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Freitag, 22. November 2019

Volljährig, schlaflos & lustvoll in Nürnberg (Teil 1)

Euphorien vom 18. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos


Anfang des Jahres, vom 2. bis 6. Januar 2019, fand in Nürnberg wieder der Hofbauer-Kongress statt: ein fünftägiger Filmrausch, bei dem die Zuschauer das verfemte, verfluchte, verschüttete Kino der Lust wiederentdecken und zelebrieren konnten und das größtenteils präsentiert im originalen analogen 35mm-Format (manchmal auch 16mm oder 8mm).
Diese 18. Ausgabe – unter dem Motto "Endlich 18!" – war meine zweite Ausgabe (zum 17. Hofbauer-Kongress schrieb ich hier und hier). Leider erst meine zweite: vorherige Hofbauer-Kongresse verpasst zu haben, dürfte zu den Dingen gehören, die ich am meisten im Leben bereue. Aber umso größer die Freude, beim "Volljährigkeits-Kongress" mit dabei gewesen zu sein.





Mittwoch, 2. Januar

17.00 Uhr

THERESE AND ISABELLE ("Therese und Isabell")
Regie: Radley Metzger
Frankreich/USA/Niederlande/BRD 1968
35mm, DF
Therese (Essy Persson) besucht als erwachsene Frau das Internat, auf das sie einst als Teenagerin ging – und wo sie eine leidenschaftliche, aber heimliche Liebe mit ihrer Mitschülerin Isabelle (Anna Gaël) erlebte.
Isabelle und Therese
THERESE AND ISABELLE beginnt wie ein Puzzlespiel à la Resnais, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit, Wahrnehmung und Erinnerung einander die Klinke in die Hand geben. Therese, gespielt von der wunderbaren Essy Persson (die grausamste aller Puppen in Rolf Olsens DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN, der beim Kongress 2018 lief), läuft durch das wahrscheinlich aufgrund der Schulferien praktisch leere Internat, hört die Stimmen der Vergangenheit, durchschreitet den Park, die Hallen, die Räume, die Toiletten, in denen sich ihre Erinnerungen vor ihrem Auge manifestieren. "Isabelle, mon amour" – ohne Atombombe und deutsche Besatzung, dafür aber mit einer umso tabuisierteren Teenagerliebschaft und Bildern in atemberaubenden Scope. Dieses Scope, das oft kleine "Gesichter-Duells" aufbaut: ein Gesicht in einem Bilddrittel, die restlichen zwei Drittel von Hinterkopf und Rücken der anderen Person ausgefüllt.
Der Film handelt von lesbischer Liebe und tut das auf eine angenehm nüchterne Weise: in den Annäherungen und Intimitäten zwischen den beiden Protagonistinnen gibt es keinerlei Kinkiness. Die Sexszenen zwischen Therese und Isabelle sind stets respektvoll distanziert, man könnte auch sagen unterkühlt gefilmt (einmal in Isabelles Zimmer – größtenteils als Spiegelung in einer Zinnvase gefilmt; einmal in einer Kapelle hinter einer Sitzreihe – in einer sehr langen, elegischen, sich entfernenden Kamerafahrt gefilmt; einmal im Internatpark – hier soweit ich mich erinnere relativ statisch). Sie werden immer von einem ausführlichen Offkommentar Thereses begleitet, meistens Gedichterezitationen – das war nach meinem Geschmack manchmal zu viel des verbalen Guten.
(Der Sex zwischen Therese und einem jungen Mann, der sie vorher praktisch gestalkt hat, ist hingegen extrem unangenehm, zieht sich äußerst unschön in die Länge, wirkt nicht direkt wie eine offene Vergewaltigung, ist aber so die letzte oder vorletzte Stufe davor. Therese lässt es über sich ergehen, aber es ist sichtlich unangenehm für sie. Er verschwindet hingegen nach der Triebabfuhr für immer aus dem Film.)
Der erotisch-sinnliche Höhepunkt des Films war aber die Aufnahme eines Fingers, der sanft über einen Arm streichelt – ein Moment, wo die Zeit und das Leben kurz stehen blieben. Dabei ist THERESE AND ISABELLE gewissermaßen ein Film über die Unaufhaltbarkeit der Zeit und des Lebens: die Liebe der beiden Titelfiguren steht immer unter dem Damoklesschwert des voranschreitenden Semesters (dessen Ende die beiden für immer trennen wird) und von dem Druck, den das "Leben" auf die beiden stetig ausübt: Thereses Mutter und Stiefvater (ein unangenehmer Typ, der heuchlerische Respektabilität ausstrahlt und dem man ohne weiteres Übergriffigkeiten gegenüber seiner Stieftochter zutrauen würde), die sie aus Konvention heraus nach ihren (männlichen) Verehrern ausfragen; reale männliche Verehrer, die sich – wie oben erwähnt – als äußerst hartnäckig herausstellen; das drakonische Regiment des Internats, das sinnliche Annäherungen unterbinden möchte (und von homosexuellen Begierden wohl nicht mal zu träumen wagt). Unter diesem Druck wird die Liebe immer mehr zermürbt. Ein Tagesausflug der beiden nach Paris endet in totaler Trostlosigkeit: sie gehen in ein Stundenhotel, doch das schmierige Ambiente erstickt die Lust. Ab diesem Moment geht irgendetwas für immer kaputt, leise, latent, ohne großen Knall. Es ist auch nur konsequent, dass THERESE AND ISABELLE nicht so sehr "endet" als vielmehr relativ abrupt "abbricht", als das Semester endet und die Sommerferien beginnen. Einfach aus...

Ein schöner, bittersüßer, melancholischer Einstieg in den Kongress. Vor dem unerbittlich harten nächsten Film war das Abendessen programmatisch gut gesetzt, denn eine Stärkung war vonnöten vor...


21:15 Uhr

DIE TOTENSCHMECKER aka DER IRRE VOM ZOMBIEHOF aka DAS MÄDCHEN VOM HOF ("Der Irre vom Zombiehof")
Regie: Ernst Ritter von Theumer
BRD 1979
35mm, OV
Klassische Heimatfilmidylle in den Alpen – oder fast. Ein Patriarch alter Schule betreibt einen Bauernhof. Zwei seiner Söhne, Felix (William Berger) und Kurt, kümmern sich um die harte Arbeit, der dritte, Franz, ist geistig behindert. Es rumort schon zwischen den beiden Erstgeborenen, die um das künftige Erbe streiten. In dieser Situation siedelt sich eine Romafamilie auf einem peripheren Stück Land der Großbauern an. Anna, die Enkelin, Tochter von Felix, verliebt sich in Joschi, dem jüngsten Mitglied der Familie. Doch währenddessen tötet der geistig zurückgebliebene Franz aus Versehen eine Romnja, die beim Hof um Lebensmittel gebeten hat. Ihre Begleiterin wird als Zeugin sogleich von Felix ermordet. Nach diesen Affekthandlungen beginnen Felix und Kurt, systematisch sämtliche Angehörige der Romafamilie zu massakrieren...
DIE TOTENSCHMECKER hat dem deutschen Kinopublikum anno 1979 wenig gemundet. Da gerade George Romeros DAWN OF THE DEAD gut lief, wurde er dann unter dem neuen Verleihtitel DER IRRE VOM ZOMBIEHOF noch mal in die Kinos gebracht, um die Zuschauer mit dem Reizwort "Zombie" zu ködern (die gesichtete, übrigens wunderschöne, fast ungespielte Kopie trug auch diesen Titel). Lief auch nicht so gut. Der dritte Versuch, das als Neo-Heimatfilm mit dem Titel DAS MÄDCHEN VOM HOF zu verkaufen, war wohl auch nicht von Erfolg gekrönt. Irgendwann lief der Film (unter welchem Titel auch immer) im Fernsehen. Vierzig Jahre nach seinem Kinostart begeisterte und verstörte der Film die im KommKino versammelten Kongressbesucher. Ich denke, dass nicht nur mir immer wieder eiskalte Schauer des Grauens und des Schreckens über den Rücken liefen.
Der Patriarch und die zwei Söhne vereinigt beim Morden
In der Hülle eines Heimatfilms entpuppt sich DIE TOTENSCHMECKER als abgründiger Quasi-Backwood-Horrorfilm und als unverstellter, chirurgisch scharfer Blick in das kackbraune Herz des deutschen (Alltags)faschismus. Zur Entstehungszeit des Films lagen der Zweite Weltkrieg und der Holocaust über 30 Jahre in der Vergangenheit – oder besser geschrieben: in der "Vergangenheit". Wir sehen Protagonisten, deren Hass in kurzer Zeit von verbalen Entgleisungen über eliminatorische Phantasien in den Massenmord führt. Der Blick in die "Vergangenheit" ist auch ein eher pessimistischer Blick in die Gegenwart und Zukunft. Man sieht Deutsche, die ethnische "Andere" systematisch ermorden, anschließend deren Leichen beseitigen – und am Ende sieht das alles so aus, "als wären sie nie hier gewesen", wie es ein Polizeibeamter dann auch im Film tatsächlich ausspricht. Es gibt kein Happy-End: am Ende werden die schrecklichen Morde unentdeckt (und damit auch ungesühnt) bleiben. Felix und Kurt richten sich selbst gegenseitig in einem Streit über das Erbe.
DIE TOTENSCHMECKER als "historisches Dokument" zu bezeichnen, wäre zu schön, ist aber leider unmöglich. Das kommt nicht davon, dass die gezeigte Kopie fast ungespielt war und geradezu kristallin wirkte, sondern weil das Stammtischgerede, das hier die Figuren vom Stapel lassen, heutzutage genauso zu hören ist (und leider immer geläufiger und alltäglicher wird). Wer "Zigeuner" durch "Flüchtlinge" ersetzt, dem werden die Parolen, mit denen Felix und Kurt ihre Verbrechen rechtfertigen, gar nicht mehr so fremd erscheinen. Rassismus ist oft auch eine Projektion der eigenen Mängel auf das "Andere": gewalttätig, anarchisch, durstig nach Blutrache – so bezeichnen die Brüder Felix und Kurt die "Zigeuner" (nachdem Felix bereits einen Menschen ermordet hat). Felix und Kurt vollziehen den Schritt von der Stammtischparole zur Gewalttat und auch, wenn sie im weiteren Verlauf des Films manchmal in ihrer schieren Brutalität einem Slasherkiller à la Jason in nichts nachstehen: sie sind und bleiben doch "ganz normale Männer" in einem völlig alltäglichen Setting, das in anderen Filmen als Kulisse für entspannte Familienkomödien dient.
À propos Alltag: als Anna den Joschi auf der Straße begegnet, beginnt sie aus heiterem Himmel ein antiziganistisches Spottlied zu singen. Die absolute Natürlichkeit, mit der sie das tut, ist niederschmetternd (ja, fast noch schlimmer als der Inhalt selbst) und ist wohl der erste große Schockmoment des Films. Hat sie es zuhause gelernt? In der Schule? Die von Verachtung und Hass erfüllten Worte sprudeln einfach so aus dem jungen Mädchen heraus – wie in einem "normalen" Heimatfilm vielleicht ein junges Mädchen irgendein Lied über die Schönheit der Berge singen würde? Dieser Moment ließe einen völlig zerstört zurück – wird aber von dem vielleicht einzigen Funken Hoffnung des ganzen Films "gesühnt": Joschi spielt ihr etwas auf der Geige vor und die Schönheit der Melodie bringt sie dazu, ein normales Gespräch mit ihm anzufangen. Und sich später mit ihm auch anzufreunden. Es gibt also noch Hoffnung bei den Kindern. Später wird sie ihre eigene Familie in der Öffentlichkeit als Mörder bezeichnen – nur, um anschließend von ihren eigenen Eltern im Dorf als geistig labiles Gör diffamiert zu werden.
Joschi und Anna, die "Dissidentin" der Familie
Es ist auch faszinierend, wie DIE TOTENSCHMECKER ganz nebenbei eine Art Gewaltsoziologie der "deutschen Familie" entwickelt. Besonders interessant und erhellend ist da die Figur des geistig behinderten Bruders Franz, der regelmäßig von seinen Familienangehörigen verprügelt, eingesperrt und wie ein Tier behandelt wird. Wahrscheinlich schützt ihn nur die Blutsverwandtschaft letztendlich davor, einfach ermordet zu werden und in den nahegelegenen See geworfen zu werden (wir wissen, dass Felix und Kurt zu solchen Taten bereit sind). In ihm äußert sich dann auch das latent Inzestuöse, das hermetisch geschlossenen Familienverbänden (und -institutionen) inne wohnt: so versucht er mehrmals, seine eigene Nichte Anna zu vergewaltigen. Am Ende vergewaltigt und erschlägt er im Affekt seine Schwägerin (unbeachtet von seinen Brüdern, die zu sehr damit beschäftigt sind, andere Leute kaltblütig zu morden). Franz ist das erste Opfer der mörderischen Familie und zugleich auch der erste Mörder. Und wahrscheinlich ist er zumindest das "ehrlichste", integerste Familienmitglied. Er vergewaltigt und tötet wie ein wildes Tier, sozusagen aus "unzivilisiertem" Instinkt – nicht planmäßig und mit aufwendigen Rechtfertigungen wie ein "zivilisierter" Mensch.
Sehr passend zu seinem Inhalt wirkte DIE TOTENSCHMECKER extrem karg und roh. Die geringe Budgetierung scheint an allen Ecken auffällig zu sein, doch mit zunehmender Laufzeit entpuppt er sich als extrem minutiös inszeniert (ein Co-Zuschauer meinte danach – halb im Spaß, halb im Ernst – dass da Hawks'ianische Formalökonomie im Spiel gewesen sei). Der Film hat auch Elemente eines Alpenwesterns. Die idyllische, in teils wunderschönen Bildern am Rande des Kitsch festgehaltene Berglandschaft ist wie ein eigener Protagonist, ein stiller, ruhiger Beobachter der schauererregenden Verbrechen, die sich abspielen. An einer Stelle zieht ein kleiner Sturm auf, und ein Paar Fensterläden klappt im stürmischen Wind auf und zu, gibt beim Aufklappen einen Blick auf wunderschöne Berggipfel frei, während sich der Sturm (meteorologisch und metaphorisch) zusammenbraut.
Einige Kongressniki erinnerte die Musik an den Harmonika-Score von C'ERA UNA VOLTA IL WEST: eine manchmal stark elektronisch verfremdete Geigenmelodie, oft aus der Ferne vom flüchtenden Joschi gespielt – für die Mörder immer wieder eine Quelle von Irritation. Ein Signal, dass eines ihrer Opfer noch nicht tot ist. Nach ihrem Ermessen eine Verfluchung: beim Versuch, die Leichen der Mordopfer zu verbrennen, verbrennt sich der alte Patriarch das Gesicht und erblindet dabei, und als Schuldiger dafür wird sofort Joschi und seine Melodie ausgemacht. Es ist natürlich auch ein Anklagelied, das den Mördern immer wieder ihre niederträchtigen Verbrechen in Erinnerung ruft... bis sie schließlich auch Joschi für immer zum Schweigen bringen.

DIE TOTENSCHMECKER war ohne Zweifel einer der großen Höhepunkte des Kongresses, ein Meisterwerk, aber natürlich auch ein brutaler, fieser Faustschlag von einem Film. Eine Swinging-London-Komödie im Anschluss zur Lockerung war also durchaus angebracht... Nun ja... das Lachen kam etwa bis zur Mitte des Halses, bevor es dort abrupt stecken blieb...


