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Sonntag, 26. August 2018

Zeugin aus der Hölle

Zum hundertsten Geburtstag von Artur Brauner am 1. August 2018

ZEUGIN AUS DER HÖLLE / GORKE TRAVE
BRD/Jugoslawien 1965/67
Regie: Žika Mitrović
Darsteller: Irene Papas (Lea Weiss/Clément), Daniel Gélin (Bora Petrović), Heinz Drache (Dr. Hoffmann), Werner Peters (von Walden), Alice Treff (Frau Ritter), Jean Claudio (Nino Bianchi), Hans Zesch-Ballot (Dr. Berger), Radmila Guteša (Telefonistin)

Lea, die Zeugin aus der Hölle
Bora Petrović, ein gestandener jugoslawischer Journalist, bekommt eines Tages unerwarteten Besuch aus Deutschland in seiner Belgrader Redaktion: Dr. Hoffmann, ein Staatsanwalt an der Ludwigsburger Zentralen Stelle für Nazi-Verbrechen. Er ist seit Monaten dem früheren KZ-Arzt Dr. Berger auf der Spur, der in einem Lager grausame Menschenversuche und Zwangssterilisationen an weiblichen Häftlingen durchgeführt hat. Doch jetzt führt Berger als wissenschaftlicher Direktor einer großen Pharmafirma ein gutbürgerlichen Leben mitten in der Bundesrepublik. Er gab sogar einem Fernsehteam ein Interview, in dem er die Vorwürfe gegen ihn jovial-herablassend als frei erfunden abbügelt, ließ dann aber die Ausstrahlung durch seinen Anwalt verhindern. Aber Dr. Hoffmann hat eine potentielle Belastungszeugin: Die jüdische KZ-Überlebende Lea Weiss, nach ihrer Hochzeit mit einem Franzosen (der inzwischen als Reporter in Vietnam verschollen und wahrscheinlich tot ist) Lea Clément. Diese hatte unmittelbar nach dem Krieg ihre Erinnerungen an das Konzentrationslager Petrović diktiert, der das als Buch in Jugoslawien herausbrachte. Dieses Buch, in dem Dr. Berger schwer belastet wird, ist erst kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen, und so ist Dr. Hoffmann auf Lea Clément, die wieder in Deutschland lebt, aufmerksam geworden. Doch Lea will nicht in einem Prozess aussagen und behauptet sogar, ihre Aussagen in dem Buch seien Übertreibungen und "Mystifikationen" gewesen. Das alles erzählt nun Dr. Hoffmann im Büro von Petrović und bittet ihn um eine Einschätzung. Petrović kann kaum glauben, was er da hört - er ist fest davon überzeugt, dass in dem Buch jedes Wort wahr ist. Und so begleitet Petrović nun Hoffmann auf dessen Bitte hin nach Deutschland, um mit Lea zu sprechen.

Bora Petrović und Dr. Hoffmann
Diese hat bis vor einiger Zeit ein halbwegs normales Leben in einer westdeutschen Großstadt geführt und als Pianistin in einem Hotel gearbeitet. (Die städtischen Außenaufnahmen entstanden in Berlin, doch die Stadt wird nicht beim Namen genannt, ist aber durch einige dezente Hinweise erkennbar.) Doch seit einigen Wochen ist sie mehr oder weniger auf der Flucht, zieht in kurzer Folge von Hotel zu Pension. Sie lässt nur noch zwei Personen an sich heran, ihren zwielichtig-schmierigen Anwalt von Walden und ihren derzeitigen Geliebten Bianchi, einen Autohändler. Dieser weiß nichts von Leas Vergangenheit, kann sich keinen Reim auf die hastigen Umzüge machen und ist davon genervt. Bianchi bleibt eine Randfigur, er verschwindet bald aus dem Film. Unmittelbar nach Hoffmanns und Petrović' Ankunft in Leas derzeitigem Hotel packt diese wieder die Koffer und zieht in eine großbürgerliche Villa am Stadtrand, deren ältliche Besitzerin Frau Ritter auch dort wohnt und Zimmer vermietet. (In IMDb, Wikipedia und sonstigen Quellen wird sie aus mir unbekannten Gründen "Frau von Keller" genannt - mehr dazu weiter unten.) Wie man später erfährt, hat von Walden Lea diese Adresse empfohlen. Doch Petrović und Hoffmann geben nicht auf. Mit Hilfe von Bianchi finden sie die Villa, und eine indiskrete Hoteltelefonistin enthüllt den Grund für Leas Verhalten: Sie erhält Drohbriefe und -anrufe mit Inhalten wie "Jude raus!", "Du hast eine Entschädigung bekommen, was willst Du hier noch, Du Blutsaugerin?" (mit einem Hakenkreuz versehen) oder "Du stinkige Judensau, die man vergessen hat zu vergasen, was suchst Du noch in unserem Land?". Der Film nimmt hier wirklich kein Blatt vor den Mund - und gibt wieder, was sich Mitte der 60er Jahre, zur Zeit des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, vielfach tatsächlich ereignet hat. Für den Fall, dass Lea gegen Dr. Berger aussagt, wird sie mit dem Tod bedroht. Es ist also die Angst, die jetzt ihr Verhalten diktiert, aber nicht nur das. Durch das erneute Trauma hat sie wieder Alpträume von ihrer Verhaftung und Deportation und von der Zeit im Lager. In einem der Träume bietet ihr Dr. Berger ein großes Stück tätowierte Menschenhaut als Geschenk an. (Das Thema der tätowierten Menschenhaut, aus der angeblich Lampenschirme gefertigt wurden, ist komplex und diffizil. Hans Schmid hat in seinem Artikel über die ILSA-Filme und deren reale Hintergründe im Lager Buchenwald ausführlich darüber berichtet.) Lea hat die begründete Furcht, dass sie es nicht durchstehen würde, in einem Prozess ihre Geschichte noch einmal durchleben zu müssen.

Wiedersehen von Bora und Lea nach vielen Jahren
Dr. Hoffmann lässt durch die Polizei Recherchen anstellen und findet so schnell heraus, dass Frau Ritters Bruder ein hoher SS-Offizier war, was von Walden Lea gegenüber natürlich nicht erwähnt hat. Und Frau Ritter und von Walden sind alte Freunde, sie nennt ihn "Rudi". Gegen Ende des Films stellt sich sogar heraus, dass dieser dubiose Anwalt auch Dr. Berger vertritt. Und natürlich ist der KZ-Arzt sein eigentlicher Klient, dem er loyal ist, und an Lea hat er sich nur herangewanzt, um sie bequem manipulieren zu können. Und kein anderer als von Walden veranstaltet durch seine Gehilfen die Terrorkampagne gegen Lea. Schon zuvor hat man durch Gespräche der Protagonisten einige Details aus Leas Vergangenheit erfahren, die Dr. Hoffmann noch nicht kannte, weil sie nicht im Buch stehen. Lea und Petrović waren damals, kurz nach dem Krieg, für kurze Zeit ein Paar, bis sie ihn ohne Vorwarnung verließ. Den Grund kannte Petrović selbst noch nicht, aber jetzt erfährt er ihn: Es war sein Wunsch nach Kindern, den er gar nicht offensiv geäußert hatte, den ihm Lea aber angemerkt hatte. Aufgrund ihrer Zwangssterilisation ertrug sie das nicht, konnte auch nicht darüber sprechen und ergriff die Flucht. Und noch etwas erfährt man, das selbst Petrović noch nicht wusste, weil sich Lea damals zu sehr geschämt hatte: Sie war nicht nur den üblichen Qualen und der Sterilisation ausgesetzt, sondern sie musste auch im Lagerbordell arbeiten und war einige Zeit zwangsweise Dr. Bergers Mätresse, bis er ihrer überdrüssig wurde und sie an einen Kollegen abgab, der an Häftlingen Unterkühlungsexperimente in Wassertanks durchführte. Lea musste dann bei diesen Experimenten assistieren, indem sie sich nackt zu den fast erfrorenen Opfern legte, um diese wieder aufzutauen.

Undurchsichtige Gastgeberin: Frau Ritter
Nachdem Lea aus den Fängen von Frau Ritter und "Rudi" befreit wurde und von einem Kriminalbeamten bewacht wird, wirkt sie vorübergehend entspannter. Doch der Schein trügt, Lea wird die Dämonen aus der Vergangenheit nie loswerden. Einmal sagt sie zu Petrović, es wäre besser gewesen, sie wäre vor ihrer Verhaftung aus dem Fenster gesprungen. Nicht, um sich zu retten - das Fenster war im 4. Stock. Doch damals fehlte ihr der Mut dazu. Vor Gericht will sie jetzt immer noch nicht aussagen, aber sie macht in Hoffmanns Büro eine per Tonband mitgeschnittene offizielle Aussage. Das reicht zumindest mal für einen Haftbefehl, und Dr. Berger wird festgesetzt. Aber die Aussage übersteigt Leas Kräfte, und am Ende kollabiert sie mit einer Nervenkrise. Und als Reaktion auf Dr. Bergers Verhaftung aktiviert von Walden wieder seine Drohanrufer - dummerweise hat man Lea im selben Hotel wie vor ihrem Wechsel in die Villa untergebracht, so dass er nicht lange nach ihr suchen musste. Lea ist jetzt am Ende. Als drei junge Männer im Hotelflur Radau machen, kann sie Realität und Vergangenheit nicht mehr unterscheiden - sie wähnt sich wieder am Tag ihrer Verhaftung und glaubt, dass sie jetzt abgeholt wird. Und diesmal springt sie aus dem Fenster.

Lea erhält Drohanrufe
Es ist starker Tobak, der dem deutschen Publikum von ZEUGIN AUS DER HÖLLE präsentiert wurde, und erwartungsgemäß wollten die meisten das nicht sehen. Doch die Zeit war reif für diesen Film, denn von 1963 bis zur Urteilsverkündung im August 1965 hatte der erste Frankfurter Auschwitzprozess stattgefunden. Der Prozess war nicht nur ein epochales Ereignis der westdeutschen Justizgeschichte, er löste auch ausgiebige juristische, politische und historische Debatten aus und inspirierte mediale und künstlerische Auseinandersetzungen mit der Materie, wie etwa Peter Weiss' szenisches Oratorium "Die Ermittlung". Und ganz offensichtlich wurde auch ZEUGIN AUS DER HÖLLE vom Prozess angestoßen. Und er spricht das Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager so deutlich und unverblümt an wie kein anderer bundesdeutscher Film der 60er Jahre, den ich kenne. Er braucht dazu, abgesehen von den Personen, nichts erfinden, sondern kann sich an verbürgte Details halten, nur der Ort wird manchmal verlagert. Aufgrund des zeitgeschichtlichen Kontextes könnte man ganz automatisch annehmen, dass auch Lea in Auschwitz war, aber das wird nie ausgesprochen. Tatsächlich legen zwei im Film zu sehende Fotos und eine Bemerkung von Dr. Hoffmann nahe, dass sie im KZ Natzweiler-Struthof im Elsass war. Die Unterkühlungsexperimente fanden in der Realität weder in Auschwitz noch in Struthof statt, sondern im KZ Dachau - die Verlegung im Film ist eine legitime künstlerische Komprimierung dieser Abartigkeiten (ebenso wie die Sache mit der tätowierten Haut, die eigentlich nach Buchenwald gehört). Aber tatsächlich geschehen sind diese Versuche, sogar das mit den nackten Frauen neben den halb (oder schon ganz) erfrorenen Opfern ist tatsächlich passiert. Das klingt so abseitig, dass ich hier eine Originalquelle zitieren möchte. Der tschechische Arzt Dr. Franz Blaha, ab 1941 als Gefangener in Dachau, sagte im Januar 1946 als Zeuge im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess aus. Er hatte zuvor eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, die nun verlesen wurde, und darin hieß es unter anderem:
5. [Dr. Sigmund] Rascher hat auch Versuche über die Wirkung kalten Wassers an Menschen durchgeführt. Dies wurde getan, um einen Weg zu finden, die Flieger wieder zu beleben, die in den Ozean fielen. Die Person wurde ins eiskalte Wasser gesetzt und dort solange gehalten, bis er das Bewußtsein verlor. [...] Manche Männer hielten 24-36 Stunden aus. Die niedrigste Körpertemperatur erreichte 19 Grad C., aber die meisten Männer starben bei 25 bis 26 Grad Celsius. Als die Menschen vom Eiswasser entfernt wurden, hat man versucht, sie durch Kunst-Sonnenwärme, heißes Wasser, Elektro-Therapie und Tierwärme zu beleben. Für das letztere sind Prostituierte benutzt worden, und man legte den Körper des bewußtlosen Mannes zwischen die Körper zweier Frauen. [...] Ich war persönlich bei einigen dieser Kaltwasser-Versuche anwesend, zur Zeit, wo Rascher abwesend war, und ich sah auch Notizen und Diagramme darüber in Raschers Laboratorium. An ungefähr 300 Personen wurden diese Versuche durchgeführt. Die Mehrzahl von denen starb.


Es wurde gelegentlich vermutet, dass es für Lea ein reales Vorbild gab, nämlich die aus Russland stammende jüdische Auschwitz-Überlebende Dunia bzw. Dounia Wasserstrom, die 1964 als Zeugin im Frankfurter Prozess aussagte. Wasserstrom, die nach der Befreiung zunächst in Frankreich und dann in Mexiko lebte, war seit ihrer Hochzeit mit einem Franzosen französische Bürgerin, genau wie Lea Weiss/Clément. Dounia Wasserstrom war nicht bei medizinischen Experimenten anwesend, sondern sie war in der Politischen Abteilung in Auschwitz als Dolmetscherin eingesetzt, wo sie vor allem die Verbrechen von Wilhelm Boger, einem der 22 Angeklagten in Frankfurt, aus nächster Nähe miterleben musste. Boger hatte die "Boger-Schaukel" erfunden, auf der er viele Häftlinge zu Tode prügelte. Vor allem ein Detail aus Wasserstroms Aussage in Frankfurt hat die Öffentlichkeit schockiert: Boger ermordete einen vier- bis fünfjährigen Jungen, indem er ihn an den Füßen packte und seinen Kopf gegen eine Wand schmetterte. (Es gibt in Bertoluccis NOVECENTO eine ähnliche und sehr beklemmende Szene.) Wasserstrom musste danach die Wand säubern. Sie war davon so traumatisiert, dass sie keine Kinder mehr sehen konnte, ohne dabei depressiv zu werden, weshalb sie später, als sie schwanger wurde, eine Abtreibung durchführen ließ - eine gewisse Parallele zu Lea, die aus einem anderen Grund keine Kinder mehr bekommen kann. Wasserstrom hatte schon längere Zeit vor dem Prozess in der deutschen Botschaft in Paris eine Aussage zu Protokoll gegeben, aber ebenso wie Lea in ihrem Buch konnte sie damals noch nicht alles sagen - die Ermordung des Jungen hat sie damals noch für sich behalten. Wasserstrom hat auch auf Französisch, Spanisch und Englisch Bücher über ihr Schicksal und über Auschwitz verfasst. Es ist gut möglich, dass sie tatsächlich als Vorbild für Lea diente, aber wirklich wichtig ist das nicht - es gab zu viele ähnliche Schicksale.

Rechtsanwalt von Walden
ZEUGIN AUS DER HÖLLE ist eine westdeutsch-jugoslawische Coproduktion eines Belgrader Studios mit der CCC von Artur, genannt "Atze" Brauner, und damals hätte wohl auch kein anderer westdeutscher Produzent als er diesen Film machen wollen. (Kleine Randnotiz: Als Dr. Hoffmann und Petrović mit Hoffmanns Wagen vor einem Fernsehstudio vorfahren, um sich das unveröffentlichte TV-Interview mit Dr. Berger anzusehen, ist dieses Studio in Wirklichkeit das CCC-Studio in Spandau. Immer sparsam, der Atze.) Brauner, ein aus Polen stammender Jude, dessen meiste Angehörige im Holocaust umgekommen sind, hat in seinem Berliner Studio bekanntlich vor allem anspruchslose Kommerzfilme in Serie produziert, aber dazwischen auch immer wieder mal Filme über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Vor allem in den letzten vier Jahrzehnten, als er darauf bauen konnte, dass diese Filme auch im Fernsehen gezeigt wurden und dort ein Millionenpublikum fanden. Wie etwa HITLERJUNGE SALOMON (1990) von Agnieszka Holland, von dem Brauner behauptet, er hätte ihm den Oscar gebracht, wenn er vom deutschen Auswahlgremium nominiert worden wäre (was aber nicht geschah). Doch schon 1948 mit MORITURI (Regie Eugen York) begann Brauner diesen Strang seiner Produzententätigkeit. Es handelt sich um ein Drama um einen KZ-Ausbruch und darum, was die erfolgreichen polnischen und jüdischen Ausbrecher mit einem deutschen Soldaten anfangen sollen, der ihnen in die Hände fällt. Die Westdeutschen wollten sich aber nicht gern einen Spiegel vorhalten lassen. Die zeitgenössischen Kritiken waren durchwachsen, und es gab Randale pöbelnder Zuschauer, als sei das Jahr nicht 1948, sondern 1933. Der Film wurde fast überall vorzeitig aus dem Programm genommen oder gar nicht erst gestartet. Das ließ Brauner vorsichtig werden, und seine ambitionierten Filme über die braune Vergangenheit waren nun erst mal dünn gesät. Zu nennen ist etwa noch DER 20. JULI (1955, Regie Falk Harnack), einer von zwei zeitgleich erschienenen Filmen über das Stauffenberg-Attentat (der andere ist ES GESCHAH AM 20. JULI von G.W. Pabst).

In der Villa ...
Und nun also ein Auschwitz-Film, auch wenn er gar nicht in Auschwitz spielt - wie schon erwähnt, ziemlich singulär in der bundesdeutschen Kino-Landschaft der 60er Jahre. Im Fernsehen immerhin gab es 1966 DIE ERMITTLUNG als Umsetzung von Peter Weiss' Stück (produziert von Egon Monk für den NDR, Regie Peter Schulze-Rohr), und 1968 das Fernsehspiel MORD IN FRANKFURT um einen Auschwitz-Prozess (und einen zeitgleich dazu passierenden Mord an einem Taxifahrer), von Rolf Hädrich für den WDR inszeniert (bei Pidax auf DVD erschienen). Die jugoslawische Seite der Coproduktion stellte nicht nur etliche Nebendarsteller, sondern auch den Regisseur. Živorad, genannt "Žika" Mitrović (1921-2005) war nicht nur Regisseur von ungefähr 20 Spielfilmen, sondern auch passionierter Comiczeichner. Man findet nicht viele Informationen über ihn in mir verständlichen Sprachen. Wenn ich das, was mir der Google Translator aus dem serbischen Wikipedia-Artikel über ihn übersetzt, richtig interpretiere, war er wohl Spezialist für historische oder zeitgeschichtliche Stoffe. Mitrović' Frau, die aus Sarajevo stammende Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Übersetzerin (aus dem Französischen) Frida Filipović (1913-2002), hatte die Idee zum Stoff, den sie 2000 auch als Roman veröffentlichte (ich habe aber vage Hinweise gefunden, dass der Roman unveröffentlicht schon vor dem Film existierte). Das Drehbuch schrieb Filipović unter Mitarbeit von Michael Mansfeld. Dieser Autor und Journalist, eigentlich hieß er Eckart Heinze, war in den 50er Jahren bekannt geworden, als er in Artikelserien die problemlose Fortsetzung von Nazi-Karrieren in der Bundesrepublik anprangerte, vor allem im Auswärtigen Amt. Die so treffende Zeichnung von Dr. Berger und von Walden ist wohl hauptsächlich sein Verdienst.
... und im Hotel
Der im Sommer und Herbst 1965 gedrehte Film lief im März 1966 unter seinem serbokroatischen Titel GORKE TRAVE in Jugoslawien an. In Deutschland hat es über ein Jahr länger gedauert: Premiere war im Juni 1967 bei den Berliner Filmfestspielen, die Kinoauswertung begann im darauffolgenden Juli. In zwei TV-Dokus über Artur Brauner, die kürzlich aus Anlass seines 100. Geburtstags zu sehen waren, wird gar behauptet, ZEUGIN AUS DER HÖLLE hätte gar keinen Verleih gefunden, aber das ist zum Glück etwas übertrieben. Schon 1966 erhielt ZEUGIN AUS DER HÖLLE das Prädikat wertvoll. Schön, könnte man denken, allerdings liest sich die Jury-Begründung mehr wie ein Verriss als wie ein Lob. "Vieles Bedenkliche ist allerdings geblieben", heißt es da, "und der Vorwurf, dass man sich filmtechnisch, dramaturgisch und auch in der Ausstattung nicht die bei einem solchen Stoff nochmehr als bei einem anderen notwendige Mühe gegeben hat, besteht nach wie vor." Außerdem geht daraus hervor, dass ZEUGIN AUS DER HÖLLE unter seinem Arbeitstitel BITTERE KRÄUTER zuvor bereits der Filmbewertungsstelle vorgelegt wurde - und durchgefallen ist. Erst unter seinem neuen Titel und nach offenbar größeren Änderungen hat er es im zweiten Anlauf geschafft. (Der Arbeitstitel bezieht sich auf "ungesäuertes (oder ungesalzenes) Brot und bittere Kräuter", die Juden beim Pessachfest essen sollen, was sich wiederum von zwei Stellen im Alten Testament bzw. den entsprechenden Büchern der Thora ableitet.) Leider habe ich keinerlei Informationen darüber gefunden, worin diese Änderungen bestanden, aber kleinere Sprünge in der Handlung und die Tatsache, dass ZEUGIN AUS DER HÖLLE nur 83 Minuten dauert, können unter diesen Umständen nicht verwundern. Wenn man Artur Brauners Gepflogenheiten kennt, dann weiß man, dass der Regisseur bei solchen nachträglichen Eingriffen nicht gefragt wurde. Allerdings war da ja auch noch der jugoslawische Coproduzent. Theoretisch könnte es also sein, dass der Film in Jugoslawien in seiner ursprünglichen Form gezeigt wurde. Dafür könnte sprechen, dass er in Jugoslawien über ein Jahr früher erschien, und dass in der serbischen Wikipedia eine Laufzeit von 87 Minuten angegeben wird. Mehr Informationen darüber liegen mir nicht vor, und Angaben über die Laufzeit sind ja oft unzuverlässig - es bleibt also vage. Möglicherweise hängt auch die Unklarheit bei zwei Namen mit dieser Frage zusammen. Den Fall von Frau Ritter/von Keller habe ich oben schon angesprochen, und Bianchi hat in ZEUGIN AUS DER HÖLLE den Vornamen Nino, aber in den üblichen Quellen und überhaupt in allen Texten zum Film, die ich gelesen habe, heißt er Carlos (oder manchmal Charlos). Falls "Frau von Keller" und "Carlos Bianchi" die Namen in BITTERE KRÄUTER waren und dann für ZEUGIN AUS DER HÖLLE noch kurzfristig geändert wurden, könnte die erstere Umbenennung möglicherweise mit dem Herrn Rupprecht von Keller zusammenhängen. Dieser Jurist und Diplomat konnte seine im Dritten Reich begonnene Karriere nahtlos in der Bundesrepublik fortsetzen. Als ZEUGIN AUS DER HÖLLE gedreht wurde, war er einer der deutschen Delegierten bei der UNO-Niederlassung in Genf. Falls sich die deutschen Namen im Film nicht Frida Filipović, sondern Michael Mansfeld ausgedacht hatte, hätte das sogar ein gezielter Seitenhieb von ihm sein können, der dann von Brauner entschärft wurde - aber das ist jetzt eine sehr vage Spekulation von mir.

Dr. Berger gibt ein Interview
Auch mit seinen ambitionierten Filmen wollte Artur Brauner Geld verdienen, und das spiegelt sich in der Starbesetzung von ZEUGIN AUS DER HÖLLE. Heinz Drache mal nicht auf der Spur des Hexers oder Zinkers, sondern eines ganz anderen Schurken - doch er macht seine Sache ausgezeichnet als ebenso korrekter wie engagierter Staatsanwalt, der in erster Linie daran denkt, wie er Dr. Berger hinter Gitter bringen kann, und erst in zweiter Linie, wie es Lea dabei geht - ohne das aber ganz aus den Augen zu verlieren. Auch der französische Star Daniel Gélin ist als Bora Petrović bestens besetzt, und Werner Peters und Alice Treff sind in ihren Rollen ganz in ihrem Element. Wahrhaft grandios aber ist Irene Papas, die höchste Schauspielkunst mit internationalem Ruhm kombinierte, den sie spätestens seit ALEXIS SORBAS genoss. Mit ihrer Besetzung ist Brauner und seinen jugoslawischen Partnern ein echter Coup gelungen. Ich will hier nicht in Lobhudelei auf Brauner verfallen. Es gibt viel, was man gegen ihn vorbringen kann, und Hans Schmid hat das in einem seiner gewohnt profunden Artikel in Telepolis ausführlich getan. Aber für einen Film wie ZEUGIN AUS DER HÖLLE muss man Atze Brauner dankbar sein.

Lea hat Albträume
ZEUGIN AUS DER HÖLLE ist 2013 in Deutschland auf DVD erschienen. Leider ohne die geringsten Spuren von Bonusmaterial - da hätte man mehr daraus machen können.

Freitag, 28. Oktober 2011

Kurzhaar muss Elektra tragen

ELEKTRA (griech. ILEKTRA / ΗΛΈΚΤΡΑ)
Griechenland 1962
Regie: Michael Cacoyannis
Darsteller: Irene Papas (Elektra), Yannis Fertis (Orestes), Aleka Katselli (Klytaimnestra), Theodoros Dimitriou (Agamemnon), Phoebus Rhazis (Aigisthos), Notis Peryalis (Elektras Mann), Manos Katrakis (Erzieher/Greis), Takis Emmanuel (Pylades), Theano Ioannidou (Chorführerin)


Über Helden, die solche Waffen geführt,
gebot der Mann, den du, Tyndaridin,
ermordet, dein Gatte, du tückisches Weib!
So werden dich denn die Himmlischen auch
dem Tode einst weihen; wahrlich, ich soll
deinen Nacken noch sehen, zur Strafe des Mordes
blutüberströmt, unterm Schlage des Beiles!
(Euripides: Elektra, Übersetzung Dietrich Ebener)

Die griechische Tragödie ist eine altehrwürdige Literaturgattung, die im 5. Jahrhundert v. Chr. von den Herren Aischylos, Sophokles und Euripides - alle drei in Athen wirkend - zur Blüte gebracht wurde. Jeder der drei hat dutzende Stücke geschrieben, von denen aber nur wenige erhalten sind. "Elektra" ist der einzige Stoff, bei dem von jedem der drei eine Version überlebt hat (bei Aischylos unter dem Titel "Choephóroi" als Mittelteil der dreiteiligen "Orestie"). Michael Cacoyannis hielt sich bei seiner Verfilmung eng an Euripides. Während es eine Unzahl von in der griechischen Antike angesiedelten Sandalenfilmen gibt, sind echte Verfilmungen (also nicht einfach abgefilmte Theateraufführungen) griechischer Tragödien relativ selten. Am bekanntesten dürften Pier Paolo Pasolinis EDIPO RE (nach Sophokles) und MEDEA (nach Euripides) sein, aber Cacoyannis' ELEKTRA ist diesen Filmen mindestens ebenbürtig.


Der Trojanische Krieg ist zu Ende. König Agamemnon, der Anführer der siegreichen Griechen, kehrt heim nach Argos in seine Hauptstadt Mykene, wo er von seiner Frau Klytaimnestra erwartet wird. Doch diese hat ein Problem: Während Agamemnons langer Abwesenheit hat sie sich einen Liebhaber, Aigisthos, genommen. Klytaimnestra hasst Agamemnon, weil dieser auf der Fahrt nach Troja auf Geheiß eines Sehers ihre gemeinsame Tochter Iphigenia geopfert hat (Iphigenia ist nicht wirklich tot, sondern sie wurde zu einem Barbarenvolk am Schwarzen Meer versetzt, aber das ist eine andere Geschichte). Klytaimnestra und Aigisthos lösen ihr Problem auf radikale Art: Gemeinsam ermorden sie Agamemnon unmittelbar nach seiner Ankunft, als dieser ein Bad nimmt. Doch daraus erwächst ein neues Problem: Orestes und Elektra, die weiteren Kinder von Agamemnon und Klytaimnestra, standen auf der Seite des Vaters und hassen jetzt die Mutter. Zwar ist Orestes noch ein Kind und Elektra eine Jugendliche, aber irgendwann werden sie versuchen, den Mord zu rächen. Weil Orestes' Leben deshalb unmittelbar in Gefahr ist, bringt ihn der frühere Erzieher Agamemnons sofort außer Landes nach Phokis, wo er inkognito aufwächst. Elektra dagegen wird wie eine Gefangene im Palast von Mykene gehalten.


Einige Jahre später. Aigisthos und Klytaimnestra regieren als neues Königspaar, doch sie sind beim Volk wegen der Bluttat verhasst, Aigisthos gilt als Usurpator. Elektra ist inzwischen erwachsen. Klytaimnestra will sie loswerden, doch sie wagt nicht, sie ermorden zu lassen, aus Angst, eine Revolte auszulösen. Deshalb wird Elektra zwangsweise mit einem einfachen Bauern verheiratet, der ein armseliges Stück Land am Rand des mykenischen Staatsgebiets bestellt. Aus Verzweiflung und als Zeichen ihres zukünftigen niederen sozialen Standes schneidet sich Elektra das lange schwarze Haar zu einer Kurzhaarfrisur und legt die Haare als stummen Protest vor die Füße von Aigisthos und Klytaimnestra. Die Idee hinter der Zwangsheirat: Wenn Elektra einen vornehmen Krieger heiraten würde - und Anwärter gab es bereits -, dann könnte ein Sohn von ihr eines Tages als Rächer seines Großvaters auftreten, doch bei den bedeutungslosen Kindern eines bedeutungslosen Bauern ist das ausgeschlossen. Außerdem dient das erzwungene Leben in einfachsten Verhältnissen der Demütigung Elektras.


Doch der Bauer, dessen Name ungenannt bleibt, unterläuft diese Absichten. Er behandelt Elektra respektvoll und führt eine platonische Ehe, aus Rücksicht auf den von ihm anerkannten Standesunterschied und darauf, dass Aigisthos als unrechtmäßiger Herrscher kein Recht hatte, diese Ehe zu befehlen. Aber diese Tatsache halten er und Elektra geheim, um keine weiteren Reaktionen des Königspaars zu provozieren. Wie in jeder griechischen Tragödie gibt es einen Chor, der hier von den mykenischen Landfrauen gestellt wird, die Elektra freundlich als eine der Ihren aufnehmen. Für Elektra hätte es also noch schlimmer kommen können, dennoch ist sie verzweifelt: Ein Leben in Armut, keine Aussichten, Rache nehmen zu können, und keine Nachrichten von Orestes, den die meisten für tot halten. Ihre einzige Hoffnung ist, dass Orestes doch noch lebt und irgendwann zurückkehrt.


Und schon ist es soweit: Orestes und sein Freund Pylades betreten mykenisches Gebiet. Das Orakel von Delphi, also indirekt der Gott Apollon, hat ihm befohlen, die Untat zu rächen. Aus Angst, erkannt zu werden, gehen die beiden Freunde nicht direkt nach Mykene, sondern erkunden erst auf dem Land die Lage und geraten dabei an Elektras Hütte. Durch ein erlauschtes Gespräch der Landfrauen erfährt Orestes, wer hier wohnt, und verlangt Elektra zu sprechen. Er enthüllt seine Identität jedoch nicht, sondern gibt sich als Bote von Orestes aus. Elektra vermutet in den beiden für sie Fremden zunächst von Aigisthos ausgesandte Attentäter und verbirgt sich, doch schließlich kann Orestes die Frauen und Elektra von seiner freundlichen Gesinnung überzeugen. Der von der Feldarbeit heimkehrende Bauer ist froh über die Kunde, dass Orestes noch lebt, und lädt die beiden vermeintlichen Boten in seine Hütte ein, was Orestes und Pylades zu einer Reflexion über die Überlegenheit aufrechten Charakters über Reichtum und hohe Geburt veranlasst. Um die beiden bewirten zu können, wird nach einem alten, halb blinden Hirten gesandt, der Wein und Essen mitbringen soll. Es handelt sich um niemand anderen als den früheren Erzieher, der Orestes in Sicherheit gebracht hatte. Am verzierten Knauf eines Schwertes, das Orestes schon als Kind besaß, erkennt ihn der Greis und verrät seine Identität. Elektra will ihm zunächst nicht glauben, doch eine besondere Narbe, die sich Orestes schon als Kind bei der Jagd zuzog, erbringt den Beweis.


Nach der Wiedersehensfreude werden Rachepläne geschmiedet. Trotz des Orakels von Delphi zaudert Orestes - er weiß nicht so recht, ob und wie er zur Tat schreiten soll. Insbesondere der vorgesehene Mord an der eigenen Mutter ist ihm nicht geheuer. Doch Elektra und der Greis bestehen darauf, dass auch Klytaimnestra sterben muss. Doch zunächst ist Aigisthos an der Reihe. Der Greis entwirft einen Plan: Aigisthos feiert gerade mit wenigen Wachen und Dienern ein Weinfest zu Ehren von Dionysos. Wenn Orestes und Pylades als vermeintliche Fremde dort aufkreuzen, wird Aigisthos sie zum Fest einladen, und es wird sich eine Gelegenheit zum Mord ergeben. Wenn sich Orestes nach der Tat als Sohn Agamemnons zu erkennen gibt, werden die Wachen zu ihm überlaufen. Die beiden Freunde brechen auf, während Elektra für den Fall des Scheiterns des Plans ihren eigenen Selbstmord ankündigt. Die Nacht vergeht quälend langsam, und Elektra glaubt schon an ein Mißlingen des Anschlags und will sich selbst töten - die Landfrauen können sie nur mit Mühe davon abhalten. Da erscheint ein Bote und bringt die erlösende Nachricht: Der Plan hat perfekt geklappt, Aigisthos ist tot, und die Wachen und Diener haben sich Orestes angeschlossen. Wenig später kehren die beiden Freunde mit ihrem neuen Gefolge zurück, und als Beweis für die vollbrachte Tat bringen sie die Leiche von Aigisthos mit, vor der nun Elektra eine bittere Schmährede hält.


Für den zweiten Teil der Rache hat sich Elektra eine List ausgedacht: Der Greis überbringt in der Hauptstadt die falsche Nachricht, dass Elektra ein Kind zur Welt brachte. Klytaimnestra, die den Palast sonst fast nie verlässt, wird unweigerlich bei Elektra auftauchen. Und tatsächlich, bald erscheint die Königin, die noch nichts von Aigisthos' Schicksal weiß, in Begleitung von drei trojanischen Dienerinnen, die einst Agamemnon als Kriegsbeute mitbrachte, vor der Hütte des Bauern. Orestes schreckt mehr denn je vor der schrecklichen Tat zurück, doch Elektra lässt keines seiner Argumente gelten und ringt ihm das Versprechen ab, den Mord unerbittlich auszuführen. Die treibende Kraft hinter der Rache ist nun endgültig Elektra, nicht Orestes. Elektra tritt Klytaimnestra vor der Hütte entgegen. Diese sendet vorsichtige Signale zu einer Annäherung aus und rechtfertigt sich für die Ermordung Agamemnons: Durch die Opferung Iphigenias auf Aulis und durch die Provokation, dass Agamemnon die trojanische Seherin Kassandra als seine Geliebte nach Mykene mitbrachte, sei sie zur Tat berechtigt gewesen. Doch Elektra weist Klytaimnestras Argumente schroff als Ausreden zurück, zwischen Mutter und Tochter gibt es keine Versöhnung. Elektra geleitet Klytaimnestra in die Hütte, wo sie eine vom Brauchtum vorgeschriebene Opferhandlung für das vermeintliche Kind vornehmen soll, und wo schon Orestes mit dem Schwert lauert. Im allerletzten Moment scheint auch Elektra zu zögern, doch nur für einen Augenblick, dann schlägt sie die Tür der Hütte hinter sich und Klytaimnestra zu. Den Mord selbst bekommt man nicht zu sehen, stattdessen zeigt Cacoyannis den Chor der Frauen, die ob des schrecklichen Geschehens wie in Panik umherwanken und fassungslos zusammenbrechen.


Als Orestes und Elektra nach der Tat zu sich kommen und die blutige Leiche Klytaimnestras vor sich sehen, wird ihnen klar, was mit ihnen geschehen ist. Obwohl sie nach den Gesetzen der Blutrache zur Vergeltung für den Mord an Agamemnon verpflichtet waren, obwohl Apollon selbst die Tat befohlen hatte, haben sie ein schreckliches, unverzeihliches Verbrechen begangen - sie sind "schuldlos schuldig" geworden, wie es in der Theorie der Tragödie heißt. Ihnen wird klar, dass sie als Konsequenz daraus weder zusammenbleiben noch in Argos bleiben können, sondern sich trennen und das Land verlassen müssen. Orestes als Ausführender des Mordes hat obendrein die Vergeltung der Erinnyen zu fürchten, der Rachegöttinnen, die solche Freveltaten unerbittlich verfolgen. Nach bitteren Abschiedsworten gehen Elektra und Orestes in verschiedene Richtungen davon. Pylades folgt zunächst Orestes, doch dieser weist ihn mit einer stummen Geste zurück. Der Film endet mit einem Ausspruch der Chorführerin, der bei Euripides unmittelbar nach dem Mord an Klytaimnestra fällt:

Es gibt kein unglücklicheres Geschlecht als das
der Tantaliden, und es gab auch früher keines!


Doch ganz so trostlos geht die Geschichte doch nicht aus. Bei Euripides erscheinen am Ende die Zwillinge und Halbgötter Kastor und Polydeukes (besser bekannt unter seinem lateinischen Namen Pollux), zugleich Halbbrüder von Klytaimnestra, als deus ex machina, und weisen den Weg in die Zukunft. In einem langen Monolog übt Kastor herbe Kritik an Apollon, dem er die Hauptschuld am Unglück zuweist, und er trägt Orestes auf, vor den Erinnyen nach Athen zu fliehen und sich in den Schutz von Athene zu begeben. Dort wird ein menschliches Gericht - der zukünftige Areopag von Athen - über ihn richten und ihn freisprechen. Elektra dagegen wird als Frau von Pylades nach Phokis gehen; der Bauer wird sie als Freund begleiten und reich beschenkt werden (diese Lösung ist möglich, weil Elektra noch Jungfrau ist). Die dauerhafte Verbannung aus Argos und die Trennung der Geschwister bleibt dagegen bestehen. Orestes' Flucht vor den Erinnyen nach Athen und sein letztendlicher Freispruch bilden auch den Inhalt von "Die Eumeniden", dem dritten Teil von Aischylos' "Orestie". Cacoyannis ließ den etwas aufgesetzt wirkenden Schluss von Euripides weg, aber da er nun mal zu der Geschichte gehört, darf man ihn sich hinzudenken.


Regie Michael Cacoyannis, Kamera Walter Lassally, Musik Mikis Theodorakis, und Irene Papas in der weiblichen Hauptrolle - da denkt man gleich an den Klassiker ALEXIS SORBAS von 1964. Doch das Team fand sich bereits 1961 zusammen, nur Anthony Quinn und Alan Bates fehlten noch. Herausgekommen ist mehr als eine geglückte Generalprobe - ELEKTRA ist ein Meisterwerk. Der im letzten Juli verstorbene Michael Cacoyannis (eigentlich Mihalis Kakogiannis), der aus einer griechisch-zypriotischen Familie stammte, lebte 1939-52 in London, wo er auf Wunsch seines Vaters Jura studiert hatte, dann aber Schauspieler wurde. Als er seinen Wunsch, Regie zu führen, in England nicht verwirklichen konnte, ging er nach Athen, wo er mit offenen Armen empfangen wurde. Seither lebte er in dieser Stadt, mit Ausnahme der Jahre der Militärdiktatur (1967-74), die er im Exil verbrachte. Seine zwischen 1954 und 1958 erschienenen ersten vier Filme, in denen er mit unverbrauchter Frische griechische Gegenwartsthemen behandelte, gelten manchen Kritikern als seine besten.


Auf jeden Fall besaß er die Fähigkeit, aus seinen Hauptdarstellerinnen eindrucksvolle Leistungen hervorzuholen und sie zu Stars zu machen. In drei der vier Filme war es die außerhalb Griechenlands nur noch wenig bekannte Ellie Lambeti (auch Lambetti geschrieben), in STELLA dagegen Melina Mercouri in ihrer ersten Rolle - mit Filmen wie SONNTAGS... NIE! und TOPKAPI wurde sie sogar ein Weltstar. Irene Papas musste nicht erst von Cacoyannis zum Star gemacht werden. Als ELEKTRA herauskam, war sie 36 und hatte schon eine beachtliche Karriere hinter sich, auch mit internationalen Auftritten (ATTILA mit Anthony Quinn und Sophia Loren, DIE KANONEN VON NAVARONE mit Gregory Peck, David Niven und wieder Quinn). Auch mit klassischen Tragödienrollen hatte sie schon Erfahrung: 1961 spielt sie Antigone in einer Verfilmung des Stücks von Sophokles. Aber ELEKTRA ist sicher einer der Höhepunkte ihrer Laufbahn. Mit ihrem ebenso ausdrucksstarken wie kontrollierten Spiel und ihrer geradezu majestätischen Erscheinung drückt sie dem Film einen deutlichen Stempel auf.


Euripides' Stück beginnt erst, als Elektra bereits zwangsverheiratet wurde und Orestes und Pylades in Argos auftauchen. Dieses Problem - wenn es für ihn überhaupt eines war - löste Cacoyannis, indem er die Geschehnisse davor als fast wortlosen, siebenminütigen Prolog inszenierte. Auch danach gibt es Sequenzen, in denen die Handlung mehr oder weniger wortlos erzählt wird - durch sorgfältigen Bildaufbau und exakt choreographierte Bewegungen der Protagonisten, unterstützt durch die eindrucksvoll karge griechische Landschaft (abgesehen von Agamemnons Ermordung im Bad und den Szenen in der Hütte des Bauern wurde nichts im Studio gedreht) und der archaisierenden, oft rhythmisch-perkussiven Musik von Mikis Theodorakis (die nichts mit den bekannten Sirtaki-Klängen aus ALEXIS SORBAS gemein hat). Die Bewegungen sind meist langsam, getragen, um den Ernst und das Pathos der Handlung zu unterstreichen. Vor allem der Chor der Frauen mit ihren strengen Gesichtern und strengen Gewändern wird immer wieder eindrücklich in Szene gesetzt. Cacoyannis war damals ein Regisseur, der die Bewegungen der Darsteller schon im Voraus detailliert plante und im Drehbuch festhielt, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Die Sprache der Protagonisten ist über weite Strecken eng an Euripides angelehnt, oft sogar wörtlich übernommen (soweit ich das anhand der deutschen Übersetzung des Stücks und der engl. Untertitel der DVD beurteilen kann), ohne vor Auslassungen und eingeschobenen profaneren Dialogen zurückzuschrecken.


Einen wesentlichen Beitrag zur eindrucksvollen Wirkung des Films leistet Kameramann Walter Lassally, der ELEKTRA für seinen und auch für Cacoyannis' besten Film hält. Lassally, 1926 in Berlin geboren, emigrierte 1939 mit seinen Eltern nach England. Die Lassallys waren eine protestantische Familie, aber es gab jüdische Vorfahren, und somit war man "nichtarisch". Walter Lassally war der wichtigste Kameramann von Free Cinema und British New Wave. In den 50er Jahren war er der bevorzugte Kameramann bei den Dokumentarfilmen von Tony Richardson, Karel Reisz und Lindsay Anderson und Mitunterzeichner des von Anderson verfassten Free Cinema-Manifests, in den 60ern filmte er u.a. Richardsons BITTERER HONIG, DIE EINSAMKEIT DES LANGSTRECKENLÄUFERS und TOM JONES.


Cacoyannis engagierte Lassally 1955 für seinen dritten Film DAS MÄDCHEN IN SCHWARZ. Cacoyannis war in Cannes, um STELLA zu präsentieren, und unterhielt sich dort mit Lindsay Anderson. Weil Cacoyannis mit dem griechischen Kameramann von STELLA unzufrieden war, bat er Anderson um eine Empfehlung, und der zögerte nicht lange und nannte Lassally. So wurde Lassally engagiert, ohne dass Cacoyannis ihn oder eine seiner Arbeiten gekannt hätte. Bei der Arbeit an DAS MÄDCHEN IN SCHWARZ merkten sie schon nach wenigen Tagen, dass sie auf einer Wellenlänge lagen, was schließlich in sechs gemeinsamen Filmen zwischen 1955 und 1967 und in Lassallys Oscar für ALEXIS SORBAS resultierte. Nachdem er durch seine ersten beiden Filme für Cacoyannis in Griechenland bekannt wurde, arbeitete er auch für andere griechische Regisseure - in den 60er Jahren war Griechenland neben England sein zweites Standbein, was durch den Militärputsch von 1967 beendet wurde. In den 70er und 80er Jahren filmte er u.a. acht Merchant/Ivory-Filme, z.B. DIE DAMEN AUS BOSTON, und gelegentlich in Deutschland, etwa ANSICHTEN EINES CLOWS von Vojtěch Jasný. Seine Autobiographie nannte der viel herumgekommene Lassally treffend Intinerant Cameraman, heute lebt er auf Kreta, nicht weit von einem der Drehorte von ALEXIS SORBAS entfernt.


Cacoyannis inszenierte seit Mitte der 50er Jahre nicht nur Filme, sondern auch Theater, Opern und Musicals. Er brachte Autoren von Euripides über Shakespeare und Oscar Wilde bis Samuel Beckett auf die Bühne, und 1967 eine Opernfassung von Eugene O'Neills "Trauer muss Elektra tragen" an der New Yorker Met. Euripides gehörte aber seine besondere Vorliebe. 1962 inszenierte er dessen "Die Troerinnen" in Spoleto, im Jahr darauf lief diese Inszenierung in New York und erlebte 600 Vorstellungen; 1967 folgte "Iphigenia in Aulis". Schon in den 60er Jahren entstand der Plan, ELEKTRA zu einer Euripides-Trilogie auszuweiten. 1971 entstand in Spanien DIE TROERINNEN (deutsch auch DIE TROJANERINNEN oder TROJA), der einzige Film, den Cacoyannis in den Jahren des Exils drehte. Neben Irene Papas spielten Katharine Hepburn, Vanessa Redgrave und Geneviève Bujold. Dass dieser Film nur verhalten aufgenommen wurde, lag wohl an der sperrigen Vorlage, die sich mit langen Klage-Monologen und wenig Handlung gegen eine Verfilmung sträubt. IPHIGENIA von 1977 komplettiert die Trilogie. Er behandelt die Opferung von Iphigenia auf Aulis, ist also chronologisch Jahre vor ELEKTRA angesiedelt. Irene Papas spielt diesmal ironischerweise Klytaimnestra. Bei allen Filmen der Trilogie stammt die Musik von Theodorakis, Lassally war bei den letzten beiden aber nicht mehr dabei. Was sich Cacoyannis bei der Verfilmung von ELEKTRA gedacht hat, hat er einmal so ausgedrückt:

"Die Liebe zum Text bestimmte meinen Respekt dafür. Darüber hinaus gab es nur Freiheit. Freiheit, das Wort in das Bild zu übersetzen, Freiheit, die Reihenfolge der Szenen zu ändern, wo es mir dramaturgisch notwendig erschien. Mein Ziel war es, einen tragischen Film zu drehen, nicht, eine Tragödie vor der Kamera zu inszenieren. Um mit rein filmischen Mitteln den selben emotionalen Eindruck wie das Schauspiel zu erreichen, die selbe Qualität von Schrecken und Mitleid, die selbe Katharsis. [...] Die griechische Tragödie ist zeitlos. Den größten Schaden, den man ihr zufügen kann, ist es, sie mit der Art von Ehrfurcht zu behandeln, die man den Toten erweist."



ELEKTRA ist in den USA bei MGM auf DVD erschienen. Es gibt auch eine griechische Box mit der kompletten Euripides-Trilogie, mit engl. Untertiteln, aber leider recht teuer.