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Montag, 11. September 2017

Doktor Schizo und Mister Questi

Sieben Spätwerke von, mit und über Giulio Questi

Bis vor einiger Zeit hatte ich schon gelegentlich vom italienischen Regisseur Giulio Questi (1924-2014) gehört, aber ich wusste fast nichts über ihn und kannte keinen seiner Filme. Dann besprach zunächst Blogger-Kollege Funxton Questis zweiten Spielfilm LA MORTE HA FATTE L'UOVO und machte mich schon mal sehr neugierig. Als dann noch David in seinem Bericht vom 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms Questis dritten und letzten Spielfilm ARCANA in den höchsten Tönen lobte, wollte ich diesen Film unbedingt sehen (zu Recht, wie ich jetzt nach der Sichtung weiß). Als "Beifang" der Suche danach ging mir eine italienische Box mit zwei DVDs ins Netz, die unter dem Titel "by GIULIO QUESTI" sieben der letzten Filme Questis versammelt. Es handelt sich dabei um Kurzfilme, die Questi mit einer preiswerten Consumer-Digitalkamera von Canon ganz allein gedreht hat - er war einziger (in gewissem Sinn Selbst-)Darsteller (mit einer einzigen Ausnahme, siehe unten) und er führte gleichzeitig die Kamera und übernahm Beleuchtung, Ton, Schnitt und alle sonstigen technischen Aufgaben. Also eine ziemlich solipsistische Sache, und passend dazu erscheint am Anfang jeden Films der schlichte Schriftzug "La SOLIPSO FILM presenta". Und die Endcredits bestehen jedes Mal aus dem ebenso schlichten "by Giulio Questi", gefolgt von Monat und Jahr der Entstehung, und es werden noch die Komponisten der jeweils verwendeten Musik genannt (ohne die einzelnen Stücke zu benennen).

Giulio Questi in MYSTERIUM NOCTIS
Questi drehte die Filme von 2002 bis 2006, im Alter von 78 bis 82, in seiner eigenen Wohnung in Rom (wiederum mit einer Ausnahme). Ein Stefano Consiglio führte 2007 zum vorläufigen Abschluss des Zyklus ein 50-minütiges Videointerview mit Questi über seine Motivation und seine Vorgehensweise bei den Filmen, das unter dem Titel IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI ebenfalls in der DVD-Box enthalten ist. Aus diesem Film erfährt man, dass sich Questi von den äußerst beschränkten Produktionsbedingungen zu kreativen Lösungen für Probleme anregen ließ, die es mit mehr Personal (und Einsatz von Geld) gar nicht geben würde. So könnte man meinen, weil Questi sowohl Kameramann als auch einziger Darsteller ist, müsste es nur Szenen mit statisch montierter Kamera (oder allenfalls noch Szenen mit subjektiver Kamera) geben, aber das ist nicht der Fall. In einem der Filme geht etwa einer der Protagonisten (also Questi) einen Flur entlang, und die Kamera "schwebt" fast in Bodenhöhe vor ihm und filmt aus gleichbleibendem Abstand die gehenden Füße und Unterschenkel (dasselbe Motiv gibt es übrigens auch schon in ARCANA). Normalerweise würde hier die Kamera auf einem Dolly montiert sein, der von einem Techniker gezogen (oder gar computergesteuert bewegt) wird. Doch Questi legte die Kamera einfach nur auf einen Putzlappen, den er beim Gehen mit einem nicht im Bild sichtbaren Schrubber vor sich her schob. Klingt absurd, hat aber funktioniert. Dennoch war Questi durch seine Vorgehensweise auf die Bedingungen des ganz frühen Films zurückgeworfen (wie er in IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI sagte). Beim Drehplan gönnte sich Questi alle Freiheiten. Er stand auf, und wenn er Lust hatte zu drehen, dann drehte er, und sonst eben nicht - morgen ist auch noch ein Tag. Drehbücher gab es ohnehin nicht, Questi entschied alles spontan nach Laune und den Einfällen, die er hatte. Wie Questi im Interview sagte, war er bei den Filmen zwar Kameramann, Tontechniker, Beleuchter und Cutter, aber nicht Regisseur. Die Aufgabe eines Regisseurs besteht ja darin, anderen Leuten zu sagen, was sie tun sollen, und das erübrigte sich hier. So lehnte er im Gespräch mit Consiglio die Bezeichnung "Regisseur" für seine Funktion ausdrücklich ab, und in den Credits steht eben auch immer nur das summarische "by Giulio Questi". Er macht in IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI auch einige Bemerkungen über seine Kinofilme, aber das ist wenig ergiebig. Wer wissen will, was ihn damals, um 1970 herum, umtrieb, der muss sich nach anderen Quellen umsehen.

Questi mit seiner Digitalkamera (IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI)
Wie David in seinem Bericht vom Terza Visione schrieb, war Questi ein "cinéaste maudit des italienischen Kinos". Er wurde 1924 im lombardischen Bergamo geboren. Zunächst Journalist und Schriftsteller, war er ab den späten 40er Jahren beim Film, als Regieassistent und als Regisseur von Dokumentar- und Kurzfilmen. In der ersten Hälfte der 60er Jahre steuerte er Segmente zu drei Episodenfilmen bei, nämlich LE ITALIENE E L'AMORE (DIE ITALIENERIN UND DIE LIEBE), der gleich elf Episoden (und ebensoviele Regisseure) aufweist, dem dokumentarischen NUDI PER VIVERE (Regie gemeinsam mit Elio Petri und Giuliano Montaldo, wobei alle drei Regisseure zusammen unter einem Pseudonym firmierten) sowie AMORI PERICOLOSI (gemeinsam mit Carlo Lizzani und Alfredo Giannetti). NUDI PER VIVERE wurde aus mir nicht bekannten Gründen von der Zensur verboten. Dann schritt Questi zu seiner Solokarriere, doch die erbrachte nur drei Spielfilme. SE SEI VIVO SPARA (TÖTE, DJANGO) von 1967 ist einer der rabiatesten Italowestern, mit Ausflügen ins Surreale. LA MORTE HA FATTE L'UOVO (DIE FALLE, wörtlich "Der Tod hat ein Ei gelegt") von 1968 zelebriert groteske Kapitalismuskritik im Gewand eines Giallo (mehr darüber in Funxtons Artikel). Und schließlich 1972 der schwer fassbare ARCANA, der sich jeder Schublade entzieht. Alle drei Filme floppten an der Kasse, und ARCANA war sogar so erfolglos, dass der Verleih angeblich alle Kopien bis auf eine vernichtete. Questis Karriere als Kinoregisseur war damit vorbei. Nach einigen Jahren Pause, die er wohl hauptsächlich mit Schreiben verbrachte, kam Questi um 1980 beim italienischen Fernsehen unter. Er inszenierte mehrere Einzelfilme sowie zwei Krimi-Miniserien (die beide auch in Deutschland liefen). Diese zweite Karriere dauerte bis Mitte der 90er Jahre, dann war erst mal wieder Sendeschluss - bis Questi auf die Idee kam, sich eine Digitalkamera zu kaufen. Nach den sieben Filmen, die es auf die schon 2008 erschienene DVD-Box schafften, drehte Questi von 2009 bis 2011, nun schon im sehr fortgeschrittenen Alter, noch drei weitere Filme mit seiner Solipso Film als Produktionsfirma, also wohl im ähnlichen Stil und Produktionsmodus wie die hier besprochenen Filme. Doch bei einem dieser drei Filme wirken neben Questi immerhin auch noch eine ganze Reihe von weiteren Darstellern mit (wohl Laiendarsteller, denn die meisten weisen nur diesen einen Film auf). Daneben beteiligte sich Questi 2011 auch noch neben mehreren anderen Regisseuren an einer Doku eines Fernsehsenders mit irgendeinem geschichtlichen Thema. 2014 starb Questi mit 90 Jahren in Rom. Bis zuletzt war er auch schriftstellerisch aktiv.

Ein Dolly braucht keine Räder (IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI)
Obwohl die sieben Filme, die ich nun vorstellen werde, über die DVD-Box schon seit fast einem Jahrzehnt auch international leicht zugänglich sind (die Scheiben sind regionalcodefrei, englische Untertitel gibt es auch, und die Box kostet auch nicht viel), haben sie es merkwürdigerweise bis jetzt weder in die IMDb noch in die deutsche und englische Wikipedia geschafft. Selbst in der italienischen Wikipedia werden sie nur summarisch erwähnt, aber nicht mit Titel und Entstehungsjahr aufgelistet. Deshalb bin ich nicht sicher, ob die sieben Filme auf DVD und die danach entstandenen drei Filme (die es in die IMDb geschafft haben) wirklich alles sind, was Questi mit der Digitalkamera gedreht hat.



DOCTOR SCHIZO E MR. PHRENIC
2002
Musik: Carl Orff, W.A. Mozart
14:24 min

Mr. Phrenic und Dr. Schizo
Ein alter Mann (Giulio Questi) sitzt in seiner Wohnung an einem Tisch und liest in einem Band mit altgriechischer (ins Italienische übersetzter) Lyrik. Er liest nicht laut, aber man hört Questis Stimme aus dem Off mit den Gedichten - man lauscht sozusagen in seinem Kopf. Dazu Zwischenschnitte auf die Einrichtung der Wohnung, die fast wie Stilleben wirken (neben den üblichen Utensilien und Krimskrams, darunter ein gezeichnetes Portrait von Orson Welles und eine Kopie der Venus von Willendorf, vor allem viele Bücher), und in den Lyrik-Pausen hört man Musik von Mozart, danach Orffs "Carmina Burana". (Leider ist die Musik knisternd und verrauscht - Questi hat hier offenbar schon oft abgespielte Schallplatten benutzt, statt ein paar Euro in neue CDs zu investieren. Doch das bleibt eine Ausnahme, in den anderen Filmen ist der Ton in Ordnung.) Doch was ist das? Im dunklen Flur verriegelt jemand von innen die Wohnungstür. Die Gestalt trägt dunkle Handschuhe, und im ersten Moment könnte man an das klassische Utensil eines Giallo-Mörders denken, doch bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass es sich um Haushaltshandschuhe aus Gummi handelt. Der Eindringling (ist er überhaupt einer?), der durch eine Strumpfmaske vermummt ist, schleicht durch einige Räume der Wohnung und benimmt sich dabei merkwürdig - es scheint sich jedenfalls um keinen normalen Einbrecher zu handeln. Während der alte Mann die griechische Lyrik beiseite gelegt hat und nun in Walt Whitmans klassischem Gedichtband "Grashalme" liest, greift sich der unheimliche Gast ein großes Fahrtenmesser, nähert sich dem Mann, der nun laut und in pathetischem Tonfall liest, von hinten und sticht ihn brutal in den Rücken, dass das Blut (oder verdünnte Ketchup) nur so spritzt und der arme Mann sein Leben aushaucht. Und nun folgt der beste Moment des Films: Der Mörder lässt sich erschöpft in einen Stuhl fallen und zieht sich die Maske vom Gesicht - es ist derselbe Mann, Giulio Questi. Und er gibt einen erleichterten Stoßseufzer von sich: "Ah! Endlich! Er und seine Gedichte! Unerträglich! Sappho, Anakreon, Whitman!" Und dann sticht er dem Toten gleich noch einmal in den Rücken. Nachdem er zur Ruhe gekommen ist, ruft er das zuständige Polizeirevier an und gesteht den Mord: Er, Dr. Giulio Schizo, habe gerade in seiner (!) Wohnung einen Mann getötet, einen Mr. Giulio Phrenic, mit dem er schon seit 78 Jahren zusammenlebte. Er habe ihn einfach nicht mehr ertragen können. Und dann äußert er noch eine Bitte: Wenn die Polizei zu ihm kommt, soll sie doch die Sirene möglichst laut aufdrehen, weil er das liebt!

Blutbad
Zweimal das Gesicht von Questi, zweimal Giulio, Schizo-Phrenic und Jekyll/Hyde, und zur Erinnerung, 2002 war Questi 78 Jahre alt. Am Telefon mit der Polizei nennt Dr. Schizo sogar seine (Questis) echte Adresse in Rom, Via Tiepolo 11. Questi hat diesen schönen kleinen Film also über sich selbst gedreht, natürlich auf einer metaphorischen Ebene und mit einer gehörigen Portion Selbstironie versehen.



LETTERA DA SALAMANCA
2002
Musik: Ludwig van Beethoven
20:33 min

Der Cavalier Nada de Nada y Nada
Ein alter Mann (natürlich wieder Questi) blättert in seiner Wohnung in einem Bildband mit Werken von Man Ray, als es an der Tür klingelt. Niemand ist da, doch eine Visitenkarte wurde unter die Tür geschoben - sie ist von einem Cavalier Nada de Nada y Nada (also auf Deutsch sinngemäß von einem Ritter von und zu Nichts), seines Zeichens Professor der Theologie an der Universität Salamanca. Und wie aus dem Nichts kommend, ist dieser spanische Edelmann und Gelehrte (auch Questi) plötzlich doch in der Wohnung - und unter der Krempe eines Schlapphutes ist sein Gesicht vollständig in schwarzen Schatten getaucht. Ein auf Anhieb äußerst unheimlicher Zeitgenosse. Als er zu sprechen beginnt, klingt seine Stimme kaum menschlich - es ist ein schwer verständliches, ebenso mechanisch wie melodisch klingendes Gebräu, das vielleicht mit einem Vocoder oder einem ähnlichen Gerät aus Questis Stimme erzeugt wurde. Die Hoffnung des Bewohners (ich nenne ihn jetzt einfach mal Questi), dass ihm der Professor aus Salamanca einen Ehrendoktortitel seiner Universität antragen möge, wird nicht erfüllt. Vielmehr übergibt Nada de Nada y Nada (der darum bittet, einfach "Herr Nichts" genannt zu werden) einen Brief des Dekans seiner Fakultät, und daraus erfährt Questi eine erstaunliche Geschichte: Da Computer nun auch in der Theologie Einzug gehalten haben, haben die Professoren der Fakultät es mit Hilfe eines begabten Hackers (des Sohns des Hausmeisters) geschafft, in den Universellen Computer einzudringen und gewisse Fragmente der Absoluten Datei zu erbeuten, in der der Wille Gottes niedergelegt ist! Unter den abgesaugten Daten befanden sich auch Informationen zum Schicksal individueller Menschen - darunter das Todesdatum von Questi. Da sahen es die Theologen als ihre Pflicht an, ihm diese Information nicht vorzuenthalten - sie steckt in einem versiegelten Umschlag, der dem Brief beiliegt. Es wird Questi anheimgestellt, ob er den Umschlag öffnen will oder nicht. Nebenbei bringt Questi (der Regisseur oder vielmehr Nichtregisseur) auch hier wieder etwas Lyrik unter, vom spanischen Dichter Eloy Santos (der 1963 in Salamanca geboren wurde).

Ein Toter kehrt vorübergehend ins Leben zurück
Questi (der Protagonist) entscheidet sich, den Umschlag zu öffnen und seinen Todestag zu erfahren - es ist der 6. November 2002. Natürlich hat man als Zuschauer erwartet, dass genau heute, am Tag der Handlung, der Tod zuschlagen soll, doch falsch gedacht - der Film spielt am 9. November, das vorgesehene Datum ist also schon vorbei. Doch der Besucher - der, was man eh schon ahnte, sich als Gevatter Tod entpuppt - entschuldigt die Verzögerung damit, dass er am Ort eines Flugzeugabsturzes ein erotisch-theologisches Zusammensein mit einem weiblichen Skelett hatte, das ihn etwas aufhielt. Questi als ein Mann von Welt werde dafür sicher Verständnis aufbringen, meint er. Das tut Questi auch, denn er wähnt sich auf der sicheren Seite, da das Datum ja nun abgelaufen sei. Doch da wird er eines Besseren (oder für ihn Schlechteren) belehrt: Das Verdikt gilt immer noch und wird eben zum erstmöglichen Termin (also jetzt) erfüllt. Questi will sich mit Argumenten herauswinden, doch es hilft alles nichts. Der Tod teilt ihm mit, dass er eigentlich schon gestorben und in seiner jetzigen Inkarnation eigentlich nur ein Traum des toten Questi sei. Als ihm der leichte Verwesungsgeruch in der Wohnung als Beweis nicht ausreicht, wird Questi aufgefordert, doch mal ins Schlafzimmer zu schauen - und tatsächlich, da liegt der tote Questi im Bett. Während der bisherige Questi nun aus der Handlung verschwindet, erhebt sich der Tote - quasi in einer letzten Anstrengung, doch noch ins Leben zurückzukehren - splitternackt aus dem Bett, schlurft duch die Wohnung und versucht dann, die Universität Salamanca anzurufen. Doch während er noch auf die Verbindung wartet, nimmt ihm eine Hand (im selben Gummihandschuh wie die von Dr. Schizo) den Hörer aus der Hand. Der vorübergehend verschwundene Señor Nada de Nada y Nada ist wieder da - die Frist ist endgültig abgelaufen. Und diese morbid-makabre Reflexion eines alten Mannes über den Tod - seinen eigenen Tod (der dann allerdings noch zwölf Jahre auf sich warten ließ) - ist zu Ende. - Wieso entschied sich Questi für Salamanca und nicht für Bologna, das über eine ähnlich alte und ehrwürdige Universität verfügt? Vielleicht liegt es neben dem Bezug zu Eloy Santos auch daran, dass nach einer alten Geschichte der Teufel persönlich theologische Vorlesungen in Salamanca gehalten haben soll.



TATATATANGO
2003
Musik: Carlos Gardel
13:45 min

Am Anfang des Films sieht man den Buchdeckel einer italienischen Ausgabe von Georg Groddecks klassischem psychoanalytischem Werk "Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin" (Freud hat das "Es" von Groddeck übernommen), danach "Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe" des Symbolisten Marcel Schwob, und Emmanuelle Arsans "Emmanuelle" kommt auch noch ins Bild - damit wird schon mal ein bisschen angedeutet, in welche Richtung es geht. Und dann werden wir zur Tangomusik von Carlos Gardel Zeuge eines blutigen Eifersuchtsdramas in einer Wohnung, die wir wieder in der Via Tiepolo ansiedeln können. Ein Mann und eine Frau umarmen und küssen sich - dass sie beide Plastikmasken tragen, stört sie dabei nicht weiter. Der Mann greift der Frau an die Brüste, doch die sind auch aus Plastik, dann zwischen die Beine - hier ist nun nichts aus Plastik, doch in Wirklichkeit greift sich Questi selbst zwischen die Beine, so geschickt gefilmt, dass man das tatsächlich für den Körper einer Frau halten kann. Doch unbemerkt von den beiden schleicht sich ein zweiter Mann herbei, vielleicht der Ehemann der Dame, und beobachtet das Treiben - anscheinend eifersüchtig, doch auch er trägt eine Maske. Schließlich zückt er einen Revolver und schießt das Liebespaar über den Haufen, und wieder spritzt das Blut (oder Ketchup), dass es eine wahre Freud' ist. Dann setzt er sich aufs Klo und schießt sich in die Schläfe - und richtet auch auf den Fließen der Wand eine feucht-rote Sauerei an.

Sauerei im Bad
Die von Nachbarn alarmierte Polizei in Person des Kommissars und seines Assistenten (von Ersterem sieht man das Gesicht nur schräg von hinten, und von Letzteren sieht man überhaupt nur die Füße) wundert sich über die Masken. Zuerst wird dem Mörder die Maske abgenommen, und wie man schon im Voraus weiß, wenn man die beiden vorherigen Filme gesehen hat, kommt darunter Questi zum Vorschein. Dann wird das männliche Opfer demaskiert, und natürlich ist es auch Questi, und die Verwunderung des Kommissars nimmt noch zu. Als aber hinter der Maske der Frau auch wieder Questi erscheint, ruft der Kommissar entgeistert "Nein! Nicht schon wieder! Perverser!" und begutachtet die Plastiktitten (die wohl eigentlich für den Fasching gedacht sind). Und dann denkt er nach - und kommt zum Schluss, dass hier weder der Gerichtsmediziner noch ein Psychiater von Nutzen sein können. Jede Erklärung, die auf eineiige Drillinge, Klone oder dergleichen zurückgreift, bezeichnet er als offenkundigen Unsinn - nein, hier ist etwas Höheres im Spiel! Und er fragt den Assistenten, ob er schon von der Heiligen Dreifaltigkeit gehört hat? Da das offenbar eine hässliche theologische Angelegenheit ist und er nichts falsch machen will, erklärt er die Untersuchung am Tatort für vorläufig beendet und kündigt an, sich mit dem zuständigen Kardinal in Verbindung zu setzen ...

Der Kommissar wundert sich über das, was er vorfindet
Was will Questi uns mit diesem Film sagen? Ich weiß es nicht genau, aber auf jeden Fall handelt es sich um eine thematische Variation des ersten Films. Nur gibt es jetzt nicht zwei, sondern drei Inkarnationen von Questi. Sozusagen eine multiple Persönlichkeit, oder, mehr theologisch gesprochen, eine schizophrene Dreifaltigkeit.



MYSTERIUM NOCTIS
2004
Musik: Alban Berg, Arnold Schönberg
34:52 min

Ein Freund der Dunkelheit, der zur Strecke gebracht werden muss
In der Wohnung, die wir nun schon kennen, ist für längere Zeit der Strom ausgefallen, und der Bewohner, den wir natürlich wieder Questi nennen, behilft sich nachts mit Kerzen und einer Taschenlampe. Doch Questi kommt mit der nur höchst unzureichend erleuchteten Dunkelheit psychisch nicht zurecht, er entwickelt eine Art von depressivem Wahn. Am dritten Tag beginnt er Tagebuch zu führen. Wie ein halbverrückter Protagonist von Poe bringt er seine wirren Gedanken zu Papier, und über Questis Stimme aus dem Off haben wir daran Teil. Ein schabendes, kratzendes Geräusch, das irgendein Insekt verursacht, nimmt er in unnatürlicher Lautstärke wahr, und er fühlt sich davon bedroht. Questi entschließt sich zum Gegenschlag. In einer vielbändigen Enzyklopädie recherchiert er bei Kerzenlicht, dass es sich bei dem Störenfried um einen Vertreter der Art tenebrione (Mehlkäfer, aus der Gattung der Schwarz- oder Dunkelkäfer, lat. Tenebrionidae) handeln muss, einem "Freund der Dunkelheit" (wie es in der Enzyklopädie heißt), dessen Name von tenebra (Nacht, Dunkelheit, das (auch moralisch) Dunkle an sich) abgeleitet ist. Freund der Dunkelheit! Das kann kein Zufall sein. Er muss diesen Feind zur Strecke bringen! Schließlich spürt er ihn auf - doch kein reales Exemplar, sondern eine Abbildung in einem illustrierten Insektenbuch - und erschlägt ihn mit der flachen Hand. Aber dem Triumph folgt schnell Ernüchterung, denn nun läuft plötzlich das Wasser im Bad. Wie kann das sein? Gibt es etwa noch jemand in der Wohnung? Questi muss auf der Hut sein!

"Nur 99,90 Euro, Ratenzahlung möglich!"
So geht das noch eine Weile dahin. Da Questi Fenster und Wohnungstür verrammelt hat, wird für ihn auch der Tag zur endlosen Nacht. Er hat eine unvermutete Begegnung mit einer Art von Geist, der sich später als Lauren Bacall entpuppt, und plötzlich geht von selbst der Fernseher an und überschüttet ihn mit einem rasenden Wort- und Bilderschwall, in dem sich Unfälle, Katastrophen und Gewaltausbrüche aller Art mit Werbung abwechseln. Spontan fragt man sich, ob es wirklich Questi ist, der verrückt ist, oder nicht doch die Welt da draußen. Aber letztlich ist das auch nur ein Hirngespinst. "Der Satellit hat aufgehört zu kotzen", so umschreibt Questi das Ende dieser Episode im Tagebuch. Nach sieben Tagen Stromausfall klingelt es plötzlich an der Tür. Es klingelt? Dann muss der Strom ja wieder da sein. In der Tat, so ist es. Widerwillig öffnet Questi die Tür, und vor ihm steht ein zweibeiniges sprechendes Schwein, oder wenigstens ein Mann mit einer Schweinemaske aus Plastik. Auf jeden Fall handelt es sich um einen Vertreter, der Questi einen Staubsauger andrehen will, für nur unglaubliche 99,90 Euro, Ratenzahlung möglich! Der ganz normale Wahnsinn hat Questi wieder. Und er kauft den Staubsauger - er ist nicht in der Lage, "nein" zu sagen. Die Normalität kann ziemlich wundervoll sein, schreibt er zuletzt in das Tagebuch. - Diesmal gibt es also nur einen Questi in der Wohnung, doch der lebt in einer reichlich kafkaesken Welt, die er sich in seinem Kopf selbst zusammenspinnt. Aber vielleicht ist es ja doch der Wahnsinn der Welt, der den Wahnsinn von Questi bedingt. Jedenfalls scheint Questi (der Filmemacher) so etwas sagen zu wollen.



REPRESSIONE IN CITTÀ
2005
Musik: W.A. Mozart, Béla Bartók
25:24 min

Ein Agent der Gay-Lussac-Spezialeinheit
Auch hier gibt es nur einen Questi in seiner Wohnung, und am Beginn des Films nimmt er ein Bad. Doch während er in der Badewanne liegt und sich von einer Mozart-Arie berieseln lässt, brechen zwei Männer in die Wohnung ein. Zur "Begrüßung" drücken sie ihn erst einmal unter Wasser, als wollten sie ihn ertränken, doch rechtzeitig wird der nach Luft japsende Questi wieder emporgelassen. Und nun stellen sich die beiden Herren (die wieder einmal Maske tragen) vor: Sie sind von der städtischen Gasgesellschaft, und zwar von der Gay-Lussac-Spezialeinheit. Sie wurden zu Questi geschickt, weil er in seiner Wohnung permanent gegen das Gesetz von Gay-Lussac verstoße, und so etwas kann natürlich nicht geduldet werden. Questi hat keine Ahnung, wovon die Rede ist, und er protestiert energisch, aber völlig erfolglos gegen die Vorgehensweise der Gas-Spezialagenten. Und jetzt geht es erst richtig los: Questi wird eine Injektion mit einer Wahrheitsdroge verpasst, weil er leugnet, etwas über den Zusammenhang von Druck, Volumen und Temperatur zu wissen. Es wird zu seinem Nachteil ausgelegt, dass sich in seinem Bücherregal vor allem Lyrikbände finden (und es wird kurz ein Gedicht von Sylvia Plath zitiert). Weil Questi nach wie vor leugnet, das Gesetz von Gay-Lussac gebrochen zu haben, wird die Schraube angezogen: Einer der Männer bohrt mit einer Bohrmaschine ein Loch in den Oberarm des schreienden Questi. Doch selbst das ist noch nicht alles. Da Questi immer noch kein Geständnis ablegt und ihm als Motiv "molekulare Unterschlagung" und "metaphysischer Gebrauch" unterstellt wird - natürlich hat er wieder keine Ahnung, wovon die Rede ist -, wird er immer schärfer bedrängt. Als letzter Beweis seiner Schuld wird ein Gedicht vorgebracht, das er selbst als "Jugendsünde" verfasst hat. Der nächste Eskalationsschritt besteht darin, ihm mit einem Schneidbrenner die Füße zu verbrennen. Und als letzter Akt der "Läuterung" wird dem vor Schmerz und Angst kreischenden Questi mit einem Löffel ein Augapfel herausgetrennt und in die Hand gedrückt. Wenn er diesen Augapfel nun (mit seinem verbleibenden Auge) ansehe, werde er daraus die Weisheit und Einsichten gewinnen, die er in den Gedichten vergeblich suche, meinen die beiden Herren von der Spezialeinheit.

Mit dem Zweiten sieht man (jetzt nicht mehr) besser
REPRESSIONE IN CITTÀ ist der am offensten politische Film des Zyklus, denn natürlich steht die Gasgesellschaft stellvertretend für den Staat, für die internationalen Konzerne, für die Gesellschaft insgesamt, die den Einzelnen im erbarmungslosen Würgegriff halten. Während in MYSTERIUM NOCTIS das Kafkaeske in Questis Kopf stattfindet, ist es in REPRESSIONE IN CITTÀ die Realität. Ach ja: Am Ende brät Questi das Auge in einer Pfanne auf dem Gasherd ...