23:15 Uhr

COOL IT, CAROL! ("Die Liebesmuschel")
Regie: Pete Walker
UK 1970
35mm, DF
Carol (Janet Lynn) und Joe (der ein bisschen wie der vergessene gemeinsame Cousin von Mick Jagger und Brian Jones aussieht, gespielt von Robin Askwith) brechen aus der tristen englischen Provinz nach "Swinging London" auf, um dort ihr Glück zu versuchen. Die Hoffnungen auf eine glamouröse Model- und Popstar-Karriere zerschlagen sich nach und nach. Auf Joes Betreiben prostituiert sich Carol immer öfter an ältere, zahlungswillige Herrschaften.
Carol und Joe erkunden Sleazing London
DIE TOTENSCHMECKER war ein Film über die Banalität des Bösen. Ist COOL IT, CAROL! ein Film über die Naivität des Bösen? Oder die Bosheit des Naiven?
COOL IT, CAROL! ist eine locker-fluffige Swinging-London-Komödie, die sich nach und nach in einen zappendusteren und fiesen Prostitutions-Sleaze-Hobel verwandelt. Besonders verwirrend ist allerdings, dass das Komödiantische der ersten Hälfte immer wieder Einzug hält in die zunehmend unangenehme Geschichte von Carols und auch Joes Hineinstrudeln in die Welt der Prostitution. Lebensweltlich ergibt das durchaus Sinn: dass im Swinging London eine Tür neben dem fetzigen Popclub ein Herrenclub angesiedelt ist, der sich als Bordell entpuppt, dürfte kaum verwunderlich sein. Doch dass das Glamouröse und Witzige immer wieder eruptiv in den Schmutz und die Niedertracht einbricht, gibt dem Film eine sehr eigenartige Atmosphäre: eine Komödie, bei der einem das Lachen regelmäßig im Hals stecken bleibt – ein Milieu-Schocker, der immer wieder unterbrochen wird von merkwürdig unpassenden Humoreinschüben.
Gesehen haben wir nicht COOL IT, CAROL!, sondern die deutsche Synchronfassung "Die Liebesmuschel", die den ohnehin starken Eindruck von Gegensätzlichkeiten noch verstärkte. Findige deutsche Verleihe haben internationale Filme nicht nur geschnitten, um wahlweise der Zensur oder Gewinnmarge zugute zu kommen – sondern manchmal im Gegenteil mit eigenen Inserts verlängert. "Die Liebesmuschel" beginnt mit einer recht uninspiriert gefilmten Orgie, die mit dem restlichen Film nichts zu tun hat. Während COOL IT, CAROL! den Sex recht dezent darstellt (am explizitesten bei der Bahnfahrt gen London, als Carol Joe verführt), blendet "Die Liebesmuschel" bei jeder Andeutung sogleich die gefühlt immer gleichen Nachdreh-Szenen ein: ein Mann und eine Frau in einem weißen Bett, die jeweils mit keinem der sonstigen Darsteller von COOL IT, CAROL! die entfernteste Ähnlichkeit haben, beleuchtet mit dem ekelhaftesten weißen Neonlicht, das man sich vorstellen kann, die eher unmotivierte Akrobatik besonders uninspiriert und statisch gefilmt. Letzteres fällt besonders auf, da COOL IT, CAROL! ansonsten recht dynamisch und elegant inszeniert ist. Und so beginnen sich Carol und Joe im Hotelzimmer bei ihrer ersten Nacht in London zu küssen – harter Schnitt zum Insert. Carol knutscht mit einem (später zwei Herren) in einem schummerigen Nachtclub – harter Schnitt zum Insert. Carol geht mit ihrem ersten Kunden auf's Zimmer – harter Schnitt zum Insert. Beim nächsten Date wartet eine ganze Schlange an Männern darauf, zu ihr ins Zimmer gehen zu dürfen – und schon wieder kommt der unsägliche Insert.
Letzteres ist ein besonders geschädigter Moment. Carol und Joe haben nach einigen ungeschickten Bemühungen einen Kunden auf der Straße gefunden. Dieser wiederum "vermittelt" Carol bei einem nächsten Date an einen anderen Mann (und kassiert eine Provision). Beim nächsten Date sind es schon ein halbes Dutzend Männer. Die sammeln sich im Wohnzimmer von Carols erstem, äußerst geschäftstüchtigen Kunden. Nachdem die junge Frau mit dem ersten Gast ins Schlafzimmer verschwindet, verweilt die Kamera im Wohnzimmer, wo die Kunden und Joe versammelt sind – letzterer sehr unangenehm berührt, besorgt, sich sehr bewusst, was gerade passiert, während andere Gäste sich in Smalltalk versuchen. Im Originalfilm dürfte das eine sehr, sehr, sehr lange, sehr intensive einzelne Einstellung sein, doch in der deutschen Fassung wird sie durch Inserts mehrfach unterbrochen.
Der Pornoregisseur? Oder die unbeabsichtigte Darstellung
der Nachdrehs von "Die Liebesmuschel"?
COOL IT, CAROL! wusste sich gegen "Die Liebesmuschel" ironischerweise zu wehren. Carol und Joe haben völlig naiv ihre Abwärtsspirale in die Welt der Prostitution für Altherren vorangetrieben: sie versichern sich jedes Mal, dass der nächste Termin nun der letzte sein würde (und dann der wirklich letzte, und dann der wirklich aller-allerletzte). So landen sie dann auch bei einem Termin, wo sie, kaum eingetreten, aufgefordert werden, sich auszuziehen und Sex zu haben: sie sind bei einem Pornodreh gelandet. Das Bett ist steril weiß, die Beleuchtung unangenehm blendend – während der Kameramann recht professionell aussieht, sitzt etwa 30 cm vom Bett ein alter Mann mit schweissiger (oder angeleckter?) Oberlippe auf einem Sessel, der das ganze still, aber offenbar stark aufgegeilt anschaut. Der Regisseur? Der Produzent? Der Verleiher? In "Die Liebesmuschel" entwickelte diese Szene einen ganz eigenen Drive: sollte man sich ungefähr so die Nachdrehs des deutschen Verleihs vorstellen? Dieser Moment wirkte so, als würde COOL IT, CAROL! sich über "Die Liebesmuschel" lustig machen.


Donnerstag, 3. Januar

13.30 Uhr
TrÜF – Der triste Überraschungsfilm

L'OSCENO DESIDERIO
Regie: Giulio Petroni
Italien/Spanien 1978
35mm, OV mit live eingespielten Untertiteln
Die Amerikanerin Amanda (Marisa Mell) und der Italiener Andrea (Chris Avram) ziehen in eine gotisch anmutende Villa irgendwo in der italienischen Provinz. Die Ehe der beiden wurde zwar kürzlich geschlossen, ist aber eher kalt. Die Belegschaft benimmt sich gegenüber Amanda eher merkwürdig. In den Gesprächen mit ihrem Landsmann, dem Archäologen Clark (Lou Castel) findet Amanda etwas Abwechslung. Als sie (nach einer nun doch vollzogenen Ehenacht) schwanger wird, mehren sich die mysteriösen Ereignisse in der Villa: ist Amanda in einen Kreis von Teufelsanbetern geraten?
L'OSCENO DESIDERIO gilt ein später Vertreter jener italienischen Filme, die auf der Erfolgswelle von THE EXORCIST reiten wollten, doch in den ersten zwei Dritteln erscheint mehr ROSEMARY'S BABY der Impuls gewesen zu sein. Regisseur Giulio Petroni, der einige wunderbare Westerns in seiner Filmografie zählt (darunter den grimmigen Rachefilm TEPEPA im Umfeld der mexikanischen Revolution und das großartige Trinker-Melodrama LA NOTTE DEI SERPENTI, der beim vierten Terza Visione lief), war offenbar alles andere als begeistert von dem Film, ließ seinen Namen in den Credits durch ein Pseudonym ersetzen. Die Produzenten, die das fertige Produkt ursprünglich als Exorzisten-Film vermarkten wollten, entschieden sich anders, versuchten, ihn zu einem Sexfilm umdrehen zu lassen, ließen den spanischen Kameramann Leopoldo Villaseñor noch passende Sexszenen mit den beiden Hauptdarstellern nachdrehen und gaben ihm einen ausdrucksvollen neuen Titel ("Obszöne Begierde"). Das Resultat war weder Fisch noch Fleisch: als Sexfilm ist er zu unsexy, als Horrorfilm trübt er etwas unspannend vor sich hin, als reiner Atmosphärenfilm wird er immer wieder von unspannender Füllhandlung unterbrochen. Da gibt es nichts Obszönes. Und Begierde gibt es nur in Spuren zu finden.
Geweihtes Gebäck gegen teuflische Besessenheit
Ganz entfernt hat mich das ganze an Riccardo Fredas ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA erinnert, der 2018 beim Terza Visione lief: ein merkwürdiger Film, den niemand mögen wollte, den sein Regisseur verstoßen hatte, mit schwierigen Produktionsbedingungen und Nachdrehs. Wo Fredas faszinierender Film einen wahrhaft dekonstruktiven Wahn und eine ganz eigene Poesie entwickelt, ließ mich der insgesamt doch allzu gemächliche L'OSCENO DESIDERIO leider ziemlich kalt. Mehr denn als Sexfilm (dazu hat er eigentlich zu wenig Sex) oder als Horror-Thriller hat er für mich am ehesten als Atmosphärenfilm funktioniert. Die Gothic-Villa, die den Hauptschauplatz des Films bildet, ist zwar groß, aber auch leicht verfallen, der umliegende Park ist irgendwie ungepflegt – das sieht alles so aus wie das Set eines Mario-Bava-Films, das man zehn Jahre den Naturkräften überlassen hat. Und genau dieser latente Verfall verlieh L'OSCENO DESIDERIO in seinen besten Momenten eine ganz eigensinnige, manchmal jenseitige Atmosphäre.
Der Exorzisten-Moment ist relativ kurz gehalten. Clark alias Lou Castel, der während fast des ganzen Films wie bestellt aber nicht abgeholt aussieht, entpuppt sich als Priester, versucht Amanda zu exorzieren, aber als sie ihm eine Hostie ins Gesicht spuckt, rennt er völlig hysterisch weg, raus auf die Straße und lässt sich dort von einem LKW überfahren. Sollte mit dieser einfachen "Lösung" Spezialeffekte für etwas gruseligere Vorkommnisse als nur Spucke im Gesicht eingespart werden? Wer jedenfalls einen wirklich gruseligen Exorzisten-Wiedergänger sehen möchte, sollte sich eher an Alberto De Martinos großartigen L'ANTICRISTO halten (ein Film übrigens, dem der Titel "Obszöne Begierde" auch inhaltlich wesentlich besser stehen würde; den ich persönlich, auch als großer Friedkin-Fan, besser als das "Original" finde und hiermit jedem mit missionarischem Eifer ans Herz lege!).
L'OSCENO DESIDERIO ist ein "geschädigter" und dadurch irgendwie auch sehr zärtlichkeitsbedürftiger Film, aber so richtig warm bin ich damit nicht geworden. Ich wäre es gerne... Vielleicht bei einer neuen Sichtung irgendwann?

Lukas Foerster hat einen wunderschönen Text über einen Artefakt in der vorgeführten, leider schon ziemlich rotstichigen Kopie geschrieben (und bezeichnet den Film ziemlich treffend als "schläfrig").


15:30 Uhr

DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK
Regie: Peter Heller
BRD 1989
16mm, OV
Martin Humers Lebensinhalt dreht sich um Pornografie: mit großer Leidenschaft arbeitet dieser Mann daran, diese mit allen Mitteln aus Österreich zu verbannen – mit der Beantragung von Strafanzeigen, spektakulären Aktionen, Amtsanmassung und teils auch Erpressung.
Mit Rechtsradikalen zu reden ist nicht nur heutzutage dämlich. Es war schon 2014 dämlich. Und 1932. Und selbstverständlich war es das auch 1989. Das sieht man sehr schön im Gespräch zwischen Martin Humer und seinem Erzfeind, einem großen Wiener Verleger von Pornozeitschriften: beide kommen im Wartesaal eines Wiener Gerichts ins Gespräch, der Verleger gibt sich sichtlich Mühe, mit Humer zu reden, doch dieser brüllt ihn immer wieder mit weiteren Beleidigungen, Obszönitäten, Unterstellungen und Schimpftiraden nieder...
Der TV-Dokumentarfilm DER PORNOJÄGER gehörte für mich zu den großen Highlights des Hofbauer-Kongresses. Wie DIE TOTENSCHMECKER ein Blick in das kackbraune Herz des teutonischen Alltagsfaschismus. Humer, der selbsternannte Kämpfer für Anstand, scheut sich nicht davor, Gegner systematisch zu dehumanisieren: immer wieder bezeichnet er sie als "Schweine". Die "Massenpornografie" ist für ihn ein Mittel des Weltkommunismus, der Marxisten und der Ausländer, um das deutsche Volk zu destabilisieren. Humer spricht meist von "deutsch" und "Deutschland" und entpuppt sich damit als echter "Großdeutscher". Den aktuellen österreichischen Staat bezeichnet er als Diktatur, die wesentlich schlimmer sei als das Dritte Reich und scheut sich nicht, seine Gegner als Nazis zu beschimpfen. Er beteuert immer wieder, dass er natürlich den Frauen im Pornomilieu helfen wolle, nur um sie wenig später außer sich vor Zorn als "Huren" und "Schlampen" zu bezeichnen, denen alles "Mütterliche" fehle – als liege der einzige Existenzgrund von Frauen, (sexlose) Mutter zu sein. Wilde Verschwörungstheorien mit Linken und Ausländern als Sündenböcke, vulgärer Sexismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Beschimpfung der Gegner als Nazis... Wer bei der Sichtung des Films das höchst unangenehme Gefühl bekommt, das alles kürzlich schon ähnlich gehört zu haben – tja, so "neuartig" ist die sogenannte "Neue Rechte" halt auch wieder nicht...
Martin Humer erklärt seiner Tochter schematisch die
Beziehung zwischen Weltkommunismus, Immigration
und Pornografie
DER PORNOJÄGER "redet" nicht mit Humer, aber er beobachtet ihn beim Reden. Ohne jeglichen Off-Kommentar lässt er den selbsternannten Tugendwächter seine Tiraden ausspucken und voller Stolz die vielen angesammelten Regalmeter an Pornozeitschriften (Beweismittel) in seinem Büro zeigen. Zwischendurch kommen natürlich auch weitere Personen zu Wort: am häufigsten der Geschäftsführer eines Pornomagazins, aber auch Staatsanwälte und Richter (von denen einige tatsächlich fast ihre komplette Arbeitszeit den Strafanzeigen Humers widmen müssen) sowie Humers erste Ehefrau. Der Film lässt sämtliche gezeigte Personen für sich sprechen, nutzt keinerlei Off-Kommentar und greift auch so gut wie nicht ein. Das ist natürlich weder "neutral", noch heißt es, dass Regisseur und Autor Peter Heller zu dem Gezeigten keine Position beziehen würde, denn die Kadrage und die Montage werden doch immer wieder als ironisierende Mittel eingesetzt (für Zuschauer natürlich, die das so sehen wollen). So stellt sich Humer einmal in seiner Arbeitszentrale ganz stolz vor eine grotesk überdimensionierte, gefühlt fünf Meter hohe Regalwand, in der sorgfältig Pornozeitschriften sowie Aktenordner mit Beweismitteln verstaut sind. Die Kamera schwenkt auch mal genüsslich über die Ordnerrücken (ein ziemlich dicker Ordner ist mit "Pasolini" beschriftet). Putin hat einmal gesagt, dass er Terroristen bis aufs Klo verfolgen würde, aber das hat der Pornojäger Humer schon Jahrzehnte vor dem russischen Präsidenten gemacht: die Kamera folgt Humer und seiner ihn assistierenden Tochter durch mehrere Räume voller Regale, und eines dieser Räume ist dann auch das stille Örtchen, vollgestellt mit Ordnern voller Beweismittel (also Pornozeitschriften). Hier ging wahrscheinlich das lauteste Lachen durch den ganzen Saal.
Natürlich ist Humer irgendwo auch eine "komische" Figur. Ohne mit der Wimper zu zucken und mit großem Ernst nennt er auch mal einige Dutzend völlig bestialische und absurde Titel von Pornofilmen, die er gerade rechtlich verfolgen will (was auch für große Erheiterung im Saal sorgte). Das Lachen bleibt einem aber auch regelmäßig im Hals stecken, denn Humer und seine Leute schrecken auch vor Amtsanmaßung, latenter Bedrohung und schließlich auch Erpressung nicht zurück. Ein unkenntlich gemachter Interviewpartner entpuppt sich als Besitzer eines Pornoladens, den Humer erfolgreich zur "Kollaboration" erpresst hat: Insider-Hinweise werden getauscht gegen den Verzicht auf eine Strafanzeige (die in Fällen kleiner Betriebe durch die potentielle, juristisch angeordnete Unterbrechung der Geschäftstätigkeit während der Untersuchung tatsächlich zum Konkurs führen kann – Humers Tätigkeiten haben also in seinem Sinne manchmal durchaus Erfolg). Auch wenn DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK durchaus in einigen ironischen Momenten ein lustiger Film war (und der Saal hat an einigen Stellen sehr herzlich gelacht), ist er doch auch beklemmend.

