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Sonntag, 15. Dezember 2013

C – eine Stadt sucht einen Detektiv


WO IST COLETTI?
Deutsches Reich 1913
Regie: Max Mack
Darsteller: Hans Junkermann (Jean Coletti), Madge Lessing (Lolotte), Heinrich Peer (Anton), Anna Müller-Lincke (resolute Dame), Hans Stock (Graf Edgar), Max Laurence (Alter Graf)



Zum Inhalt

Innerhalb von 48 Stunden nach der Tat fängt der Berliner Detektiv Jean Coletti einen Verbrecher. Eine beachtliche Leistung eigentlich, findet er. Die Presse (besonders die B. Z.) ist jedoch anderer Meinung und macht sich über ihn lustig: wenn die Öffentlichkeit über einen in der Zeitung veröffentlichten Steckbrief an der Verbrecherjagd teilgenommen hätte, wäre der Übeltäter doch wesentlich schneller gefangen worden. Coletti kontert: er lässt sich selbst steckbrieflich erfassen und ruft die Bevölkerung Berlins dazu auf, ihn binnen weniger als 48 Stunden auffindig zu machen. Wer ihn fängt, erhält ein Preisgeld von 100.000 Mark. 

Gesagt, getan: der Steckbrief wird aufgegeben, die Belohnung ausgeschrieben. Coletti versteckt sich zunächst bei seiner Verlobten, der Tänzerin Lolotte, lässt sich vom Barbier Anton rasieren und verkleidet sich mit Perücke und entsprechendem Overall als Straßenfeger. Seinen Barbier verkleidet er als sich selbst. Draußen, auf den Straßen, ist der Steckbrief („Wo ist Coletti?“) schon überall angeschlagen, und schnell wird der falsche Coletti Anton von einer Menge verfolgt. Der richtige Coletti taucht als Straßenfeger unter, bis er die Aufmerksamkeit eines Polizisten auf sich zieht, weil er seine wesentlich feiner gekleidete Verlobte auf der Straße küsst. Anton-Coletti derweilen flieht in einem Omnibus, dann auf einem Fahrrad vor einer Verfolger-Menge und steigt in ein Zeppelin. Dort bekommt er vom mittlerweile als Kellner verkleideten richtigen Coletti einen Cognac serviert und wird von einer resoluten Dame erkannt. Der Zeppelin landet und er wird zur Polizei abgeführt, wo er seine wahre Identität preisgibt – sehr zum Hohn der Fängerin und der sensationsgierigen Menge.

Derweilen versteckt sich der richtige Coletti wieder bei seiner Verlobten, die ihn in einem Wäschekorb zum Hotel Adlon transportieren lässt, wo sie am nächsten Tag einen Auftritt haben soll. Graf Edgar, ein Verehrer der Tänzerin, verschafft sich zusammen mit seinem Onkel Zugang zum Hotelzimmer und bittet sehr eindringlich um ein abendliches Rendezvous mit Lolotte. Diese sagt zu, und bringt gleich eine Freundin zu einem Doppel-Date mit: nämlich den als Frau verkleideten Coletti. Vor dem Abendessen gehen alle vier ins Kino, wo sie in der Wochenschau von der Verfolgung des Detektiven erfahren. Danach geht es zu Speis, Trank und Tanz in ein Lokal – doch die Verfolger sind schon auf der Spur...


Das Medium Film auf dem Weg zur ernsthaften Kunstform

Vor ziemlich genau 100 Jahren machte das Medium Film allmählich eine Wandlung von einer Jahrmarktsattraktion zur eigenständigen Kunstform durch und stieß dabei auf erheblichen Widerstand von Seiten zahlreicher intellektueller Kreise. Die „Filmkunstbewegung“, die ihren Ursprung in Frankreich hatte, wollte das stark kritisierte Medium auch für gebildete und gehobene Schichten attraktiv machen und für dessen Respekt kämpfen. Besonders Bezüge zur Literatur und zum Theater – thematisch, ästhetisch und personell – sollten dabei helfen. Max Mack (1884-1973), der Regisseur von WO IST COLETTI?, der heute als Pionier des deutschen Films gesehen werden kann, kam selbst vom Theater, und drehte seit 1911 Filme. Auch er wollte den Status des Mediums durch literarische Bezüge und namhafter Unterstützung aus der Theater-Szene heben. Für Aufsehen sorgte sein Film DER ANDERE: die Geschichte eines Rechtsanwalts, der mildernde Umstände für geistig kranke Verbrecher strikt ablehnt, aber nach einem Unfall selbst unbewusst eine „andere“ Persönlichkeit als Krimineller entwickelt. Das Drehbuch schrieb der Journalist, Schriftsteller und Theater-Intendant Paul Lindau nach einem Bühnenstück aus dem Jahr 1893. Für einen noch renommierteren Namen aus der deutschen Bühnenlandschaft sorgte Alfred Bassermann in der Titel-“Doppel“-Rolle, seines Zeichens einer der großen Darsteller am Deutschen Theater Berlin in der Ära Max Reinhardts (der selbst durchaus filmaffin war). DER ANDERE floppte trotzdem beim Publikum.

Für WO IST COLETTI? schrieb erneut eine Theaterkoryphäe das Drehbuch, nämlich der österreichische Lustspiel-Spezialist Franz von Schönthan, der noch Ende des selben Jahres 64-jährig verstarb. Hans Junkermann, der Darsteller der Titelfigur und erfahrener Theaterschauspieler, war 1913 schon seit zwei Jahren auch aktiv im Filmgeschäft tätig, im Gegensatz zu seiner britischen Partnerin Madge Lessing, die hier ihren Film-Einstand gab. Ihre Credits zu Beginn des Films enthalten einen expliziten Hinweis auf ihre Theater-Herkunft.

Diese herausgestellten Bezüge zum Theater im personellen Bereich (nicht so sehr im ästhetischen, wie gleich zu erläutern sein wird!) dürften allerdings nicht der Hauptgrund für seinen großen zeitgenössischen Erfolg gewesen sein. Denn tatsächlich wurde WO IST COLETTI? so etwas wie der erste, große, erfolgreiche, abendfüllende deutsche Film – sowohl in Deutschland, wie auch international. Ein Sensationsfilm. Geradezu eine Art früher „Blockbuster“. Und zusammen mit den wenigen Wochen bzw. Monaten später gezeigten RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG ein Wegbereiter des „künstlerischen“ Films in Deutschland.

Alle drei erwähnten Werke sind Pionierfilme, allerdings mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und Themen. WO IST COLETTI? ist gewissermaßen der „trivialste“ der drei Filme. Er ist der am wenigsten bekannte, und – meiner Meinung nach – auch der beste, interessanteste, aufregendste und im banalen Sinne unterhaltsamste von allen drei!


Zur besonderen Ästhetik von WO IST COLETTI?

Der Film beginnt damit, dass ein Schreibtisch per Stopmotion von der Seite in die Mitte des Bildes „hinein läuft“. Ein Jump-Cut später sitzt der Autor Franz von Schönthan am Tisch, und stehend daneben präsentiert ihm der Regisseur Max Mack die Hauptdarsteller. Aus einem zusammengeknüllten Papierbündel heraus „wirft“ er die Namen an die schwarze Leinwand im Hintergrund und mit einem Handgriff (sprich: Jump-Cut) tauchen alle drei Personen (Hans Junkermann, Madge Lessing und Heinrich Peer) unter ihren jeweiligen Namen auf. Der Autor und der Regisseur schütteln ihnen die Hände und scheinen mit ihnen zufrieden zu sein: der Film kann (nun also „wirklich“) beginnen.

Dieser Prolog mischt Theater-Ästhetik auf der einen Seite (Handlung auf einer Bühne) mit „reinem“ Film in der Tradition des Attraktionskinos à la Georges Méliès. Letzteres, also das „pure“ Kino, wird den Film ästhetisch größtenteils dominieren. Das merkt man schon am Schnitt, der regelmäßig „statische“ Szenen dynamisiert. Man kennt die „Theater-Ästhetik“ aus vielen frühen Stummfilmen: eine Szene wird von A bis Z in einer einzigen fixen Einstellung gefilmt – gerade auch in RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG. In WO IST COLETTI? hingegen werden viele Szenen schon recht dynamisch mit Schnitten aufgelockert und punktuiert. So etwa die Szene, wo Coletti sich zwecks der genauen steckbrieflichen Erfassung seine Körpermaße nehmen lässt: die Messmaschine (eine Art bizarrer Thron mit vielen verschiebbaren Messlatten) wird aufgebaut und erste Messungen werden von den Polizeiassistenten durchgeführt. Als die Schultern Colettis gemessen werden, wechselt der Schnitt in die Naheinstellung: von der Gesamtszene wandert die Aufmerksamkeit zur Mimik des Coletti, der die Prozedur offenbar furchtbar amüsant findet (überhaupt lacht Junkermann bzw. die Coletti-Figur ziemlich oft im Film).

Noch weitaus interessanter ist die Art und Weise, wie die Raumtiefe genutzt wird. Dank sehr hoher Tiefenschärfe lassen Max Mack und sein Stammkameramann Hermann Böttger an mehreren Stellen parallele Handlungen in verschiedenen Arealen des Bildraumes stattfinden. Wenn etwa Lolotte im Hotel Adlon den Wäschekorb (mit dem Inhalt Wäsche und Coletti) in ihrem Zimmer von Hotelpagen in eine Nische vor der Badezimmertür im Hintergrund tragen lässt, einige Coletti-Sucher sie befragen und sich sonst im Zimmer umsehen und sie in den Vordergrund tritt und die Zuschauer schmunzelnd anzwinkert (das Durchbrechen der „vierten Wand“ passiert im Film immer wieder). Kurz, bevor die zentrale Action-Szene des Films beginnt, sieht man eine Menschenansammlung vor einer Litfaßsäule mit dem Steckbrief stehen, im Hintergrund fährt ein Omnibus vorbei, in dem der Anton-Coletti sitzt und der schon von einigen Leuten verfolgt wird. Die Menge rennt daraufhin sukzessive dem Bus nach, während sich im Vordergrund der als Straßenkehrer verkleidete Coletti lachend vor die Litfaßsäule stellt.

Diese Massen-Szene, gedreht mit dem Brandenburger Tor im Hintergrund, mündet auch in die spektakulärste Action-Szene des Films. Anton-Coletti sitzt im zweiten Stock des Busses ganz hinten. Eine aufgeregte Menschenmenge rennt ihm hinterher (hier wieder ein Beispiel für kunstvoll ausgenutzte Tiefenschärfe). Teile der Menge erreicht den Bus, es entsteht ein Gerangel, Leute klettern auf den fahrenden Bus, einige fallen dabei wieder runter, das Fahrzeug wackelt gefährlich unter dem Gewicht der Kletterer, und in diesem Chaos schafft es der Anton-Coletti, sich auf und davon zu machen. Diese Verfolgungsjagd ist zweifelsohne die visuell großartigste Attraktion von WO IST COLETTI? Ein kurzer, aber sehr effektiver Prototyp des Actionfilms. Eine Szene, die ein wenig an die komplexen und gefährlichen Stunts erinnert, die Buster Keaton etwa ein Jahrzehnt später in seinen Filmen (freilich wesentlich geballter) einbauen würde. Dass der Meister des Action-Stummfilms diesen Detektiv-Film gesehen hat, wäre nicht völlig unmöglich: WO IST COLETTI? lief im Frühjahr 1914 auch in den USA.

Eine Keaton-Verbindung fände sich auch in der demonstrativen Selbstreflexion des Mediums Film. Als Lolotte, der verkleidete Coletti und die beiden Grafen ins Kino gehen, sehen sie eine Wochenschau über Colettis Flucht bzw. über die Verfolgung des falschen Colettis: auf der Leinwand laufen Bilder aus dem Film selbst, und zwar mit doppelter Geschwindigkeit. Der richtige Coletti bekommt im Kino quasi ein Briefing darüber, wie bislang seine eigene Verfolgung verlief, und wird auf den Wissensstand des Zuschauers (außerhalb seines Filmuniversums) gebracht. Dieses Film-im-Film-Element tauchte später bekanntermaßen in Keatons „Detektiv“-Film SHERLOCK JR. auf – freilich noch wesentlich komplexer (als Film-als-Traum-im-Film).

WO IST COLETTI? schafft es, zumindest meiner Meinung nach, wesentlich besser als RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG, sich komplett von anderen Kunstformen zu emanzipieren, um ganz und gar Film zu sein. Allerdings sind zugleich auch seine Rückgriffe auf andere Kunstformen und Genres wesentlich breiter. Nebst Theater-Elementen hat Macks Film mit einer Tanz-Nummer gegen Ende auch Versatzstücke aus dem Varieté. Sein Thema schafft auch Bezüge zum damals überaus beliebten Groschenroman. In den Zwischentiteln finden sich auch Elemente des frühen Comics: mehrmals tauchen neben dem Text kleine Cartoons auf, etwa bei (sinngemäß) „Coletti geht zum Barbier“ eine kleine Karikatur eines Barbiers, oder bei „Coletti taucht als Straßenkehrer unter“ eine Karikatur des Colettis in seiner etwas grotesken Verkleidung.

Inhaltlich kann WO IST COLETTI? auch als milde Satire gesehen werden auf den rechthaberischen Kleinbürger, der gerne möchte, dass „ordentlicher“ gegen Verbrecher vorgegangen wird, und zwar am besten mit seiner Beteiligung und Expertise. Die Frage nach der Effizienz von Verbrechensbekämpfung und der möglichen Beteiligung der Öffentlichkeit an dieser wurde fast zwei Jahrzehnte später in einem anderen visuell beeindruckenden Berlin-Film gestellt, nämlich in M. Wo in Macks Film die erregte Menschenmenge, die wie ein Hunderudel hinter einen Bus rennt, noch durchaus belächelt werden kann, ist in Fritz Langs Film die kollektive Paranoia und Massenhysterie natürlich wesentlich düsterer dargestellt. 


Weitere Lebenswege der Macher & einige Worte zur Überlieferung

Hans Junkermann, der wunderbare Darsteller des Coletti, blieb dem Film noch jahrzehntelang treu, allerdings meistens in Nebenrollen (u. a. in Josef von Bákys MÜNCHHAUSEN aus dem Jahre 1943). Madge Lessing hingegen spielte bis 1919 nur noch in vier weiteren Filmen von Max Mack Kinorollen. Dieser drehte allerdings weitaus mehr Filme: 127 Credits als Regisseur hat Max Mack bei der imdb (darunter natürlich viele Kurzfilme), Dreiviertel dieser Filme hat er vor 1920 gedreht. Eine interessante Info: in zwei dieser Werke, namentlich ARME MARIA – EINE WARENHAUSGESCHICHTE sowie ROBERT UND BERTRAM, DIE LUSTIGEN VAGABUNDEN (beide 1915) spielte Ernst Lubitsch eine Nebenrolle. Ab 1930 begann Max Mack auch, Tonfilme zu drehen. 1933 endete seine Karriere in Deutschland, als er vor den Nazis nach Großbritannien floh. Dort drehte er noch zwei Filme, bevor er sich aus dem Filmgeschäft zurückzog. 1973 verstarb er im Alter von 88 Jahren in seiner Exilheimat London. Trotzdem Mack 1965 beim Deutschen Filmpreis das „Filmband in Gold“ für seine Verdienste für den deutschen Film erhielt, sind seine (Pionier-)Werke dem breiten Publikum weitestgehend unbekannt. 

Wenn ich es richtig sehe, ist kein einziger Film von Max Mack in irgendeinem Heimkino-Format verwertet worden. WO IST COLETTI? ist als 35-Millimeter-Kopie beim Deutschen Institut für Filmkunde in Frankfurt erhältlich – sprich: für den Otto-Normal-Zuschauer gar nicht (einer der Gründe, warum dieser Beitrag entgegen der Gepflogenheiten in diesem Blog keinerlei Screen-Shots enthält). Ich selbst habe den Film am Sonntag, dem 8. Dezember im Weimarer Lichthaus-Kino in besagter Kopie bei einer Aufführung mit Live-Musik gesehen.

Sowohl DER STUDENT VON PRAG als auch RICHARD WAGNER wurden, gewissermaßen zu ihrem 100. Geburtstag, 2012/13 restauriert und 2013 in neuem Glanz wieder gezeigt: zunächst in öffentlichen Aufführungen, dann später bei arte-Stummfilm. Es ist (wahrscheinlich) nur eine Frage der Zeit, bis von beiden Filmen eine DVD-Edition erscheint. Natürlich: DER STUDENT VON PRAG ist eh ein legendärer Film, und RICHARD WAGNER profitierte von der medialen Aufmerksamkeit des Wagner-Jahres. Vielleicht wird ja auch WO IST COLETTI? gerade durch eine fleißige Restaurations-Abteilung geschleust und dort zwecks Präsentation für ein breiteres Publikum zurecht gemacht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.