der belgischen Filmregisseure. Doch seine Leidenschaft galt nicht der Juristerei, sondern der Kunst. Schon in seiner Studentenzeit hatte er sich einem progressivem Poetenzirkel in Brüssel angeschlossen, und er spielte Banjo in einem Jazz-Sextett, das aus lauter promovierten Juristen bestand. Zu seinen Freunden aus der Kunstszene zählten u.a. der Schriftsteller und Jurist Robert Goffin, der Dichter und Journalist Carlos de Radzitzky, Paul Éluard und, wie schon erwähnt, Jean Cocteau. 1933 veröffentlichte Moerman die Gedicht- und Prosasammlung Fantômas 1933 poèmes (eines der Gedichte darin ist Louis Armstrong gewidmet); ein anderes seiner Werke trägt den Titel La vie imaginaire de Jésus-Christ. Trotz seiner Möglichkeiten als Jurist war Moerman meist schlecht bei Kasse, und seine schlechte Gesundheit zwang ihn zu Aufenthalten in Sanatorien. In seinen letzten Jahren lebte Moerman in einem Wohnwagen. Gemäß dem Motto "it's better to burn out than to fade away" zündete Moerman die Kerze von beiden Seiten an, wie es etwas blumig im Booklet heißt, und lebte ein Leben auf der Überholspur. Man erzählte, man habe ihn eines Tages tot in seinem Wohnwagen aufgefunden, doch tatsächlich starb er in einem Krankenhaus an Tuberkulose.

MONSIEUR FANTÔMAS - sind sie nicht ein schönes Paar?
MONSIEUR FANTÔMAS
1937
17:16 min
Darsteller: Jean Michel (Fantômas), Trudi Van Tonderen (Elvire)

MONSIEUR FANTÔMAS - die Polizei steht vor einer verschlossenen Tür,
da kann man nichts machen ... oder doch?
In einem Nonnenkloster gehen befremdliche Dinge vor, und dahinter steckt kein anderer als Fantômas. Doch der Erzschurke ist verwundbarer als sonst, denn er ist auf der Suche nach seiner Geliebten Elvire. Die Polizei unter Chefinspektor Juve ist ihm schon auf den Fersen, und bald ist er eingekreist. Doch Fantômas wäre nicht Fantômas, wenn er nicht immer noch einen Trick auf Lager hätte ...

MONSIEUR FANTÔMAS
So wie HISTOIRE DE DÉTECTIVE nicht wirklich ein Detektivfilm ist, ist MONSIEUR FANTÔMAS kein "echter" Fantômas-Film, sondern, wie es schon in den Credits am Anfang explizit heißt, ein surrealistischer Film. Doch während in POUR VOS BEAUX YEUX die Atmosphäre neutral und in LA PERLE eher düster ist, ist in MONSIEUR FANTÔMAS die Stimmung heiter und ausgelassen. Tatsächlich handelt es sich eher um eine Persiflage als um einen "ernsthaften" surrealistischen Film. Moerman verstand ihn als Übertragung seines Textbands Fantômas 1933 in ein anderes Medium (natürlich auch in der Hoffnung auf ein größeres Publikum). Wenn LA PERLE durch den professionellen Kameramann und Kissa Kouprine davor bewahrt wurde, ein reiner Amateurfilm zu sein, so ist MONSIEUR FANTÔMAS genau das. Keiner der Mitwirkenden hatte technische Erfahrung im Film; gedreht wurde mit einem Mini-Budget an einem Strand mit Dünen und in einem alten Kloster. Doch all das gereicht dem Film nicht zum Nachteil, ganz im Gegenteil: Er wirkt frisch, spontan und sehr unterhaltsam, mit einer Fülle an schönen Bildideen. Moerman verteilt fleißig (vorwiegend visuelle) Seitenhiebe gegen Polizei und Klerus, die aber, etwa im Vergleich zu L'ÂGE D'OR, letztlich relativ harmlos bleiben, so dass es keinen Skandal gab.

MONSIEUR FANTÔMAS - Chefinspektor Juve instruiert seine Männer
MONSIEUR FANTÔMAS - der Schurke ist umzingelt, doch dann ...

Moerman brachte einige Referenzen zu anderen Kunstwerken in seinem Film unter: Ein Zitat der Treppe von Odessa aus PANZERKREUZER POTEMKIN, den Gedichtband Capitale de la douleur (Hauptstadt der Schmerzen) seines Freundes Paul Éluard, und das Gemälde Le Viol (was "Die Vergewaltigung" bedeutet) von René Magritte. Ich weiß nicht, ob Moerman auch mit Magritte befreundet war, aber er schätzte ihn auf jeden Fall als Maler. Die Aufnahme des Films bei den "offiziellen" Surrealisten war eher verhalten, aber der vielleicht nicht ganz unparteiische Éluard zeigte sich begeistert und verglich ihn mit UN CHIEN ANDALOU. - Fantômas-Darsteller Jean Michel, bürgerlich Léon-Michel Smet, war der Vater von Johnny Hallyday, was ihm für einige Zeit eine gewisse Prominenz sicherte.

MONSIEUR FANTÔMAS - Le Viol von Magritte


Wenn ich an dem DVD-Set etwas auszusetzen habe, dann die Tatsache, dass die erste DVD nur eine gute Stunde dauert (die zweite dagegen weit über zwei Stunden - wie ich schon schrieb, ist die Anordnung der Filme etwas merkwürdig). Da wäre also noch Platz für mehr gewesen, etwa WITTE VLAM (1930) von Dekeukeleire, MISÈRE AU BORINAGE von Storck & Ivens, oder auch für den "Nachzügler" L'IMITATION DU CINÉMA (1959) von Marcel Mariën. Dann hätte zwar der Titel des Sets nicht mehr gepasst, aber was soll's. Doch das ist Jammern auf hohem Niveau - "Avant-Garde 1927-1937" ist eine sehr lobenswerte Veröffentlichung. Einige der Filme findet man natürlich auch auf den üblichen Videoportalen.

MONSIEUR FANTÔMAS - Fantômas vor Gericht; die Hinrichtung des Schurken steht bevor ... oder?