DER PORNOJÄGER hätte wahrscheinlich ein sehr schönes Double-Feature mit Lucio Fulcis LA PRETORA ergeben, in dem Edwige Fenech eine Richterin spielt, die gnadenlos Pornografie verfolgt, und zugleich deren naiv-freizügige Zwillingsschwester verkörpert, die schließlich als Mittel ausgenutzt wird, um die Richterin zu diffamieren, als sie sich in anderen Belangen als zu störend, weil nicht-korrupt erweist...
Das vom Hofbauer-Kommando kuratierte Folgeprogramm war aber auch sehr passend... Nach DER PORNOJÄGER gab es nämlich erst einmal einen Porno.


17:30 Uhr

CITY OF SIN ("Ashley – Sattelfest in allen Betten")
Regie: Henri Pachard
USA 1991
35mm, DF
Intrigen in der Stadt der Sünde! Die Dokumentenmappe eines korrupten Kandidaten zum Posten des Bürgermeisters von L.A. geht in einem Bordell verloren. Die Geschäftsführerin Ashley nimmt die brisanten Dokumente an sich und taucht damit – von den Häschern des Fieslings und besonders ihrem Ex-Geliebten Mosie verfolgt – unter. Eine Hatz zwischen Betten und Sofas beginnt...
Oder so ungefähr. Durch diverse Verzögerungen im Vorprogramm folgte CITY OF SIN fast nahtlos an DER PORNOJÄGER – während ich mit Pinkelpause und einer Auffrischung meines Getränks beschäftigt war. So verpasste ich die ersten fünf bis vielleicht zehn Minuten: die oben aufgeschriebene Synopsis ist – bis auf den letzten Satz und den vorletzten Halbsatz – eher eine Vermutung darüber, was da so passiert. Natürlich dient das alles in erster Linie dazu, Männlein und Weiblein zu ertüchtigender Gymnastik in diversen Betten und Sofas zusammen zu bringen. Wirklich atemberaubend war der Film für mich nicht – aber wirklich schlecht war das auch nicht, zumal CITY OF SIN mit vielen kleinen, liebevollen Details und einigen sehr netten Figuren zu unterhalten weiß.
Kurz zu den Figuren: es gibt also Ashley, die Geschäftsführerin eines mehr oder minder mondänen Bordells, die mit brisanten Dokumenten flieht. Eine toughe Frau, die Männer und Frauen gleichermaßen vernascht. Ihr einziger wunder Punkt: ihre emotionale Last von ihrer vergangenen Beziehung mit Mosie – der jetzt für den korrupten Politiker arbeitet und ihr die Dokumente abluchsen will, aber selbst doch eigentlich ein ganz lieber Typ ist, der ebenfalls noch nicht emotional über Ashley hinweg ist. In einer ausgedehnten Sexszene zwischen den beiden wußte besonders ein riesiger Wandteppich mit Katzenmotiv im Hintergrund die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Besonders schön: Ashley (bzw. Hauptdarstellerin) hatte ein Zierfisch-Tattoo auf einer Pobacke – so dass unterschwellig auch die Jagd einer Katze nach einem Goldfisch zu sehen war. Wie passend, da sie gerade die Verfolgte ist, die mit ihrem Verfolger auf dem Sofa liegt.
Bei den Antagonisten gibt es den ultraschmierigen Bürgermeisterkandidaten (oder ist er schon Bürgermeister?). Seine Sonnenbrille ist ihm möglicherweise fest im Gesicht angetackert, zumindest setzt er sie auch beim Sex nicht ab. Dass er irgendwelche verfänglichen Dokumente hat und korrupt ist, dürfte nicht das Schlimmste sein: wirklich widerwärtig ist, wie er seine Frau behandelt. Vor lauter Verzweiflung, mit so einem Fiesling verheiratet zu sein, trinkt sie. Zumindest versucht sie es verzweifelt: in einer sehr ausgedehnten und rein inhaltlich wahrscheinlich etwas langweiligen Dialogszene unterhält sich der Politiker mit seinen Schergen über die verschwundenen Dokumente, seine Frau serviert sich in der Zwischenzeit einen Drink – und er nimmt ihn ihr weg. Immer wieder versucht sie in dieser langen Szene das Glas zu ergreifen, aber ihr Ehemann nimmt es ihr immer wieder weg. Eine tragikomische Szene für eine wahrhaftig tragische Figur, denn es ist ganz eindeutig, dass ihr Mann sie nicht nur lebensweltlich, sondern auch sexuell nicht befriedigen kann. In der gemeinsamen Sexszene nimmt er sich, was er will, und lässt sie, die Durstige, auch hungrig zurück. Ich hoffte bis zum Schluss des Films, dass sie noch mit Mosie ins Bett landet: Mosie, der im Laufe des Films mit gefühlt fast jeder weiblichen Figur Sex hat, nur eben nicht mit der Frau des Politikers. Ihr einziger Trost ist, dass in ihren Szenen immer ein stilvoller Jazz-Score zu hören ist, während die anderen mit einem auf die Dauer etwas langweiligen Spätachtziger-Fahrstuhl-Muzak beschallt werden.
Für mich war aber Johnny "Tatta" die absolute Lieblingsfigur. Der loyale rechte Arm Ashleys ist immer im Dienst: mögen alle anderen um ihn herum ihrer Libido hemmungslos nachgeben, und möge ihn die deutsche Synchro als "Tschonni Tatter" bezeichnen (wie in: Tattergreis) – Johnny bewahrt immer seinen kühlen Kopf und sein völlig von Schweiß getränktes Hemd unter seinem schwarzen Anzug. Für seine Chefin würde er sich zweifelsohne um Kopf und Kragen schwitzen. Nur zweimal darf er sich mal erfrischen: einmal mit einer rothaarigen Schergin des korrupten Politikers (eine ganz fiese Falle, die ihm gestellt wird, um ihm die Dokumente abzunehmen) und einmal mit einer schnellen Dusche...
Mosie, Johnny Tatta und Katzen-Teppichkunst
CITY OF SIN spielt in L.A., an einem helllichten Sommertag (gleichwohl der Titel einen noir'ischen Nachtfilm suggeriert – diese Version von CITY OF SIN würde ich natürlich auch gerne sehen) und die Kamera fängt diese kalifornische Sonne in manchen Momenten geradezu magisch auf – die wunderschöne 35mm-Projektion dürfte vielleicht nicht ganz unschuldig daran sein. Es ist eine sehr warme Sonne, die es Ashley ermöglicht, sich meist sehr knapp bekleidet von A nach B zu bewegen und die Johnny ausgiebig zum Schwitzen bringt. Auch Mosie, nachdem er ein lose verschlossenes Einfahrtstor übermäßig umständlich passiert hat (was für große Erheiterung sorgte – manchmal ist es eben doch besser, den ersten, "verpatzten" Take zu nutzen), wird ganz warm, und er zieht sein T-Shirt aus, während er zu Ashleys Versteck läuft, einer ziemlich hübschen Gartenlaube auf einem Hügel in Sichtweite der Engelsstadt. So passiert das eben: die Figuren lockern ihre Kleidung, und schon kommt es zur Sache. Angekommen in Ashleys Versteck wartet allerdings nicht Ashley auf ihn, sondern Johnny "Tatta", frisch geduscht, mit einem Badetuch um die Hüften (und einem frischen, also noch nicht vollgeschwitzten Hemd). Es hätte zum natürlichen Fluss der Szene gepasst, wenn die beiden nun Sex gehabt hätten, aber dann gab es doch nur einen Expositionsdialog, um die sexuelle Spannung zwischen Mosie und Johnny aufzulösen. Schade... natürlich bleibt CITY OF SIN den Regeln eines heterosexuellen Mainstream-Pornofilms verpflichtet (zur größeren sexuellen Offenheit des schwulen Pornofilms folgt später noch mehr).
Seinen ganzen Charme hätte CITY OF SIN vielleicht besser in einer Late-Night-Vorstellung entwickeln können. Ein bisschen langweilig fand ich den Film bei der Sichtung schon, aber es war wohl doch dieses "geil-langwelig" – rückblickend mag ich ihn irgendwie ganz gerne!

Abendessen in der Gruppe!


21:15 Uhr

LE DICIOTTENNI ("Mädchen von 18 Jahren")
Regie: Mario Mattòli
Italien 1955
35mm, DF
Auf einem Mädcheninternat: die Gefühle der Schülerinnen fahren gerade Achterbahn, denn der neue Physiklehrer (Anthony Steffen) ist ein absolut unwiderstehlicher junger Mann. Er selbst, der noch bei seiner Mutter (einer verarmten und trotz ihres vordergründigen Humors leicht verbitterten Adeligen) wohnt, kriegt davon nichts mit. Die Schuldirektorin, die sämtliche Tagebücher ihrer Schutzbefohlenen zu eben ihrem Schutz konfisziert hat, liest hingegen von der allgemeinen Verliebtheit. Eskalationen folgen...
Klavierlektion mit Komplikationen
Ich muss zugeben, dass mir von LE DICIOTTENNI nicht viel mehr hängen geblieben ist als ein wunderschönes, angenehmes Gefühl von Glück, Fröhlichkeit und Leichtigkeit. Ein toll gemachter Film, mit tollen Figuren, die von mir größtenteils unbekannten Schauspielern dargestellt wurden, mit einem flotten Timing, mit einem schönen Gefühl für einzelne Szenen und für den großen Bogen, mit einer guten Balance zwischen Komik und Melodramatik.
In meinem Notizbuch, in das ich mir im Hotel nach dem Aufwachen jeweils Notizen zu den Filmen des Vortags machte, stand zu LE DICIOTTENNI nur "Scope! Tiefenschärfe!". Der Film unterhielt nicht nur wunderbar, sondern war auch visuell ziemlich großartig. Wie diese "kleine" italienische Komödie mit dem gerade mal zwei Jahre alten Cinemascope umgeht, hat mich immer wieder erstaunt und beglückt: die Kamera fängt das Setting, die Figuren und die Räume zwischen den Figuren geradezu brillant ein – als wäre Scope das natürlichste Filmformat auf der Welt (und nicht eine gerade mal zwei Jahre alte Innovation, über die sich viele noch lustig machten).
LE DICIOTTENNI wäre auch ein sehr schöner Film für's Terza. Die Kopie war noch knackig scharf und ohne große Gebrauchsspuren, an einigen Stellen aber leider schon leicht angerötet.

Nicht weniger unterhaltsam, aber doch in einer sehr viel härteren Gangart:


23:30 Uhr

WU FA WU TIAN FEI CHE DANG ("Die wilden Engel von Hong Kong")
Regie: Kuei Chih-Hung
Hong Kong 1976
35mm, DF
Zwei gutbürgerliche Pärchen aus Hongkong werden auf dem Weg zu ihrem Wochenendhäuschen auf einer kleinen Insel von einer Motorradgang belästigt. Die kultivierten Städter wissen den zunehmend bedrohlicheren Rowdies (zunächst) wenig entgegen zu setzen. Die Situation eskaliert...
Tschechows sprichwörtliches Gewehr muss nicht immer ein Gewehr sein. Manchmal ist es auch der Propeller eines Motorboots!
Auch wenn "Die wilden Engel von Hong Kong" für mich nicht so eine Kino-Epiphanie war, wie für das Hofbauer-Kommando, so hat er mich doch mit seiner unaufhörlichen Eskalationsspirale von bestialischen Gewalttaten wie wahrscheinlich die meisten im Kinosaal gut weggefegt. Dabei ist der Film so minimalistisch in seiner Dramaturgie, dass er umso mehr Platz hat, um unglaublich viele kleine oder größere Ideen umzusetzen.
Die wilden Engel von Hong Kong – bereit zum Angriff
Es gibt eine sehr ausgedehnte Sequenz, in der die Motorradgang einen Fahrwettbewerb am Strand organisiert. Einige der Frauen bieten sich dem Gewinner als Hauptgewinn an. Das ganze beginnt als völlig halsbrecherisches Rennen durch die Dünen der Insel, gefolgt von einem wilden Zweierkampf am Rand des Wassers, bei dem die Kontrahenten auf den Motorrädern aufeinander zufahren und sich mit Ketten (oder Stöcken?) prügeln und endet schließlich mehr oder weniger in einer großen Orgie. Diese Szene könnte man "Selbstzweckhaftigkeit" vorwerfen – doch ich würde eher sagen, dass dies der Moment ist, in dem der Film sich selbst Zeit zum Atmen gibt und ganz und gar in sich aufgeht. Seine rohe Kraft entwickelt der Film nicht zuletzt durch die spektakulären Motorrad-Rennen und die entsprechenden Stunts, von denen viele höllisch gefährlich aussehen (und es wahrscheinlich auch waren).
Am Ende entpuppen sich die männlichen Städter als doch ziemlich wehrhaft und als nicht minder bestialisch als die "unkultivierten" Rowdies. Da kommt, wie bereits angedeutet, der Propeller eines Motorboots ebenso zum Einsatz wie ein großer, mit siedendem Öl gefüllter Kochtopf. Die schwer traumatisierte junge Städterin, die nur "Ich will zurück nach Hong Kong!" vor sich hin jammern kann, wird dann sogar als "Köder" für die Biker ausgesetzt. Am Ende gibt es ein "apokalyptisches" Tableau der massakrierten Biker, mit einem elegischen Kameraschwenk über ihre Leichen, unterlegt von Bachs "Toccata und Fuge".

Der angekündigte VELLUTO NERO des italienischen Regie-Außenseiters Brunello Rondi (dessen INGRID SULLA STRADA beim Terza Visione 2017 lief) konnte aufgrund des letztlich zu kritischen Zustands der Kopie leider nicht gezeigt werden. Als Ersatz wurde ein "Videoknüppel" kredenzt.


01:45 Uhr

HOT STEPS ("More Than Feelings")
Regie: Gerry Lively
Italien/USA 1990
2K-Abtastung einer VHS, DF
Zwei Gruppen von Jugendlichen bereiten sich auf einen Tanzwettbewerb vor. Eifersüchteleien, Intrigen, Seitenwechsel, Liebe und vieles mehr folgen...
Ich muss gestehen, dass mir von diesem Film nicht so vieles im Gedächtnis geblieben ist und meine Notizen nicht gerade besonders reichhaltig ausfielen. Das hatte nicht zuletzt auch mit der fortgeschrittenen Zeit zu tun.
Nur ein paar Bruchstücke... Einer der reichen Schnösel-Kids mit Namen Kevin fährt einen teuren Sportwagen mit dem Nummernschild "KEV-IN". Ein nächtliches Tanztraining im Autogeschäft. Die Rivalen werden mit dem Feuerwehrschlauch nassgespritzt. Der eine Junge möchte bei einem Radio-Gewinnspiel unbedingt gewinnen (es geht darum, ein nur wenige Sekunden lang eingespieltes Lied zu erkennen), doch leider ruft er immer einen Tick zu spät an. Biertrinken und Abhängen am Strand. Beim finalen Tanzwettbewerb meint einer der geladenen Väter, unter den Tänzerinnen eine junge Version seiner Ehefrau zu erkennen, ist von diesem Anblick sichtlich angegeilt – bis er merkt, dass das seine eigene Tochter ist. Ich selbst wiederum habe mich etwas in die schwarzhaarige Tanzlehrerin verliebt, die die finanziell nicht ganz so gut situierte Tanzgruppe (mit hohem Anteil an Latinos – die besser situierten sind fast alle weiß und angelsächsisch) trainiert...



Warum Kakao zum Kultgetränk des Volljährigkeitskongresses avancierte, wie nahe Ozu und Pinku eigentlich sind, was gastronomische Verkostungen mit Sexstellungen zu tun haben und wie man die Sau richtig (oder eben doch falsch) rauslässt – dazu gibt es demnächst hier Antworten.

Fortsetzung folgt... (hier zum zweiten Teil)


Wer noch ein bisschen mehr zu den eben besprochenen Filmen bzw. auch zu anderen, später gezeigten Kongressfilmen etwas lesen möchte, dem sei die wunderschöne "XXL-Collage an Festivaleindrücken" vieler anderer Kongressniki auf critic.de empfohlen. Auch sehr empfehlenswert: Roberts Einträge zum Kongress in seinem Filmtagebuch auf Eskalierende Träume.

Samstag, 12. August 2017

Melodramen in verschiedenen Härtestufen: Eindrücke vom 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms, 27.-30.07.2017


Hinweis: Terza Visione ist zu 100 % ein 35mm-Festival. Alle gezeigten Filme liefen also auf richtigem Film. Die Mehrheit im italienischen oder englischen Original (außer da, wo angegeben), teilweise mit Untertiteln, die von den fleißigen Organisatoren in mühe- und liebevoller Arbeit selbst erstellt wurden. Zu danken sind hierfür und für die Konzeption des Festivals zuallererst Christoph Draxtra sowie Andreas Beilharz, in der Filmblogosphäre von den Eskalierenden Träumen bekannt.

Donnerstag, 27. Juli


kurz vor 20.00 Uhr

Mindestens zwei Zuschauer im Saal tragen ein passendes DIABOLIK-T-Shirt. Später im Verlauf des Festivals sehe ich zahlreiche weitere interessante T-Shirts: mit Ingrid Bergmann in STROMBOLI, ein textiles Plakat von SEI DONNE PER L‘ASSASSINO. Ohne direkten Italienbezug fügt sich auch ein T-Shirt mit ROLLS-ROYCE BABY sehr schick ins Gesamtbild.
Übrigens: so voll wie bei DIABOLIK wurde keine Vorstellung mehr. Wesentlich „leerer“ wurde es nur an den frühen Nachmittagsvorstellungen und bei den ganz späten Vorstellungen. Das Terza Visione war tatsächlich kein „Spezialisten“-Festival für Eingeweihte mit dreiviertel-leeren Vorstellungen, sondern erfreulicherweise rundum gut besucht.



ab 20.00 Uhr

DIABOLIK (Gefahr: Diabolik)
Regie: Mario Bava
Italien / Frankreich 1968, 105 Minuten
Der Meisterverbrecher Diabolik (John Phillip Law) und seine Gefährtin Eva (Marisa Mell) erbeuten bei gewagten Coups Millionen vom autoritären Staat und von den Reichen. Der Kommissar Ginko (Michel Piccoli) verbündet sich mit dem Mafioso Valmont (Adolfo Celi), um den Dieb zu fangen.
Pop-Art-Kino hat Mario Bava eigentlich schon immer gemacht, doch in der Comicverfilmung DIABOLIK findet sich zu der Form nun auch der passgenaue Inhalt. Heutzutage, wo bei dem Wort „Comicverfilmung“ wahrscheinlich nicht nur mir ein genervtes Stöhnen entweicht, weil man damit Tentpole-Sommerblockbuster im Se-Prequel-Reboot-Modus der Marke kindisch-selbstironisch (DEADPOOL) oder selbstbeweihräuchernd-bierernst-semifaschistisch (Nolans Fledermaus-Filme) verbindet, ist DIABOLIK von einer großen Frische und angenehmen Frechheit. Hier weht ein völlig unverstellter, fast schon kindlich-naiver Spaß an Genre durch den Film: Superhelden und Superschurken, die fantastische Dinger mit Super-Hightech-Geräten drehen, flankiert von wunderschönen Frauen, akustisch von fetzigen Klängen begleitet, die einem deutlich machen, dass wir gerade im italienischen Kino unterwegs sind.
Dabei ist das ganze auch frech, subversiv, anarchisch, radikal antiautoritär. Der Geist des Films wird schön in einer Vignette zusammengefasst: Diabolik, verkleidet als Journalist, „sprengt“ die bierernste Pressekonferenz des Innenministers, der bedeutungsschwanger etwas von harter Hand gegen „die kranken Elemente unserer Gesellschaft [Pause] – also ich meine damit: die Verbrecher“ schwafelt, indem er mit seinem Blitzlicht unbemerkt Lachgas im ganzen Raum verteilt. Aus der ganzen Veranstaltung wird eine Farce, weil unterschiedslos alle lachen müssen. Lachen... die wirkungsmächtigste Waffe gegen autoritäre Pappnasen!
Eine echte Meisterleistung ist die Besetzung von Michel Piccoli als Kommissar Ginko, denn ich kann mir nur wenige Schauspieler vorstellen, die weniger in eine Comicverfilmung passen als er – und deshalb passt es dann doch so perfekt. Ginko ist möglicherweise der einzige „echte“ Charakter in einem Ensemble aus Comic-Stereotypen (nicht im negativen Sinne gemeint): ein Charakter, der dem delirierenden Film eine angenehme Erdung gibt. Ein Mann auf der Seite des autoritären Staates, der nicht aus persönlichem Sadismus, sondern tatsächlich aus Pflichtbewusstsein handelt (und dadurch dem wahren Charakter des Autoritären wohl näher kommt als die karikaturhaften Innenminister-Figuren). Der sich zum Mittagessen in seinem Büro ein herzhaftes Sandwich und ein Bier genehmigt – so etwas Banales könnten sich Diabolik und Eva niemals erlauben! Der sich nur widerwillig mit dem schmierigen Valmont verbündet. Der fast ein wenig traurig wird, wenn er Diabolik dann endlich (natürlich nur scheinbar) gefangen hat, weil er vor der Geschicklichkeit und dem intellektuellen Organisationstalent des Meisterverbrechers fasziniert ist.
DIABOLIK sieht nicht nur fantastisch aus, sondern hört sich auch großartig an. Dafür sorgt Ennio Morricone mit seinem tollen Score, der funkigen Jazz, Lounge‘iges und Rockiges mit orientalisch-indischen Klängen verbindet (man höre z. B. hier mal rein).
Andreas Beilharz erklärte in der Einführung, dass der als Blockbuster konzipierte DIABOLIK für etwa ein Siebentel des geplanten Budgets gedreht wurde. Der extrem ökonomisch arbeitende Mario Bava konnte sich zwar eigentlich über das größere Budget freuen, doch die Mühe, über komplizierte bürokratische Wege einzelne Geldtranchen für einzelne Szenen bei der Produktionsfirma Dino de Laurentiis‘ zu beantragen, frustrierte den Meisterregisseur schnell. So endete das damit, dass Bava viele Szenen mit den ökonomischen Mitteln und Tricks drehte, die er aus seinen kostengünstigeren Produktionen kannte. Das Resultat lässt sich sehen: von einigen Rückprojektionen abgesehen (jene im Auto unterstreichen auf expressionistische Weise die Comic-Atmosphäre des Films) sieht der Film extrem wertig aus, ganz besonders die Szenen in Diaboliks Untergrundbasis. Im „wahren“ Leben wie im Film: Ein Sieg des Subversiven und Künstlerischen über das Autoritäre und Bürokratische.



ab 22.30 Uhr

UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA (Eine Eidechse in der Haut einer Frau)
Regie: Lucio Fulci
Italien / Spanien / Frankreich 1971, 106 Minuten
Eine gutbürgerlich-spießige Ehefrau (Florinda Bolkan) träumt davon, dass sie ihre sexuell freizügige Nachbarin (Anita Strindberg) ermordet. Dann geschieht der geträumte Mord auch in der Wirklichkeit...
Im gerne beschworenen Fulci-Argento-Gegensatz verorte ich mich selbst als Argento‘ianer. UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA hat mir bewiesen: es liegt möglicherweise daran, dass ich verhältnismäßig noch zu wenige Fulcis kenne (dessen Werk wesentlich vielfältiger als das Argentos ist). Denn UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA sieht absolut fantastisch aus! Fulci und sein Kameramann Luigi Kuveiller veredeln eine eher statische Krimigeschichte mit rasanten Fahrten, verblüffenden Schwenks, irren Zooms, einer manischen Handkamera sowie mit Splitscreens und Split-Diopters, die Brian De Palma mal etwas besser hätte studieren können. Das gepflegte Abendessen im Kreise der spießigen Familie wird hier wahlweise zur Farce, wenn in Splitscreens das gediegene Dinner mit dem hedonistischen Treiben in der Wohnung der Nachbarin kontrastiert wird – oder zu einer Hölle, wenn die Handkamera nervös die Essenden umfährt. Luigi Kuveiller fotografierte später nicht nur Fulcis LO SQUATTORE DI NEW YORK (der mich eher wenig begeistert hat), sondern auch Dario Argentos PROFONDO ROSSO. Während letzterer in hyperstilisierten Tableaus und extrem kontrollierten (Proto-?)Steadicam-Fahrten schwelgt, ist UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA durch und durch „dreckig“ inszeniert und geschnitten.
Mit den späteren Fulcis teilt UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA den gewaltsamen Einbruch des Irrationalen in den „normalen“ Alltag. Untote tauchen hier als mit LSD vollgepumpte Hippies auf (die wie die Untoten in L‘ALDILÀ komplett weiße Augen haben) – und hinter unverdächtigen Krankenhaustüren können auch grausame Vivisektionsexperimente mit Hunden lauern. UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA ist zweifelsohne auch Vorbild für Fulcis späteren SETTE NOTE IN NERO (1977), in dem eine Frau mit hellseherischen Fähigkeit die Vision eines Mordes hat (und dabei die Chronologie durcheinander bringt). In beiden Filmen gibt es in der zweiten Hälfte eine sehr lange und ultraspannende Verfolgungsjagd zwischen zwei Personen, die sich bei weit über 10 Minuten ohne jegliche Worte rein visuell entwickelt. Die Auflösung in UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA ist noch gänzlich „trivial“ und Allerwelts-mäßig, während in SETTE NOTE IN NERO letzteren die übernatürlichen Elemente tatsächlich so stehen bleiben.
Ich muss mich mehr mit Fulci beschäftigen!


Freitag, 28. Juli



ab 12.30 Uhr

LA RIVOLTA DEI SETTE (Blutgericht)
Regie: Alberto De Martino
Italien 1964, 88 Minuten (deutsche Fassung)
Im antiken Griechenland rebellieren einige gefallene Herrscher zusammen mit einer fahrenden Schauspieltruppe gegen die korrupte Elite Spartas und suchen nach einer Statuette mit einem darin verborgenen, verschwörerischen Geheimvertrag...
Der Muskelmannheld macht Muskelmannheld-Sachen und schmeichelt dabei das Auge der geneigten Zuschauer, sein Sidekick unterstützt ihn dabei, der Chef der Schauspieler sorgt mit seinem kleinen Alkoholproblem für einige Lacher, seine Tochter schmeichelt das Auge der geneigten Zuschauer, die Schurken (es sind zwei, vielleicht sogar drei, die sich irgendwie ähnlich sehen) sind ultraschurkisch, die Schurkin ist ultraschurkisch und dabei auch ultraerotisch. Dazwischen gibt es nette Prügeleien sowie lange Dialoge zur Planung der Intrigen.
So weit, so gut, so erwartbar. LA RIVOLTA DEI SETTE ist routiniert, aber eben auch nicht besonders engagiert inszeniert. Das einzige, was für mich hervorstach, war eine längere Montage der Schauspiel-Acts, die die fahrenden Profischauspieler gemeinsam mit den Rebellen auf der Flucht aufführen – sie war viel zu lange, um als reine Exposition herzuhalten und wirkte daher irgendwann fesselnd. Wie so ein kleiner Erholungsspaziergang von dem Einerlei des Rests. Trotzdem: gepflegte Langeweile, mit der man gut den Tag einleiten kann, um sich später etwas in Qualität und Härte hochzuarbeiten. Für mich der schlechteste Film des Festivals. Dass er trotzdem noch so halbwegs okay ist, zeugt von dem hohen Niveau, mit dem Terza Visione kuratiert wird.


ab 15.45 Uhr

CHI È SENZA PECCATO... (Wer ohne Sünde ist...)
Regie: Raffaello Matarazzo
Italien 1952, 101 Minuen
Der italienische Emigrant Stefano (Amedeo Nazzari) heiratet in Kanada mittels einer Fernhochzeit seine Verlobte Maria (Yvonne Sanson), die in Italien geblieben ist. Mit der ungewollten Schwangerschaft von Marias kleiner Schwester beginnt eine Reihe von zunehmend eskalierenden Unglücksfällen.
Raffaello Matarazzo wird bisweilen als italienischer Douglas Sirk bezeichnet: ein Regisseur, der in den 1950er Jahren kommerziell erfolgreiche Melodramen inszenierte, die von der Kritik verrissen wurden, und später als großes Kino mit einem überaus scharfen Blick für soziale und existentielle Probleme wiederentdeckt wurden. Statt Rock Hudson gab es Amedeo Nazzari – zusammen mit Yvonne Sanson entstand ein Zyklus von sieben Nazzari-Sanson-Melodramen.
Ein italienischer Sirk? – das weckt natürlich erst einmal mein Interesse, doch CHI È SENZA PECCATO... an sich und Matarazzos Inszenierung im Speziellen haben mich nicht zu Begeisterungsstürmen verführt. Wie die ganze Geschichte immer mehr und immer mehr in einer Reihe unfassbarer Unglücksfälle eskaliert, ist schon beeindruckend – ebenso, wie am Ende das ganze doch noch in ein Happyend umgebogen wird. Weitere Sichtungen, vielleicht auch anderer Matarazzos, werden womöglich weiter helfen, aber dem Neorealismus ist Matarazzo doch näher als Sirks wahnwitzigem Expressionismus.
Ganz ohne Begeisterung bin ich nicht aus dem Film gegangen: die gebürtige griechisch-französisch-russische Schauspielerin Yvonne Sanson hat mich als Melodrama-Queen schlichtweg verzaubert und ließ ihren Partner Nazzari dabei etwas plump aussehen. Sollte es bislang niemand gemacht haben, mache ich es jetzt: Yvonne Sanson ist wie eine italienische Joan Crawford.


ab 20.00 Uhr

ARCANA
Regie: Giulio Questi
Italien 1972, 112 Minuten
In einem Vorort von Mailand hypnotisiert eine Betrügerin (Lucia Bosè) wohlhabende Kunden und verkauft ihnen das ganze als spiritistische Sitzungen. Ihr Sohn (Maurizio Degli Esposti), mit dem sie eine konflikthafte und zugleich latent inzestuöse Beziehung hat, entwickelt tatsächlich spiritistische und magische Begabungen.
Giulio Questi war ein cinéaste maudit des italienischen Kinos. ARCANA war sein dritter, letzter und radikalster abendfüllender Spielfilm, bevor er sich der Lyrik, Regiearbeiten für das Fernsehen und gegen Ende seines Lebens dem experimentellen Digitalvideofilm widmete. Sein erster Film, SE SEI VIVO SPARA von 1967 (in Deutschland bekannt als „Töte, Django“), war ein Western, der immer wieder ins Surreale abdriftete und mit seiner grafischen Gewalt Zuschauer und Zensoren schockierte, aber auch als perfide Kapitalismus- und Faschismuskritik faszinierte (mich ließ der Film eher kalt – eine Neusichtung wäre bestimmt vonnöten). Questis zweiter Film LA MORTE HA FATTO L‘UOVO (1968) verband den Giallo mit Kapitalismus-Groteske (da werden wohl Hühner gezüchtet, die rechteckig sind, damit sie effizienter verarbeitet werden können). ARCANA, ein urbaner Hexen-und-Magier-Film und vor allem ein mysteriös-surrealistisches Werk, floppte ebenso fulminant wie Questis erste Filme und beendete damit seine Kinokarriere.
Christoph Huber erklärte in einer einführenden Videobotschaft (er konnte wegen Krankheit nicht persönlich anreisen) ARCANA zu einem der besten Filme aller Zeiten. Das mag vielleicht übertrieben sein, aber für mich steht fest: wegen solcher Unglaublichkeiten wie ARCANA nehme ich gerne die Mühe auf mich, Filmfestivals zu besuchen.
In den ersten 20, vielleicht 30 Minuten, die mehr Geduldsprobe als Filmvergnügen sind, hätte ich das niemals gedacht. Im Grunde sieht man nur eine Frau, die esoterisches Geschwafel von sich gibt, während in einem Stuhlkreis Leute schlafen und dabei murmeln. Enden tut der Film unter anderem mit (symbolischen) Leichenbergen des Zweiten Weltkriegs und möglicherweise einer Art Apokalypse. Was dazwischen passiert ist, damit aus leicht irritierter Öde eine mysteriös-hypnotische Faszination erwächst, ist schwierig zu sagen. Ich vermute, dass der Spiritismus, die Magie, der Schamanismus, das Paranormale – wie man es auch immer nennen will – die der Sohn sich langsam wahrhaftig aneignet, auch den Film ARCANA ergreifen und „infizieren“. Von da an gibt es kein Zurück mehr. Schlaf, Traum, Realität, Illusion, Wirklichkeit – diese Kategorien ergeben keinen Sinn mehr. Abgebrochene Eselszähne werden zu bösartigen Talismanen verarbeitet. Der Sohn sucht in den Schächten der städtischen Metro nach den abgetrennten Gliedmaßen verunglückter Metroarbeiter bzw. seines Vaters. Kleinwüchsige Frauen bringen Hochzeitskleider zu spiritistischen Massen-Sitzungen. Der Sohn foltert seine Mutter mit einem Küchenmesser, um an Informationen zur Herstellung eines Talismans zu kommen und bearbeitet später mit dem selben Messer Erhebungen im Boden des U-Bahn-Schachts, die wie die Brüste seiner Mutter aussehen. Die Mutter „spuckt“ die Information aus – und spuckt später Frösche. U-Bahn-Arbeiter klopfen an die Fenster eines Zugs, die Passagiere im Inneren um Hilfe anflehend. U-Bahn-Passagiere klopfen an die Fenster ihres Zugs, um die U-Bahn-Arbeiter draußen um Hilfe anzuflehen... (hier ein fünf-minütiger Ausschnitt aus dem Film, der dem Wahnsinn einer Kinovorführung natürlich nur bis zum Rockzipfel reicht)
Bevor ich mich völlig in Inkohärentem verliere: Die gezeigte Kopie aus dem Centro Sperimentale di Cinematografie der Cineteca Nazionale wurde zur Vorführung in Venedig in den 2000er Jahren gezogen. Gemäß den einführenden Worten war das verwendete Filmmaterial ein anderes als beim Original, wodurch die Farben möglicherweise nicht ganz originalgetreu zu sehen waren. Dessen bewusst muss ich dennoch (um jetzt mal etwas kohärentes zu sagen) dies erwähnen: ich habe selten eine derartige Inszenierung der Farbe / Nicht-Farbe Schwarz gesehen. Ein Großteil des Films spielt in einer abgedunkelten Wohnung. Die Figuren agieren meist vor einem gähnenden, dunklen, dunklen, dunklen, ultradunklen Schwarz – oder tauchen plötzlich aus diesem Schwarz heraus. Das war bereits in den ersten paar Minuten des Films sehr hervorstechend. Die Magie kam später hinzu. Der Rest ist nicht weniger als ein grandioser Höhepunkt des Festivals.



ab 23.00 Uhr

SVEZIA INFERNO E PARADISO (Schweden – Hölle oder Paradies?)
Regie: Luigi Scattini
Italien 1968, 87 Minuten (deutsche Fassung, gekürzt)
Die Schweden, wie sie leiben, leben, ficken, rudelbumsen, Drogen nehmen, sich zu Tode saufen, Selbstmord begehen, inzestuös verkehren, lesbische Clubs besuchen, Autos klauen, nackt saunieren und dank Atombunker irgendwann als überlegene Rasse die Welt wieder bevölkern werden.
Hinweis: gezeigt wurde im Grunde nicht SVEZIA INFERNO E PARADISO, sondern dessen deutsche Interpretation SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? Bei Einzelgesprächen mit Personen, die sich besser mit dem Genre des Mondo-Films auskennen, wurde bestätigt, dass deutsche Fassungen italienischer Mondo-Filme ein komplett eigenes Genre bilden, weil der deutsche Kommentar etwaige Niederträchtigkeiten des Originalkommentars um ein Vielfaches potenziert und dann noch zusätzlich eine ganze Schippe an eigenen Ungeheuerlichkeiten „hinzudichtet“ – so viel, dass man schon sehr naiv sein muss, um an einen durchschlagenden Erfolg der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg zu glauben. Ich bespreche also SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES?
Sich empören und sich aufgeilen!
Irgendwann bei einem Drittel oder der Hälfte dieses infamen Films dachte ich, dass er bei einem AfD-Stammtisch der absolute Knüller wäre. Was hier zu sehen ist, ist ein mustergültiges Prototyp von dem, was heutzutage unter dem modischen Begriff „fake news“ verniedlicht wird: manipulative Medienproduktion mit dem Ziel, zu hetzen und Hass zu säen. Tatsächlich ist SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? aber noch wesentlich perfider als das, weil er seine Zuschauer nicht nur dazu einlädt, über alles, was nicht männlich, weiß, heteronormativ und gut- bzw. spießbürgerlich mit autoritär-konservativem Einschlag ist, offenen Hass zu säen, sondern sich dabei auch regelrecht aufgeilend zu delektieren.
Sich empören und sich aufgeilen!
Das geht ungefähr so: Schweden wird gezeichnet als „echt sozialistisches“ Land, das von Hippie-Weicheiern regiert wird. Ein Land, das Inzest staatlich toleriert, Sexualunterricht für Teenager organisiert (mit Diskussionen darüber, welches Verhütungsmittel das beste sei – so ein Ding aber auch!), in dem schamlose Mädchen jede Nacht mit mindestens drei oder vier Jungs Sex haben, in dem Politessen nach Feierabend ins Porno-Fotostudio stacksen, in dem Motorradgangs, die die verweichlichte Polizei selbstverständlich nicht unter Kontrolle hat, Teenager-Mädchen gruppenvergewaltigen, was selbstverständlich zu verurteilen ist, weil Motorradgangs eklig sind und die vergewaltigten Mädchen dadurch lesbisch werden und sich später in abartigen lesbischen Tanzclubs rumtreiben, während im danebenliegenden Lokal sich die Jugendlichen mit Marihuana, LSD und Heroin die Birne zu- oder totknallen (war Kokain schon 1968 eine upper-class-Droge, die deshalb hier unerwähnt bleibt?) und in Bretterbuden am Rand der Stadt der „Abschaum“ (O-Ton) und das „Strandgut“ (O-Ton) der Gesellschaft (im nüchterneren Sprachgebrauch: Obdachlose) Entfrostungsmittel schluckt und Schuhcreme-Sandwiches isst, wohingegen der gesetzestreue Bürger, der in seinem gerechten Volkszorn einen Autodieb verprügelt, von jenen Polizisten verhaftet wird, die sich gerade nicht in Sexshops oder Pornostudios rumtreiben, der Dieb hingegen das Auto einfach in den nächstgelegenen Fluss kutschiert, aus dem es dann am nächsten Tag von blinden Tauchern geborgen wird, die gefälligst froh darüber sein sollen, dass sie das tun dürfen, weil Blinde bekanntermaßen völlig nutzlos für eine Gesellschaft sind, und wenn es irgendwann einmal zum Atomkrieg kommt, werden die Schweden dank guter Atombunker überleben und zur „herrschenden Rasse“ (O-Ton im Film – kein Witz!) der Welt werden – vorausgesetzt, die schwedische Jugend begeht nicht aus lauter Langeweile Selbstmord, wozu sie offenbar einen besonderen Hang hat und woran uns der Sprecher etwa alle zehn Minuten schadenfroh erinnern möchte... Ach ja: und viele nackte Brüste gibt es auch zu sehen!
Sich empören und sich aufgeilen!
SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist eine herzliche Einladung an den Zuschauer, voll und ganz in Häme, Hass und Hetze zu schwelgen und vor allem aber auch, sich an den Bildern nackter Frauen, gestellter Gruppenvergewaltigungen und dreckigen Drogen- und Alkoholkonsums zu delektieren und aufzugeilen. Diese Janusköpfigkeit kennt man bereits aus dem frühen Kino, nämlich von Griffith: doch Griffith hat seine antihumanistischen Obsessionen in die Form klassischen Erzählkinos (den er ja mitbegründet hat) eingebettet. SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist da eine ganz andere Nummer, weil das abgespulte Programm von den Fesseln des Erzählkinos befreit ist und damit viel mehr Platz für Assoziationen bietet, ohne sich an einzelnen Figuren und Plots aufhalten zu müssen. Wer sieht, dass schwedische Ordnungshüter in ihrer Freizeit in Pornostudios gehen, kann sich eben „seinen Teil“ denken, wenn später Polizisten Autodiebe wieder freilassen. SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist roh und unverstellt, und dabei trotzdem von unfassbarer Heuchelei. Sich empören? Nur zu: dafür die sind die Lesben, die Blinden, die Schwarzen, die Obdachlosen, die Motorradgangs da. Sich dabei aufgeilen? Nur zu: dafür sind die nackten Brüste da! Schuldgefühle? Nicht doch. Schuld sind die nackten Lesben und die heruntergekommenen Obdachlosen doch selbst.
Sich empören und sich aufgeilen!
Wer noch Hemmungen hat, sich prächtig zu unterhalten, der kann sich auch einfach von dem absolut fantastischen Score Piero Umilianis treiben lassen, der die ganzen infamen Niederträchtigkeiten mit locker-fluffigen Lounge-Klängen voller Strandbar-Atmosphäre untermalt. Ein Traum. Und die gute Nachricht: es gibt tatsächlich eine Soundtrack-CD bzw. Vinyl-Platte. Der etwas erhöhte Preis hat mich davon abgehalten, ihn gleich zu kaufen. Unabhängig davon dürfte ein Stück des Scores von mehreren Hunderten Millionen Menschen auf der ganzen Welt bekannt sein: auf dem veröffentlichten Soundtrack heisst das Lied „Samba mah nà“, berühmter ist es heute als „Mah nà mah nà“, das zunächst als Singleauskopplung des Film-Soundtracks in Nordamerika Erfolge feierte und später durch die Nutzung in der „Sesamstraße“ und bei den „Muppets“ weltberühmt wurde. Hier reinhören.
Sich empören und sich aufgeilen!
Das autoritäre Weltbild, das SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? transportiert, ist meiner Meinung wenig lustig. Zusätzlich zum Grauen des eigentlichen Films kam bei der Sichtung dazu, dass ein großer Teil des Saals über weite Strecken der Vorführung lachte. Sicher, es handelte sich – ich hoffe es zumindest! – um größtenteils ironisches Gelächter, vielleicht auch um einen Versuch, mit diesem unfassbaren Knüppel fertig zu werden. Aber ob Ironie wirklich das richtige Mittel ist, um sich mit diesem Film auseinanderzusetzen, wage ich zu bezweifeln. Für mich gibt es keinen Zweifel: SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist ein schrecklicher, scheußlicher, niederträchtiger, hundsgemeiner Film. Ein Film, der Ideologiekritik an Rape-and-Revenge-Exploitern, Vigilanten-Reißern und Kannibalenfilmen wie die reinste Farce aussehen lässt. Ein infames Meisterstück des antihumanistischen Kinos.


Samstag, 29. Juli


ab 13.00 Uhr

UN UOMO DA RISPETTARE (Ein achtbarer Mann)
Regie: Michele Lupo
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1972, 112 Minuten (deutsche Fassung)
Der Meistereinbrecher Steve (Kirk Douglas) kommt aus dem Gefängnis und möchte zu seiner Ehefrau Anna (Florinda Bolkan) zurück. Doch seine ehemaligen Auftraggeber wollen ihn zu einem neuen Coup zwingen. Zusammen mit dem flüchtigen Zirkusakrobaten Marco (Giuliano Gemma) bereitet er sich vor.
Oh, du zarte, bittersüße Melancholie!
Auf dem 4. Terza Visione wurde mehrmals diskutiert, wie viel Melodrama eigentlich in anderen Filmen außerhalb des als „das Melodrama des Festivals“ programmierten Films (Matarazzos CHI È SENZA PECCATO...) zu finden sei: etwa in dem Söldner-Rache-Actioner ROLF, oder naheliegend in INGRID SULLA STRADA, oder auch im Western LA NOTTE DEI SERPENTI. Ich denke, dass auch UN UOMO DA RISPETTARE in vielerlei Hinsicht ein Melodrama ist – ein Melodrama im Gewand eines Heist-Thrillers. Es ist die Geschichte eines Mannes, der aufgrund seiner persönlichen Obsession, den besten Coup zu drehen (die nur bedingt etwas mit den äußeren Zwängen seiner ehemaligen Arbeitgeber zu tun hat), seine Frau zutiefst enttäuscht und sich zunehmend von ihr entfremdet. Trotz einiger Action-Einlagen dürften die ersten zwei Drittel des Films für Zuschauer, die einen reinen Heist-Film erwarten, etwas enttäuschend sein. Mehr als die Vorbereitung des Heists erzählt UN UOMO DA RISPETTARE hauptsächlich von seinen drei Hauptfiguren. Das geschieht in vielen kleinen, unscheinbaren Momenten (die wahrscheinlich in angloamerikanischen Fassungen, die knapp über 90 Minuten dauern, rausgekürzt wurden): ein kurzer Moment des Eheglücks auf der Bowlingbahn, in dem Steve und Anna als harmonisches Paar gezeigt werden, wenn sie sich über Bowlingregeln unterhalten – kurz, bevor der geplante Coup ein Schatten auf das Glück wirft. Anna und Steve, die früh morgens in das Esszimmer kommen und überrascht sehen, dass Marco das Frühstück schon fertig zubereitet hat. Die heimlichen Unterhaltungen zwischen Anna und Marco: er möchte sie am liebsten anflirten, traut sich aber nicht richtig (aus Anstand oder aus Loyalität zu Steve), und sie weiß ganz genau, dass er das möchte – und so reden die beiden in Floskeln um die etwas unangenehme Situation herum.
Hier, in den Figuren, baut sich eine melancholische, leicht fatalistische Atmosphäre auf, und die wird nur noch verstärkt von der Tatsache, dass wir uns in Hamburg im Spätherbst befinden: eine graue, monochrome Stadt, über die sich ein hartnäckiger grauer Nebelschleier von der Alster gelegt hat. Dazu kommt der brüterische, leicht dissonante Score Ennio Morricones (hier ein Ausschnitt). In den ersten zwei Dritteln scheint UN UOMO DA RISPETTARE statisch – dabei ist der Film nur zutiefst melancholisch. Von den letzten, hochintensiven zehn Minuten abgesehen ist diese Melancholie aber ätherisch, irgendwie da, aber doch nicht unmittelbar zu greifen – keine bleierne Schwere wie bei den späten Melvilles. Das ist auch der Grund, warum die Actioneinlagen (vor dem großen Heist) nicht deplatziert wirken, sondern wie eine wohltuende Ruhepause. Und was für Actionszenen das sind! Eine wüste Keilerei in einer Nebenstraße, bei der beide Prügelnden ihr Treiben schließlich nach Durchbruch einer Windschutzscheibe im Inneren eines Autos einfach fortsetzen. Eine noch wüstere Prügelei, bei der ein kompletter Weinladen zu Bruch geht. Und schließlich diese Autoverfolgungsjagd der Extraklasse, bei der gar das Auto eines unbeteiligten Autotransporters mit den vier Rädern nach oben auf dem Dach eines der Verfolgungsautos landet.
UN UOMO DA RISPETTARE erzählt auch vom Triumph des Menschlichen – im Guten wie im Schlechten. Das akustische Sicherheitssystem der Hochsicherheitsbank wird überlistet, weil es ein Computer ist und dieser ist auf die Geräusche hin programmiert, die ein Einbrecher typischerweise macht – nicht auf die Klänge von Mozarts 40. Sinfonie. Der Coup selbst glückt, aber der Gesamtplan scheitert natürlich ebenso wegen des menschlichen Faktors – das wird in einer absolut verblüffenden und schmerzhaften Ellipse vorbereitet, die (wenn es bis dahin nicht ohnehin schon vollkommen offensichtlich war) deutlich macht, wie unglaublich gut und wie dramaturgisch und emotional präzise dieser Film inszeniert ist.
Am Ende bleibt nur bittere Erkenntnis, Verlust, Schmerz – und der wahrscheinlich bittersüß-traurigste Film des Festivals.



ab 15.30 Uhr

LA SPOSINA (Kleine Braut, was nun?)
Regie: Sergio Bergonzelli
Italien 1976, 92 Minuten
Die sexuell freizügige Chiara heiratet den erfolglosen Schriftsteller Massimo. Dieser bestand während der Verlobung darauf, vor der Ehe keinen Sex zu haben, und nach der Eheschließung wird klar, warum: er ist impotent. Chiara setzt alle Hebel in Bewegung, um Massimo zu heilen.
Wir müssen uns diesen Film als einen Film vor der Ära des Viagra vorstellen. Aber wir leben ja heute. Und wie gerne hätte ich den Film gesehen, der von Gary Vanisian angekündigt wurde: einen Film über eine absolute und bedingungslose Liebe, die sich über alle Hindernisse hinweg behauptet. Ich glaube, LA SPOSINA hätte mir in diesem Fall richtig gut gefallen.
Doch so richtig ist der Funke bei mir nicht übergesprungen. Das Spiel der beiden Hauptdarsteller Antinesca Nemour und Carlo De Mejo wirkte für mich eher zweckmäßig als wirklich inspiriert – ich sah keine Funken zwischen den beiden sprühen. So entwickelte sich LA SPOSINA als eine Aneinanderreihung mehr oder minder komischer Vignetten. Zum Beispiel soll eine Prostituierte Massimo wieder „richten“. Das geht zunächst schief, weil Massimo sich aus Versehen einen Transvestiten nach Hause holt. Die weibliche Prostituierte, die Chiara schließlich höchstpersönlich aussucht, landet nach mehreren Manövern und Verwechslungen mit Massimos schrulligem Bruder im Bett (was sie aufgrund ihrer starken Kurzsichtigkeit nicht merkt) – an und für sich eine witzige Szene mit einem extrem guten Timing, aber eben auch etwas mechanisch ausgeführt. Genau so wirkte für mich auch LA SPOSINA insgesamt: wie eine nette „commedia sexy e slapstick“, witzig und mit einem stets perfekten Timing, aber eben nicht der angekündigte ultimative und existentielle Film über bedingungslose Liebe. 
Ich bin mir nicht völlig sicher, aber ich glaube, eine der wichtigsten Nebendarstellerinnen des italienischen Genrefilms, die in Aberdutzenden von Filmen an prominenten Stellen zu sehen war, tauchte (ausgerechnet bei diesem Festival!) erst hier, bei LA SPOSINA, zum ersten Mal auf (oder habe ich sie bei UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA übersehen?). Die Rede ist von der obligaten Flasche J&B-Whisky.



ab 20.00 Uhr

INGRID SULLA STRADA (Ingrid auf der Straße)
Regie: Brunello Rondi
Italien 1973, 96 Minuten
Die Finnin Ingrid flieht von zu Hause und reist quer durch Europa nach Süden, um in Rom als Prostituierte zu arbeiten. Sie freundet sich rasch mit der Arbeitskollegin Claudia an, die ihr die Eigenheiten des römischen Rotlichtmilieus erklärt – und von ultrabrutalen Neonazis „protegiert“ wird, die Ingrid von Anfang an nicht mögen.
Das 4. Terza Visione probierte sich durch verschiedene Härtestufen des Melodramas – und INGRID SULLA STRADA gehört definitiv zur ziemlich harten Stufe.
Die Titelfigur, wild entschlossen, ihre Heimat zu verlassen, beginnt gleich in dem Zug, der sie nach Süden fährt, damit, sich zu prostituieren und bevor der Kontrolleur überhaupt zu ihr kommt, hat sie schon ein so erkleckliches Sümmchen verdient, dass ihr der Fahrtkartenpreis herzlich egal ist. In Rom angekommen gibt es erst einmal eine lange, lange, lange Fahrt durch die Stadt in der Pferdekutsche, zusammen mit ihren künftigen Arbeitskolleginnen (und hier lernt Ingrid Claudia kennen). Die Prostituierten unterhalten sich, reißen Witze, lachen, erzählen vom Leben. Einige potentielle Kunden oder einfach nur Schaulustige fahren auf dem Moped nebenher, plaudern mit, bekommen wüste Sprüche oder Witze an den Kopf geworfen, lachen darüber oder hauen beleidigt ab. Und der alte Pferdekutscher lenkt das Pferd mit leicht amüsierter Mine weiter, aber ohne einzugreifen. Eine tolle Szene.
Danach verschwimmt das ganze für mich. Möglicherweise bin ich kurz weggenickt. Zweifelsohne war ich gedanklich viele Minuten auf Durchzug und nahm kaum etwas vom Film richtig wahr. „Aufgewacht“ bin ich schließlich dann, als der Anführer der Neonazi-Zuhälter (gespielt von Pasolini-Stammdarsteller Franco Citti) vor versammelter Mannschaft einen der ihren, der öffentlich ein bisschen zu viel geplaudert hat, foltert und schließlich die Zunge herausschneidet. Anschließend wird Ingrid von der Bande verschleppt, mit Heroin betäubt und gruppenvergewaltigt. Dann verschwimmt der Film wieder – bevor Ingrid sich auf einem Steinbruch von herunterprasselndem Gestein erschlagen lässt.
Da mich bei INGRID SULLA STRADA meine Sinne etwas im Stich ließen, mag ich nicht wirklich etwas abschließendes zu diesem Film sagen. Daher vielleicht einige Worte zu Brunello Rondi. Der gebürtige Lombarde wirkte bei zehn Fellini-Filmen zwischen 1954 (LA STRADA) und 1980 (LA CITTÀ DELLE DONNE) zunächst als Produktionsdesigner, später als Autor und „künstlerischer Berater“ mit. Bei drei Rossellini-Filmen (FRANCESCO GIULLARE DI DIO, EUROPA ’51 und ERA NOTTE A ROMA) arbeitete er in ähnlichen Funktionen mit. In seiner politischen und künstlerischen Ausrichtung stand Rondi jedoch Pier Paolo Pasolini am nächsten: sein erster Film als Regisseur 1962 war eine Verfilmung des Pasolini-Romans „Una vita violenta“ – mit Franco Citti (damals noch künftiger Pasolini-Stammdarsteller) in der Hauptrolle. Rondis Regiearbeiten waren wohl ein Balanceakt zwischen sozialkritischem Melodrama und derber Exploitation. Darunter gibt es PIÙ TARDI, CLAIRE, PIÙ TARDI (1968), dessen Inhaltszusammenfassung wie eine VERTIGO-Variation klingt oder PRIGIONE DI DONNE (1974), der wie der Titel verspricht ein Women-in-Prison-Reißer ist.



ab 22.30 Uhr

ROLF (Der Tag des Söldners)
Regie: Mario Siciliano
Italien 1984, 93 Minuten
Der Ex-Söldner Rolf lebt zurückgezogen an einem tunesischen Badeort mit seiner Freundin Joanna. Die trügerische Idylle des traumatisierten Soldaten wird gestört, als seine Ex-Kumpanen auftauchen und ihn zu einer neuen Arbeit als Drogenschmuggler überreden wollen. Als Rolf ablehnt, prügeln sie ihn halb tot, vergewaltigen und ermorden später Joanna. Dann beginnt Rolfs Rachefeldzug.
In seiner wunderbaren Filmeinführung bezeichnete Sano Cestnik ROLF als das eigentliche Melodrama des Festivals, als „die harte Stufe des Melodramas“, als „Macho-Melodrama“, in dem nicht eine Frau ihren Schmerz ausweint, sondern ein Mann seinem Schmerz mit Kugeln Ausdruck verleiht. Ja, ROLF ist ein düster-pessimistischer Söldner-Film, ein knüppelharter Rape-and-Revenge-Exploiter, ein schlafwandlerisch-zarter Liebesfilm, eine ultra-abgeranzte Sleaze-Bombe, eine provokante filmische Aufarbeitung italienischer Kolonialverbrechen, eine christlich-mystisch-esoterische Passions- und Erlösungsgeschichte – kurz: ein hartes Melodrama in der Tat! Nicht umsonst wählte Mario Siciliano für diesen, seinen letzten Film (und was für ein letzter Film!) als englisches Pseudonym „Marlon Sirko“.
In den ersten 20 bis 30 Minuten war der Reichtum dieses merkwürdigen Films noch nicht für mich erkennbar, ja ROLF wirkte sogar wie ein etwas dahin geschluderter, stümperhafter B-Actioner. Augenscheinlich war nur, wie unfassbar antiklimaktisch und aufreizend langsam dieser Film inszeniert ist. Sano bezeichnete das später in einem privaten Gespräch als Bresson-artig und tatsächlich: ROLF ist womöglich der Söldner-Rache-Actioner, den Robert Bresson nie gedreht hat.
Denn dann kamen die Blutegel! Oder besser gesagt: zunächst wird Rolf von seinen ehemaligen Söldner-Kumpanen übel zugerichtet, nachdem er sich wiederholt weigert, an deren Drogengeschäften teilzunehmen. Die Prügelei dauert unangenehm lange. In einem Moment schlägt einer der Truppe Rolf drei, vier, fünf, vielleicht sechs Mal auf die gleiche Weise ins Gesicht. Schließlich bleibt Rolf halbtot liegen, nachdem seine Kumpanen weitergezogen sind. Langsam, sehr langsam robbt der Verletzte auf sein Auto zu. Langsam, sehr langsam bereitet er sich darauf vor, sein ausgerenktes Knie wieder einzurenken, indem er sein verletztes Bein auf den Vorderreifen seines Geländewagens hievt. Das Einrenken geht schnell vonstatten, doch Rolf wird ohnmächtig und fällt ins nahe liegende Gebüsch. Dort fangen Blutegel an, auf ihn herumzukriechen. Das dauert ziemlich lange. Sehr lange. So lange, dass es die Aufmerksamkeit auf sich zieht und anfängt, zu irritieren. Und dann dauert es noch einmal einen Tick länger.
Nun... In PSYCHO mag Alfred Hitchcock seine (scheinbare) Protagonistin nach 40 Minuten von einem Irren in Frauenkleidung abstechen lassen. Aber in welchem Film sieht man schon, dass der Held nach knapp einem Drittel von Blutegeln aufgefressen wird? Diese Bresson‘ianische (?) Szene ist zweifelsohne sehr mysteriös und regt zu vielseitigen Deutungen an (wie ich in einem Gespräch später – siehe unten – eruieren konnte). Ist das vielleicht ein Reinigungsprozess: die Blutegel saugen die Schuld aus Rolf? Oder wird Rolfs Körper in dem Moment zu einem Sinnbild einer kaputten Welt, auf der sich viele Figuren kriechend tummeln – nur um später von einem aufgewachten und wütenden Rolf brutal zerquetscht, weggerissen und weggeworfen zu werden? Ich selbst neige dazu, das ganze als symbolische Todesszene zu sehen: Rolf stirbt – und wacht dann wieder auf, als Wiedergeborener oder vielleicht als Untoter? Als er sich im Dunkeln (ohnmächtig ist er bei hellem Tageslicht geworden) wieder aufrichtet, scheint das Mondlicht direkt in seine Augen, und seine Pupillen wirken, als wären sie komplett weiß – als wäre Rolf ein Untoter, ein Jenseitiger aus Fulcis L‘ALDILÀ. Das passt vielleicht auch besser als die Vorstellung, dass Rolf im engeren christlichen Sinne wiederauferstanden ist: denn die großen Leiden des Titelprotagonisten, die verschiedenen Etappen seiner Passionsgeschichte, fangen erst dann richtig an!
Vielleicht ist auch nur die Chronologie aus Passion, Tod, Wiederauferstehung und Erlösung durcheinander gebracht. Die Leiden einer Actionfigur mit christlich angehauchter Ikonographie zu überhöhen, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches im Actionkino. Aber das derartig explizit zu tun, ist schon sehr speziell. Rolf erledigt dann zwar seine Ex-Kumpanen, bekommt dabei aber so einige Kratzer ab. Grund genug für ihn, um sich mehrfach in dramatische Kreuzigungsposen zu werfen. Um erschöpft und vor Schmerzen der Ohmacht nahe liegend von einem mitfühlenden Freund gehalten zu werden – für eine schaurig-schöne Pietà-Pose. Um von einem seiner Ex-Kumpanen Wundmale in die Hände geschossen zu bekommen – aus denen er später in dramatischen Momenten auch üppig blutet.
Rolf verschwindet gleich zwei mal für etwas längere Zeit aus dem Film: das erste Mal, nachdem er niedergeprügelt und von Blutegeln aufgefressen wurde. Da bleibt er erst mal eine ganze Weile liegen, während die kaputte Welt um ihn herum auch ohne ihn weiterhin kaputt sein kann. Später begleiten wir für längere Zeit seinen Antagonisten, also den „Chef“ seiner ehemaligen Söldner-Kameraden, der ein wenig aussieht wie ein unbekannter, älterer und schwer derangierter Halbbruder Uwe Ochsenknechts. Er trinkt in der lokalen, abgeranzten Bar, wo früher Joanna arbeitete, spricht dann auf der Straße eine Prostituierte an. Dabei wird er von allen als das angesehen, als das auch wir als Zuschauer ihn sehen: als völlig rohen, vertierten Rüpel, der jederzeit durch die Decke gehen kann. In einem späteren Gespräch meinte Sano, dass der Antagonist nichts anderes sei als ein Spiegelbild Rolfs. Das Spiegelbild Protagonist-Antagonist ist im Genrekino ja nichts außergewöhnliches, aber in ROLF führt das zu besonders bitteren Erkenntnissen. Im Prolog des Films sehen wir, wie weiße Militärs in einem afrikanischen Dorf ein Massaker anrichten. Später erinnert der Antagonist Rolf mehrmals daran, dass er, Rolf, „der Allerbeste von uns“ war. In einem späteren Flashback sehen wir, wie Rolfs Antagonist bei einem Massaker in einem Dorf von seinen Kameraden kleine Kinder in die Luft werfen lässt, um sie dann in der Luft abzuschießen. Das ist sicher der Gipfel oder der Tiefpunkt, den die Welt in ROLF erreicht. Rolf will da nicht mehr mitmachen, rettet im Vorbeigehen ein paar Dorfbewohner und möchte aussteigen. Eine Affekthandlung des „Besten von uns“? Die Kinder-Wurf-und-Abschieß-Szene ist selbstverständlich infam, völlig geschmacklos, unerträglich – vielleicht die perfekte Darstellungsform für infame, geschmacklose und unerträgliche Gewalttaten, auch wenn viele Filmzensurbehörden dieser Welt (ich denke naheliegender Weise an eine bestimmte Institution mit Sitz in Wiesbaden) Gewalt lieber in „geschmackvoller“ und „nicht grausamer“ Weise dargestellt mögen.
In dieser Szene könnte man die Frage stellen, ob Exploitationfilme alles dürfen? Sicher ist, dass ROLF ein Film ist, der keinen Spaß macht. Er ist kein Unterhaltungsfilm. Er ist schroff, absichtlich hässlich, will abstossen. Als möglicher Vergleich fiele mir James Glickenhaus‘ THE EXTERMINATOR ein: ein ähnlich monströser, hässlicher, qualvoll langsamer, dezidiert „anti-unterhaltsamer“ und absolut merkwürdiger Abgrund von einem Film. Wer sich an den Gewalttätigkeiten in ROLF ergötzt, stellt nicht so sehr das Funktionieren der Filmzensurbehörden als das Funktionieren von Wertevermittlung in Schule, auf Arbeit, in der Familie, in der Gesellschaft (bzw. seine eigene geistige Gesundheit)in Frage. ROLF ist ein kranker Film über die kranke Seite der Menschheit, und er macht das, was kranke Organismen bisweilen tun: alles auskotzen. Dominik Grafs und Hans Schmids These, wonach der italienische Genrefilm die Niederträchtigkeiten des Zweiten Weltkriegs auskotzte, scheint mir bei ROLF noch mehr zuzutreffen als beispielsweise bei Sergio Martinos Gialli. Die Kinder-Wurf-und-Abschieß-Szene wirkt im Lichte italienischer Kolonialverbrechen noch mal doppelt so bitter.
Ich könnte noch vieles über ROLF schreiben. Über unvergessliche Szenen. Über einen Held, der in einem prolligen Sakko mit zurückgezogenen Ärmeln zusammen mit seiner Freundin durch eine arabische Marktgasse spaziert, um seinen Dämonen zu entkommen. Über derangierte Ex-Kämpfer, die zum Kampfeinsatz im Wald als einzigen Proviant eine Feldflasche voll Kokain mitnehmen. Über diese Bildkompositionen, die Rolf und Joanna miteinander in einem Bild vereinen, aber dabei dennoch schmerzhaft trennen. Über gruselige, unvergessliche Weitwinkelbilder der verschwitzt-lüsternen Vergewaltigergesichter. Über unfassbare, pathetisch-schmalzige Disco-Scores. Über erfrischende Duschen unter einem Wasserfall, die die Schuld doch niemals wegwaschen werden.
ROLF ist, vielleicht dicht gefolgt von ARCANA, zweifelsohne der schwierigste Film des Festivals.


ab etwa 00.30/1.00 Uhr – im Hotel

Es gab einmal eine Zeit, da war Samstag Abend bzw. Nacht die Zeit, wo auf RTL oder RTL2 oder SAT1 oder ProSieben irgendwelche B-Actionfilme mit wenig Ansehen, aber manchmal recht hohem Interesse liefen. Auf VOX liefen um die Zeit dann meist Soft-Erotikfilme – manchmal sogar italienische. Wie gut hätte das als Tagesabschluss gepasst, um von ROLF wieder ein wenig herunterzukommen. Aber nein: heutzutage laufen auf besagten Kanälen um die Zeit diese fürchterlichen „Qualitätsserien“. Das einzige leicht genre-ig bzw. exploitig angehauchte, was ich fand, war der Showdown von DR. NO (den ich unter den James-Bond-Filmen eh nicht so mag) auf ARD. Doch die HD-Auflösung war dermaßen absurd totgefiltert, dass das aussah, als würden Sean Connery und Ursula Andress durch eine vorabendliche Telenovella hopsen. Nach einigem erfolglosen Herumprobieren an der Bildeinstellung habe ich es dann aufgegeben. Selbst das Fernsehen ist gentrifiziert. Deprimierend...


Sonntag, 30. Juli

ab etwa 11.00/11.30 Uhr

Ich fühle mich hundeelend. Ein bisschen wie Rolf gegen Ende des Films, bloß ohne das erhabene Gefühl, ein christlicher Märtyrer zu sein. Die Halsschmerzen, die sich gestern Nachmittag angekündigt haben und gegen Abend fest eingenistet haben, sind noch stärker geworden – zusammen mit Kopfschmerzen und einem allgemein fiebrigen Gefühl. Und dann kommt auch noch diese fürchterliche Sommerhitze hinzu (die gefühlt jeder Mensch auf der Welt außer ich unglaublich großartig findet)...
Frühstücken... In einer Bäckerei bestelle ich einen Milchkaffee zum Mitnehmen, dazu ein Schoko-Croissant. Von der Verkäuferin folgt das obligate „Kommt noch etwas dazu?“. Hhm... ja, warum denn nicht: „Ein Milchbrötchen mit Schokolade?“. Die Verkäuferin bricht in ein kurzes, herzliches Lachen aus. Freut sie sich, dass ich nach den basischen Komponenten eines Frühstücks noch eine Schlemmerei dazu nehme? Egal, ich fühle mich ein bisschen besser. Das war eben wie in kurzer Moment in einem Film, wo die Zeit einfach mal kurz stehen bleibt.
Auf der Straße begegnet mir später eine Gruppe von Co-Zuschauern (darunter einer der Ankündiger/Filmeinführer), und sie alle grüßen mich. Haben die schüchterne Figur wieder erkannt, die sich immer etwas geduckt am Rand aufhält, aber bei jedem Film da war. Ja, jetzt ist die Welt wieder ein bisschen in Ordnung.


ab 13.00 Uhr

IL MAGNIFICO AVVENTURIERO (Mit Faust und Degen)
Regie: Riccardo Freda
Italien / Frankreich / Spanien 1963, 92 MInuten (deutsche Fassung)
Der Künstler Benvenuto Cellini (Brett Halsey) treibt sich durch die italienische Renaissance und malt, erschafft Skulpturen, beklaut Konkurrenten, macht schönen Frauen (Claudia Mori, Françoise Fabian) schöne Augen, prügelt sich, kämpft wacker im Namen des Papstes (Bernard Blier), fälscht Münzen und erlebt überhaupt viele Abenteuer.
So ein Schlingel aber auch, dieser Cellini! Alles, was bei dem ähnlich gelagerten, nämlich „familienfreundlichen“ und „leichten“ Abenteuerfilm LA RIVOLTA DEI SETTE formelhaft wirkte, ist es bei IL MAGNIFICO AVVENTURIERO im Grunde genommen genau so. Doch hier kommt dann dieses Quäntchen Inspiration hinzu, das aus schmalzig frisierten Beaus richtige Helden, aus gestelltem Gerangel mitreissende Kampfszenen, aus gestelzten Dialogen zwischen männlichen und weiblichen Figuren witzige kleine Screwball-Vignetten, aus augenscheinlichen Pappmaché-Kulissen prunkvolle Fürstenhallen oder urige Wirtsstuben, aus Witzen auf Schulbub-Niveau krachende Schenkelklopfer und aus einem total fadenscheinigen (Nicht-)Drehbuch einen fetzigen audiovisuellen Flow macht. IL MAGNIFICO AVVENTURIERO macht zumindest in der ersten Stunde auch alles richtig, damit man als Zuschauer wirklich einen Riesengaudi hat. In der letzten halben Stunde hing der Film etwas durch – vielleicht hing ich persönlich auch etwas durch. Aber wenn Cellini am Schluss seinen „Perseus“ in eine Tonform gießt und schließlich abklopft, fühlt sich das wie eine kleine persönliche Renaissance an: man fühlt sich so erfrischt wie wiedergeboren.



ab 16.15 Uhr

LA FINE DELL‘INNOCENZA (Das Ende der Unschuld / Annie Belle – Zur Liebe geboren)
Regie: Massimo Dallamano
Italien / UK 1976, 86 Minuten (deutsche Fassung)
Die Internatsschülerin Annie Belle reist mit ihrem Vater Michael nach Hongkong. Dort merkt der Zuschauer, dass Michael nicht ihr biologischer Vater, sondern ihr „Sugar Daddy“ ist. Während der ältere Herr wegen eines Devisenbetrugs in den Knast landet, vergnügt sich Annie Belle mit verschiedenen europäischen Bekanntschaften beiderlei Geschlechts, dann mit dem Stuntman Chen, begegnet einer Mönchin und sucht nach sich selbst.
Eine klassische Coming-of-Age-Geschichte mit ganz viel Coming und, da Daddy Michael recht schnell aus dem Film verschwindet, wenig Age. Die Geschichte einer jungen Frau, die nach und nach entdeckt, dass die Welt wesentlich komplexer ist, als sie den Anschein hat. Zumindest am Anfang weiß sie, dass „Daddy“ nicht wirklich „Daddy“, sondern eben „Sugar Daddy“ ist. Dann muss sie auf die harte Weise lernen, dass Angelo und Linda, das wohlhabende Traumpaar, das sie empfängt, keineswegs so traumhaft ist. Hinter der gutbürgerlichen Fassade steckt in Angelo ein manipulativer Vergewaltiger, während Linda schließlich so besitzergreifend wird, wie es Michael nie war. Der idealistische Künstler Philip täuscht ihr die Liebe seines Lebens vor, und verkauft sie dann nach einigen Tagen idyllischer Liebe innerhalb von 30 Sekunden für ein bisschen Geld an Angelo. Der Stuntman Chen mag mit seinem Motorrad wie ein Draufgänger wirken, doch wenn es in der Spielhölle brenzlig wird, rennt er auch schnell davon und ist ansonsten ein Muttersöhnchen, der sich auf dem Hausboot von seinen Eltern bekochen lässt. Die mysteriöse, erotische Mönchin wirkt aus der Ferne sehr mysteriös und erotisch – aber letztendlich hat sie für Annie auch nur Glückskeksweisheiten parat. Die wahrscheinlich größte Wandlung macht wohl tatsächlich Michael durch, wenn er am Schluss erkennt, dass er Annie verloren hat, dass sie das Recht auf ihr eigenes Leben hat, dass sie alleine weiterziehen muss.
Trotz einiger Ruppigkeiten ist LA FINE DELL‘INNOCENZA ein Film, der ein bisschen wie seine Heldin voller Neugier und einer gewissen Naivität die Welt entdeckt. So, wie Annie von einer Etappe zur nächsten läuft und positive wie negative Erfahrungen sammelt, sammelt Dallamanos Emmanuelle-ploitation-Film unvergessliche Momente. Die zwei älteren Damen, die in der Kunstgallerie im Angesicht einer phallisch geformten Plastik Philips staunen. Annie und die Mönchin, die nackt durch das Wasser waten, ihre Kleidung schützend über den Kopf haltend – und später (freilich ganz sexlos) zusammen in einer Hütte übernachten, die so dermaßen offensichtlich als Käfig inszeniert wird (warum, ist mir allerdings bis heute unklar – würden die italienischen Dialoge hier einen Bezug herstellen?). Und natürlich die (das behaupte ich jetzt mal so) wahnwitzigste Montage aus wildem Sex im Pferdestall und Eisschlecken, das im italienischen Kino der 1970er Jahre zu sehen war – und wenn es die tatsächlich anderswo gibt: dort sieht man danach bestimmt keine drei, vier, fünf ausgeleckte Eiswaffeln in einem Aschenbecher liegen.
Wie so viele Filme bei diesem Festival ist LA FINE DELL‘INNOCENZA nicht nur toll fotografiert, sondern hört sich auch großartig an. Das Trio aus Fabio Frizzi, Franco Bixio und Vince Tempera hat ganze Arbeit geleistet: der Score ist nicht nur eine tolle musikalische Untermalung der Bilder, sondern wird auch immer wieder dramaturgisch genutzt, um etwa die Mönchin (ob sie jetzt auf der Leinwand zu sehen oder nur in Annies Gedanken zu spüren ist) mit einem eigenen Motiv einzuführen. Wer reinhören möchte: hier gibt es den Titel-Song, und hier das Titel-Motiv in instrumentaler Version.

ab ca. 18.00 Uhr

Essenszeit! Nach dieser fernöstlich angehauchten Delikatesse war es eigentlich klar, was es nun geben musste: etwas Asiatisches. Deshalb ging ich auch schnurstracks zu dem ersten asiatischen Imbiss, der in der Schweizer Straße beim Filmmuseum zu finden war. Meine Bestellung ist schon aufgegeben, ist sitze draußen an einem Tisch am Rand des Bürgersteigs – und da kommen schon die nächsten Co-Zuschauer, denen LA FINE DELL‘INNOCENZA Lust auf asiatische Köstlichkeiten gemacht hat. Der Platz war begrenzt und deshalb setzten sich drei von ihnen zu mir an den Tisch (einige andere Co-Zuschauer des Festivals fanden drinnen Platz und bekamen hoffentlich auch ein gutes Essen). Nachdem ich mich vorstelle („Hallo, ich heiße David, ich komme aus Jena und ich bin filmsüchtig“) lerne ich also Sano Cestnik, Sven Safarow und dessen Freundin (die ich hier nicht namentlich nenne, weil sie sich als „nicht filmsüchtig“ outete und vielleicht im Rahmen der deutschsprachigen Film-Blogosphäre lieber anonym bleiben möchte?) auch persönlich kennen. Als ich mich dann auch als permanenter Gastautor von „Whoknows Presents“ vorstellte, gab es bei Sano und Sven wohl den gleichen „Aha, das ist diese Person also in live“-Effekt wie bei mir in den letzten Festivaltagen. Bei rotem Thai-Curry, Hähnchenspießen in Erdnuss-Sauce, Frühlingsröllchen und einer Suppe sprachen wir über LA FINE DELL‘INNOCENZA (über die Entwicklung der Figur Michaels), ROLF (über die Bedeutung der Blutegel), LA SPOSINA (über das dem Film zugrunde liegende Gesellschafts- und Weltbild), INGRID SULLA STRADA (über die Bedeutung der satirischen oder/und der vielleicht unfreiwillig komischen Momente), über Lucio Fulcis vielfältiges Schaffen, über Mario Siciliano, über Massenverbrechen, Verdrängung und das Weiterleben mit und unter Tätern. Sowohl Sano (der ROLF einführte) wie auch Sven (der UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA einführte) meinten, dass die vierte die bislang „härteste“ Terza-Visione-Ausgabe sei: weniger „unschuldige“ Filme, mehr „harte Autorenfilme“.
Irgendwann zwischendurch merkte ich, dass die Halsschmerzen und Kopfschmerzen, die mich zur Mittagszeit fast in den Wahnsinn trieben, vorbei waren. Merke: Filme und Filmgespräche sind also gut für die Gesundheit!



ab 20.00 Uhr

LA NOTTE DEI SERPENTI (Die Nacht der Schlangen)
Regie: Giulio Petroni
Italien 1969, 107 Minuten
In einem mexikanischen Dorf planen einige Notabeln unter der Führung des korrupten Sheriffs Hernandez (Luigi Pistilli) einen Mord, um eine Erbschaft zu erschleichen. Der heruntergekommene, versoffene und verlachte Gringo Luke (Luke Askew) wird damit beauftragt – mit dem Hintergedanken, ihn hinterher wieder loszuwerden. Als Luke sein Mordopfer erblickt, macht er einen Rückzieher, wird wieder nüchtern und wendet sich gegen die Intriganten.
Oh, du zarte, bittersüße Melancholie!
Der Regisseur Till Kleinert (DER SAMURAI) führte LA NOTTE DEI SERPENTI in einem überaus schönen, stellenweise fast poetischen Beitrag ein, und wies darauf hin, auf einige Details genau zu achten: so unter anderem etwa darauf, dass viele Menschen in diesem Film „aus Versehen“ getötet werden, weil offenbar der menschliche Körper zu zart für diese harte Wüstenlandschaft sei; darauf, dass der Held (Luke) eine eigene Melodie hat, die seine Zerbrechlichkeit, seine Verletztheit und Verletzlichkeit, seine Trauer ausdrückt; darauf, wie sich die Beziehung zwischen der Bordellbetreiberin Dolores und dem Sakristan Jesus-Maria als quasi unabhängiger kleiner Nebenplot entwickelt (beide Cousins – und Teilnehmer der Intrige). Kleinert wies von sich, ein Spezialist des Italowestern zu sein, aber auf seine überaus wertvollen Beobachtungen muss ich noch zu sprechen kommen.
Zunächst ist da das Nichts! Die erste Hälfte von LA NOTTE DEI SERPENTI ist Stillstand, Gelähmtheit, endloser Fatalismus und viel, viel, viel Melancholie. Tatsächlich ist der Film extrem gut und ökonomisch erzählt, weil er kleine Informationsfetzen zur gesponnenen Intrige nach und nach enthüllt. Aber passieren tut erst einmal wenig. Natürlich: Hernandez tut sich mit einem Banditen am Rande der Stadt zusammen und fordert von den Teilnehmern der Intrige, die er eigentlich zunächst nur aufdeckt, Schutzgeld. Ja, der Held wird herumgeschubst und landet bei einer alleinerziehenden Schamanin. Ja, Dolores und Jesus-Maria zanken sich rum. Aber alles schwelgt zunächst in dieser lähmenden Melancholie, die dieses halbtote Kaff am scheinbaren Ende einer verdammt trostlosen Welt im Würgegriff festhält. So konsequent antiklimaktisch dürfte kaum ein Film sein, der in den 1960er Jahren als Western vermarktet wurde. 
Das widerspiegelt nicht zuletzt den Helden. Luke ist der Al Roberts des Italowesterns (Al Roberts: der Protagonist des ultra-fatalistischen film-noir-Schmuckstücks DETOUR) – bloß noch wesentlich betrunkener, viel schweigsamer, lethargischer und mit schlimmeren Verbrechen auf dem Kerbholz. Hier wird Luke nicht in einem heruntergekommenen Café angeschnauzt, sondern aus einer Hängematte geworfen und dazu gezwungen, für ein bisschen Tequila die Stiefel des örtlichen Schlägers zu putzen – um schließlich eine Trinkflasche voller Pisse zu bekommen und dann verprügelt zu werden, als er ausspuckt. Luke, der uns mit einer sanften, Gitarrenballade als großer Verletzter präsentiert wird, bewegt sich in der ersten Filmhälfte nur, wenn er von anderen geschubst wird oder Alkohol in Aussicht ist. Ansonsten liegt, döst, lümmelt er sturzbetrunken oder schwerverkatert herum. Der Film tut es ihm im Grunde gleich. Es ist in der ersten Hälfte sehr schwer, in LA NOTTE DEI SERPENTI einen Western zu erkennen – es ist eher ein Melodrama im Snooze-Modus.
Ein gewaltiger Ruck geht durch Luke, als er merkt, dass er Manuel, den etwa zehnjährigen Sohn (bzw. Adoptivsohn) der Schamanin töten soll, die ihm Unterkunft gewährt hat. Den Auftrag hat er nicht für Geld, nicht mal für Alkohol, sondern deshalb akzeptiert, damit er selbst nicht getötet wird (und wurde diesbezüglich selbst reingelegt). Luke wacht auf: er schwört Nüchternheit, zieht seine alte Revolverheld-Pistole wieder an, tauscht seinen zerlöcherten Sombrero gegen seinen alten Revolverheld-Hut ein (die stark lädierten Sandalen, die er anfangs trägt, trägt er bis zum Schluss – wahrscheinlich hat er seine Revolverheld-Stiefel irgendwann einmal gegen Tequila eingetauscht). Mit ihm wacht der ganze Film auf: Lukes sanft gezupftes, leise melancholisches Motiv ertönt nun mit einer lauten, Italowestern-typischen Elektrogitarre voller Pathos (der Credit für den wunderbaren Score geht hier an Riz Ortolani). Die Szene, in der Luke sein altes Revolverheld-Kit zu dieser Musik anzieht, ausprobiert, schließlich Manuel die Fuselflasche rausbringen lässt, um sie dann zielsicher (betrunken konnte er vorher kaum gerade schießen) abzuknallen, war ohne Zweifel der ganz große emotionale Höhepunkt des Festivals. Die geradezu plumpe Symbolhaftigkeit des ganzen war fast zu viel des Guten, aber wie heißt es so schön: „too much of a good thing can be wonderful“. Ein Teil des Publikums brach in spontanen Applaus aus, als Luke die Flasche kaputt schoss. Die Szene gibt es hier zu sehen (und immer wieder zu sehen).
Mit Luke „erwacht“ auch der komplette Film und verwandelt sich in einen echten Italowestern mit Shootouts, Explosionen, Duells. Nach der bittersüßen Melancholie ist das fast schon ein bisschen schade, aber es ist auch höchst konsequent. Nationsgründung und -werdung, Frontier-Mythen, Zivilisierung des Westens – all das spielt keine Rolle in LA NOTTE DEI SERPENTI. Giulio Petroni erschafft, ja „erfindet“ quasi das Genre „neu“ aus einer Atmosphäre existentieller Melancholie heraus, die mit typischen Westernmotiven erst einmal nicht viel zu tun hat.
Der Punkt mit dem versehentlichen Töten, den Till Kleinert angesprochen hat, ist noch mal eine Erwähnung wert. In LA NOTTE DEI SERPENTI werden tatsächlich mindestens vier Personen „aus Versehen“ getötet. Ein Postkutscher wird gleich in der ersten Minute des Films so geohrfeigt, dass er mit seinem Kopf unglücklich an seine Nachtkommode stößt. Luke schlägt einen der Intriganten, offensichtlich ohne Absicht, ihn zu töten, aber einer der Schläge tötet ihn schließlich. Jesus-Maria schließlich erschlägt oder erwürgt Dolores offenbar im Affekt (man sieht aber die Todesursache nicht). Und schließlich hat Luke auch in seiner Vergangenheit einen Menschen „aus Versehen“ getötet. Hitchcocks Postulat aus TORN CURTAIN, nämlich dass es unfassbar schwer ist, mit bloßen Händen einen Menschen zu ermorden, wird hier in sein Gegenteil verkehrt: Menschen sterben wie die Fliegen, obwohl oftmals nicht mal eine Tötungsabsicht vorhanden ist. Hier wäre neben der existentiellen Verzweiflung der Hauptfigur wieder ein Bezug zu DETOUR, wo der Protagonist Al Roberts – wohlgemerkt in seiner eigenen, subjektiven Erzählung – „aus Versehen“ zwei Menschen tötet. Vielleicht hat LA NOTTE DEI SERPENTI hier ein ganz anderes Verhältnis zu Gewalt als andere Italowesterns. Zumindest aus den Leone-Westerns fällt einem dieses Bild ein: jemand wird verprügelt, gefoltert oder kaltblütig ermordet und irgendeine Figur (nicht unbedingt der Täter, sondern vielleicht ein Zuschauer aus der Täterbande) quittiert das mit einem sadistischen Lachen. In Petronis Film hat niemand Spaß an Gewalt. Nachdem Luke sich geweigert hat, den jungen Erben Manuel zu ermorden, wird der Tavernenbesitzer von Hernandez mit der Aufgabe betraut. Dem wird bei dem Gedanken, seinen jungen Helfer (Manuel hilft bei ihm Saubermachen in der Taverne) zu töten, ganz mulmig. Er zögert lange, schiebt das ganze auf, schließlich lockt er den Jungen unter fadenscheinigen Argumenten zur Pferdetränke und versucht ihn darin zu ertränken. Dabei weint der Wirt bittere Tränen. Als Luke ihn erwischt und erschiesst, um Manuel zu retten, könnte man fast Erleichterung in seinem Gesicht sehen. Ein Gewalttäter mit sadistischem Lachen oder mit melancholischem Weinen – letzteres ist vielleicht noch wesentlich unerträglicher anzusehen.
Ich habe jetzt schon eine ganze Menge zu LA NOTTE DEI SERPENTI, dem besten Film des diesjährigen Terza Visione geschrieben, aber wir müssen auch mal bald weitermachen mit dem telepathischen Insektenmädchen. Nur so viel: nach einer extrem ernüchternden Wiedersichtung von Leones PER UN PUGNO DI DOLLARI im Mai dieses Jahres hatte ich Italowesterns in der Liste meiner Sichtungsinteressen etwas heruntergestuft. Jetzt weiß ich: man muss jenseits der drei großen Sergios (Leone, Corbucci, Sollima) nur das Richtige finden. Und genau das hat das Orga-Team des Terza Visione auch getan. Dafür ein großes Dankeschön!
P.S.: Habe ich schon erwähnt, wie großartig Luke Askew als Luke eigentlich ist?



ab 22.30 Uhr

PHENOMENA
Regie: Dario Argento
Italien 1985, 107 Minuten
Irgendwo in den Schweizer Bergen bringt ein irrer Serienmörder junge Teenager-Mädchen um. Die junge Amerikanerin Jennifer (Jennifer Connelly) wird in ein Internat in Tatortnähe untergebracht. Sie ist Schlafwandlerin und kann telepathisch mit Insekten kommunizieren. Von dem Entomologen McGregor (Donald Pleasance) ermutigt bricht das Mädchen zusammen mit einer Leichenfliege auf, um den Mörder zu finden.
Mein erster Argento auf großer Leinwand. Vielleicht hatte ich zu große Erwartungen, aber die ultimative Epiphanie war das nicht. PHENOMENA ist nicht PROFONDO ROSSO, oder SUSPIRIA, oder OPERA. Aber vielleicht hatte Terza Visione bis zu diesem Zeitpunkt schon im positiven Sinne zu sehr auf mich abgefärbt. Die Vergleichsebene war ja nicht „mittelmäßiger Allerlei-Film digital auf Leinwand/DVD-Sichtung VS. Argento auf großer Leinwand“, sondern „tolle Filmauswahl in 35mm auf großer Leinwand UND zusätzlich Argento auf großer Leinwand“. Als Kino-Erlebnis haben mich der Bava und der Fulci und der Questi und der Petroni mehr beeindruckt.
Was aber für Terza Visione insgesamt gilt, trifft auch auf PHENOMENA zu: wenn ich jammere, dann ausschließlich auf hohem Niveau. Da ich gerade beim Jammern bin: PHENOMENA gilt bisweilen als Argentos Insektentelepathiequatsch-Film und deshalb für manche als der Beginn vom Ende in Argentos Filmografie. Ich hätte mir im Gegenteil noch mehr Insektentelepathiequatsch in diesem Film gewünscht. Weniger Mördersuche und mehr Szenen der Liebe und der Zärtlichkeit zwischen Jennifer und den Insekten. Aber das ist wie gesagt Jammern auf hohem Niveau.
Anderswo wird PHENOMENA als emotionaler und zärtlicher als die bekannteren Argento-Filme bezeichnet (hier etwa in der tollen Besprechung von Oliver Nöding) bzw. als Film, in dem Argento schon rein sozialgeografisch seine Komfortzone verlässt (hier in der Besprechung von André Malberg, der wahrscheinlich auch bei der Vorführung anwesend war, bei Eskalierende Träume). Dazu vielleicht eins von mir: PHENOMENA enthält die wahrscheinlich gewalttätigste Szene in Argentos mir bislang bekanntem Werk. Es ist der Moment, wo Jennifer merkt, dass in ihrem Zimmer geschnuppert wird, ihre Briefe durchgelesen werden, alle „Indizien“ willkürlich gegen sie verwendet werden, die autoritäre Obrigkeit des Internats und ihre verständnislosen, gemeinen Mitschülerinnen eine unheilvolle Allianz gegen sie gebildet haben. Als sie wegläuft, rennen ihr Mitschülerinnen nach und werfen ihr (verbal und gar auch physisch) Sachen an den Kopf. Nun, hier werden nicht in ultra-stilisierter, hyper-ästhetisierter und formalistischer Weise Körper mit spitzen Gegenständen zerstört, sondern auf vergleichsweise nüchterne, triviale Weise eine Seele angegriffen. Das ist qualvoller anzusehen. In nur wenigen Minuten und einfachen, unvergesslichen Bildern hält der von einigen gerne als weltfremder und gefühlloser Formalist geschmähte Argento die Essenz von Schüler-Mobbing emotional ergreifender und lebensnaher fest als ich es bislang je anderswo in künstlerischer Form erlebt habe – ohne das ganze dabei im eigentlichen Sinne überhaupt zu „thematisieren“. Wie präzise er dabei auch zeigt, dass diese verfluchten Lehrer selbstverständlich auf Seiten der Mehrheit sind, und das Gefühl der Erniedrigung und Isolation, die die Opfer haben, perverserweise zu deren Ungunsten instrumentalisieren, weil das so verdammt bequem ist. Nur eine kurze Nebenszene (zugegeben: mit kleinem Vorlauf)! In einem Argento-Giallo mit Insektentelepathiequatsch! Vielleicht zeigt dieser Moment mehr als alles, wie großartig Argento ist.
Als ob das schon nicht genug wäre, findet das ganze noch einen Ausgang in der großen, wunderbaren Insektenbeschwörung. Jennifer, sichtlich wieder vollkommen souverän, hell erleuchtet, mit einem frischen Wind, der ihr die Haare aus dem Gesicht weht, sagt „I love you!“. Sie sagt es zu den Insekten, aber natürlich wirkt es nach den Niederträchtigkeiten, die sie eben erlebt hat, auch wie die Manifestation eines fast übermenschlichen Vergebungswillens. Toll! (hier der letzte Teil dieser Szene)


Mit dem Dritten sieht man besser

Einer der Filmvorführer des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt soll die Organisatoren nach einem Test im Angesicht von ROLF gefragt haben, ob sie denn überhaupt keine „Untergrenze“ hätten. Oh, doch! Die Qualitäts-„Untergrenze“ war ziemlich hoch. Ich glaube, dass viele viele viele Dutzende Menschen das gleiche sagen können wie ich: das 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms war eine richtig schöne Veranstaltung mit einem extrem gut zusammengestellten Programm.

Gefehlt hat vielleicht ein Piratenfilm... Es war das erste Terza-Visione-Festival, das nicht im Nürnberger Komm-Kino, der Heimbasis der Eskalierenden Träumer und Freunde, stattfand, sondern im Deutschen Filmmuseum – und irgendwie werde ich das Bild nicht los, dass Abenteurer der abseitigen Filmkultur einen Panzerkreuzer der offiziösen deutschen Filmmarine gekapert haben. Ein Marsch durch die Institutionen, bei dem nicht die Eskalierenden Träumer sich institutionalisierten, sondern die Institutionen zum Eskalieren und Träumen gebracht wurden. Vielleicht sehe ich das alles zu sehr aus der Perspektive der cinematographisch desertifizierten Region Thüringen, aber wenn Eskalierende Träumer für ein komplettes Wochenende entscheiden können, was in einem offiziell-offiziösen Deutschen Filmmuseum im Programm lief und damit auch noch so durchschlagenden Erfolg hatten, dann gibt es doch Hoffnung für die Filmkultur in Deutschland. Weiter so!


Persönliches Ranking

Ganz ganz groß

LA NOTTE DEI SERPENTI

ROLF

UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA

ARCANA


Herausragend

UN UOMO DA RISPETTARE

PHENOMENA

DIABOLIK

LA FINE DELL‘INNOCENZA


Sehr gut

IL MAGNIFICO AVVENTURIERO


Ganz okay

INGRID SULLA STRADA

CHI È SENZA PECCATO...

LA SPOSINA


Geht so

LA RIVOLTA DEI SETTE


Nicht klassifizierbar – mit großer Vorsicht zu behandeln

SVEZIA INFERNO E PARADISO/SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES?