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Sonntag, 1. Januar 2017

Ölmultis, ein Auto und ein Haufen Glas

Einige Werbe- und Industriefilme aus vergangenen Jahrzehnten

Eigentlich wollte ich ja noch im Dezember einen Artikel über Alexandre Alexeïeff und Claire Parker veröffentlichen, der aber über Weihnachten steckengeblieben ist (aber hoffentlich in diesem Monat noch kommt [und hier ist er schon]). Deshalb zur Überbrückung bis Davids Jahresrückblick hier nur ein kleiner Pausenfüller. Und Alexeïeff (ohne Parker) ist hier auch mit dabei.



THE BIRTH OF THE ROBOT
Großbritannien 1936
Regie: Len Lye


In Großbritannien haben eigene Filmabteilungen großer Konzerne, privatwirtschaftlicher ebenso wie (halb-)staatlicher, eine lange Tradition. Produziert wurden Werbe-, Industrie- und Dokumentarfilme, über die eigenen Tätigkeitsfelder, aber auch über andere Themen. Neben der vom General Post Office gestellten GPO Film Unit und British Transport Films, das von der Eisenbahn und weiteren öffentlichen Transportunternehmen betrieben wurde, ist hier vor allem die 1934 ins Leben gerufene Shell Film Unit zu nennen (noch detailliertere Informationen darüber hier). Alle diese Organisationen gehörten zum Dunstkreis der britischen Dokumentarfilmbewegung um John Grierson. Von Grierson, dem Chef der GPO Film Unit, beeinflusste Produzenten wie Edgar Anstey (später langjähriger Chef von British Transport Films) und vor allem Sir Arthur Elton prägten das filmische Geschehen bei Shell. Zu den Regisseuren, die sowohl für GPO Films als auch für die Shell Film Unit arbeiteten, zählte auch der geniale Neuseeländer Len Lye (1901-1980), der in den frühen 30er Jahren nach England gegangen war. Seine Domäne war der abstrakte Film, und hier ist er in einem Atemzug mit Oskar Fischinger und Norman McLaren zu nennen. THE BIRTH OF THE ROBOT, der eher nebenbei Werbung für Schmieröl von Shell macht, ist also ein für ihn ungewöhnlicher Film. Das verwendete Farbverfahren ist Gasparcolor, das ein ungarischer Chemiker erfunden hatte, und das auch von Fischinger und Alexeïeff mehrfach benutzt wurde. Lyes Auftraggeber von Shell waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und der Film wurde in den britischen Kinos von geschätzten drei Millionen Leuten gesehen.




Wir bleiben noch bei Shell. Am Anfang seiner Laufbahn arbeitete auch Geoffrey Jones (1931-2005), den ich hier schon vorgestellt habe, bei der Shell Film Unit, wo er einige Filme drehte, bis er sich 1961 selbständig machte und seine eigene Firma gründete. Die beiden hier vorgestellten Filme realisierte er also nicht als Angesteller des Ölkonzerns, sondern als unabhängiger Auftragnehmer.

SHELL SPIRIT
Großbritannien 1963
Regie: Geoffrey Jones



1962/63 drehte Jones drei kurze Werbefilme für Shell, und das ist einer davon. Der Soundtrack bei allen drei Filmen besteht aus südafrikanischer Kwela-Musik. Tragendes Instrument dabei ist die Blechflöte (Pennywhistle). SHELL SPIRIT gewann einen Ersten Preis einer Vereinigung von Designern und Art Directors, und er machte Edgar Anstey auf Jones aufmerksam, wodurch es dann zu seinen drei Filmen für British Transport Films kam.


THIS IS SHELL
Großbritannien 1970
Regie: Geoffrey Jones



Man glaubt es kaum, aber dieser wunderbare Film wurde gar nicht für die Öffentlichkeit gedreht, sondern nur für die Aktionäre von Shell UK. Nachdem zuvor bei der Jahreshauptversammlung von Dutch Shell ein eigens gedrehter Kurzfilm gezeigt worden war, wollte man im britischen Zweig des Konzerns auch sowas haben, und da griff man auf Jones zurück, mit dem Shell ja schon gute Erfahrungen gemacht hatte. Jones realisierte THIS IS SHELL unter großem Zeitdruck - er hatte genau zwei Monate, dann fand die Aktionärsversammlung statt. Die Musik für THIS IS SHELL schrieb Donald Fraser, der auch LOCOMOTION vertonte, und ebenso wie bei Jones' drei Eisenbahnfilmen war auch hier die geniale Daphne Oram für die elektronische Bearbeitung des Soundtracks zuständig.



LA SÈVE DE LA TERRE
Frankreich 1955
Regie: Alexandre Alexeïeff



Hier nun also der oben schon angesprochene Alexandre Alexeïeff, und statt Shell jetzt die Konkurrenz von Esso. Da ja hoffentlich bald der Artikel über Alexeïeff kommt [schon da], will ich hier nicht viele Worte über ihn verlieren. - Ölmultis brauchen natürlich Autos, also bauen wir uns eines:


AUTOMATION
Frankreich ca. 1960
Regie: J.P. Rhein, Alexandre Alexeïeff (Beratung)



Ein wunderbar modernistischer Werbeclip für Renault. Damit da keine Missverständnisse aufkommen: Bei der Musik hat sich nicht etwa ein heutiger Möchtegern-Künstler aufgespielt, wie man das so häufig auf YouTube findet, sondern das ist der Originalsoundtrack, und er stammt von einem Maurice Van Thienen. Alexeïeff fungiert hier in den Credits als Berater, über den nominellen Regisseur J.P. Rhein weiß ich nichts. Schade, dass bei diesem Video die Bildqualität so schlecht ist - auf DVD sieht das noch deutlich eindrucksvoller aus.



Die letzten beiden Filme verfolgen ein gemeinsames Thema - sie sind der Herstellung von Glasprodukten gewidmet.

GLAS
Niederlande 1958
Regie: Bert Haanstra

GLAS darf man getrost zu den Klassikern des Industriefilms zählen, und er zählt auch zu den Filmen, die Geoffrey Jones (seiner eigenen Aussage nach) inspiriert haben. Der Film ist deutlich zweigeteilt - während es in der ersten Hälfte mehr um traditionelle Glasbläserei geht, wechselt es ziemlich genau in der Mitte zur industriellen Glasherstellung, was sich auch im Soundtrack widerspiegelt.



Bert Haanstra (1916-1997) ist neben Joris Ivens wohl der bekannteste holländische Dokumentarist (mit nur seltenen Ausflügen zum Spielfilm). Und siehe da - auch Haanstra hat für die Shell Film Unit gearbeitet. Auf Einladung von Sir Arthur Elton drehte er ab 1952 eine Reihe von Dokus für Shell, neben Filmen über den Themenkomplex Erdöl beispielsweise auch DIJKBOUW über traditionelle und moderne Methoden des Deichbaus in Holland. Schon zuvor hatte Haanstra mit dem 1950 gedrehten SPIEGEL VAN HOLLAND Aufsehen erregt. In diesem schönen neunminütigen Film werden Szenen des Alltags aus Holland als Spiegelung im Wasser der Grachten gezeigt, so wie das später Kurt Steinwendner in VENEDIG gemacht hat.

Leerdam ist seit dem 18. Jh. ein Zentrum der Glasproduktion in Holland, und auf Einladung der dortigen Königlichen Glasfabrik drehte Haanstra 1957/58 seinen bekanntesten Film. Genauer gesagt, er drehte und schnitt parallel zwei Filme. Der knapp halbstündige OVER GLAS GESPROKEN ist sozusagen der offizielle Film, also der Film, den die Glasfabrik von ihm wollte (und laut dem von John Wakeman herausgegebenen World Film Directors ist es "an excellent instructional documentary"). GLAS dagegen ist Haanstras persönliche Variation des Themas - und er geriet ihm zum Triumph. GLAS gewann als erster holländischer Film überhaupt einen Oscar, und auf einem Dutzend Festivals gab es Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



100 WATTS 120 VOLTS
USA 1977
Regie: Carson Davidson



Den im letzten September verstorbenen Carson "Kit" Davidson (1924-2016) habe ich hier schon anhand seines 3rd AVE. EL von 1955 vorgestellt. Wer Davidson noch nicht kennt oder wieder vergessen hat, sei erneut auf diese Seite verwiesen. Mit GLAS kann es der knapp 20 Jahre später entstandene 100 WATTS 120 VOLTS an filmgeschichtlicher Relevanz nicht aufnehmen, aber schön ist er auch, und das Dritte Brandenburgische Konzert von Bach trägt seinen Teil dazu bei. Gedreht wurde in einer Glühlampenfabrik der Firma Duro-Test. Die "120 Volt" im Titel beziehen sich natürlich auf das nordamerikanische Stromnetz mit seiner im Vergleich zu unseren 230 Volt deutlich niedrigeren Spannung.



Von Len Lye, Geoffrey Jones und Alexandre Alexeïeff & Claire Parker gibt es jeweils eine DVD mit einer Auswahl ihrer Filme, die auch die hier behandelten beinhalten, von Bert Haanstra gar eine Box mit 10 DVDs unter dem Titel "Bert Haanstra Compleet" (der Name sagt schon alles Nötige), und das zu einem sehr gemäßigten Preis und mit engl. Untertiteln. Von Carson Davidson gibt es dagegen nichts.

Sonntag, 4. September 2016

Der Perser und die Schwedin

JEUNESSE PERDUE (dt. Fassung DER PERSER UND DIE SCHWEDIN)
Großbritannien/Schweden 1961 (dt. Fassung 1966)
Regie: Akramzadeh
Darsteller: Akramzadeh (Mustafa), Anna Longlands (Monica), Bergitte Leonard (Bergitte), Saadoun Al-Ubaydi (Pierre)

Der geheimnisumwitterte Akramzadeh als Mustafa
Viel wurde schon geschrieben in den letzten drei Jahren über dieses Wunderding von einem Film, das der mysteriöse Iraner Akramzadeh 1961 in England (sowie zu einem kleinen Teil in Dänemark und Schweden) gedreht hat (einige Beispiele: Oliver Nöding, Silvia Szymanski, Lukas Foerster, Stubenhockerei). Doch nur wenige haben ihn gesehen, denn er wurde seit seinem kometenhaften Wiederauftauchen im Jahr 2013 auf einem Hofbauer-Kongress nur auf ausgewählten Veranstaltungen vor meist kleinem Publikum gezeigt. Schlimmer noch, die beiden einzigen bekannten Kopien des Films sind vom Essigsyndrom befallen, einer speziellen Form des chemischen Zerfalls, die Acetatfilm betrifft, und die sich, einmal in Gang gekommen, nicht mehr aufhalten lässt. So schien es, dass DER PERSER UND DIE SCHWEDIN in absehbarer Zeit nur noch als legendenumwobene Erinnerung derjenigen, die ihn noch gesehen haben, existieren würde. Um dem gegenzusteuern, wurde im letzten Dezember eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen mit dem Ziel, den Film zu digitalisieren und auf DVD zu veröffentlichen, um ihn nicht nur der Nachwelt zu erhalten, sondern auch einem größeren Kreis zugänglich zu machen. Mit 25 Euro (oder als Premiumspender auch mit mehr) konnte man sich beteiligen, um bei Erfolg der Kampagne nach einigen Monaten die DVD zugesandt zu bekommen, und da gab es für mich kein Zögern und Zaudern. Doch als Ende Januar das Ende der selbstgesetzten Frist bevorstand und die benötigte Summe von knapp 9000 Euro noch bei weitem nicht zusammen war, ließ ich schon alle Hoffnung fahren, DER PERSER UND DIE SCHWEDIN jemals zu sehen. Aber im letzten Moment fanden sich Geldgeber, die mit einer Spende von 3000 Euro die Finanzlücke schlossen, und so konnte das Projekt seinen Fortgang nehmen.

Bergitte (links) und Monica
Nun ist vor ungefähr einer Woche das Päckchen bei mir angekommen, ein paar Monate später als erwartet, dafür unerwarteterweise nicht nur mit einer DVD, sondern als Blu-ray/DVD-Kombi, mit gleich zwei Versionen des Films - neben der bislang bekannten deutschen Version auch die weitgehend rekonstruierte Originalfassung - sowie nicht weniger als drei Audiokommentaren (an denen auch einige bekannte Blogger-Kollegen beteiligt sind) und weiterem Bonusmaterial. Hier auf der Projektseite der Kampagne kann man nachlesen, wie die unverhoffte Auffindung immer weiterer Materialien den Erscheinungstermin mehrfach verschob und gleichzeitig für ein immer vollständigeres Paket sorgte (wer nicht alles lesen will, findet im Eintrag vom 21.07.2016 das Wesentliche). Man bekommt nun also mehr für sein Geld, als ursprünglich versprochen wurde. Aber natürlich liegt es letztlich am Film selbst, ob sich das Geld und das Warten gelohnt hat.

Der Perser und die Schwedin - hier an der Themse beim Tower
Hat es sich also gelohnt? Ja, für mich auf jeden Fall. Das liegt zu einem beträchtlichen Teil an der Originalfassung JEUNESSE PERDUE, die sich nicht nur in einigen Punkten stark von DER PERSER UND DIE SCHWEDIN unterscheidet, sondern die für mich auch der klar bessere Film ist. Bevor ich darauf eingehe, noch ein paar Bemerkungen zur Entstehung und weiteren Geschichte des Films. Akramzadeh hat JEUNESSE PERDUE geschrieben, inszeniert und geschnitten, und da er die Hauptrolle spielt, wissen wir auch, wie er 1961 aussah und sprach - und das war es dann schon. Trotz einiger Bemühungen seit 2013 ist es nicht gelungen, noch irgendwelche Informationen über ihn zutage zu fördern. Er kam sozusagen aus dem Nichts, lieferte seinen Film ab und verschwand wieder im Nichts. Finanziert wurde JEUNESSE PERDUE von einem schwedischen Ableger der traditionsreichen dänischen Nordisk und einer wohl recht kleinen englischen Firma, denn Google und einige andere Suchmaschinen wissen nichts über sie. Ich halte es deshalb für möglich, dass Akramzadeh selbst diese Firma ad hoc gegründet hat, um den Film zu produzieren, und sie dann wieder aufgelöst hat. JEUNESSE PERDUE kam 1961 in Schweden in die Kinos, aber man weiß nicht einmal, ob er auch in England gezeigt wurde. (In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, wie wohl die britischen Zensoren vom BBFC darauf reagiert haben oder reagiert hätten - ich kann mir kaum vorstellen, dass er unbeanstandet geblieben wäre.) 1964 lief er in Dänemark, 1966 in Deutschland, und 1968 fand er noch den Weg nach Mexiko. Über Auswertungen in weiteren Ländern ist nichts überliefert, und auf Heimmedien wurde er bis zur jetzt vorliegenden Edition nie veröffentlicht. Dass es in Deutschland ganze fünf Jahre gedauert hat, lag neben bürokratischen Hindernissen bei der Einfuhr und einigen Auflagen der FSK auch daran, dass der Mercator-Filmverleih, der die Rechte erworben hatte, den Film nicht nur deutsch synchronisieren, sondern auch noch stark verändern ließ. Einerseits wurden etliche Kürzungen vorgenommen, andererseits wurde neu gedrehtes Material eingefügt. Beides hat den Film nicht besser gemacht.

Studentenbude
Nach wie vor sind nur zwei Kopien von DER PERSER UND DIE SCHWEDIN bekannt. Es wurde also keine Kopie oder gar das Originalnegativ von JEUNESSE PERDUE aufgefunden. Vielmehr fanden sich bei Mercator (die Firma existiert noch und war sehr kooperativ) eine Vielzahl an Schnittresten, die zusammen mit DER PERSER UND DIE SCHWEDIN fast den ganzen Originalfilm abdeckten. Natürlich reichen diese Filmschnipsel allein nicht, sondern man muss sie auch in die richtige Reihenfolge bringen. Dazu diente zunächst ein ins Deutsche übersetztes Dialogbuch von JEUNESSE PERDUE (man findet es als PDF auf der Blu-ray), und als letzter und in dieser Hinsicht wichtigster Fund schließlich die komplette Originaltonspur des Films. Damit konnte nun JEUNESSE PERDUE im Ton komplett und in den Bildern fast komplett (an den wenigen fehlenden Stellen wird Schwarzbild eingeblendet) rekonstruiert werden. Und was zunächst Gegenstand von Mutmaßungen war, nämlich welche Teile von DER PERSER UND DIE SCHWEDIN von Akramzadeh und welche von Mercator stammten, lag nun offen.

Mustafa liebt Verkleidungen
Worum geht es nun in dem Film? Mustafa, der "Perser" des deutschen Titels, ist ein mit reichen Eltern gesegneter Medizinstudent in London. Doch er nimmt sein Studium nicht ernst, sondern er widmet seine ganze Energie dem Nachtleben und den Frauen, die er reihenweise erobert. Seine neuesten Bekanntschaften sind die Freundinnen Monica (die "Schwedin") und Bergitte (die wohl Dänin ist, aber das ist nicht so wichtig). Beide studieren an einer Akademie mit dem Ziel, Schauspielerin zu werden. Nicht nur mich erinnert Monica mit ihrer Kurzhaarfrisur etwas an Jean Seberg, während Bergitte mit ihrer wilden blonden Mähne an Brigitte Bardot denken lässt - auch Mustafa nennt sie bei ihrer ersten Begegnung scherzhaft "Miss Bardot". Mustafa erobert beide praktisch gleichzeitig und teilt seine Zeit geschickt zwischen ihnen auf, doch langsam kristallisiert sich heraus, dass Monica die Affäre ernster nimmt als Bergitte. Die Geschichte nimmt eine Wendung, als für Mustafa der Tag des Examens kommt und er es erwartungsgemäß versemmelt. Macht nichts, meint er zunächst, da müssen ihm seine Eltern eben ein weiteres Jahr in London spendieren. Doch der wahre Schock kommt erst noch: Mustafas Mutter hat genug und dreht ihm den Geldhahn zu. Jetzt muss er sich eine Arbeit suchen, und weil er das als Ausländer in England nicht kann, reist er zurück in die Heimat. Was er nicht weiß: Monica ist inzwischen von ihm schwanger. Weil ein uneheliches Kind einerseits ihre Schauspielkarriere zerstören würde, bevor sie überhaupt begonnen hat, und andererseits in der schwedischen Heimat Schande über sie und ihre Eltern bringen würde, will sie das Problem mit einer Hinterzimmer-Abtreibung lösen, die Mustafas Studienfreund Pierre durchführen soll, der sich sein Studium durch solche illegalen Abtreibungen verdient hat. Doch letztlich wird aus der geplanten Abtreibung eine Frühgeburt in der eigenen Wohnung, genau zu Weihnachten.

"Miss Bardot"
Mustafa hat inzwischen einen Job in einer Bank, wo er dicke Geldbündel zählt, und dort erreicht ihn ein Brief der verzweifelten Monica. Und nun packt ihn das Gewissen (und vielleicht auch der Vaterstolz), und er beschließt, dass er nach London muss, um Monica zu helfen. Doch mit welchem Geld? Hier nun kommt es zu einem eklatanten Unterschied zwischen den beiden Filmversionen. In DER PERSER UND DIE SCHWEDIN überlegt sich Mustafa in einem inneren Monolog, dass er ja gerade auf einem Haufen Geld sitzt und nur zugreifen müsste. Doch dann verwirft er den Gedanken: Nein, er kann sein neues Leben nicht als Dieb beginnen. In der nächsten Szene taucht er gehetzt und schweißgebadet in seiner Wohnung auf, wäscht sich notdürftig das Gesicht, packt seine Sachen zusammen und verschwindet wieder. Das alles macht keinen rechten Sinn. In JEUNESSE PERDUE hingegen gibt es auch den inneren Monolog, doch ohne das abschließende Dementi "nein, das mache ich nicht". Und plötzlich ergibt alles Sinn: Mustafa hat tatsächlich Geld unterschlagen und ist nun auf der Flucht nach London.

Zwei Seiten von London - Speakers' Corner im Hyde Park und Nachtleben in Soho
Dort erwartet ihn eine bittere Enttäuschung: Das frühgeborene Kind ist inzwischen gestorben. Es folgt nun noch ein Epilog: Mustafa und Monica fahren mit einer Fähre nach Schweden. In der nächsten Szene sind beide in feiner Abendkleidung bei Monicas Eltern zum Essen, dann brechen sie zu einer Party auf, die in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN wohl ihre Hochzeitsfeier sein soll, in JEUNESSE PERDUE dagegen eine Silvesterfeier - hier sind sie bereits verheiratet (jedenfalls erwecken die Untertitel eines kurzen schwedischen Dialogs von Monicas Eltern diesen Eindruck). Das wirft ein gewisses Timing-Problem auf: Haben die beiden in den Tagen zwischen Weihnachten und Silvester geheiratet, obwohl Monica ja gerade eine schwere und gefährliche Geburt hinter sich hat, und obwohl ja auch ein totes Baby begraben werden musste? Oder ist zwischen dem Hauptteil und dem Epilog bereits ein Jahr vergangen? Wie dem auch sein mag - im Gegensatz zu DER PERSER UND DIE SCHWEDIN geht es bei JEUNESSE PERDUE nach der Party noch etwas weiter, und der Film nimmt noch eine letzte unerwartete Wendung (und hat mich in diesen allerletzten Szenen ganz überraschend etwas an WENN DIE KRANICHE ZIEHEN erinnert) ...


Die Dreiecksgeschichte mit Mustafa, Monica und Bergitte und die sonstigen Plot-Elemente sind nicht besonders komplex oder detailreich, und Akramzadeh verfolgt auch, im Gegensatz etwa zu den zeitgenössischen kitchen sink movies, keinerlei sozialkritische oder sonstwie ideologische Agenda. Das gibt dem Film trotz seiner Kürze reichlich Gelegenheit zum Innehalten und zum Abschweifen, und genau darin liegt seine eigentliche Stärke. Vor allem das Londoner Nachtleben wird ausgiebig gewürdigt. Ziemlich am Anfang besuchen etwa Mustafa, Pierre und ein Freund einen Nachtclub, der Macabre heißt und wie ein Gruselkabinett eingerichtet ist. Statt nun gleich mit dem Dialog zu beginnen, lässt Akramzadeh zunächst einmal die Kamera ausgiebig das morbid-makabre Interieur erkunden. Es ist eigentlich unfassbar, dass diese wunderbare Sequenz der Mercator'schen Schere zum Opfer gefallen ist. Der Film nimmt sich auch die Zeit, ein Flamenco-Ensemble und eine traditionelle indische Tänzerin bei jeweils einem Auftritt zu begleiten und ihnen dabei fast die ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen (anders als etwa, um ein Gegenbeispiel zu nennen, Antonioni in BLOW UP, wo sich die Yardbirds die Aufmerksamkeit mit David Hemmings teilen müssen). Und in zwei oder drei nächtlichen Montage-Sequenzen, in denen auch Doppel- und Dreifachbelichtung zum Einsatz kommen, werden die Varietés, Nachtclubs und Striplokale von Soho vorgestellt. Insgesamt kann man ein bisschen dem Swingin' London beim Entstehen zuschauen. Der Minirock ist noch nicht (wieder-)erfunden, und manche Szene in einem Kellerlokal oder einer Privatwohnung hat mich noch mehr an das Saint-Germain-des-Prés der 50er als an das Soho oder Chelsea der 60er Jahre erinnert, doch da ist schon etwas im Anflug, das es so noch nicht gab - jedenfalls erscheint es im Rückblick so.


Auch abseits des Nachtlebens widmet sich JEUNESSE PERDUE immer wieder scheinbar spontan irgendwelchen Details, die keinerlei Bedeutung für den Plot haben. Etwa, wenn Bergitte bei einer Unterhaltung mit Monica und anderen Studienkolleginnen in der Akademie einen Helm (der wohl ein römischer Legionärshelm sein soll) in die Hand nimmt und damit herumhantiert, weil er halt gerade so herumliegt (ich fühlte mich spontan an LA DOLCE VITA erinnert, wo Nico eine Weile mit einem Ritterhelm herumläuft). Mustafa fährt auch mit Bergitte nach Brighton, wo der Film die Handlung sozusagen vorübergehend suspendiert, um sich stattdessen dem Strandleben zu widmen. Als am Ende dieser Sequenz, die in JEUNESSE PERDUE noch ein Stück länger ist als in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN, die beiden am Strand herumtollen, rennt ihnen plötzlich ein zum Spielen aufgelegter Hund hinterher, und man gewinnt den Eindruck, dass das ungeplant passiert ist und ganz selbstverständlich im Film belassen wurde. Akramzadeh gönnte sich auch einen verblüffenden experimentellen Schlenker: Mustafa fliegt als Gast eines mit ihm bekannten iranischen Geschäftsmannes in einer Privatmaschine Richtung Heimat, und es gibt Luftaufnahmen englischer Landschaften. Nun würde man erwarten, dass als nächstes entweder die Landung gezeigt wird, oder dass es in London mit Monica und/oder Bergitte weitergeht. Stattdessen gibt es einen harten Schnitt zu Aufnahmen in einer Achterbahn in rasender Fahrt. Nach kurzer Zeit erneut ein harter Schnitt zur Wohnung von Pierre, der dort gerade eine seiner illegalen Abtreibungen durchgeführt hat. Was war denn das? fragt man sich nach dieser (echten und sinnbildlichen) Achterbahnfahrt, und man braucht einige Momente, um sich wieder in der Handlung einzufinden.


In all diesen bisher erwähnten Einschüben und Abschweifungen kommt zwar der Plot zum Stillstand, nicht aber der filmische Fluss, so dass sie (zumindest auf mich) nicht als Durchhänger wirken. Bei den deutschen Ergänzungen ist das etwas anders. Mercator betraute damit Gunther Wolf, einen renommierten Produzenten von Industrie- und Kulturfilmen (mit letzteren konnten Kinobetreiber Steuern sparen, wenn sie sie ins Programm einbauten). Wolf filmte nun in einem Etablissement, das je nach Quelle in Dortmund oder Bielefeld stand, drei Stripperinnen und eine dunkelhäutige Tänzerin, die die Kleider anbehält, und die in ihrem flamboyanten Outfit und ihrem Tanzstil etwas an Josephine Baker erinnert. Nach einer kurzen Exposition, die alle vier Damen zusammen in der Garderobe zeigt, gibt es zwei Blöcke mit jeweils zwei Auftritten in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN. Diese Einschübe sind nicht wirklich störend, aber doch etwas beliebig - man könnte sie auch im Soho irgendeines Edgar-Wallace-Films platzieren, ohne dass es auffallen würde. Was mir daran vor allem nicht gefallen hat, ist die Tatsache, dass alle vier Auftritte ziemlich frontal, statisch und letztlich einfallslos abgefilmt sind.

Diese Auftritte gibt es nur in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN
Eine Sonderstellung nimmt ein weiterer Einschub mit einer Länge von gut sieben Minuten ein, der fast vollständig in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN zu sehen ist. Er stammt nicht von Mercator/Wolf, aber auch nicht von Akramzadeh, denn er hat kein Gegenstück in der Originaltonspur. Anscheinend wurde er aber gleich nach den eigentlichen Dreharbeiten und noch vor der Kinoauswertung von den Produzenten zu JEUNESSE PERDUE hinzugefügt. Da sich die Version von JEUNESSE PERDUE auf der Blu-ray am Originalton orientiert, ist die vollständige Sequenz hier nicht im Film selbst, sondern separat im Bonusmaterial zu sehen. Darin spielt eine Combo von schwarzen Jazzmusikern in einem Nachtclub zunächst einen Twist (der dem Text nach vielleicht Twisty Twist oder so ähnlich heißt), und das Publikum absolviert den passenden Tanz dazu. Dann gibt es ein Intermezzo, in dem nur der Percussionist monoton die Bongo schlägt, und dazu sieht man, wie eine schwarzhaarige junge Frau in einem Pelzmantel an einem Tisch sitzt und an ihrem Getränk nippt. Ihr Dealer/Impresario/sonstwas, der gerade einer anderen Frau ein sicher nicht ganz legales weißes Pülverchen ins Glas gekippt hat, kommt hinzu und gibt eine Tablette in das Glas der Schwarzhaarigen. Es ist dies übrigens die einzige Stelle im Film, in der irgendwelche Drogen außer Alkohol vorkommen. Während nun die Band Tequila anstimmt, geht die Frau auf die Tanzfläche, und erst jetzt erkennt man, dass sie eine Tänzerin ist, die sich mit der Tablette für ihren Auftritt aufgeputscht hat. Sie absolviert ihren erotischen Tanz, doch ihr BH (oder Bikini-Oberteil - sie könnte sich so auch am Strand sehen lassen) bleibt dran, jedenfalls soweit die Sequenz in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN zu sehen ist. Ganz am Ende der vollständigen Szene fällt das Oberteil doch noch, doch da werden neugierige Blicke durch den Pelzmantel abgewehrt. Dieser Einschub ist sowohl musikalisch als auch filmisch viel interessanter als die Mercator'schen Ergänzungen. Das gilt für mich gerade jetzt, wo ich den Film mit seinen Versionen und Audiokommentaren innerhalb weniger Tage fünfmal gesehen habe: Die deutschen Stripperinnen (und auch der nicht-strippende Josephine-Baker-Ersatz) langweilen mich mittlerweile, während ich der aufgeputschten Tänzerin und der Band mit dem Twist und Tequila immer noch guten Unterhaltungswert abgewinnen kann.

Twist
Die Kürzungen, die Mercator vorgenommen hat, haben dem Gefüge des Films auch nicht gutgetan. Oder andersherum ausgedrückt: Wenn man zuerst DER PERSER UND DIE SCHWEDIN und dann erst JEUNESSE PERDUE ansieht, wie es auf der Blu-ray empfohlen wird, und wie es bei denen, die den Film schon in einem Kino gesehen haben, zwangsläufig der Fall ist, dann hat man es beim Original plötzlich mit einem besseren Film zu tun. Die Handlung ist nachvollziehbarer, und die Personen haben mehr Kontur - insbesondere Bergitte und Pierre gewinnen an Substanz. Auch die "moralischen" Bewertungen verschieben sich etwas. Mustafa erscheint anfangs als ein fauler, aber liebenswerter Hallodri, vielleicht ein entfernter Verwandter von Werner Enke in ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN, doch er erweist sich zunehmend als Egozentriker mit auch unsympathischen Zügen. Das ist in beiden Versionen so. Doch in JEUNESSE PERDUE kommt viel deutlicher als in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN zum Ausdruck, dass auch Monica und Bergitte aktiv auf Männerfang gehen. In DER PERSER UND DIE SCHWEDIN ist Mustafa etwas überspitzt der Schuft, der die zarte Monica verführt und sie dann schwanger sitzen lässt, um im letzten Moment doch noch geläutert zu werden. In JEUNESSE PERDUE wird Monica ungewollt schwanger - sehr ärgerlich und durchaus dramatisch für sie, aber letztlich ist sie zum Teil selbst schuld. Das nimmt der Geschichte wenigstens zum Teil die Aura von Pathos und Melodrama, und das tut dem Film gut. Auch innerhalb des Verhältnisses Bergitte - Monica verschieben sich etwas die Akzente. In DER PERSER UND DIE SCHWEDIN erscheint Bergitte als die Lebenslustige, vielleicht auch etwas Ordinäre der beiden, während Monica die Bravere, die noch etwas Bürgerliche ist. Doch in JEUNESSE PERDUE kommt viel deutlicher zum Vorschein, dass Monica diejenige ist, die Männer schon nach dem ersten Date mit auf ihr Zimmer nimmt, um mit ihnen zu schlafen - was Bergitte nicht tut. So ist die gesamte Figurenkonstellation jetzt weniger eindimensional, sondern komplexer und interessanter.

Eine aufgeputsche Tänzerin
Ein letzter Unterschied, den ich erwähnen will, besteht im Off-Kommentar. Dieser ist in beiden Versionen vorhanden, und im Wortlaut gibt es wenig Unterschiede, sehr wohl aber im Tonfall. Dieser ist in JEUNESSE PERDUE weitgehend sachlich-neutral, und gelegentlich blitzt Ironie durch. In DER PERSER UND DIE SCHWEDIN hingegen ist der Ton mehr konservativ-moralisierend, wie man es auch aus anderen deutschen oder deutsch synchronisierten "Sittenfilmen" der 60er und 70er kennt. Zwar haben solche Kommentare oft einen gewissen Unterhaltungswert, und ernst genommen wurden sie sowieso nicht, da sie nur echte oder selbsternannte Zensoren beschwichtigen sollten, aber für mich sind sie letzlich dennoch ein Ärgernis. So kann JEUNESSE PERDUE also auch hier punkten. Gesprochen wurde der Originalkommentar laut dem oben erwähnten Dialogbuch von einem Anthony Baird (in den Credits im Film selbst wird der Name nicht erwähnt). Das dürfte ziemlich sicher der Schauspieler (1920-1995) dieses Namens sein, und damit ist Baird wohl der einzige der Beteiligten an JEUNESSE PERDUE, der größere sichtbare Spuren in der Filmgeschichte hinterlassen hat.

Weihnachtsparty
Vielleicht erscheint es jetzt so, als ob ich DER PERSER UND DIE SCHWEDIN nicht mögen würde, aber das ist keineswegs der Fall. Mit seinen Verschrobenheiten besitzt er seinen eigenen Charme und Unterhaltungswert, und das hat ja auch erst zur Wiederauferstehung des Films geführt. Doch JEUNESSE PERDUE "bewahrt" sozusagen die Stärken von DER PERSER UND DIE SCHWEDIN (obwohl er natürlich chronologisch vorher da war), fügt neue hinzu und vermeidet einige Schwächen der deutschen Fassung, und ist somit für mich der bessere und interessantere Film. - Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Das bedeutet in diesem Fall: Wer sich nicht an der Crowdfunding-Kampagne beteiligt hat, der kann den Film jetzt natürlich trotzdem kaufen, muss aber 10 Euro mehr bezahlen. Die komplette Ausstattung der Box kann man hier nachlesen.

Mustafa in Brighton

Donnerstag, 4. August 2016

Close Up und BORDERLINE: Beziehungskisten in der Schweiz

BORDERLINE
Großbritannien/Schweiz 1930
Regie: Kenneth Macpherson
Darsteller: Paul Robeson (Pete), Eslanda Robeson (Adah), H.D. (= Hilda Doolittle, Astrid), Gavin Arthur (Thorne), Bryher (Chefin des Lokals), Charlotte Arthur (Bardame), Robert Herring (Pianist), Blanche Lewin (alte Frau)


1930 drehte der schottische Schriftsteller, Kritiker und Fotograf Kenneth Macpherson mit einer Handvoll Laiendarsteller, die durch gemeinsame künstlerische, weltanschauliche und sexuelle Interessen mit ihm und miteinander verbunden waren, sowie mit dem professionellen schwarzen Sänger und Schauspieler Paul Robeson und dessen Frau Eslanda in der Westschweiz einen 73-minütigen avantgardistischen Stummfilm. (In IMDb und engl. Wikipedia wird eine Länge von 63 min angegeben, aber die in Deutschland und England auf DVD erhältliche Fassung hat umgerechnet eine Kino-Laufzeit von 73 min.) Der Film hat gerade mal 1000£ gekostet - auch damals schon eine lächerliche Summe (dabei hätten sich die Macher durchaus mehr leisten können, denn eine der Beteiligten war die designierte Erbin eines sehr üppigen Vermögens). Als BORDERLINE in die Kinos kam, wurde er von den meisten Kritikern heftig verrissen, und er verschwand in der Versenkung, und Macpherson drehte keine Filme mehr. Doch Jahrzehnte später wurde der Film als ein Werk der Avantgarde wiederentdeckt, das mit wenig Handlung auf damals gewagte Art sexuelle und emotionale Konflikte entlang der sich überkreuzenden Grenzlinien "Hautfarbe" und "Geschlechterrollen" erforscht. Es ist kein Zufall, dass abgesehen von den Robesons fast alle Beteiligten homosexuell oder bisexuell waren.

Astrid
Ein kleiner namenloser Ort, irgendwo in den Bergen der französischsprachigen Schweiz, um 1930. In einem Gasthaus mit Fremdenzimmern logiert eine Ménage-à-trois aus ausländischen Gästen (wohl Engländer oder Amerikaner, aber das wird nicht weiter thematisiert), die durch die Ankunft eines weiteren Gasts am Anfang des Films zu einer Ménage-à-quatre wird. Das weiße Paar Astrid und Thorne ist miteinander verheiratet, doch Thorne hat sich von ihr getrennt, weil er eine Affäre mit der schwarzen (oder "farbigen" - sie ist recht hellhäutig) Adah hat, die eigentlich mit dem schwarzen Pete liiert (oder verheiratet?) ist, aber momentan getrennt von ihm lebt. Astrid ist vor Eifersucht halb wahnsinnig, aber auch bei Thorne, der gerade einen Streit mit Adah hatte, sind die Nerven gespannt. In dieser Situation erscheint nun auch Pete als Neuankömmling im Ort, der Adah zurückgewinnen will. Und er scheint Erfolg zu haben - Adah hat anscheinend genug von Thorne, und sie zeigt sich Petes Avancen nicht abgeneigt.

Thorne
Mit distanziertem, aber wohlwollendem Interesse beobachtet wird das Treiben der freizügigen ausländischen Gäste durch einige Nebenfiguren: Der burschikosen, androgynen Besitzerin oder Geschäftsführerin des Gasthauses, ihrer stets gut gelaunten Bardame und dem Pianisten, der die Gäste des Lokals unterhält. Die einheimischen Gäste dagegen begegnen den Fremden (vor allem den dunkelhäutigen) mit einem gewissen Missfallen, wenn auch vorerst noch ohne öffentliche Unmutsäußerungen. Nur eine alte Frau mit freundlichem Gesicht meint, wenn es nach ihr ginge, dann wären in diesem Land keine Neger erlaubt. (Um der politischen Korrektheit Genüge zu tun: Damals wurde das Wort "Negro" weit unbefangener verwendet als heute, nicht nur von Weißen, sondern auch von Schwarzen (einschl. Paul Robeson). In den Credits von BORDERLINE werden sogar Pete als "a negro" und Adah als "a negro woman" bezeichnet. Wenn ich das Wort aus der Äußerung der rassistischen Dame mit dem freundlichen Gesicht als "Neger" übersetze, heißt das natürlich nicht, dass ich diesen Begriff selbst verwenden würde.)


Nachdem ihm Adah abspenstig gemacht wurde, ist nun auch Thorne eifersüchtig und wütend. Er beschuldigt Astrid, dass sie es war, die Pete herbeigelockt hat, was Astrid auch ohne Umschweife zugibt. Ihr Plan war, dass Thorne zu ihr zurückkehrt, wenn er Adah erst einmal an Pete verloren hat. Doch wenn der erste Teil des Plans geklappt hat, so geht der zweite Teil gehörig in die Hose. Denn Thorne ist nun erst recht wütend auf Astrid. Als diese erkennt, dass Thorne nicht zu ihr zurückkommen, sondern sie endgültig verlassen wird, kommt es zum finalen Streit zwischen den beiden. Astrid fuchtelt mit einem Messer herum und verwundet Thorne leicht - und am Ende liegt sie tödlich verletzt am Boden. Anscheinend hat Thorne sie im Getümmel versehentlich getötet, doch so ganz klar ist das nicht, weil man den entscheidenden Moment nicht sieht - vielleicht hat er auch die Kontrolle verloren und selbst zugestochen. Doch die Polizei glaubt seiner Darstellung, und er wird nicht angeklagt. Nach Astrids Tod geht das Gerede unter den Einheimischen nun so richtig los, und Pete streckt einen, der ihn offenbar beleidigt hat, mit einem Kinnhaken zu Boden. Doch damit liefert er den Leuten nur einen bequemen Vorwand: Der Bürgermeister verfügt auf Beschluss des Stadtrats seine sofortige Ausweisung aus dem Ort. Die Chefin des Gasthauses bedauert das. "Was es noch schlimmer macht", meint sie resignierend zu Pete, "ist, dass sie glauben, im Recht zu sein. So sind wir eben." - "Ja, so sind wir", bestätigt Pete, und verwandelt damit eine Aussage über die Schweizer oder über alpine Kleinstädter in eine allgemein-(un)menschliche.

Adah
Noch einen Tiefschlag muss er hinnehmen: Adah fühlt sich mitschuldig an Astrids Tod, und um mit sich ins Reine zu kommen, verlässt sie Pete und reist ab. Sie verabschiedet sich nicht persönlich, sondern hinterlässt Pete nur einen Brief, so dass er nichts dagegen machen kann. Wenigstens verträgt er sich jetzt wieder mit Thorne, da nun keine Frau mehr zwischen ihnen steht. Am Ende steht Pete am Bahnhof und wartet auf seinen Zug, und Thorne sitzt grübelnd in einer Wiese und starrt ins Leere.

Pete
Von 1927 bis 1933 erschien die größtenteils englischsprachige Filmzeitschrift Close Up (ein kleiner Teil der Artikel war auf Französisch), die als eines der ersten europäischen Journale Film konsequent als eine Kunstform begriff. Die Zeitschrift erschien von Juli 1927 bis zum Dezember 1930 monatlich, dann bis Ende 1933 vierteljährlich, zusammen 54 Ausgaben in einer Auflage von 500 Stück. Gedruckt wurde Close Up zunächst in Dijon in Frankreich, dann ab September 1928 in London, doch konzipiert und redigiert wurde das Magazin in der Schweiz, und zwar von dem Trio Kenneth Macpherson, Bryher und H.D., die sich zusammen The Pool Group nannten. Die drei waren Herausgeber (wobei H.D. nicht im Impressum genannt wurde) und schrieben auch einen beträchtlichen Teil der Artikel. Daneben gab es feste Mitarbeiter, vor allem den Engländer Oswell Blakeston, der ab 1931 auch Mitherausgeber war. Die Zeitschrift unterhielt Korrespondentenbüros in Paris, London, Berlin, Hollywood und anderswo, zu den Korrespondenten zählte u.a. Marc Allégret, der zu jener Zeit auch seine ersten Filme als Regisseur drehte. Daneben gab es Beiträge von vielen Gastautoren - Schriftsteller wie (recht häufig) Dorothy Richardson, Gertrude Stein und André Gide, Psychologen und Psychoanalytiker wie Havelock Ellis, Barbara Low und Hanns Sachs (die Herausgeber hatten ein Faible für die Psychoanalyse, und H.D. ließ sich in den 30er Jahren von Sigmund Freud persönlich analysieren), und natürlich von progressiv bis avantgardistisch gesinnten Filmkritikern und Filmschaffenden aus aller Welt. So wurde etwa das Tonfilmmanifest, das Sergej Eisenstein, Grigori Alexandrow und Wsewolod Pudowkin im August 1928 in einer Leningrader Zeitschrift veröffentlicht hatten, in der Ausgabe vom Oktober 1928 in englischer Übersetzung nachgedruckt.

Die Bardame (links oben) und ihre Chefin
Damit sind wir bei einem der Schwerpunkte von Close Up: Das sowjetische Montage-Kino der 20er und frühen 30er Jahre wurde in der Zeitschrift ausgiebig gewürdigt, und insbesondere Eisenstein war einer der Helden der Herausgeber. Als sich Eisenstein 1929 längere Zeit in Berlin aufhielt, traf ihn Macpherson dort persönlich, und sie schlossen Freundschaft. Eisenstein veröffentlichte nach dem Tonfilmmanifest einige weitere Artikel in Close Up, etwa über Fragen zukünftiger Breitbildformate (im Jahr 1931!) oder über die staatliche Filmhochschule in Moskau, wo er nach seiner Rückkehr aus Mexiko selbst unterrichtete, und natürlich über seine sich im Lauf der Zeit weiterentwickelnde Montage-Theorie. Eisensteins Frau Pera Ataschewa war die Moskauer Korrespondentin von Close Up.

Der Pianist und sein Objekt der Begierde, an das Klavier geklemmt
Ein weiteres Idol der Pool Group war G.W. Pabst mit seinem der Neuen Sachlichkeit verpflichteten psychologischen Realismus. Bryher und Macpherson trafen Pabst erstmals im Oktober 1927, und der Regisseur war da schon seinerseits ein Fan von Close Up. Er fand es "so furchtbar funny" (Bryher in einem Brief), dass ausgerechnet Engländer so ein Magazin auf die Beine gestellt hatten. Pabst hatte auch mit GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926) den ersten größeren Spielfilm vorgelegt, der explizit die Psychoanalyse thematisiert, und der oben erwähnte Hanns Sachs war Berater bei diesem Film. Eisenstein und Pabst, Montage und psychologische Durchdringung - zwischen diesen Polen bewegt sich auch BORDERLINE. Dazu weiter unten mehr. Kritisch ging man dagegen mit Hollywood um, wobei aber durchaus zwischen einzelnen Filmen bzw. Regisseuren differenziert wurde (so schätzte man King Vidor und insbesondere sein THE BIG PARADE), und noch kritischer mit dem zeitgenössischen britischen Film, der regelmäßig geschmäht wurde, so etwa von Robert Herring (dem Pianisten in BORDERLINE) in einem Artikel mit dem schön polemischen Titel Puritannia Rules the Slaves. Ein persönliches Anliegen war den Herausgebern der Kampf gegen die britischen Zensurbestimmungen.

Die alte Frau
Die aus Pennsylvania stammende Dichterin und Schriftstellerin Hilda Doolittle (1886-1961), die sich den Pen Name H.D. gab, gehörte in ihren jungen Jahren zur literarischen Bewegung der Imagisten (in den Credits von BORDERLINE wird sie "Helga Doorn" genannt, ein Name, den sie sonst meines Wissens nie benutzte). Schon während ihres Studiums in Pennsylvania lernte sie Ezra Pound kennen, der einer der Begründer des Imagismus war. Sie verliebte sich in ihn, und zeitweilig waren sie sogar miteinander verlobt. Ebenfalls noch in den USA hatte die bisexuelle H.D. ein Verhältnis mit der Dichterin Frances Gregg. Ezra Pound lebte seit 1909 in London, und 1911 folgten ihm H.D. und Gregg über den großen Teich. In London wurde sie von Pound schnell in die Literaturszene eingeführt, und sie begann, ihre Gedichte zu veröffentlichen. Nach dem Ende ihrer Beziehung mit Gregg hatte sie wechselnde Verhältnisse mit Männern und Frauen, und 1913 heiratete sie den englischen Dichter Richard Aldington, der ebenfalls den Imagisten zuzurechnen war. 1919 wurde ihre Tochter Frances Perdita als ihr einziges Kind geboren ("Frances" nach Frances Gregg, aber ihr Rufname war "Perdita", nach einer Shakespeare-Figur). Zu diesem Zeitpunkt hatten sie und Aldington, der durch seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg schwer erschüttert wurde, sich auseinandergelebt und getrennt. Sie blieben aber befreundet und ließen sich erst 1938 scheiden. Sowohl H.D als auch später Perdita machten ein Geheimnis aus der Identität von Perditas Vater. Das führte zu allerlei Spekulationen, "verdächtigt" wurden u.a. Aldington, Pound und D.H. Lawrence (mit dem sie befreundet war, aber, soweit man weiß, kein Verhältnis hatte). Erst 1983 enthüllte Perdita, dass es sich bei ihrem biologischen Vater um den schottischen Musikkritiker und Komponisten Cecil Gray handelte. 1918 lernte H.D. Bryher kennen, und sie wurden bald ein Paar und blieben es bis zu H.D.s Tod 1961. Es war aber eine offene Partnerschaft, und beide hatten gelegentlich noch weitere Partner, so hatte H.D. um 1927/28 ein Verhältnis mit Macpherson.

Einheimische
Nicht nur "H.D.", sondern auch "Bryher" war ein Pen Name, und seine Trägerin hieß ursprünglich Annie Winifred Ellerman (1894-1983). (In der IMDb ist sie gleich doppelt vorhanden, als "Winifred Ellerman" und als "Bryher MacPherson". Nicht nur die Verdoppelung ist unsinnig, sondern auch die letztere Schreibweise, denn der Name war einfach nur "Bryher" ohne "MacPherson", und nebenbei schreibt man Kenneth Macpherson auch ohne Binnenmajuskel.) Bryher war die Tochter des Schiffsmagnaten Sir John Ellerman, der zeitweilig als reichster oder zweitreichster Mann (nach dem König) Großbritanniens galt. Sie hatte also ein reiches Erbe in Aussicht und wurde schon zu Lebzeiten des Vaters finanziell üppig ausgestattet. Schon als Kind und Jugendliche war sie viel auf Reisen, was sie als Erwachsene fortsetzte. Bryher war lesbisch, und wie gesagt waren sie und H.D. seit spätestens 1919 ein Paar, und sie reisten fortan viel gemeinsam, wobei sie sich gelegentlich als Cousinen ausgaben, um keinen Anstoß zu erregen. 1920 nahm sie offiziell den Namen "Bryher" an, den sie von einer der Scilly-Inseln im Atlantik südwestlich von Cornwall entlehnte, wo es ihr auf einer Reise gut gefallen hatte. Um dem steifen Klima in England im Allgemeinen und ihrer in den Adelsstand versetzten Familie im Besonderen zu entgehen, verbrachte sie bis 1927 die meiste Zeit in Paris, wo sie zur großen anglo-amerikanischen Community gehörte, die man mit dem Namen Lost Generation belegt hat. Doch Paris ist nicht so weit von England entfernt, und auf Druck ihrer Eltern, die die gesellschaftlichen Konventionen gewahrt wissen wollten (anscheinend wurde sogar mit Enterbung gedroht), heiratete Bryher 1921 den bisexuellen amerikanischen Schriftsteller und Verleger Robert McAlmon, der ebenfalls zur Pariser Kolonie gehörte. Es war eine typische marriage of convenience, in der beide unter einem gesellschaftlich akzeptierten Deckmantel ihren sexuellen Neigungen nachgehen konnten. Zusammen gründeten sie in Paris den Verlag Contact Editions, der von McAlmon geleitet und von Bryher finanziert wurde, so dass man nicht auf Gewinne achten musste. Der Verlag veröffentlichte nicht nur Werke von H.D., Bryher und McAlmon selbst, sondern auch Bücher von Schriftstellern wie Hemingway, Gertrude Stein, William Carlos Williams, Ford Madox Ford und Djuna Barnes, die damit indirekt von Bryher subventioniert wurden. Einige Künstler unterstützte sie auch direkt finanziell, neben H.D. etwa die schrille Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven.

Das tödliche Messer
1927 ließ sich Bryher scheiden, weil McAlmon zuviel trank (der Verlag existierte dann noch bis 1929), und ein Ersatz musste her. Der fand sich in Macpherson, der gerade der aktuelle Liebhaber von H.D. war, die er seit 1926 kannte. Kenneth Macpherson (1902 (nach einigen Quellen 1903)-1971) entstammte einer schottischen Künstlerfamilie, aber über sein Leben vor 1927 ist wenig bekannt. Der bisexuelle (aber wohl mehr den Männern zugeneigte) Macpherson hatte also eine Affäre mit H.D., die 1928 sogar von ihm schwanger war, sich aber zur Abtreibung entschloss, die in Berlin durchgeführt wurde (sie war schon nach der Geburt von Perdita fast gestorben). Geheiratet hat er aber nicht H.D., die ja ohnehin noch mit Aldington verheiratet war, sondern Bryher. Es war erneut eine marriage of convenience, die beiden Partnern die Gelegenheit bot, ungestört ihrem jeweiligen Privatleben nachzugehen. Doch während H.D. zuvor zu McAlmon wohl kein besonders enges Verhältnis hatte, entstand nun eine echte Ménage-à-trois. Die drei formierten sich zur Pool Group und riefen als deren wichtigste Aktivität Close Up ins Leben (daneben verlegten sie auch Bücher, vorwiegend eigene Werke und solche von Close Up-Mitarbeitern). Alle drei übersiedelten samt Perdita in die Schweiz und lebten und arbeiteten von 1927 bis 1931 in Territet am östlichen Ende des Genfer Sees, wo Bryher schon seit einigen Jahren ein Haus hatte. Daneben verbrachten sie aber weiterhin einen Teil ihrer Zeit in Paris, London oder Berlin. Alle drei kümmerten sich, sozusagen als erweitertes Elternpaar, um die Erziehung von Perdita, die keine Schule besuchte, sondern zuhause unterrichtet wurde. 1928 adoptierten Bryher und Macpherson das Kind, und aus Frances Perdita Aldington wurde Frances Perdita Macpherson. Die unorthodoxen Familienverhältnisse haben ihr offenbar nicht geschadet. Perdita Macpherson Schaffner (1919-2001), wie sie nach ihrer Heirat hieß, war im Zweiten Weltkrieg beim britischen Geheimdienst beschäftigt, zeitweise in Bletchley Park, wo die Chiffriermaschine Enigma entschlüsselt wurde. Nach dem Krieg ging sie in die USA, wo sie einen Literaturagenten heiratete und vier Kinder bekam. Sie betätigte sich als Essayistin und Philanthropin, die Theater und andere kulturelle Einrichtungen unterstützte.

Der Schauplatz
1931 zogen die vier von Territet in die eindrucksvoll modernistische Villa Kenwin (von KENneth und WINifred), die Bryher und Macpherson im Bauhaus-Stil von den Architekten Sándor (Alexander) Ferenczy und Hermann Henselmann errichten ließen. Kenwin liegt einige Kilometer nordwestlich von Territet in La Tour-de-Peilz, ebenfalls am Genfer See, zwischen Montreux und Vevey. Die große mehrstöckige Villa sollte nicht nur als Wohnort und als Zentrale von Close Up dienen, sondern auch als Studio für neue Filme von Macpherson - die dann aber wegen der schlechten Kritiken für BORDERLINE nie gedreht wurden. Heute gehört die Villa zum offiziellen Kulturerbe der Schweiz.

Villa Kenwin (aus KENWIN von Véronique Goël)
Wer bei diesem ganzen komplizierten Beziehungsgeflecht den Überblick verloren hat, dem hilft vielleicht diese Grafik weiter. - Um dieses Thema abzurunden: Gavin Arthur (1901-72), der Darsteller von Thorne, war der Enkel eines US-Präsidenten und Sohn eines reichen Unternehmers in Colorado. Nach seinem abgebrochenem Studium an der Columbia University betätigte er sich in einer Organisation, die der IRA nahestand (und wurde deshalb auch einmal verhaftet). Er lebte damals in New York, Irland und Frankreich, aber ich weiß nicht, wie er mit der Pool Group in Kontakt kam. In den 30er Jahren zog es ihn nach Kalifornien, wo er eine Kunst- und Literaturkommune gründete und ein Magazin herausgab. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er in der Navy war, war das elterliche Vermögen offenbar aufgebraucht, denn neben seinen kulturellen Aktivitäten betätigte er sich auch als Zeitungsverkäufer und Goldsucher, noch später als Astrologe und als Sexologe (aus astrologischer Perspektive). Er war mit etlichen Vertretern der Beat Generation befreundet, darunter Allen Ginsberg, und war in der amerikanischen Schwulenbewegung aktiv, denn - Überraschung! - auch Gavin Arthur war bisexuell. Charlotte Arthur, die Barfrau in BORDERLINE, war von 1922 bis 1932 seine Frau (er war danach noch zweimal verheiratet), und sie hat 1930 auch einen zweiteiligen Artikel für Close Up geschrieben. - Robert Herring (1903-1975), der Pianist, war der Londoner Korrespondent und regelmäßiger Autor von Close Up. 1935 kaufte Bryher die Literaturzeitschrift Life and Letters Today, und Herring wurde für 15 Jahre ihr Chefredakteur. Die Zeitschrift war in gewissem Sinn ein Nachfolgeprojekt zu Close Up, und eine Reihe von Close Up-Autoren war auch hier wieder mit Artikeln oder literarischen Texten vertreten, darunter H.D., Macpherson und Eisenstein. Herring schrieb auch Gedichte und einen Roman, und auch er war homo- oder bisexuell. - Über Blanche Lewin, die alte Frau in BORDERLINE, konnte ich nichts Substanzielles herausfinden. Aber sie gehörte jedenfalls auch zum Dunstkreis der Pool Group und hatte schon in einem von Macphersons Kurzfilmen mitgespielt. Auf Paul und Eslanda Robeson komme ich weiter unten zu sprechen.


Mit der Ausgabe vom Dezember 1933 stellte Close Up das Erscheinen ein. H.D. schrieb nur in der Anfangszeit halbwegs regelmäßig Artikel, und in den 30er Jahren erschienen in Close Up überhaupt keine Beiträge mehr von ihr. Ihre Mitherausgeberschaft war ohnehin nur ideell, weil sie keinen Sinn für's Praktische hatte und psychisch labil war. Und Macpherson verlor nach dem ausbleibenden Erfolg mit BORDERLINE nicht nur die Lust, weitere Filme zu drehen, sondern langsam auch das Interesse am Film insgesamt. Sowohl seine eigenen Artikel als auch seine editorischen Aktivitäten gingen stark zurück, was zunächst dadurch kompensiert wurde, dass Oswell Blakeston, der fleißigste Schreiber der Zeitschrift, zum Mitherausgeber befördert wurde. Doch schließlich nabelte sich Macpherson ganz ab, er ging ab 1934 auf ausgiebige Reisen. Bryher und H.D. traf er nur noch selten, aber die Mitglieder der Patchwork-Familie und ihr großer Freundeskreis schrieben sich regelmäßig Briefe und blieben so in Kontakt. Anfang der 40er Jahre ließ sich Macpherson in New York nieder. Sein besonderes Interesse galt Harlem, sowohl in kultureller wie in sexueller Hinsicht. Er hatte damals aber auch eine Affäre mit der Kunstsammlerin und Mäzenin Peggy Guggenheim, bei der er auch längere Zeit wohnte. Hier kehrte Macpherson noch einmal zum Film zurück: Er produzierte (letztlich mit Guggenheims Geld) ab 1944 den surrealistischen DREAMS THAT MONEY CAN BY, den der aus Deutschland emigrierte Dadaist Hans Richter konzipierte und zusammen mit Kollegen wie Man Ray und Max Ernst inszenierte. Der Film nahm einige Zeit in Anspruch und erschien 1947. In diesem Jahr wurde die Zweckehe mit Bryher, die längst keinen Sinn mehr hatte, geschieden. Ebenfalls 1947 übersiedelte Macpherson nach Italien, und für den Rest seines Lebens wohnte er nacheinander auf Capri, in Rom und in der Toskana, wo er 1971 starb.


Bryher war es, die bei der Herausgabe von Close Up die meisten praktischen Dinge erledigte, sie hatte die nötige Energie und das Organisationstalent dazu (auch bei der Erziehung von Perdita schien sie den Ton angegeben zu haben). Doch auch sie orientierte sich um 1933 neu. Einerseits wollte sie eine Ausbildung als Psychoanalytikerin absolvieren (nachdem sie sich von Hanns Sachs selbst hatte analysieren lassen), was sie dann aber nicht konsequent durchzog. Andererseits wurde sie durch die politische Entwicklung in Deutschland zu neuen Prioritäten geführt. Bei ihren häufigen Besuchen in Berlin hatte sie selbst sehen können, wie die Nazis das Land veränderten. Schon in der Close Up vom Juni 1933 veröffentlichte sie unter dem Titel "What Shall You Do in the War?" einen Artikel über Deutschland, in dem es etwa im zweiten Absatz heißt: "Tortures are freely employed, both mental and physical. Hundreds have died or been killed, thousands are in prison, and thousands more are in exile." Und der Artikel endet mit einer Art von Aufruf: "The future is in our hands for every person influences another. The film societies and small experiments raised the general level of films considerably in five years. It is for you and me to decide whether we will help to raise respect for intellectual liberty in the same way, or whether we all plunge, in every kind and colour of uniform, towards a not to be imagined barbarism." Fortan investierte sie viel Geld und Energie darin, Juden und anderen Verfolgten die Flucht aus Deutschland zu ermöglichen, wobei Kenwin als Durchgangsstation diente. Sie hatte auch mehr denn je die Mittel dazu, denn im Juli 1933 starb ihr Vater. Zwar erbte den Löwenanteil des Vermögens, ca. 20 Mio. £, Bryhers jüngerer Bruder John, der die Schiffahrtslinien und sonstigen Geschäfte weiterführte. Auch John Ellerman jr. verwendete viel Geld darauf, Juden bei der Flucht aus Deutschland zu helfen, und nebenbei beschäftigte er sich als Gelehrter mit den Nagetieren. Doch Bryher erhielt aus dem Erbe auch noch üppige 900.000£, nach heutigem Wert ein zweistelliger Millionenbetrag.


Die Involvierung des Trios in Fragen der Psychologie und Psychoanalyse war tiefgehend und lang anhaltend. Schon in den frühen 20er Jahren waren Bryher und H.D. mit dem Psychologen und Sexualforscher Havelock Ellis auf Reisen, und nicht nur Bryher ließ sich von Hanns Sachs analysieren, sondern auch H.D.. Sachs gehörte zum engsten Kreis um Sigmund Freud, und er war einer der ersten, die die Psychoanalyse nicht nur rein medizinisch verstanden, sondern auf kulturelle Phänomene anwandten, insbesondere auf Literatur und dann auch auf den Film. Sachs und sein Kollege Karl Abraham, ebenfalls aus dem engen Kreis um Freud, waren die fachlichen Berater bei Pabsts GEHEIMNISSE EINER SEELE (Pabst und sein Produzent Hans Neumann wollten auch Freud als Berater, doch der lehnte kategorisch ab). Sachs' Theorien über Psychoanalyse und Film überzeugten auch Macpherson, und sie beeinflussten seine Art, wie er Eisensteins Montagetheorie verstand. Sachs emigrierte 1932 in die USA, ohne dass H.D.s Analyse schon abgeschlossen gewesen wäre. Deshalb setzte sie, mit einer Empfehlung von Sachs versehen, die Behandlung bei keinem Geringeren als Freud selbst in Wien fort.


Im Zweiten Weltkrieg lebten Bryher und H.D. zusammen in einer Wohnung in London. Ab 1946 wohnten sie nicht mehr zusammen, und die immer labile H.D. hatte in diesem Jahr einen Nervenzusammenbruch. Die beiden blieben aber auf einer loseren Ebene ein Paar, und Bryher sorgte weiterhin für H.D.s Lebensunterhalt und erledigte viele praktische Dinge, so dass sich H.D. ganz auf ihre Gedichte und sonstigen literarischen Aktivitäten konzentrieren konnte. Sie wohnte wieder in der Schweiz, und 1961 starb sie nach einem Schlaganfall in Zürich. Bryher schrieb in den 50er und 60er Jahren einige erfolgreiche historische Romane, die sie über die Avantgarde-Zirkel hinaus bekannt machten. Zeitweise wohnte sie auch wieder in Kenwin, und gestorben ist sie 1983 in Vevey, nicht weit von der Villa.


Ich habe es oben schon angedeutet: Vor BORDERLINE drehte die Pool Group schon drei Kurzfilme, nämlich WING BEAT (1927), FOOTHILLS (1928) und MONKEYS' MOON (1929), die alle in und um Territet entstanden. Die ersten beiden sind nur in Fragmenten erhalten, von letzterem wurde vor einigen Jahren eine Kopie wiederentdeckt. Die Arbeit an BORDERLINE begann im Mai 1929: Macpherson verfertigte das Drehbuch in Form eines umfangreichen kommentierten Storyboards mit fast 1000 Zeichnungen. Die Dreharbeiten in der Nähe von Territet begannen im März 1930, und sie dauerten keine zwei Wochen, denn es wurde kaum geprobt, und fast jede Einstellung wurde nur einmal gedreht. Macpherson war Regisseur und führte die Kamera (eine handliche 35mm-Kamera vom Typ Debrie Parvo L, die man sowohl kurbeln als auch elektrisch antreiben konnte), und sein Vater, der Maler John Macpherson, assistierte als Beleuchter. Den Schnitt besorgte das Pool-Trio gemeinsam, und im Juni war der Film fertig. Er wurde in ausgewählten Kinos und Filmclubs gezeigt, etwa in Berlin im Kino "Rote Mühle", und in Brüssel bei einem Filmkongress. Wie schon erwähnt, waren die meisten Kritiken ungnädig, und in England sogar ausgesprochen hämisch. BORDERLINE hätte 1931 auch in den USA gezeigt werden sollen, wurde aber bei der Einfuhr aus unbekannten Gründen vom Zoll konfisziert. Die häufigste Begründung für die schlechten Noten war, dass die Handlung "unklar" oder "obskur" und die Struktur "chaotisch" sei.


In der Tat ist die ohnehin knappe äußere Handlung auch recht elliptisch dargeboten, so dass man sich manches selbst zusammenreimen oder aus eher versteckten Details erschließen muss. So ist etwa ein im Lokal hängendes Plakat, das Reklame für die schweizerische Schifffahrtslinie auf dem Genfer See macht, der (wenn ich nichts übersehen habe) einzige Hinweis darauf, wo das Ganze ungefähr spielt. Aber auch im Beziehungsgeflecht der vier Hauptpersonen bleibt manches unklar und der Interpretation des Zuschauers überlassen. Denn die Beziehungen werden zum größten Teil nicht durch Dialoge oder gar erläuternde Texttafeln transportiert, sondern einerseits durch Gesten und Blicke, und andererseits durch symbolische Zwischenschnitte. Es wird viel geblickt in BORDERLINE, Blicke, die Begehren, Eifersucht oder Wut ausdrücken, aber wenig gehandelt und wenig geredet (in dem Sinn, dass es nur wenige Zwischentitel mit Dialogen gibt, die dann auch immer recht knapp ausfallen). Und zwischen den Einstellungen, die den Plot voranbringen, gibt es Bilder etwa von einer Katze auf der Straße, die sich aus einem Wasserglas einen Fisch angelt, von Bergen und einem ziemlich grandiosen Wasserfall, aber auch Großaufnahmen von den Körpern der Darsteller (und hier vor allem von Robesons Körper). Auch die Symbolik dieser Zwischenschnitte wird nicht auf dem Präsentierteller dargeboten, sondern bleibt offen für Interpretationen. Das Thema Homosexualität wird nicht offen angeschnitten, ist aber sehr wohl unterschwellig vorhanden. Der Pianist hat ein Foto von Pete an sein Klavier geklemmt, direkt neben den Noten, so dass er es jederzeit betrachten kann (womit wir wieder bei den Blicken sind). Und die Bardame und ihre Chefin wirken sehr vertraut miteinander, die eine krault der anderen auch mal das Haar - vielleicht sind sie mehr als nur Freundinnen. Andeutungen, Indizien ...

Zwischenschnitte
Das Schnitttempo von BORDERLINE ist über die gesamte Laufzeit gemessen nicht übermäßig hoch, er entspricht in dieser Hinsicht also keineswegs einem der Revolutionsfilme von Eisenstein oder Pudowkin. Doch an einzelnen Stellen, vor allem beim tödlichen Streit zwischen Astrid und Thorne, wird das Tempo stark angezogen. Es kommt hier zu regelrechten Ausbrüchen von Schnittgewittern, mit Einstellungen, die nur etwa vier bis sieben Frames lang sind und sich rasend schnell abwechseln, so dass ein stroboskopartiger Effekt entsteht. H.D. hat in einem Artikel über den Film von 1930 dafür den Ausdruck clatter montage geprägt. Ein derart hochfrequenter Schnitt kam auch bei Eisenstein selten vor, wenn überhaupt, wohl aber bei den französischen Impressionisten um Abel Gance (die natürlich auch auf dem Radar von Close Up waren).

Großaufnahmen von Körperteilen
Ein gemeinsames Interesse des Pool-Trios habe ich noch nicht erwähnt, nämlich die "Rassenfrage" (und damit kommen wir langsam zu Robeson). Alle drei (und auch Herring und andere Close Up-Autoren) interessierten sich für afroamerikanische und schwarzafrikanische Kultur und waren strikt gegen Rassismus eingestellt, auch gegen einen "wohlwollenden", paternalistischen Rassismus, wie er auch in vielen Hollywood-Filmen zum tragen kam. Ein besonderer Motor dieses Interesses war die Harlem Renaissance der 20er Jahre, in der urbane schwarze Intellektuelle und Schriftsteller wie W.E.B. Du Bois, Langston Hughes und Walter Francis White ebenso wie Blues- und Jazzmusiker wie Bessie Smith und Duke Ellington über die USA hinaus Strahlkraft entfalteten. Auch vom "schwarzen Paris" waren Macpherson, Bryher und H.D. beeindruckt, in dem Künstler wie Josephine Baker und Johnny Hudgins (die auch beide Bestandteil der Harlem Renaissance waren) reüssierten, ja geradezu Triumphe feierten (auch Eisenstein war davon ungemein beeindruckt, als er Anfang 1930 einige Wochen in Paris verbrachte, bevor er nach Hollywood aufbrach).

Astrids letzte Stunden
Die Close Up-Ausgabe vom August 1929 war ausschließlich der schwarzen Kultur, und insbesondere den Möglichkeiten des schwarzen Films, gewidmet. Das Trio war keineswegs frei von zeitgebundenen Klischees und Vorurteilen. Eslanda Robeson schrieb in ihrem Tagebuch, dass sie und Paul manchmal Tränen lachten über die naiven Vorstellungen von Macpherson und H.D. über die "Negroes" und dabei ihr Make-up ruinierten und sich neu schminken mussten. Aber das Interesse und Engagement war aufrichtig, und damit standen sie damals in Europa nicht allein da. So veröffentlichte etwa Nancy Cunard 1934 in London als Herausgeberin die eindrucksvolle, fast 900 Seiten starke Anthologie Negro, zu der ca. 150 Mitarbeiter (zwei Drittel Schwarze) beitrugen. Nancy Cunard (1896-1965) war sozusagen eine Kollegin von Bryher: Auch sie war die Erbin eines reichen Vermögens, das aus einer Reederei (der berühmten Cunard Line) stammte. Auch sie floh vor ihrer Familie nach Paris, wo sie alle maßgeblichen Künstler und Schriftsteller kannte und einen nicht gewinnorientierten Verlag gründete, und auch sie war stark antirassistisch und antifaschistisch eingestellt. Der Kreis ihrer Freunde und ihrer literarischen Schützlinge als Verlegerin überschnitt sich stark mit dem von Bryher, und (die heterosexuelle) Cunard und Bryher waren auch miteinander befreundet. Macpherson steuerte zur Anthologie Negro einen Artikel mit dem Titel "A Negro Film Union - Why Not?" bei.

Cover sowie Impressum und Inhaltsangabe der Ausgabe vom August 1929
1930 konnte Paul Robeson schon sehr ansehnliche Honorare verlangen, doch in BORDERLINE hat er offenbar - genau wie alle anderen Darsteller - umsonst mitgespielt. Man weiß nicht genau, wie er dazu überredet wurde. Paul Robeson (1898-1976) war von eindrucksvoller körperlicher Statur, und schon während seines Studiums an der Rutgers University betrieb er erfolgreich mehrere Sportarten, und er war sogar kurzzeitig Profi-Footballer. Nach Abschluss seines juristischen Examens an der Columbia University trat er in eine Anwaltskanzlei ein, doch als man ihm bedeutete, dass ihn nie ein weißer Klient als Rechtsvertreter akzeptieren würde, ließ er die Juristerei sein und wandte sich als Sänger und Schauspieler dem Showbusiness zu. (Man ist sich nicht ganz einig, ob seine überaus kräftige Singstimme ein Bass oder Bariton war - die ehrwürdige New York Times hat dieser Frage sogar einen tiefschürfenden Artikel gewidmet.) Seit 1923 stand er in New York auf der Bühne und wurde nun auch ein Bestandteil der Harlem Renaissance. Sein Durchbruch kam mit den Hauptrollen in zwei Stücken von Eugene O'Neill, und seine erste Filmrolle spielte Robeson in BODY AND SOUL (1925) von Oscar Micheaux, dem wichtigsten Produzenten und Regisseur des frühen afroamerikanischen Films (race films nannte man diesen Sektor damals). BORDERLINE war sein zweiter Film (wenn man die zusammengestückelte Obskurität CAMILLE des Cartoonisten Ralph Barton nicht mitzählt). Seit 1927 lebte und arbeitete Robeson vorwiegend in London, und er hatte in Sprechstücken ebenso wie in Musicals und mit Konzerten Erfolg. Zu seinen Markenzeichen zählten etwa die Rolle des Othello und seine Interpretation von "Ol' Man River" aus dem Musical "Show Boat".

Die Chefin raucht Zigarre
Von 1921 bis zu ihrem Tod war Robeson mit Eslanda (1895-1965) verheiratet. Sie hatte Chemie studiert und arbeitete in diesem Metier in einem Krankenhaus, und nach der Hochzeit wurde sie auch Pauls Managerin, zunächst nebenbei, und ab 1925 hauptberuflich. Robeson war ein Womanizer, und um 1930 herum übertrieb er es offenbar mit seinen Affären (u.a. mit seiner Bühnenpartnerin Peggy Ashcroft, seiner Desdemona in "Othello"). 1931 hatte Eslanda genug. Sie trennte sich von Paul, studierte in London nun auch noch Anthropologie, spielte nebenbei in drei Filmen mit und machte eine Forschungsreise nach Afrika (zu der später noch zwei weitere kamen), worüber sie ein Buch aus feministischer Sicht schrieb. Die zunächst geplante Scheidung wurde zwar schnell wieder abgesagt, aber die Ehe war nur noch eine Zweckgemeinschaft zur Erziehung ihres Sohnes Paul jr., sowie eine berufliche Gemeinschaft, denn Eslanda war nach wie vor Pauls Managerin. Die beiden engagierten sich auch gemeinsam in der Bürgerrechts- und Friedensbewegung, wobei Eslanda auch ihren feministischen Standpunkt einbrachte, und unabhängig von Paul verfolgte Eslanda eigene Projekte, so schrieb sie weitere Bücher. Pauls Filmkarriere begann eigentlich erst 1933 so richtig, als er in englischen und amerikanischen "weißen" Filmen wie THE EMPEROR JONES, SANDERS OF THE RIVER, SHOW BOAT, SONG OF FREEDOM und der zweiten Verfilmung von KING SOLOMON'S MINES Hauptrollen spielte.


Robeson war schon früh an der Bürgerrechtsfrage interessiert, und in England wurde er auch für den Sozialismus gewonnen. Er las einerseits Marx, Engels, Lenin und Stalin, aber andererseits unterstützte er ganz praktisch walisische Bergarbeiter, die unter miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen litten und zusätzlich gerade von einem schweren Grubenunglück heimgesucht wurden. Noch Jahrzehnte später hielt man im südwalisischen Bergbaugebiet Robeson ein ehrendes Andenken. 1934 besuchte er auf Einladung von Eisenstein, mit dem er sich befreundete, zum ersten Mal die Sowjetunion, wo er keinerlei Rassismus begegnete, was dazu führte, dass er lange - vielleicht allzu lange - dem Stalinismus völlig unkritisch gegenüberstand, als dessen Verbrechen längst bekannt waren. In den Zeiten des Roosevelt'schen New Deal und der kriegsbedingten Partnerschaft der USA und der UdSSR bescherte Robesons politische Einstellung ihm in der Heimat keine größeren Probleme, doch das änderte sich nach dem Krieg dramatisch. Er wurde nun als Kommunist scharf angegriffen, das FBI bespitzelte ihn nicht nur permanent, sondern behinderte auch aktiv seine Konzerte, und seine Schallplatten und Filme wurden mit einem Bann belegt. Als Höhepunkt der Hexenjagd wurde ihm 1950 vom Außenministerium der Reisepass entzogen, so dass er die USA nicht mehr verlassen durfte. Besonders perfide war, dass "patriotische" schwarze Sportler und Bürgerrechtler (die teilweise stark unter Druck gesetzt wurden) gegen den "Landesverräter" ausgespielt wurden. Internationale Proteste gegen den Entzug des Passes blieben ebenso erfolglos wie Robesons jahrelange Gerichtsprozesse dagegen. Erst nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, die nicht ihn persönlich betraf, aber allgemeine Geltung hatte, bekam er 1958 wieder einen Pass. Er nutzte das, um, wie schon rund 30 Jahre zuvor, wieder nach London zu ziehen, wo das Klima ihm gegenüber weit freundlicher war. In den Ostblockstaaten, wohin er jetzt wieder reisen konnte, wurde er mit Ehrungen überhäuft. Von den zermürbenden Auseinandersetzungen und von Krankheiten geschwächt, beendete er 1963 seine Karriere und zog wieder in die USA, wo er 1976 in Philadelphia starb. Ich könnte noch viele interessante Dinge über diesen in mehrerlei Hinsicht faszinierenden Künstler erzählen, z.B. wie Eisenstein mit ihm in der Hauptrolle einen Film über die erfolgreiche Sklavenrevolution in Haiti drehen wollte. Aber der Artikel ist schon ziemlich lang - vielleicht ein andermal ...


BORDERLINE ist in Deutschland bei arte (in Zusammenarbeit mit absolut Medien) auf DVD erschienen, mit einem gelungenen Soundtrack des englischen Saxophonisten Courtney Pine. In England gibt es BORDERLINE auf einem 2-DVD-Set vom BFI, mit demselben Soundtrack und einem Booklet mit drei Essays. Auf der zweiten Scheibe befindet sich der Dokumentarfilm KENWIN (1996) von Véronique Goël, den ich allerdings ziemlich frustrierend finde. In den USA gibt es von Criterion die 4-DVD-Box Paul Robeson: Portraits of the Artist, die sechs Spielfilme von BODY AND SOUL über BORDERLINE bis THE PROUD VALLEY (1940) ebenso enthält wie Leo Hurwitz' und Paul Strands klassisches Doku-Drama NATIVE LAND (1942), in dem Robeson als Erzähler fungiert, dazu noch die Doku PAUL ROBESON: TRIBUTE TO AN ARTIST und weiteres Bonusmaterial. Wenn man bezüglich Robeson nicht kleckern, sondern klotzen will, dann ist man hier richtig. Daneben gibt es in den USA und in England noch weitere Boxen und Einzel-DVDs mit Robeson-Filmen, sowie die empfehlenswerte zweistündige Doku PAUL ROBESON - HERE I STAND.


Irgendwann gelangten die Verwertungsrechte an Close Up an die amerikanische Kongressbibliothek, die sie als Public Domain freigegeben hat. Und erfreulicherweise hat man sich die Mühe gemacht und sämtliche Ausgaben gescannt und in digitaler Form zur Verfügung gestellt. Man findet jetzt alle zehn Bände (von 1927 bis 1930 jeweils ein halbes Jahr und von 1931 bis 1933 jeweils ein Jahrgang) beispielsweise bei archive.org (hier verlinkt), wo man sowohl online stöbern als auch die Bände in verschiedenen Formaten komplett herunterladen kann. Und als ob das noch nicht genug wäre, kann man das 340-seitige Buch CLOSE UP 1927-1933: Cinema and Modernism, das ausführliche Kommentare der Herausgeber und einen informativen Anhang mit ausgewählten, thematisch geordneten Artikeln aus Close Up vereint, komplett als PDF herunterladen. Da bleiben für den geneigten Hobby-Forscher kaum noch Wünsche offen!

Das Ende