VACANZE CON ALICE
2005
Musik: Maurice Ravel
17:08 min

Im Wald des Schwarzen Priesters
Das ist der Film der beiden Ausnahmen - Questi ist nicht der einzige Darsteller, und es wurde nicht in seiner Wohnung gedreht, sondern in einem Häuschen in einer bergigen Gegend und im benachbarten Wald. Vielleicht machte Questi da gerade Urlaub, vielleicht ist er auch nur zum Drehen hingefahren. Noch eine Besonderheit gibt es: Der Film wird im Vorspann Lewis Carroll gewidmet, dem Autor von "Alice im Wunderland". Questi sitzt nun in einem Sessel in einer rustikalen Wohnstube und liest in einem Band mit Carrolls "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln". Wieder einmal hören wir Text aus einem Buch durch Questis Stimme aus dem Off - er spricht dabei den Namen der Protagonistin nicht englisch aus, sondern wie den Namen der italienischen Sängerin Alice. Während er so in das Buch vertieft ist, klopft ein Mädchen von außen ans Fenster - und das wird nun nicht von Questi mit einer Maske gespielt, sondern tatsächlich von einem Mädchen, von einer Pauline Mancini. (Es gibt heute eine Sängerin dieses Namens, deren Videos man auf YouTube findet, aber das ist nicht dieselbe Pauline Mancini.) Das Mädchen scheint um Hilfe zu bitten. Als er vor die Tür tritt, ist sie weg, aber sie hat einen Zettel zurückgelassen, in dem sie tatsächlich um Hilfe bittet, und zwar im "Wald des Schwarzen Priesters" - anscheinend ist sie selbst so eine Art von Alice, die in märchenhaft-vertrackte Schwierigkeiten geraten ist. So macht sich Questi also auf in den Wald, um ihr zu helfen. Doch das war keine so gute Idee, wie sich bald zeigt. Er ist ja nicht mehr der Jüngste und kommt im dichter werdenden Wald ins Keuchen, die Zweige schlagen ihm ins Gesicht, er muss aufpassen, nicht über Wurzeln zu stolpern, und er droht die Orientierung zu verlieren. Doch (bewusst ausgelegte?) Spuren locken ihn weiter in den Wald - eine an einem Baum befestigte Kinderzeichnung eines Mädchens (sicher des Mädchens), Schulsachen mit einer Art von Poesiealbum, und an einem Ast hängt ein Höschen, das Questi ausgiebig begutachtet. Als er schließlich auf das zunächst so harmlos und hilfsbedürftig wirkende Mädchen trifft, hat es sich verändert. Auf ihrem rechten Auge klebt nun ein großes Pflaster, und darauf wiederum klebt ein Bild, das wie ein grüner Drache oder Tyrannosaurier aussieht - was immer das bedeuten soll. Und das Mädchen erweist sich als wahrer Satansbraten. Sie spielt dem armen Questi böse mit, und er muss froh sein, überhaupt lebend davonzukommen. Als sie fröhlich seilhüpfend das Weite sucht, kann er ihr nur noch "Puttana!" (Schlampe, Nutte) hinterherrufen.

Böse Überraschung
Was hat das nun wieder zu bedeuten? Wer ist das Mädchen? Ist es eine böse Waldfee, die sich aufgemacht hat, Questi einen bösartigen Streich zu spielen? Ist der Film eine Allegorie auf die Gedanken und Begierden eines dirty old man, die er besser unterdrücken sollte? Oder ist Questi schlichtweg beim Lesen des Buches eingeschlafen und hat sich in die Welt von Alice hineingeträumt? Vielleicht von allem ein bisschen. Man kann und soll sich wohl seinen eigenen Reim darauf machen.



VISITORS
2006
Musik: Béla Bartók
21:19 min

Auch VISITORS trägt im Vorspann eine Widmung: "Dieser Film ist gewidmet dem Tod einer Generation, die mit dem Hass und Blut des Kriegs konfrontiert wurde". Es beginnt wieder mit einem alten Mann in der bekannten Wohnung. Mit einem kleinen Vorbehalt, mit ein bisschen Sträuben nenne ich auch ihn Questi. Auf einem Computermonitor in der Wohnung liest man einen Text der (fiktiven) "Nationalen Vereinigung der 1944-45 Getöteten": "Lieber Überlebender, nach 50 Jahren der Nachforschung haben wir dank neuer Technologien Ihre Adresse herausgefunden. Wir sind eine Gruppe von Faschisten, die Sie in den Tagen unserer gemeinsamen Jugend, die wir auf entgegengesetzten Seiten verschleudert haben, mit vorgehaltener Pistole erschossen haben. Wir haben Sie endlich gefunden. Unsere konstanten Besuche sollen Sie nicht belästigen, sondern eher Gelegenheiten zur Klärung und zu einer sorgenvollen Anfrage bieten. Ohne Groll, NVdG." Questi wälzt sich unruhig im Bett, und von seiner Stimme aus dem Off erfährt man, dass seit dem Tag, als die elektronische Botschaft mysteriöserweise auf dem Monitor erschien, er jede Nacht von diesen Gestalten heimgesucht wird, die jetzt durch die Wohnung schleichen. Sie tragen Masken, doch diesmal sind es keine Strumpf- oder Karnevalsmasken, sondern sie zeigen mit Hilfe aufgeklebter Fotos realistische Gesichter - individuelle Gesichter von Personen, die wirklich gelebt haben oder zumindest so ausgesehen haben könnten. Es sind die Geister der von Questi im Partisanenkrieg getöteten, um nicht zu sagen ermordeten, politischen Gegner, die ihn nun Nacht für Nacht heimsuchen. Während Questi bisher versuchte, die schweigend umherwandelnden Gestalten zu ignorieren, verliert er nun die Geduld und versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Die Geister der Vergangenheit
Und schon sind sie da, zu fünft stehen die Maskenköpfe (ohne Körper) auf dem runden Wohnzimmertisch. Oder doch nicht? Mal sind sie da, dann wieder nicht. Questi verliert langsam die Nerven. Und dann beginnen die echten oder eingebildeten Geister zu sprechen - jeder von ihnen erzählt Questi, mit welcher Waffe er von ihm getötet wurde. Bei einem waren es sechs Schuss mit einer englischen Maschinenpistole in den Magen. Questi fühlt sich immer unbehaglicher und greift zu einer Flasche Wein oder Schnaps, um sich zu beruhigen. Wie sich letztlich herausstellt, sind die Geister hier, weil ihr endgültiger Übertritt ins Totenreich durch die Tatsache verhindert wird, dass Questi noch am Leben ist. Erst wenn auch Questis Körper im Grab verfault, werden alle damals von ihm Getöteten die irdischen Gefilde verlassen können. Und zwar mit dem Raumschiff eines gewissen Admiral Nekrosis - nächstmöglicher Termin ist am nächsten Samstag. Ziel der Reise ist ein Schwarzes Loch in einer anderen Galaxie. Alle an Bord werden dann aus der Raumzeit gelöscht werden, so als ob sie nie existiert hätten. Zum Schluss dieser Erklärung legt einer der Geister eine geladene Pistole auf den Tisch. Oder hat sie Questi selbst hingelegt? Die Geister bieten eine Gegenleistung für den von Questi erwarteten Selbstmord: Eigentlich müsste auch er nach seinem Tod solange im irdischen Zwischenreich ausharren, bis alle tot sind, mit denen er zu Lebzeiten zu tun hatte. Doch sie würden ihm diese womöglich jahrzehntelange Leidenszeit ersparen, indem sie ihn sofort auf das Raumschiff schmuggeln und ihm so das kosmische Nirwana verschaffen. Questi trinkt noch ein Glas und nimmt die Pistole in die Hand. Wann fliegt dieses Raumschiff ab? fragt er die Geister, die gar nicht mehr da sind (und vielleicht nie da waren). Wahrscheinlich schießt er sich gleich in den Kopf, aber vorher ist der Film zu Ende.

Der Protagonist ist angeschlagen
VISITORS ist neben LETTERA DA SALAMANCA vielleicht der persönlichste Film des Zyklus. Questi (der echte) kämpfte 1943-45 tatsächlich als Partisan gegen die faschistischen Schwarzen Brigaden der Republik von Salò (die auch den Hintergrund zu Pasolinis DIE 120 TAGE VON SODOM bildet). Ich weiß nicht, ob Questi wirklich gefangene Gegner erschossen hat, und ob er deshalb von Schuldgefühlen oder Ähnlichem heimgesucht wurde (deshalb habe ich den Protagonisten des Films nur mit Vorbehalt "Questi" genannt), aber VISITORS legt das durchaus nahe. Eine prägende Zeit war das damals für ihn auf jeden Fall. Es wird allgemein angenommen, dass Questis Erfahrungen als Partisan auf seine Filme abgefärbt haben, vor allem auf seinen Western SE SEI VIVO SPARA, und Questi selbst bestätigt das in IL CINEMA DIGITALE SECONDO GIULIO QUESTI.



Die sieben Filme in ihrer spartanischen Machart sind sicher nicht jedermanns Sache. Auch ich war nach dem ersten Sehen leicht enttäuscht. Die Optik der Digitalkamera ist doch manchmal recht steril, es gibt technische Unzulänglichkeiten, und nach zwei oder drei Filmen wollte ich auch mal ein anderes Gesicht als das von Questi und andere Schauplätze als seine Wohnung sehen - die eine Ausnahme VACANZE CON ALICE reißt es nicht raus. Vor allem aber hatte ich etwas anderes erwartet. Natürlich war von vornherein klar, dass es nichts in der Art von Questis drei Spielfilmen geben würde, aber ich wusste nicht, was mich erwartete - mit einer derart solipsistischen Unternehmung hatte ich jedenfalls nicht gerechnet. Aber nachdem ich nun wusste, womit ich es zu tun hatte, haben die Filme bei einer zweiten Sichtung doch deutlich an Statur gewonnen. Mit ihren schrägen bis bizarren Einfällen, mit ihrem Humor, der einem manchmal im Halse steckenbleibt, mit vielen Details und verdeckten Anspielungen, von denen ich sicher manche gar nicht erfasst habe, regen die Filme zur Interpretation an. Die muss nicht unbedingt schlüssige Ergebnesse liefern, aber das spricht ja nicht gegen die Filme - ganz im Gegenteil.

Samstag, 12. August 2017

Melodramen in verschiedenen Härtestufen: Eindrücke vom 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms, 27.-30.07.2017


Hinweis: Terza Visione ist zu 100 % ein 35mm-Festival. Alle gezeigten Filme liefen also auf richtigem Film. Die Mehrheit im italienischen oder englischen Original (außer da, wo angegeben), teilweise mit Untertiteln, die von den fleißigen Organisatoren in mühe- und liebevoller Arbeit selbst erstellt wurden. Zu danken sind hierfür und für die Konzeption des Festivals zuallererst Christoph Draxtra sowie Andreas Beilharz, in der Filmblogosphäre von den Eskalierenden Träumen bekannt.

Donnerstag, 27. Juli


kurz vor 20.00 Uhr

Mindestens zwei Zuschauer im Saal tragen ein passendes DIABOLIK-T-Shirt. Später im Verlauf des Festivals sehe ich zahlreiche weitere interessante T-Shirts: mit Ingrid Bergmann in STROMBOLI, ein textiles Plakat von SEI DONNE PER L‘ASSASSINO. Ohne direkten Italienbezug fügt sich auch ein T-Shirt mit ROLLS-ROYCE BABY sehr schick ins Gesamtbild.
Übrigens: so voll wie bei DIABOLIK wurde keine Vorstellung mehr. Wesentlich „leerer“ wurde es nur an den frühen Nachmittagsvorstellungen und bei den ganz späten Vorstellungen. Das Terza Visione war tatsächlich kein „Spezialisten“-Festival für Eingeweihte mit dreiviertel-leeren Vorstellungen, sondern erfreulicherweise rundum gut besucht.



ab 20.00 Uhr

DIABOLIK (Gefahr: Diabolik)
Regie: Mario Bava
Italien / Frankreich 1968, 105 Minuten
Der Meisterverbrecher Diabolik (John Phillip Law) und seine Gefährtin Eva (Marisa Mell) erbeuten bei gewagten Coups Millionen vom autoritären Staat und von den Reichen. Der Kommissar Ginko (Michel Piccoli) verbündet sich mit dem Mafioso Valmont (Adolfo Celi), um den Dieb zu fangen.
Pop-Art-Kino hat Mario Bava eigentlich schon immer gemacht, doch in der Comicverfilmung DIABOLIK findet sich zu der Form nun auch der passgenaue Inhalt. Heutzutage, wo bei dem Wort „Comicverfilmung“ wahrscheinlich nicht nur mir ein genervtes Stöhnen entweicht, weil man damit Tentpole-Sommerblockbuster im Se-Prequel-Reboot-Modus der Marke kindisch-selbstironisch (DEADPOOL) oder selbstbeweihräuchernd-bierernst-semifaschistisch (Nolans Fledermaus-Filme) verbindet, ist DIABOLIK von einer großen Frische und angenehmen Frechheit. Hier weht ein völlig unverstellter, fast schon kindlich-naiver Spaß an Genre durch den Film: Superhelden und Superschurken, die fantastische Dinger mit Super-Hightech-Geräten drehen, flankiert von wunderschönen Frauen, akustisch von fetzigen Klängen begleitet, die einem deutlich machen, dass wir gerade im italienischen Kino unterwegs sind.
Dabei ist das ganze auch frech, subversiv, anarchisch, radikal antiautoritär. Der Geist des Films wird schön in einer Vignette zusammengefasst: Diabolik, verkleidet als Journalist, „sprengt“ die bierernste Pressekonferenz des Innenministers, der bedeutungsschwanger etwas von harter Hand gegen „die kranken Elemente unserer Gesellschaft [Pause] – also ich meine damit: die Verbrecher“ schwafelt, indem er mit seinem Blitzlicht unbemerkt Lachgas im ganzen Raum verteilt. Aus der ganzen Veranstaltung wird eine Farce, weil unterschiedslos alle lachen müssen. Lachen... die wirkungsmächtigste Waffe gegen autoritäre Pappnasen!
Eine echte Meisterleistung ist die Besetzung von Michel Piccoli als Kommissar Ginko, denn ich kann mir nur wenige Schauspieler vorstellen, die weniger in eine Comicverfilmung passen als er – und deshalb passt es dann doch so perfekt. Ginko ist möglicherweise der einzige „echte“ Charakter in einem Ensemble aus Comic-Stereotypen (nicht im negativen Sinne gemeint): ein Charakter, der dem delirierenden Film eine angenehme Erdung gibt. Ein Mann auf der Seite des autoritären Staates, der nicht aus persönlichem Sadismus, sondern tatsächlich aus Pflichtbewusstsein handelt (und dadurch dem wahren Charakter des Autoritären wohl näher kommt als die karikaturhaften Innenminister-Figuren). Der sich zum Mittagessen in seinem Büro ein herzhaftes Sandwich und ein Bier genehmigt – so etwas Banales könnten sich Diabolik und Eva niemals erlauben! Der sich nur widerwillig mit dem schmierigen Valmont verbündet. Der fast ein wenig traurig wird, wenn er Diabolik dann endlich (natürlich nur scheinbar) gefangen hat, weil er vor der Geschicklichkeit und dem intellektuellen Organisationstalent des Meisterverbrechers fasziniert ist.
DIABOLIK sieht nicht nur fantastisch aus, sondern hört sich auch großartig an. Dafür sorgt Ennio Morricone mit seinem tollen Score, der funkigen Jazz, Lounge‘iges und Rockiges mit orientalisch-indischen Klängen verbindet (man höre z. B. hier mal rein).
Andreas Beilharz erklärte in der Einführung, dass der als Blockbuster konzipierte DIABOLIK für etwa ein Siebentel des geplanten Budgets gedreht wurde. Der extrem ökonomisch arbeitende Mario Bava konnte sich zwar eigentlich über das größere Budget freuen, doch die Mühe, über komplizierte bürokratische Wege einzelne Geldtranchen für einzelne Szenen bei der Produktionsfirma Dino de Laurentiis‘ zu beantragen, frustrierte den Meisterregisseur schnell. So endete das damit, dass Bava viele Szenen mit den ökonomischen Mitteln und Tricks drehte, die er aus seinen kostengünstigeren Produktionen kannte. Das Resultat lässt sich sehen: von einigen Rückprojektionen abgesehen (jene im Auto unterstreichen auf expressionistische Weise die Comic-Atmosphäre des Films) sieht der Film extrem wertig aus, ganz besonders die Szenen in Diaboliks Untergrundbasis. Im „wahren“ Leben wie im Film: Ein Sieg des Subversiven und Künstlerischen über das Autoritäre und Bürokratische.



ab 22.30 Uhr

UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA (Eine Eidechse in der Haut einer Frau)
Regie: Lucio Fulci
Italien / Spanien / Frankreich 1971, 106 Minuten
Eine gutbürgerlich-spießige Ehefrau (Florinda Bolkan) träumt davon, dass sie ihre sexuell freizügige Nachbarin (Anita Strindberg) ermordet. Dann geschieht der geträumte Mord auch in der Wirklichkeit...
Im gerne beschworenen Fulci-Argento-Gegensatz verorte ich mich selbst als Argento‘ianer. UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA hat mir bewiesen: es liegt möglicherweise daran, dass ich verhältnismäßig noch zu wenige Fulcis kenne (dessen Werk wesentlich vielfältiger als das Argentos ist). Denn UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA sieht absolut fantastisch aus! Fulci und sein Kameramann Luigi Kuveiller veredeln eine eher statische Krimigeschichte mit rasanten Fahrten, verblüffenden Schwenks, irren Zooms, einer manischen Handkamera sowie mit Splitscreens und Split-Diopters, die Brian De Palma mal etwas besser hätte studieren können. Das gepflegte Abendessen im Kreise der spießigen Familie wird hier wahlweise zur Farce, wenn in Splitscreens das gediegene Dinner mit dem hedonistischen Treiben in der Wohnung der Nachbarin kontrastiert wird – oder zu einer Hölle, wenn die Handkamera nervös die Essenden umfährt. Luigi Kuveiller fotografierte später nicht nur Fulcis LO SQUATTORE DI NEW YORK (der mich eher wenig begeistert hat), sondern auch Dario Argentos PROFONDO ROSSO. Während letzterer in hyperstilisierten Tableaus und extrem kontrollierten (Proto-?)Steadicam-Fahrten schwelgt, ist UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA durch und durch „dreckig“ inszeniert und geschnitten.
Mit den späteren Fulcis teilt UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA den gewaltsamen Einbruch des Irrationalen in den „normalen“ Alltag. Untote tauchen hier als mit LSD vollgepumpte Hippies auf (die wie die Untoten in L‘ALDILÀ komplett weiße Augen haben) – und hinter unverdächtigen Krankenhaustüren können auch grausame Vivisektionsexperimente mit Hunden lauern. UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA ist zweifelsohne auch Vorbild für Fulcis späteren SETTE NOTE IN NERO (1977), in dem eine Frau mit hellseherischen Fähigkeit die Vision eines Mordes hat (und dabei die Chronologie durcheinander bringt). In beiden Filmen gibt es in der zweiten Hälfte eine sehr lange und ultraspannende Verfolgungsjagd zwischen zwei Personen, die sich bei weit über 10 Minuten ohne jegliche Worte rein visuell entwickelt. Die Auflösung in UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA ist noch gänzlich „trivial“ und Allerwelts-mäßig, während in SETTE NOTE IN NERO letzteren die übernatürlichen Elemente tatsächlich so stehen bleiben.
Ich muss mich mehr mit Fulci beschäftigen!


Freitag, 28. Juli



ab 12.30 Uhr

LA RIVOLTA DEI SETTE (Blutgericht)
Regie: Alberto De Martino
Italien 1964, 88 Minuten (deutsche Fassung)
Im antiken Griechenland rebellieren einige gefallene Herrscher zusammen mit einer fahrenden Schauspieltruppe gegen die korrupte Elite Spartas und suchen nach einer Statuette mit einem darin verborgenen, verschwörerischen Geheimvertrag...
Der Muskelmannheld macht Muskelmannheld-Sachen und schmeichelt dabei das Auge der geneigten Zuschauer, sein Sidekick unterstützt ihn dabei, der Chef der Schauspieler sorgt mit seinem kleinen Alkoholproblem für einige Lacher, seine Tochter schmeichelt das Auge der geneigten Zuschauer, die Schurken (es sind zwei, vielleicht sogar drei, die sich irgendwie ähnlich sehen) sind ultraschurkisch, die Schurkin ist ultraschurkisch und dabei auch ultraerotisch. Dazwischen gibt es nette Prügeleien sowie lange Dialoge zur Planung der Intrigen.
So weit, so gut, so erwartbar. LA RIVOLTA DEI SETTE ist routiniert, aber eben auch nicht besonders engagiert inszeniert. Das einzige, was für mich hervorstach, war eine längere Montage der Schauspiel-Acts, die die fahrenden Profischauspieler gemeinsam mit den Rebellen auf der Flucht aufführen – sie war viel zu lange, um als reine Exposition herzuhalten und wirkte daher irgendwann fesselnd. Wie so ein kleiner Erholungsspaziergang von dem Einerlei des Rests. Trotzdem: gepflegte Langeweile, mit der man gut den Tag einleiten kann, um sich später etwas in Qualität und Härte hochzuarbeiten. Für mich der schlechteste Film des Festivals. Dass er trotzdem noch so halbwegs okay ist, zeugt von dem hohen Niveau, mit dem Terza Visione kuratiert wird.


ab 15.45 Uhr

CHI È SENZA PECCATO... (Wer ohne Sünde ist...)
Regie: Raffaello Matarazzo
Italien 1952, 101 Minuen
Der italienische Emigrant Stefano (Amedeo Nazzari) heiratet in Kanada mittels einer Fernhochzeit seine Verlobte Maria (Yvonne Sanson), die in Italien geblieben ist. Mit der ungewollten Schwangerschaft von Marias kleiner Schwester beginnt eine Reihe von zunehmend eskalierenden Unglücksfällen.
Raffaello Matarazzo wird bisweilen als italienischer Douglas Sirk bezeichnet: ein Regisseur, der in den 1950er Jahren kommerziell erfolgreiche Melodramen inszenierte, die von der Kritik verrissen wurden, und später als großes Kino mit einem überaus scharfen Blick für soziale und existentielle Probleme wiederentdeckt wurden. Statt Rock Hudson gab es Amedeo Nazzari – zusammen mit Yvonne Sanson entstand ein Zyklus von sieben Nazzari-Sanson-Melodramen.
Ein italienischer Sirk? – das weckt natürlich erst einmal mein Interesse, doch CHI È SENZA PECCATO... an sich und Matarazzos Inszenierung im Speziellen haben mich nicht zu Begeisterungsstürmen verführt. Wie die ganze Geschichte immer mehr und immer mehr in einer Reihe unfassbarer Unglücksfälle eskaliert, ist schon beeindruckend – ebenso, wie am Ende das ganze doch noch in ein Happyend umgebogen wird. Weitere Sichtungen, vielleicht auch anderer Matarazzos, werden womöglich weiter helfen, aber dem Neorealismus ist Matarazzo doch näher als Sirks wahnwitzigem Expressionismus.
Ganz ohne Begeisterung bin ich nicht aus dem Film gegangen: die gebürtige griechisch-französisch-russische Schauspielerin Yvonne Sanson hat mich als Melodrama-Queen schlichtweg verzaubert und ließ ihren Partner Nazzari dabei etwas plump aussehen. Sollte es bislang niemand gemacht haben, mache ich es jetzt: Yvonne Sanson ist wie eine italienische Joan Crawford.


ab 20.00 Uhr

ARCANA
Regie: Giulio Questi
Italien 1972, 112 Minuten
In einem Vorort von Mailand hypnotisiert eine Betrügerin (Lucia Bosè) wohlhabende Kunden und verkauft ihnen das ganze als spiritistische Sitzungen. Ihr Sohn (Maurizio Degli Esposti), mit dem sie eine konflikthafte und zugleich latent inzestuöse Beziehung hat, entwickelt tatsächlich spiritistische und magische Begabungen.
Giulio Questi war ein cinéaste maudit des italienischen Kinos. ARCANA war sein dritter, letzter und radikalster abendfüllender Spielfilm, bevor er sich der Lyrik, Regiearbeiten für das Fernsehen und gegen Ende seines Lebens dem experimentellen Digitalvideofilm widmete. Sein erster Film, SE SEI VIVO SPARA von 1967 (in Deutschland bekannt als „Töte, Django“), war ein Western, der immer wieder ins Surreale abdriftete und mit seiner grafischen Gewalt Zuschauer und Zensoren schockierte, aber auch als perfide Kapitalismus- und Faschismuskritik faszinierte (mich ließ der Film eher kalt – eine Neusichtung wäre bestimmt vonnöten). Questis zweiter Film LA MORTE HA FATTO L‘UOVO (1968) verband den Giallo mit Kapitalismus-Groteske (da werden wohl Hühner gezüchtet, die rechteckig sind, damit sie effizienter verarbeitet werden können). ARCANA, ein urbaner Hexen-und-Magier-Film und vor allem ein mysteriös-surrealistisches Werk, floppte ebenso fulminant wie Questis erste Filme und beendete damit seine Kinokarriere.
Christoph Huber erklärte in einer einführenden Videobotschaft (er konnte wegen Krankheit nicht persönlich anreisen) ARCANA zu einem der besten Filme aller Zeiten. Das mag vielleicht übertrieben sein, aber für mich steht fest: wegen solcher Unglaublichkeiten wie ARCANA nehme ich gerne die Mühe auf mich, Filmfestivals zu besuchen.
In den ersten 20, vielleicht 30 Minuten, die mehr Geduldsprobe als Filmvergnügen sind, hätte ich das niemals gedacht. Im Grunde sieht man nur eine Frau, die esoterisches Geschwafel von sich gibt, während in einem Stuhlkreis Leute schlafen und dabei murmeln. Enden tut der Film unter anderem mit (symbolischen) Leichenbergen des Zweiten Weltkriegs und möglicherweise einer Art Apokalypse. Was dazwischen passiert ist, damit aus leicht irritierter Öde eine mysteriös-hypnotische Faszination erwächst, ist schwierig zu sagen. Ich vermute, dass der Spiritismus, die Magie, der Schamanismus, das Paranormale – wie man es auch immer nennen will – die der Sohn sich langsam wahrhaftig aneignet, auch den Film ARCANA ergreifen und „infizieren“. Von da an gibt es kein Zurück mehr. Schlaf, Traum, Realität, Illusion, Wirklichkeit – diese Kategorien ergeben keinen Sinn mehr. Abgebrochene Eselszähne werden zu bösartigen Talismanen verarbeitet. Der Sohn sucht in den Schächten der städtischen Metro nach den abgetrennten Gliedmaßen verunglückter Metroarbeiter bzw. seines Vaters. Kleinwüchsige Frauen bringen Hochzeitskleider zu spiritistischen Massen-Sitzungen. Der Sohn foltert seine Mutter mit einem Küchenmesser, um an Informationen zur Herstellung eines Talismans zu kommen und bearbeitet später mit dem selben Messer Erhebungen im Boden des U-Bahn-Schachts, die wie die Brüste seiner Mutter aussehen. Die Mutter „spuckt“ die Information aus – und spuckt später Frösche. U-Bahn-Arbeiter klopfen an die Fenster eines Zugs, die Passagiere im Inneren um Hilfe anflehend. U-Bahn-Passagiere klopfen an die Fenster ihres Zugs, um die U-Bahn-Arbeiter draußen um Hilfe anzuflehen... (hier ein fünf-minütiger Ausschnitt aus dem Film, der dem Wahnsinn einer Kinovorführung natürlich nur bis zum Rockzipfel reicht)
Bevor ich mich völlig in Inkohärentem verliere: Die gezeigte Kopie aus dem Centro Sperimentale di Cinematografie der Cineteca Nazionale wurde zur Vorführung in Venedig in den 2000er Jahren gezogen. Gemäß den einführenden Worten war das verwendete Filmmaterial ein anderes als beim Original, wodurch die Farben möglicherweise nicht ganz originalgetreu zu sehen waren. Dessen bewusst muss ich dennoch (um jetzt mal etwas kohärentes zu sagen) dies erwähnen: ich habe selten eine derartige Inszenierung der Farbe / Nicht-Farbe Schwarz gesehen. Ein Großteil des Films spielt in einer abgedunkelten Wohnung. Die Figuren agieren meist vor einem gähnenden, dunklen, dunklen, dunklen, ultradunklen Schwarz – oder tauchen plötzlich aus diesem Schwarz heraus. Das war bereits in den ersten paar Minuten des Films sehr hervorstechend. Die Magie kam später hinzu. Der Rest ist nicht weniger als ein grandioser Höhepunkt des Festivals.



ab 23.00 Uhr

SVEZIA INFERNO E PARADISO (Schweden – Hölle oder Paradies?)
Regie: Luigi Scattini
Italien 1968, 87 Minuten (deutsche Fassung, gekürzt)
Die Schweden, wie sie leiben, leben, ficken, rudelbumsen, Drogen nehmen, sich zu Tode saufen, Selbstmord begehen, inzestuös verkehren, lesbische Clubs besuchen, Autos klauen, nackt saunieren und dank Atombunker irgendwann als überlegene Rasse die Welt wieder bevölkern werden.
Hinweis: gezeigt wurde im Grunde nicht SVEZIA INFERNO E PARADISO, sondern dessen deutsche Interpretation SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? Bei Einzelgesprächen mit Personen, die sich besser mit dem Genre des Mondo-Films auskennen, wurde bestätigt, dass deutsche Fassungen italienischer Mondo-Filme ein komplett eigenes Genre bilden, weil der deutsche Kommentar etwaige Niederträchtigkeiten des Originalkommentars um ein Vielfaches potenziert und dann noch zusätzlich eine ganze Schippe an eigenen Ungeheuerlichkeiten „hinzudichtet“ – so viel, dass man schon sehr naiv sein muss, um an einen durchschlagenden Erfolg der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg zu glauben. Ich bespreche also SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES?
Sich empören und sich aufgeilen!
Irgendwann bei einem Drittel oder der Hälfte dieses infamen Films dachte ich, dass er bei einem AfD-Stammtisch der absolute Knüller wäre. Was hier zu sehen ist, ist ein mustergültiges Prototyp von dem, was heutzutage unter dem modischen Begriff „fake news“ verniedlicht wird: manipulative Medienproduktion mit dem Ziel, zu hetzen und Hass zu säen. Tatsächlich ist SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? aber noch wesentlich perfider als das, weil er seine Zuschauer nicht nur dazu einlädt, über alles, was nicht männlich, weiß, heteronormativ und gut- bzw. spießbürgerlich mit autoritär-konservativem Einschlag ist, offenen Hass zu säen, sondern sich dabei auch regelrecht aufgeilend zu delektieren.
Sich empören und sich aufgeilen!
Das geht ungefähr so: Schweden wird gezeichnet als „echt sozialistisches“ Land, das von Hippie-Weicheiern regiert wird. Ein Land, das Inzest staatlich toleriert, Sexualunterricht für Teenager organisiert (mit Diskussionen darüber, welches Verhütungsmittel das beste sei – so ein Ding aber auch!), in dem schamlose Mädchen jede Nacht mit mindestens drei oder vier Jungs Sex haben, in dem Politessen nach Feierabend ins Porno-Fotostudio stacksen, in dem Motorradgangs, die die verweichlichte Polizei selbstverständlich nicht unter Kontrolle hat, Teenager-Mädchen gruppenvergewaltigen, was selbstverständlich zu verurteilen ist, weil Motorradgangs eklig sind und die vergewaltigten Mädchen dadurch lesbisch werden und sich später in abartigen lesbischen Tanzclubs rumtreiben, während im danebenliegenden Lokal sich die Jugendlichen mit Marihuana, LSD und Heroin die Birne zu- oder totknallen (war Kokain schon 1968 eine upper-class-Droge, die deshalb hier unerwähnt bleibt?) und in Bretterbuden am Rand der Stadt der „Abschaum“ (O-Ton) und das „Strandgut“ (O-Ton) der Gesellschaft (im nüchterneren Sprachgebrauch: Obdachlose) Entfrostungsmittel schluckt und Schuhcreme-Sandwiches isst, wohingegen der gesetzestreue Bürger, der in seinem gerechten Volkszorn einen Autodieb verprügelt, von jenen Polizisten verhaftet wird, die sich gerade nicht in Sexshops oder Pornostudios rumtreiben, der Dieb hingegen das Auto einfach in den nächstgelegenen Fluss kutschiert, aus dem es dann am nächsten Tag von blinden Tauchern geborgen wird, die gefälligst froh darüber sein sollen, dass sie das tun dürfen, weil Blinde bekanntermaßen völlig nutzlos für eine Gesellschaft sind, und wenn es irgendwann einmal zum Atomkrieg kommt, werden die Schweden dank guter Atombunker überleben und zur „herrschenden Rasse“ (O-Ton im Film – kein Witz!) der Welt werden – vorausgesetzt, die schwedische Jugend begeht nicht aus lauter Langeweile Selbstmord, wozu sie offenbar einen besonderen Hang hat und woran uns der Sprecher etwa alle zehn Minuten schadenfroh erinnern möchte... Ach ja: und viele nackte Brüste gibt es auch zu sehen!
Sich empören und sich aufgeilen!
SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist eine herzliche Einladung an den Zuschauer, voll und ganz in Häme, Hass und Hetze zu schwelgen und vor allem aber auch, sich an den Bildern nackter Frauen, gestellter Gruppenvergewaltigungen und dreckigen Drogen- und Alkoholkonsums zu delektieren und aufzugeilen. Diese Janusköpfigkeit kennt man bereits aus dem frühen Kino, nämlich von Griffith: doch Griffith hat seine antihumanistischen Obsessionen in die Form klassischen Erzählkinos (den er ja mitbegründet hat) eingebettet. SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist da eine ganz andere Nummer, weil das abgespulte Programm von den Fesseln des Erzählkinos befreit ist und damit viel mehr Platz für Assoziationen bietet, ohne sich an einzelnen Figuren und Plots aufhalten zu müssen. Wer sieht, dass schwedische Ordnungshüter in ihrer Freizeit in Pornostudios gehen, kann sich eben „seinen Teil“ denken, wenn später Polizisten Autodiebe wieder freilassen. SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist roh und unverstellt, und dabei trotzdem von unfassbarer Heuchelei. Sich empören? Nur zu: dafür die sind die Lesben, die Blinden, die Schwarzen, die Obdachlosen, die Motorradgangs da. Sich dabei aufgeilen? Nur zu: dafür sind die nackten Brüste da! Schuldgefühle? Nicht doch. Schuld sind die nackten Lesben und die heruntergekommenen Obdachlosen doch selbst.
Sich empören und sich aufgeilen!
Wer noch Hemmungen hat, sich prächtig zu unterhalten, der kann sich auch einfach von dem absolut fantastischen Score Piero Umilianis treiben lassen, der die ganzen infamen Niederträchtigkeiten mit locker-fluffigen Lounge-Klängen voller Strandbar-Atmosphäre untermalt. Ein Traum. Und die gute Nachricht: es gibt tatsächlich eine Soundtrack-CD bzw. Vinyl-Platte. Der etwas erhöhte Preis hat mich davon abgehalten, ihn gleich zu kaufen. Unabhängig davon dürfte ein Stück des Scores von mehreren Hunderten Millionen Menschen auf der ganzen Welt bekannt sein: auf dem veröffentlichten Soundtrack heisst das Lied „Samba mah nà“, berühmter ist es heute als „Mah nà mah nà“, das zunächst als Singleauskopplung des Film-Soundtracks in Nordamerika Erfolge feierte und später durch die Nutzung in der „Sesamstraße“ und bei den „Muppets“ weltberühmt wurde. Hier reinhören.
Sich empören und sich aufgeilen!
Das autoritäre Weltbild, das SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? transportiert, ist meiner Meinung wenig lustig. Zusätzlich zum Grauen des eigentlichen Films kam bei der Sichtung dazu, dass ein großer Teil des Saals über weite Strecken der Vorführung lachte. Sicher, es handelte sich – ich hoffe es zumindest! – um größtenteils ironisches Gelächter, vielleicht auch um einen Versuch, mit diesem unfassbaren Knüppel fertig zu werden. Aber ob Ironie wirklich das richtige Mittel ist, um sich mit diesem Film auseinanderzusetzen, wage ich zu bezweifeln. Für mich gibt es keinen Zweifel: SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist ein schrecklicher, scheußlicher, niederträchtiger, hundsgemeiner Film. Ein Film, der Ideologiekritik an Rape-and-Revenge-Exploitern, Vigilanten-Reißern und Kannibalenfilmen wie die reinste Farce aussehen lässt. Ein infames Meisterstück des antihumanistischen Kinos.


Samstag, 29. Juli


ab 13.00 Uhr

UN UOMO DA RISPETTARE (Ein achtbarer Mann)
Regie: Michele Lupo
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1972, 112 Minuten (deutsche Fassung)
Der Meistereinbrecher Steve (Kirk Douglas) kommt aus dem Gefängnis und möchte zu seiner Ehefrau Anna (Florinda Bolkan) zurück. Doch seine ehemaligen Auftraggeber wollen ihn zu einem neuen Coup zwingen. Zusammen mit dem flüchtigen Zirkusakrobaten Marco (Giuliano Gemma) bereitet er sich vor.
Oh, du zarte, bittersüße Melancholie!
Auf dem 4. Terza Visione wurde mehrmals diskutiert, wie viel Melodrama eigentlich in anderen Filmen außerhalb des als „das Melodrama des Festivals“ programmierten Films (Matarazzos CHI È SENZA PECCATO...) zu finden sei: etwa in dem Söldner-Rache-Actioner ROLF, oder naheliegend in INGRID SULLA STRADA, oder auch im Western LA NOTTE DEI SERPENTI. Ich denke, dass auch UN UOMO DA RISPETTARE in vielerlei Hinsicht ein Melodrama ist – ein Melodrama im Gewand eines Heist-Thrillers. Es ist die Geschichte eines Mannes, der aufgrund seiner persönlichen Obsession, den besten Coup zu drehen (die nur bedingt etwas mit den äußeren Zwängen seiner ehemaligen Arbeitgeber zu tun hat), seine Frau zutiefst enttäuscht und sich zunehmend von ihr entfremdet. Trotz einiger Action-Einlagen dürften die ersten zwei Drittel des Films für Zuschauer, die einen reinen Heist-Film erwarten, etwas enttäuschend sein. Mehr als die Vorbereitung des Heists erzählt UN UOMO DA RISPETTARE hauptsächlich von seinen drei Hauptfiguren. Das geschieht in vielen kleinen, unscheinbaren Momenten (die wahrscheinlich in angloamerikanischen Fassungen, die knapp über 90 Minuten dauern, rausgekürzt wurden): ein kurzer Moment des Eheglücks auf der Bowlingbahn, in dem Steve und Anna als harmonisches Paar gezeigt werden, wenn sie sich über Bowlingregeln unterhalten – kurz, bevor der geplante Coup ein Schatten auf das Glück wirft. Anna und Steve, die früh morgens in das Esszimmer kommen und überrascht sehen, dass Marco das Frühstück schon fertig zubereitet hat. Die heimlichen Unterhaltungen zwischen Anna und Marco: er möchte sie am liebsten anflirten, traut sich aber nicht richtig (aus Anstand oder aus Loyalität zu Steve), und sie weiß ganz genau, dass er das möchte – und so reden die beiden in Floskeln um die etwas unangenehme Situation herum.
Hier, in den Figuren, baut sich eine melancholische, leicht fatalistische Atmosphäre auf, und die wird nur noch verstärkt von der Tatsache, dass wir uns in Hamburg im Spätherbst befinden: eine graue, monochrome Stadt, über die sich ein hartnäckiger grauer Nebelschleier von der Alster gelegt hat. Dazu kommt der brüterische, leicht dissonante Score Ennio Morricones (hier ein Ausschnitt). In den ersten zwei Dritteln scheint UN UOMO DA RISPETTARE statisch – dabei ist der Film nur zutiefst melancholisch. Von den letzten, hochintensiven zehn Minuten abgesehen ist diese Melancholie aber ätherisch, irgendwie da, aber doch nicht unmittelbar zu greifen – keine bleierne Schwere wie bei den späten Melvilles. Das ist auch der Grund, warum die Actioneinlagen (vor dem großen Heist) nicht deplatziert wirken, sondern wie eine wohltuende Ruhepause. Und was für Actionszenen das sind! Eine wüste Keilerei in einer Nebenstraße, bei der beide Prügelnden ihr Treiben schließlich nach Durchbruch einer Windschutzscheibe im Inneren eines Autos einfach fortsetzen. Eine noch wüstere Prügelei, bei der ein kompletter Weinladen zu Bruch geht. Und schließlich diese Autoverfolgungsjagd der Extraklasse, bei der gar das Auto eines unbeteiligten Autotransporters mit den vier Rädern nach oben auf dem Dach eines der Verfolgungsautos landet.
UN UOMO DA RISPETTARE erzählt auch vom Triumph des Menschlichen – im Guten wie im Schlechten. Das akustische Sicherheitssystem der Hochsicherheitsbank wird überlistet, weil es ein Computer ist und dieser ist auf die Geräusche hin programmiert, die ein Einbrecher typischerweise macht – nicht auf die Klänge von Mozarts 40. Sinfonie. Der Coup selbst glückt, aber der Gesamtplan scheitert natürlich ebenso wegen des menschlichen Faktors – das wird in einer absolut verblüffenden und schmerzhaften Ellipse vorbereitet, die (wenn es bis dahin nicht ohnehin schon vollkommen offensichtlich war) deutlich macht, wie unglaublich gut und wie dramaturgisch und emotional präzise dieser Film inszeniert ist.
Am Ende bleibt nur bittere Erkenntnis, Verlust, Schmerz – und der wahrscheinlich bittersüß-traurigste Film des Festivals.



ab 15.30 Uhr

LA SPOSINA (Kleine Braut, was nun?)
Regie: Sergio Bergonzelli
Italien 1976, 92 Minuten
Die sexuell freizügige Chiara heiratet den erfolglosen Schriftsteller Massimo. Dieser bestand während der Verlobung darauf, vor der Ehe keinen Sex zu haben, und nach der Eheschließung wird klar, warum: er ist impotent. Chiara setzt alle Hebel in Bewegung, um Massimo zu heilen.
Wir müssen uns diesen Film als einen Film vor der Ära des Viagra vorstellen. Aber wir leben ja heute. Und wie gerne hätte ich den Film gesehen, der von Gary Vanisian angekündigt wurde: einen Film über eine absolute und bedingungslose Liebe, die sich über alle Hindernisse hinweg behauptet. Ich glaube, LA SPOSINA hätte mir in diesem Fall richtig gut gefallen.
Doch so richtig ist der Funke bei mir nicht übergesprungen. Das Spiel der beiden Hauptdarsteller Antinesca Nemour und Carlo De Mejo wirkte für mich eher zweckmäßig als wirklich inspiriert – ich sah keine Funken zwischen den beiden sprühen. So entwickelte sich LA SPOSINA als eine Aneinanderreihung mehr oder minder komischer Vignetten. Zum Beispiel soll eine Prostituierte Massimo wieder „richten“. Das geht zunächst schief, weil Massimo sich aus Versehen einen Transvestiten nach Hause holt. Die weibliche Prostituierte, die Chiara schließlich höchstpersönlich aussucht, landet nach mehreren Manövern und Verwechslungen mit Massimos schrulligem Bruder im Bett (was sie aufgrund ihrer starken Kurzsichtigkeit nicht merkt) – an und für sich eine witzige Szene mit einem extrem guten Timing, aber eben auch etwas mechanisch ausgeführt. Genau so wirkte für mich auch LA SPOSINA insgesamt: wie eine nette „commedia sexy e slapstick“, witzig und mit einem stets perfekten Timing, aber eben nicht der angekündigte ultimative und existentielle Film über bedingungslose Liebe. 
Ich bin mir nicht völlig sicher, aber ich glaube, eine der wichtigsten Nebendarstellerinnen des italienischen Genrefilms, die in Aberdutzenden von Filmen an prominenten Stellen zu sehen war, tauchte (ausgerechnet bei diesem Festival!) erst hier, bei LA SPOSINA, zum ersten Mal auf (oder habe ich sie bei UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA übersehen?). Die Rede ist von der obligaten Flasche J&B-Whisky.



ab 20.00 Uhr

INGRID SULLA STRADA (Ingrid auf der Straße)
Regie: Brunello Rondi
Italien 1973, 96 Minuten
Die Finnin Ingrid flieht von zu Hause und reist quer durch Europa nach Süden, um in Rom als Prostituierte zu arbeiten. Sie freundet sich rasch mit der Arbeitskollegin Claudia an, die ihr die Eigenheiten des römischen Rotlichtmilieus erklärt – und von ultrabrutalen Neonazis „protegiert“ wird, die Ingrid von Anfang an nicht mögen.
Das 4. Terza Visione probierte sich durch verschiedene Härtestufen des Melodramas – und INGRID SULLA STRADA gehört definitiv zur ziemlich harten Stufe.
Die Titelfigur, wild entschlossen, ihre Heimat zu verlassen, beginnt gleich in dem Zug, der sie nach Süden fährt, damit, sich zu prostituieren und bevor der Kontrolleur überhaupt zu ihr kommt, hat sie schon ein so erkleckliches Sümmchen verdient, dass ihr der Fahrtkartenpreis herzlich egal ist. In Rom angekommen gibt es erst einmal eine lange, lange, lange Fahrt durch die Stadt in der Pferdekutsche, zusammen mit ihren künftigen Arbeitskolleginnen (und hier lernt Ingrid Claudia kennen). Die Prostituierten unterhalten sich, reißen Witze, lachen, erzählen vom Leben. Einige potentielle Kunden oder einfach nur Schaulustige fahren auf dem Moped nebenher, plaudern mit, bekommen wüste Sprüche oder Witze an den Kopf geworfen, lachen darüber oder hauen beleidigt ab. Und der alte Pferdekutscher lenkt das Pferd mit leicht amüsierter Mine weiter, aber ohne einzugreifen. Eine tolle Szene.
Danach verschwimmt das ganze für mich. Möglicherweise bin ich kurz weggenickt. Zweifelsohne war ich gedanklich viele Minuten auf Durchzug und nahm kaum etwas vom Film richtig wahr. „Aufgewacht“ bin ich schließlich dann, als der Anführer der Neonazi-Zuhälter (gespielt von Pasolini-Stammdarsteller Franco Citti) vor versammelter Mannschaft einen der ihren, der öffentlich ein bisschen zu viel geplaudert hat, foltert und schließlich die Zunge herausschneidet. Anschließend wird Ingrid von der Bande verschleppt, mit Heroin betäubt und gruppenvergewaltigt. Dann verschwimmt der Film wieder – bevor Ingrid sich auf einem Steinbruch von herunterprasselndem Gestein erschlagen lässt.
Da mich bei INGRID SULLA STRADA meine Sinne etwas im Stich ließen, mag ich nicht wirklich etwas abschließendes zu diesem Film sagen. Daher vielleicht einige Worte zu Brunello Rondi. Der gebürtige Lombarde wirkte bei zehn Fellini-Filmen zwischen 1954 (LA STRADA) und 1980 (LA CITTÀ DELLE DONNE) zunächst als Produktionsdesigner, später als Autor und „künstlerischer Berater“ mit. Bei drei Rossellini-Filmen (FRANCESCO GIULLARE DI DIO, EUROPA ’51 und ERA NOTTE A ROMA) arbeitete er in ähnlichen Funktionen mit. In seiner politischen und künstlerischen Ausrichtung stand Rondi jedoch Pier Paolo Pasolini am nächsten: sein erster Film als Regisseur 1962 war eine Verfilmung des Pasolini-Romans „Una vita violenta“ – mit Franco Citti (damals noch künftiger Pasolini-Stammdarsteller) in der Hauptrolle. Rondis Regiearbeiten waren wohl ein Balanceakt zwischen sozialkritischem Melodrama und derber Exploitation. Darunter gibt es PIÙ TARDI, CLAIRE, PIÙ TARDI (1968), dessen Inhaltszusammenfassung wie eine VERTIGO-Variation klingt oder PRIGIONE DI DONNE (1974), der wie der Titel verspricht ein Women-in-Prison-Reißer ist.



ab 22.30 Uhr

ROLF (Der Tag des Söldners)
Regie: Mario Siciliano
Italien 1984, 93 Minuten
Der Ex-Söldner Rolf lebt zurückgezogen an einem tunesischen Badeort mit seiner Freundin Joanna. Die trügerische Idylle des traumatisierten Soldaten wird gestört, als seine Ex-Kumpanen auftauchen und ihn zu einer neuen Arbeit als Drogenschmuggler überreden wollen. Als Rolf ablehnt, prügeln sie ihn halb tot, vergewaltigen und ermorden später Joanna. Dann beginnt Rolfs Rachefeldzug.
In seiner wunderbaren Filmeinführung bezeichnete Sano Cestnik ROLF als das eigentliche Melodrama des Festivals, als „die harte Stufe des Melodramas“, als „Macho-Melodrama“, in dem nicht eine Frau ihren Schmerz ausweint, sondern ein Mann seinem Schmerz mit Kugeln Ausdruck verleiht. Ja, ROLF ist ein düster-pessimistischer Söldner-Film, ein knüppelharter Rape-and-Revenge-Exploiter, ein schlafwandlerisch-zarter Liebesfilm, eine ultra-abgeranzte Sleaze-Bombe, eine provokante filmische Aufarbeitung italienischer Kolonialverbrechen, eine christlich-mystisch-esoterische Passions- und Erlösungsgeschichte – kurz: ein hartes Melodrama in der Tat! Nicht umsonst wählte Mario Siciliano für diesen, seinen letzten Film (und was für ein letzter Film!) als englisches Pseudonym „Marlon Sirko“.
In den ersten 20 bis 30 Minuten war der Reichtum dieses merkwürdigen Films noch nicht für mich erkennbar, ja ROLF wirkte sogar wie ein etwas dahin geschluderter, stümperhafter B-Actioner. Augenscheinlich war nur, wie unfassbar antiklimaktisch und aufreizend langsam dieser Film inszeniert ist. Sano bezeichnete das später in einem privaten Gespräch als Bresson-artig und tatsächlich: ROLF ist womöglich der Söldner-Rache-Actioner, den Robert Bresson nie gedreht hat.
Denn dann kamen die Blutegel! Oder besser gesagt: zunächst wird Rolf von seinen ehemaligen Söldner-Kumpanen übel zugerichtet, nachdem er sich wiederholt weigert, an deren Drogengeschäften teilzunehmen. Die Prügelei dauert unangenehm lange. In einem Moment schlägt einer der Truppe Rolf drei, vier, fünf, vielleicht sechs Mal auf die gleiche Weise ins Gesicht. Schließlich bleibt Rolf halbtot liegen, nachdem seine Kumpanen weitergezogen sind. Langsam, sehr langsam robbt der Verletzte auf sein Auto zu. Langsam, sehr langsam bereitet er sich darauf vor, sein ausgerenktes Knie wieder einzurenken, indem er sein verletztes Bein auf den Vorderreifen seines Geländewagens hievt. Das Einrenken geht schnell vonstatten, doch Rolf wird ohnmächtig und fällt ins nahe liegende Gebüsch. Dort fangen Blutegel an, auf ihn herumzukriechen. Das dauert ziemlich lange. Sehr lange. So lange, dass es die Aufmerksamkeit auf sich zieht und anfängt, zu irritieren. Und dann dauert es noch einmal einen Tick länger.
Nun... In PSYCHO mag Alfred Hitchcock seine (scheinbare) Protagonistin nach 40 Minuten von einem Irren in Frauenkleidung abstechen lassen. Aber in welchem Film sieht man schon, dass der Held nach knapp einem Drittel von Blutegeln aufgefressen wird? Diese Bresson‘ianische (?) Szene ist zweifelsohne sehr mysteriös und regt zu vielseitigen Deutungen an (wie ich in einem Gespräch später – siehe unten – eruieren konnte). Ist das vielleicht ein Reinigungsprozess: die Blutegel saugen die Schuld aus Rolf? Oder wird Rolfs Körper in dem Moment zu einem Sinnbild einer kaputten Welt, auf der sich viele Figuren kriechend tummeln – nur um später von einem aufgewachten und wütenden Rolf brutal zerquetscht, weggerissen und weggeworfen zu werden? Ich selbst neige dazu, das ganze als symbolische Todesszene zu sehen: Rolf stirbt – und wacht dann wieder auf, als Wiedergeborener oder vielleicht als Untoter? Als er sich im Dunkeln (ohnmächtig ist er bei hellem Tageslicht geworden) wieder aufrichtet, scheint das Mondlicht direkt in seine Augen, und seine Pupillen wirken, als wären sie komplett weiß – als wäre Rolf ein Untoter, ein Jenseitiger aus Fulcis L‘ALDILÀ. Das passt vielleicht auch besser als die Vorstellung, dass Rolf im engeren christlichen Sinne wiederauferstanden ist: denn die großen Leiden des Titelprotagonisten, die verschiedenen Etappen seiner Passionsgeschichte, fangen erst dann richtig an!
Vielleicht ist auch nur die Chronologie aus Passion, Tod, Wiederauferstehung und Erlösung durcheinander gebracht. Die Leiden einer Actionfigur mit christlich angehauchter Ikonographie zu überhöhen, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches im Actionkino. Aber das derartig explizit zu tun, ist schon sehr speziell. Rolf erledigt dann zwar seine Ex-Kumpanen, bekommt dabei aber so einige Kratzer ab. Grund genug für ihn, um sich mehrfach in dramatische Kreuzigungsposen zu werfen. Um erschöpft und vor Schmerzen der Ohmacht nahe liegend von einem mitfühlenden Freund gehalten zu werden – für eine schaurig-schöne Pietà-Pose. Um von einem seiner Ex-Kumpanen Wundmale in die Hände geschossen zu bekommen – aus denen er später in dramatischen Momenten auch üppig blutet.
Rolf verschwindet gleich zwei mal für etwas längere Zeit aus dem Film: das erste Mal, nachdem er niedergeprügelt und von Blutegeln aufgefressen wurde. Da bleibt er erst mal eine ganze Weile liegen, während die kaputte Welt um ihn herum auch ohne ihn weiterhin kaputt sein kann. Später begleiten wir für längere Zeit seinen Antagonisten, also den „Chef“ seiner ehemaligen Söldner-Kameraden, der ein wenig aussieht wie ein unbekannter, älterer und schwer derangierter Halbbruder Uwe Ochsenknechts. Er trinkt in der lokalen, abgeranzten Bar, wo früher Joanna arbeitete, spricht dann auf der Straße eine Prostituierte an. Dabei wird er von allen als das angesehen, als das auch wir als Zuschauer ihn sehen: als völlig rohen, vertierten Rüpel, der jederzeit durch die Decke gehen kann. In einem späteren Gespräch meinte Sano, dass der Antagonist nichts anderes sei als ein Spiegelbild Rolfs. Das Spiegelbild Protagonist-Antagonist ist im Genrekino ja nichts außergewöhnliches, aber in ROLF führt das zu besonders bitteren Erkenntnissen. Im Prolog des Films sehen wir, wie weiße Militärs in einem afrikanischen Dorf ein Massaker anrichten. Später erinnert der Antagonist Rolf mehrmals daran, dass er, Rolf, „der Allerbeste von uns“ war. In einem späteren Flashback sehen wir, wie Rolfs Antagonist bei einem Massaker in einem Dorf von seinen Kameraden kleine Kinder in die Luft werfen lässt, um sie dann in der Luft abzuschießen. Das ist sicher der Gipfel oder der Tiefpunkt, den die Welt in ROLF erreicht. Rolf will da nicht mehr mitmachen, rettet im Vorbeigehen ein paar Dorfbewohner und möchte aussteigen. Eine Affekthandlung des „Besten von uns“? Die Kinder-Wurf-und-Abschieß-Szene ist selbstverständlich infam, völlig geschmacklos, unerträglich – vielleicht die perfekte Darstellungsform für infame, geschmacklose und unerträgliche Gewalttaten, auch wenn viele Filmzensurbehörden dieser Welt (ich denke naheliegender Weise an eine bestimmte Institution mit Sitz in Wiesbaden) Gewalt lieber in „geschmackvoller“ und „nicht grausamer“ Weise dargestellt mögen.
In dieser Szene könnte man die Frage stellen, ob Exploitationfilme alles dürfen? Sicher ist, dass ROLF ein Film ist, der keinen Spaß macht. Er ist kein Unterhaltungsfilm. Er ist schroff, absichtlich hässlich, will abstossen. Als möglicher Vergleich fiele mir James Glickenhaus‘ THE EXTERMINATOR ein: ein ähnlich monströser, hässlicher, qualvoll langsamer, dezidiert „anti-unterhaltsamer“ und absolut merkwürdiger Abgrund von einem Film. Wer sich an den Gewalttätigkeiten in ROLF ergötzt, stellt nicht so sehr das Funktionieren der Filmzensurbehörden als das Funktionieren von Wertevermittlung in Schule, auf Arbeit, in der Familie, in der Gesellschaft (bzw. seine eigene geistige Gesundheit)in Frage. ROLF ist ein kranker Film über die kranke Seite der Menschheit, und er macht das, was kranke Organismen bisweilen tun: alles auskotzen. Dominik Grafs und Hans Schmids These, wonach der italienische Genrefilm die Niederträchtigkeiten des Zweiten Weltkriegs auskotzte, scheint mir bei ROLF noch mehr zuzutreffen als beispielsweise bei Sergio Martinos Gialli. Die Kinder-Wurf-und-Abschieß-Szene wirkt im Lichte italienischer Kolonialverbrechen noch mal doppelt so bitter.
Ich könnte noch vieles über ROLF schreiben. Über unvergessliche Szenen. Über einen Held, der in einem prolligen Sakko mit zurückgezogenen Ärmeln zusammen mit seiner Freundin durch eine arabische Marktgasse spaziert, um seinen Dämonen zu entkommen. Über derangierte Ex-Kämpfer, die zum Kampfeinsatz im Wald als einzigen Proviant eine Feldflasche voll Kokain mitnehmen. Über diese Bildkompositionen, die Rolf und Joanna miteinander in einem Bild vereinen, aber dabei dennoch schmerzhaft trennen. Über gruselige, unvergessliche Weitwinkelbilder der verschwitzt-lüsternen Vergewaltigergesichter. Über unfassbare, pathetisch-schmalzige Disco-Scores. Über erfrischende Duschen unter einem Wasserfall, die die Schuld doch niemals wegwaschen werden.
ROLF ist, vielleicht dicht gefolgt von ARCANA, zweifelsohne der schwierigste Film des Festivals.


ab etwa 00.30/1.00 Uhr – im Hotel

Es gab einmal eine Zeit, da war Samstag Abend bzw. Nacht die Zeit, wo auf RTL oder RTL2 oder SAT1 oder ProSieben irgendwelche B-Actionfilme mit wenig Ansehen, aber manchmal recht hohem Interesse liefen. Auf VOX liefen um die Zeit dann meist Soft-Erotikfilme – manchmal sogar italienische. Wie gut hätte das als Tagesabschluss gepasst, um von ROLF wieder ein wenig herunterzukommen. Aber nein: heutzutage laufen auf besagten Kanälen um die Zeit diese fürchterlichen „Qualitätsserien“. Das einzige leicht genre-ig bzw. exploitig angehauchte, was ich fand, war der Showdown von DR. NO (den ich unter den James-Bond-Filmen eh nicht so mag) auf ARD. Doch die HD-Auflösung war dermaßen absurd totgefiltert, dass das aussah, als würden Sean Connery und Ursula Andress durch eine vorabendliche Telenovella hopsen. Nach einigem erfolglosen Herumprobieren an der Bildeinstellung habe ich es dann aufgegeben. Selbst das Fernsehen ist gentrifiziert. Deprimierend...


Sonntag, 30. Juli

ab etwa 11.00/11.30 Uhr

Ich fühle mich hundeelend. Ein bisschen wie Rolf gegen Ende des Films, bloß ohne das erhabene Gefühl, ein christlicher Märtyrer zu sein. Die Halsschmerzen, die sich gestern Nachmittag angekündigt haben und gegen Abend fest eingenistet haben, sind noch stärker geworden – zusammen mit Kopfschmerzen und einem allgemein fiebrigen Gefühl. Und dann kommt auch noch diese fürchterliche Sommerhitze hinzu (die gefühlt jeder Mensch auf der Welt außer ich unglaublich großartig findet)...
Frühstücken... In einer Bäckerei bestelle ich einen Milchkaffee zum Mitnehmen, dazu ein Schoko-Croissant. Von der Verkäuferin folgt das obligate „Kommt noch etwas dazu?“. Hhm... ja, warum denn nicht: „Ein Milchbrötchen mit Schokolade?“. Die Verkäuferin bricht in ein kurzes, herzliches Lachen aus. Freut sie sich, dass ich nach den basischen Komponenten eines Frühstücks noch eine Schlemmerei dazu nehme? Egal, ich fühle mich ein bisschen besser. Das war eben wie in kurzer Moment in einem Film, wo die Zeit einfach mal kurz stehen bleibt.
Auf der Straße begegnet mir später eine Gruppe von Co-Zuschauern (darunter einer der Ankündiger/Filmeinführer), und sie alle grüßen mich. Haben die schüchterne Figur wieder erkannt, die sich immer etwas geduckt am Rand aufhält, aber bei jedem Film da war. Ja, jetzt ist die Welt wieder ein bisschen in Ordnung.


ab 13.00 Uhr

IL MAGNIFICO AVVENTURIERO (Mit Faust und Degen)
Regie: Riccardo Freda
Italien / Frankreich / Spanien 1963, 92 MInuten (deutsche Fassung)
Der Künstler Benvenuto Cellini (Brett Halsey) treibt sich durch die italienische Renaissance und malt, erschafft Skulpturen, beklaut Konkurrenten, macht schönen Frauen (Claudia Mori, Françoise Fabian) schöne Augen, prügelt sich, kämpft wacker im Namen des Papstes (Bernard Blier), fälscht Münzen und erlebt überhaupt viele Abenteuer.
So ein Schlingel aber auch, dieser Cellini! Alles, was bei dem ähnlich gelagerten, nämlich „familienfreundlichen“ und „leichten“ Abenteuerfilm LA RIVOLTA DEI SETTE formelhaft wirkte, ist es bei IL MAGNIFICO AVVENTURIERO im Grunde genommen genau so. Doch hier kommt dann dieses Quäntchen Inspiration hinzu, das aus schmalzig frisierten Beaus richtige Helden, aus gestelltem Gerangel mitreissende Kampfszenen, aus gestelzten Dialogen zwischen männlichen und weiblichen Figuren witzige kleine Screwball-Vignetten, aus augenscheinlichen Pappmaché-Kulissen prunkvolle Fürstenhallen oder urige Wirtsstuben, aus Witzen auf Schulbub-Niveau krachende Schenkelklopfer und aus einem total fadenscheinigen (Nicht-)Drehbuch einen fetzigen audiovisuellen Flow macht. IL MAGNIFICO AVVENTURIERO macht zumindest in der ersten Stunde auch alles richtig, damit man als Zuschauer wirklich einen Riesengaudi hat. In der letzten halben Stunde hing der Film etwas durch – vielleicht hing ich persönlich auch etwas durch. Aber wenn Cellini am Schluss seinen „Perseus“ in eine Tonform gießt und schließlich abklopft, fühlt sich das wie eine kleine persönliche Renaissance an: man fühlt sich so erfrischt wie wiedergeboren.



ab 16.15 Uhr

LA FINE DELL‘INNOCENZA (Das Ende der Unschuld / Annie Belle – Zur Liebe geboren)
Regie: Massimo Dallamano
Italien / UK 1976, 86 Minuten (deutsche Fassung)
Die Internatsschülerin Annie Belle reist mit ihrem Vater Michael nach Hongkong. Dort merkt der Zuschauer, dass Michael nicht ihr biologischer Vater, sondern ihr „Sugar Daddy“ ist. Während der ältere Herr wegen eines Devisenbetrugs in den Knast landet, vergnügt sich Annie Belle mit verschiedenen europäischen Bekanntschaften beiderlei Geschlechts, dann mit dem Stuntman Chen, begegnet einer Mönchin und sucht nach sich selbst.
Eine klassische Coming-of-Age-Geschichte mit ganz viel Coming und, da Daddy Michael recht schnell aus dem Film verschwindet, wenig Age. Die Geschichte einer jungen Frau, die nach und nach entdeckt, dass die Welt wesentlich komplexer ist, als sie den Anschein hat. Zumindest am Anfang weiß sie, dass „Daddy“ nicht wirklich „Daddy“, sondern eben „Sugar Daddy“ ist. Dann muss sie auf die harte Weise lernen, dass Angelo und Linda, das wohlhabende Traumpaar, das sie empfängt, keineswegs so traumhaft ist. Hinter der gutbürgerlichen Fassade steckt in Angelo ein manipulativer Vergewaltiger, während Linda schließlich so besitzergreifend wird, wie es Michael nie war. Der idealistische Künstler Philip täuscht ihr die Liebe seines Lebens vor, und verkauft sie dann nach einigen Tagen idyllischer Liebe innerhalb von 30 Sekunden für ein bisschen Geld an Angelo. Der Stuntman Chen mag mit seinem Motorrad wie ein Draufgänger wirken, doch wenn es in der Spielhölle brenzlig wird, rennt er auch schnell davon und ist ansonsten ein Muttersöhnchen, der sich auf dem Hausboot von seinen Eltern bekochen lässt. Die mysteriöse, erotische Mönchin wirkt aus der Ferne sehr mysteriös und erotisch – aber letztendlich hat sie für Annie auch nur Glückskeksweisheiten parat. Die wahrscheinlich größte Wandlung macht wohl tatsächlich Michael durch, wenn er am Schluss erkennt, dass er Annie verloren hat, dass sie das Recht auf ihr eigenes Leben hat, dass sie alleine weiterziehen muss.
Trotz einiger Ruppigkeiten ist LA FINE DELL‘INNOCENZA ein Film, der ein bisschen wie seine Heldin voller Neugier und einer gewissen Naivität die Welt entdeckt. So, wie Annie von einer Etappe zur nächsten läuft und positive wie negative Erfahrungen sammelt, sammelt Dallamanos Emmanuelle-ploitation-Film unvergessliche Momente. Die zwei älteren Damen, die in der Kunstgallerie im Angesicht einer phallisch geformten Plastik Philips staunen. Annie und die Mönchin, die nackt durch das Wasser waten, ihre Kleidung schützend über den Kopf haltend – und später (freilich ganz sexlos) zusammen in einer Hütte übernachten, die so dermaßen offensichtlich als Käfig inszeniert wird (warum, ist mir allerdings bis heute unklar – würden die italienischen Dialoge hier einen Bezug herstellen?). Und natürlich die (das behaupte ich jetzt mal so) wahnwitzigste Montage aus wildem Sex im Pferdestall und Eisschlecken, das im italienischen Kino der 1970er Jahre zu sehen war – und wenn es die tatsächlich anderswo gibt: dort sieht man danach bestimmt keine drei, vier, fünf ausgeleckte Eiswaffeln in einem Aschenbecher liegen.
Wie so viele Filme bei diesem Festival ist LA FINE DELL‘INNOCENZA nicht nur toll fotografiert, sondern hört sich auch großartig an. Das Trio aus Fabio Frizzi, Franco Bixio und Vince Tempera hat ganze Arbeit geleistet: der Score ist nicht nur eine tolle musikalische Untermalung der Bilder, sondern wird auch immer wieder dramaturgisch genutzt, um etwa die Mönchin (ob sie jetzt auf der Leinwand zu sehen oder nur in Annies Gedanken zu spüren ist) mit einem eigenen Motiv einzuführen. Wer reinhören möchte: hier gibt es den Titel-Song, und hier das Titel-Motiv in instrumentaler Version.

ab ca. 18.00 Uhr

Essenszeit! Nach dieser fernöstlich angehauchten Delikatesse war es eigentlich klar, was es nun geben musste: etwas Asiatisches. Deshalb ging ich auch schnurstracks zu dem ersten asiatischen Imbiss, der in der Schweizer Straße beim Filmmuseum zu finden war. Meine Bestellung ist schon aufgegeben, ist sitze draußen an einem Tisch am Rand des Bürgersteigs – und da kommen schon die nächsten Co-Zuschauer, denen LA FINE DELL‘INNOCENZA Lust auf asiatische Köstlichkeiten gemacht hat. Der Platz war begrenzt und deshalb setzten sich drei von ihnen zu mir an den Tisch (einige andere Co-Zuschauer des Festivals fanden drinnen Platz und bekamen hoffentlich auch ein gutes Essen). Nachdem ich mich vorstelle („Hallo, ich heiße David, ich komme aus Jena und ich bin filmsüchtig“) lerne ich also Sano Cestnik, Sven Safarow und dessen Freundin (die ich hier nicht namentlich nenne, weil sie sich als „nicht filmsüchtig“ outete und vielleicht im Rahmen der deutschsprachigen Film-Blogosphäre lieber anonym bleiben möchte?) auch persönlich kennen. Als ich mich dann auch als permanenter Gastautor von „Whoknows Presents“ vorstellte, gab es bei Sano und Sven wohl den gleichen „Aha, das ist diese Person also in live“-Effekt wie bei mir in den letzten Festivaltagen. Bei rotem Thai-Curry, Hähnchenspießen in Erdnuss-Sauce, Frühlingsröllchen und einer Suppe sprachen wir über LA FINE DELL‘INNOCENZA (über die Entwicklung der Figur Michaels), ROLF (über die Bedeutung der Blutegel), LA SPOSINA (über das dem Film zugrunde liegende Gesellschafts- und Weltbild), INGRID SULLA STRADA (über die Bedeutung der satirischen oder/und der vielleicht unfreiwillig komischen Momente), über Lucio Fulcis vielfältiges Schaffen, über Mario Siciliano, über Massenverbrechen, Verdrängung und das Weiterleben mit und unter Tätern. Sowohl Sano (der ROLF einführte) wie auch Sven (der UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA einführte) meinten, dass die vierte die bislang „härteste“ Terza-Visione-Ausgabe sei: weniger „unschuldige“ Filme, mehr „harte Autorenfilme“.
Irgendwann zwischendurch merkte ich, dass die Halsschmerzen und Kopfschmerzen, die mich zur Mittagszeit fast in den Wahnsinn trieben, vorbei waren. Merke: Filme und Filmgespräche sind also gut für die Gesundheit!



ab 20.00 Uhr

LA NOTTE DEI SERPENTI (Die Nacht der Schlangen)
Regie: Giulio Petroni
Italien 1969, 107 Minuten
In einem mexikanischen Dorf planen einige Notabeln unter der Führung des korrupten Sheriffs Hernandez (Luigi Pistilli) einen Mord, um eine Erbschaft zu erschleichen. Der heruntergekommene, versoffene und verlachte Gringo Luke (Luke Askew) wird damit beauftragt – mit dem Hintergedanken, ihn hinterher wieder loszuwerden. Als Luke sein Mordopfer erblickt, macht er einen Rückzieher, wird wieder nüchtern und wendet sich gegen die Intriganten.
Oh, du zarte, bittersüße Melancholie!
Der Regisseur Till Kleinert (DER SAMURAI) führte LA NOTTE DEI SERPENTI in einem überaus schönen, stellenweise fast poetischen Beitrag ein, und wies darauf hin, auf einige Details genau zu achten: so unter anderem etwa darauf, dass viele Menschen in diesem Film „aus Versehen“ getötet werden, weil offenbar der menschliche Körper zu zart für diese harte Wüstenlandschaft sei; darauf, dass der Held (Luke) eine eigene Melodie hat, die seine Zerbrechlichkeit, seine Verletztheit und Verletzlichkeit, seine Trauer ausdrückt; darauf, wie sich die Beziehung zwischen der Bordellbetreiberin Dolores und dem Sakristan Jesus-Maria als quasi unabhängiger kleiner Nebenplot entwickelt (beide Cousins – und Teilnehmer der Intrige). Kleinert wies von sich, ein Spezialist des Italowestern zu sein, aber auf seine überaus wertvollen Beobachtungen muss ich noch zu sprechen kommen.
Zunächst ist da das Nichts! Die erste Hälfte von LA NOTTE DEI SERPENTI ist Stillstand, Gelähmtheit, endloser Fatalismus und viel, viel, viel Melancholie. Tatsächlich ist der Film extrem gut und ökonomisch erzählt, weil er kleine Informationsfetzen zur gesponnenen Intrige nach und nach enthüllt. Aber passieren tut erst einmal wenig. Natürlich: Hernandez tut sich mit einem Banditen am Rande der Stadt zusammen und fordert von den Teilnehmern der Intrige, die er eigentlich zunächst nur aufdeckt, Schutzgeld. Ja, der Held wird herumgeschubst und landet bei einer alleinerziehenden Schamanin. Ja, Dolores und Jesus-Maria zanken sich rum. Aber alles schwelgt zunächst in dieser lähmenden Melancholie, die dieses halbtote Kaff am scheinbaren Ende einer verdammt trostlosen Welt im Würgegriff festhält. So konsequent antiklimaktisch dürfte kaum ein Film sein, der in den 1960er Jahren als Western vermarktet wurde. 
Das widerspiegelt nicht zuletzt den Helden. Luke ist der Al Roberts des Italowesterns (Al Roberts: der Protagonist des ultra-fatalistischen film-noir-Schmuckstücks DETOUR) – bloß noch wesentlich betrunkener, viel schweigsamer, lethargischer und mit schlimmeren Verbrechen auf dem Kerbholz. Hier wird Luke nicht in einem heruntergekommenen Café angeschnauzt, sondern aus einer Hängematte geworfen und dazu gezwungen, für ein bisschen Tequila die Stiefel des örtlichen Schlägers zu putzen – um schließlich eine Trinkflasche voller Pisse zu bekommen und dann verprügelt zu werden, als er ausspuckt. Luke, der uns mit einer sanften, Gitarrenballade als großer Verletzter präsentiert wird, bewegt sich in der ersten Filmhälfte nur, wenn er von anderen geschubst wird oder Alkohol in Aussicht ist. Ansonsten liegt, döst, lümmelt er sturzbetrunken oder schwerverkatert herum. Der Film tut es ihm im Grunde gleich. Es ist in der ersten Hälfte sehr schwer, in LA NOTTE DEI SERPENTI einen Western zu erkennen – es ist eher ein Melodrama im Snooze-Modus.
Ein gewaltiger Ruck geht durch Luke, als er merkt, dass er Manuel, den etwa zehnjährigen Sohn (bzw. Adoptivsohn) der Schamanin töten soll, die ihm Unterkunft gewährt hat. Den Auftrag hat er nicht für Geld, nicht mal für Alkohol, sondern deshalb akzeptiert, damit er selbst nicht getötet wird (und wurde diesbezüglich selbst reingelegt). Luke wacht auf: er schwört Nüchternheit, zieht seine alte Revolverheld-Pistole wieder an, tauscht seinen zerlöcherten Sombrero gegen seinen alten Revolverheld-Hut ein (die stark lädierten Sandalen, die er anfangs trägt, trägt er bis zum Schluss – wahrscheinlich hat er seine Revolverheld-Stiefel irgendwann einmal gegen Tequila eingetauscht). Mit ihm wacht der ganze Film auf: Lukes sanft gezupftes, leise melancholisches Motiv ertönt nun mit einer lauten, Italowestern-typischen Elektrogitarre voller Pathos (der Credit für den wunderbaren Score geht hier an Riz Ortolani). Die Szene, in der Luke sein altes Revolverheld-Kit zu dieser Musik anzieht, ausprobiert, schließlich Manuel die Fuselflasche rausbringen lässt, um sie dann zielsicher (betrunken konnte er vorher kaum gerade schießen) abzuknallen, war ohne Zweifel der ganz große emotionale Höhepunkt des Festivals. Die geradezu plumpe Symbolhaftigkeit des ganzen war fast zu viel des Guten, aber wie heißt es so schön: „too much of a good thing can be wonderful“. Ein Teil des Publikums brach in spontanen Applaus aus, als Luke die Flasche kaputt schoss. Die Szene gibt es hier zu sehen (und immer wieder zu sehen).
Mit Luke „erwacht“ auch der komplette Film und verwandelt sich in einen echten Italowestern mit Shootouts, Explosionen, Duells. Nach der bittersüßen Melancholie ist das fast schon ein bisschen schade, aber es ist auch höchst konsequent. Nationsgründung und -werdung, Frontier-Mythen, Zivilisierung des Westens – all das spielt keine Rolle in LA NOTTE DEI SERPENTI. Giulio Petroni erschafft, ja „erfindet“ quasi das Genre „neu“ aus einer Atmosphäre existentieller Melancholie heraus, die mit typischen Westernmotiven erst einmal nicht viel zu tun hat.
Der Punkt mit dem versehentlichen Töten, den Till Kleinert angesprochen hat, ist noch mal eine Erwähnung wert. In LA NOTTE DEI SERPENTI werden tatsächlich mindestens vier Personen „aus Versehen“ getötet. Ein Postkutscher wird gleich in der ersten Minute des Films so geohrfeigt, dass er mit seinem Kopf unglücklich an seine Nachtkommode stößt. Luke schlägt einen der Intriganten, offensichtlich ohne Absicht, ihn zu töten, aber einer der Schläge tötet ihn schließlich. Jesus-Maria schließlich erschlägt oder erwürgt Dolores offenbar im Affekt (man sieht aber die Todesursache nicht). Und schließlich hat Luke auch in seiner Vergangenheit einen Menschen „aus Versehen“ getötet. Hitchcocks Postulat aus TORN CURTAIN, nämlich dass es unfassbar schwer ist, mit bloßen Händen einen Menschen zu ermorden, wird hier in sein Gegenteil verkehrt: Menschen sterben wie die Fliegen, obwohl oftmals nicht mal eine Tötungsabsicht vorhanden ist. Hier wäre neben der existentiellen Verzweiflung der Hauptfigur wieder ein Bezug zu DETOUR, wo der Protagonist Al Roberts – wohlgemerkt in seiner eigenen, subjektiven Erzählung – „aus Versehen“ zwei Menschen tötet. Vielleicht hat LA NOTTE DEI SERPENTI hier ein ganz anderes Verhältnis zu Gewalt als andere Italowesterns. Zumindest aus den Leone-Westerns fällt einem dieses Bild ein: jemand wird verprügelt, gefoltert oder kaltblütig ermordet und irgendeine Figur (nicht unbedingt der Täter, sondern vielleicht ein Zuschauer aus der Täterbande) quittiert das mit einem sadistischen Lachen. In Petronis Film hat niemand Spaß an Gewalt. Nachdem Luke sich geweigert hat, den jungen Erben Manuel zu ermorden, wird der Tavernenbesitzer von Hernandez mit der Aufgabe betraut. Dem wird bei dem Gedanken, seinen jungen Helfer (Manuel hilft bei ihm Saubermachen in der Taverne) zu töten, ganz mulmig. Er zögert lange, schiebt das ganze auf, schließlich lockt er den Jungen unter fadenscheinigen Argumenten zur Pferdetränke und versucht ihn darin zu ertränken. Dabei weint der Wirt bittere Tränen. Als Luke ihn erwischt und erschiesst, um Manuel zu retten, könnte man fast Erleichterung in seinem Gesicht sehen. Ein Gewalttäter mit sadistischem Lachen oder mit melancholischem Weinen – letzteres ist vielleicht noch wesentlich unerträglicher anzusehen.
Ich habe jetzt schon eine ganze Menge zu LA NOTTE DEI SERPENTI, dem besten Film des diesjährigen Terza Visione geschrieben, aber wir müssen auch mal bald weitermachen mit dem telepathischen Insektenmädchen. Nur so viel: nach einer extrem ernüchternden Wiedersichtung von Leones PER UN PUGNO DI DOLLARI im Mai dieses Jahres hatte ich Italowesterns in der Liste meiner Sichtungsinteressen etwas heruntergestuft. Jetzt weiß ich: man muss jenseits der drei großen Sergios (Leone, Corbucci, Sollima) nur das Richtige finden. Und genau das hat das Orga-Team des Terza Visione auch getan. Dafür ein großes Dankeschön!
P.S.: Habe ich schon erwähnt, wie großartig Luke Askew als Luke eigentlich ist?



ab 22.30 Uhr

PHENOMENA
Regie: Dario Argento
Italien 1985, 107 Minuten
Irgendwo in den Schweizer Bergen bringt ein irrer Serienmörder junge Teenager-Mädchen um. Die junge Amerikanerin Jennifer (Jennifer Connelly) wird in ein Internat in Tatortnähe untergebracht. Sie ist Schlafwandlerin und kann telepathisch mit Insekten kommunizieren. Von dem Entomologen McGregor (Donald Pleasance) ermutigt bricht das Mädchen zusammen mit einer Leichenfliege auf, um den Mörder zu finden.
Mein erster Argento auf großer Leinwand. Vielleicht hatte ich zu große Erwartungen, aber die ultimative Epiphanie war das nicht. PHENOMENA ist nicht PROFONDO ROSSO, oder SUSPIRIA, oder OPERA. Aber vielleicht hatte Terza Visione bis zu diesem Zeitpunkt schon im positiven Sinne zu sehr auf mich abgefärbt. Die Vergleichsebene war ja nicht „mittelmäßiger Allerlei-Film digital auf Leinwand/DVD-Sichtung VS. Argento auf großer Leinwand“, sondern „tolle Filmauswahl in 35mm auf großer Leinwand UND zusätzlich Argento auf großer Leinwand“. Als Kino-Erlebnis haben mich der Bava und der Fulci und der Questi und der Petroni mehr beeindruckt.
Was aber für Terza Visione insgesamt gilt, trifft auch auf PHENOMENA zu: wenn ich jammere, dann ausschließlich auf hohem Niveau. Da ich gerade beim Jammern bin: PHENOMENA gilt bisweilen als Argentos Insektentelepathiequatsch-Film und deshalb für manche als der Beginn vom Ende in Argentos Filmografie. Ich hätte mir im Gegenteil noch mehr Insektentelepathiequatsch in diesem Film gewünscht. Weniger Mördersuche und mehr Szenen der Liebe und der Zärtlichkeit zwischen Jennifer und den Insekten. Aber das ist wie gesagt Jammern auf hohem Niveau.
Anderswo wird PHENOMENA als emotionaler und zärtlicher als die bekannteren Argento-Filme bezeichnet (hier etwa in der tollen Besprechung von Oliver Nöding) bzw. als Film, in dem Argento schon rein sozialgeografisch seine Komfortzone verlässt (hier in der Besprechung von André Malberg, der wahrscheinlich auch bei der Vorführung anwesend war, bei Eskalierende Träume). Dazu vielleicht eins von mir: PHENOMENA enthält die wahrscheinlich gewalttätigste Szene in Argentos mir bislang bekanntem Werk. Es ist der Moment, wo Jennifer merkt, dass in ihrem Zimmer geschnuppert wird, ihre Briefe durchgelesen werden, alle „Indizien“ willkürlich gegen sie verwendet werden, die autoritäre Obrigkeit des Internats und ihre verständnislosen, gemeinen Mitschülerinnen eine unheilvolle Allianz gegen sie gebildet haben. Als sie wegläuft, rennen ihr Mitschülerinnen nach und werfen ihr (verbal und gar auch physisch) Sachen an den Kopf. Nun, hier werden nicht in ultra-stilisierter, hyper-ästhetisierter und formalistischer Weise Körper mit spitzen Gegenständen zerstört, sondern auf vergleichsweise nüchterne, triviale Weise eine Seele angegriffen. Das ist qualvoller anzusehen. In nur wenigen Minuten und einfachen, unvergesslichen Bildern hält der von einigen gerne als weltfremder und gefühlloser Formalist geschmähte Argento die Essenz von Schüler-Mobbing emotional ergreifender und lebensnaher fest als ich es bislang je anderswo in künstlerischer Form erlebt habe – ohne das ganze dabei im eigentlichen Sinne überhaupt zu „thematisieren“. Wie präzise er dabei auch zeigt, dass diese verfluchten Lehrer selbstverständlich auf Seiten der Mehrheit sind, und das Gefühl der Erniedrigung und Isolation, die die Opfer haben, perverserweise zu deren Ungunsten instrumentalisieren, weil das so verdammt bequem ist. Nur eine kurze Nebenszene (zugegeben: mit kleinem Vorlauf)! In einem Argento-Giallo mit Insektentelepathiequatsch! Vielleicht zeigt dieser Moment mehr als alles, wie großartig Argento ist.
Als ob das schon nicht genug wäre, findet das ganze noch einen Ausgang in der großen, wunderbaren Insektenbeschwörung. Jennifer, sichtlich wieder vollkommen souverän, hell erleuchtet, mit einem frischen Wind, der ihr die Haare aus dem Gesicht weht, sagt „I love you!“. Sie sagt es zu den Insekten, aber natürlich wirkt es nach den Niederträchtigkeiten, die sie eben erlebt hat, auch wie die Manifestation eines fast übermenschlichen Vergebungswillens. Toll! (hier der letzte Teil dieser Szene)


Mit dem Dritten sieht man besser

Einer der Filmvorführer des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt soll die Organisatoren nach einem Test im Angesicht von ROLF gefragt haben, ob sie denn überhaupt keine „Untergrenze“ hätten. Oh, doch! Die Qualitäts-„Untergrenze“ war ziemlich hoch. Ich glaube, dass viele viele viele Dutzende Menschen das gleiche sagen können wie ich: das 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms war eine richtig schöne Veranstaltung mit einem extrem gut zusammengestellten Programm.

Gefehlt hat vielleicht ein Piratenfilm... Es war das erste Terza-Visione-Festival, das nicht im Nürnberger Komm-Kino, der Heimbasis der Eskalierenden Träumer und Freunde, stattfand, sondern im Deutschen Filmmuseum – und irgendwie werde ich das Bild nicht los, dass Abenteurer der abseitigen Filmkultur einen Panzerkreuzer der offiziösen deutschen Filmmarine gekapert haben. Ein Marsch durch die Institutionen, bei dem nicht die Eskalierenden Träumer sich institutionalisierten, sondern die Institutionen zum Eskalieren und Träumen gebracht wurden. Vielleicht sehe ich das alles zu sehr aus der Perspektive der cinematographisch desertifizierten Region Thüringen, aber wenn Eskalierende Träumer für ein komplettes Wochenende entscheiden können, was in einem offiziell-offiziösen Deutschen Filmmuseum im Programm lief und damit auch noch so durchschlagenden Erfolg hatten, dann gibt es doch Hoffnung für die Filmkultur in Deutschland. Weiter so!


Persönliches Ranking

Ganz ganz groß

LA NOTTE DEI SERPENTI

ROLF

UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA

ARCANA


Herausragend

UN UOMO DA RISPETTARE

PHENOMENA

DIABOLIK

LA FINE DELL‘INNOCENZA


Sehr gut

IL MAGNIFICO AVVENTURIERO


Ganz okay

INGRID SULLA STRADA

CHI È SENZA PECCATO...

LA SPOSINA


Geht so

LA RIVOLTA DEI SETTE


Nicht klassifizierbar – mit großer Vorsicht zu behandeln

SVEZIA INFERNO E PARADISO/SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES?