Posts mit dem Label Italien werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Italien werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 3. September 2012

Bene, bene! - oder: Unsere liebe Frau Salome

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN (NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI)
Italien 1968
Regie: Carmelo Bene
Darsteller: Carmelo Bene (der Mann), Lydia Mancinelli (Margherita), Salvatore Siniscalchi (Verleger), Ornella Ferrari u.a.

SALOMÉ (man findet auch die Schreibweise SALOMÈ, was der italienischen Form des Namens entspricht, aber in den Credits steht der Titel mit É)
Italien 1972
Regie: Carmelo Bene
Darsteller: Carmelo Bene (Herodes Antipas/Honorius), Donyale Luna (Salome), Lydia Mancinelli (Herodias), Alfiero Vincenti (Herodias), Veruschka (Myrrhina), Piero Vida (Narraboth), Giovanni Davoli (Jochanaan), Franco Leo (Jesus/Vampir) u.a.

Carmelo Bene in HERMITAGE (1968)
Carmelo Pompilio Realino Antonio Bene. Wer so heißt - und er hieß wirklich so -, aus dem muss ja etwas Besonderes werden. Carmelo Bene (1937-2002) war ein italienischer Theaterregisseur und -schauspieler, der in einem begrenzten Zeitraum - von 1967 bis 1973 - einige sehr eigenwillige avantgardistische Filme drehte, als Autor, Regisseur, unabhängiger Produzent und Hauptdarsteller in Personalunion. Nur gelegentlich hatte er als Schauspieler Gastauftritte in Filmen anderer Regisseure; am bekanntesten davon ist Pasolinis EDIPO RE, in dem er Kreon spielte. In seiner ersten Schaffensperiode am Theater von 1959 bis 1967 trat Bene, von Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit" beeinflusst, mit grellen, provokanten und teilweise skandalumwitterten Inszenierungen hervor (im 1963 in einem Kellertheater in Rom aufgeführten Stück "Christus 63" pinkelte der Apostel Johannes auf offener Bühne, was ein juristisches Nachspiel hatte und zur Schließung des Theaters führte).

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - ein bandagierter und lädierter Protagonist
Viele Künstlerkollegen und Intellektuelle waren von Bene und seiner Truppe begeistert, aber das breite Publikum blieb fern, und die professionellen Kritiker verrissen die Aufführungen regelmäßig, sofern sie überhaupt Notiz davon nahmen. Benes vorübergehender Umstieg zum Film war nicht zuletzt der erfolgreiche Versuch, diese Situation der Isolation und Mißachtung zu überwinden. Nach seiner Rückkehr zum Theater 1973 gab es keine Kinofilme mehr, aber immerhin einige Fernsehfassungen seiner Bühneninszenierungen. Benes Theater- und Filmarbeit war eng miteinander verquickt. Die Stoffe, die den Filmen zugrunde lagen, brachte er vorher oder nachher auch auf die Bühne, manche mehrfach, und zu UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN gibt es auch einen gleichnamigen Roman von Bene.

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - der Protagonist und seine Heilige
Im Filmgeschäft war Bene Autodidakt; technische Anleitung und Unterstützung boten der Kameramann Mario Masini und der Cutter Mauro Contini, die regelmäßig, auch bei den beiden hier besprochenen Filmen, für ihn arbeiteten. Nach drei Kurzfilmen von 1967/68 war UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN der erste Langfilm (der Begriff "Spielfilm" passt nicht so recht). Ausgangs- und Angelpunkt ist ein halb historisches, halb mythisches Ereignis vor 500 Jahren: 1480 eroberten die Osmanen die Hafenstadt Otranto in Apulien (die nicht weit von Benes Geburtsort, einer Kleinstadt in der Provinz Lecce, entfernt ist). Nur wenige Monate später wurden die Türken von einem christlichen Heer wieder hinausgeworfen. Soweit die Tatsachen. Eine Überlieferung besagt nun, dass 1480 die 800 überlebenden männlichen Verteidiger von Otranto vor die Wahl gestellt wurden, zum Islam überzulaufen oder zu sterben, dass sie sich alle verweigert hätten und deshalb geköpft wurden. Im Dom von Otranto gibt es in einem Seitenschiff eine Kapelle, in der in marmornen Schreinen die Gebeine von 270 dieser echten oder angeblichen Märtyrer aufbewahrt werden (die anderen wurden nach Neapel und an andere Orte gebracht). Die Mehrheit der Historiker verweist diese Geschichte ins Reich der Legende, die Männer seien vielmehr im Kampf gefallen (worauf Kampfspuren an den Knochen hinweisen).

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - im Dom von Otranto
Bene spielt nun einen jener 800 Märtyrer (die im Film tatsächlich welche waren), der auf wundersame Weise der Hinrichtung entging, der auf ebenso wunderbare Weise die Zeiten überdauert hat (bei beidem spielt die übergroße Liebe des Mannes zu einer Frau eine Rolle), und in der Gegenwart angelangt ist. Oder Bene spielt einen Mann, der sich das alles einbildet - so klar ist das nicht. Nach einer Exposition, die die Vorgeschichte auf poetische Weise umreißt, tritt der Protagonist mitten unter den Knochen im Beinhaus hervor und eröffnet auf ziemlich wüste Weise die Handlung. Die unermessliche Liebe zur besagten Frau hat sich durch die Jahrhunderte erhalten; als aktuelle Projektionsfläche dafür dient dem Mann Margherita, eine Heilige mit dem Erscheinungsbild einer Madonna. Auch der Drang, sich zu opfern, zu einem Märtyrer zu werden, ist noch vorhanden. So stürzt sich der Mann in einige selbstzerstörerische Aktionen, und immer wieder tritt Bene bandagiert in Erscheinung oder macht einen sonstwie lädierten Eindruck, gelegentlich ist er auch verschnürt wie in einer Zwangsjacke. Am Ende hat die heilige Margherita (die auch über einige sehr weltliche Eigenschaften verfügt) genug von seinen Attitüden und weist ihn brüsk zurück, woraufhin er an ihrem Altar im Dom von Otranto (wohin der Film mehrfach zurückkehrt) sein Leben aushaucht.

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN
Das alles spielt sich in diversen längeren Episoden ab, die in und um Otranto angesiedelt sind, die aber sonst kaum irgendeine äußere Gemeinsamkeit aufweisen. Zusammengehalten werden sie vom "Geist" des Films, aber gemeinsame Handlungsfäden sind kaum vorhanden, und auch die Erscheinung des Protagonisten ist größeren Veränderungen unterworfen. Die einzelnen Sequenzen für sich sind jeweils mehr oder weniger surreale, stark symbolbeladene und assoziationsreiche Mini-Handlungen von großem visuellem Einfallsreichtum. Die Szenen atmen teilweise einen tragischen bis melodramatischen Geist, teilweise kippen sie auch ins grotesk-komische und schrecken vor Slapstick nicht zurück (an einigen Stellen hat mich Bene doch tatsächlich an Mr. Bean erinnert). Der Film ist auch deshalb schon sehr schön anzuschauen, weil er über ausgesprochen leuchtkräftige und kontrastreiche Farben verfügt, was durch die Verwendung von Farbumkehrfilm (Kodak Ektachrome) erzielt wurde. Obwohl der Film aus Kostengründen nur auf 16mm gedreht und nachträglich auf 35mm aufgeblasen wurde, sieht das schon auf DVD sehr gut aus (und im Kino mit einer guten Kopie vermutlich noch viel besser).

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN - Bene als bärtiger Mönch und in weiteren Inkarnationen
Der unkonventionelle (weil oft asynchrone) Soundtrack besteht zu einem beträchtlichen Teil aus Arien von Opern des 19. Jahrhunderts, aber auch ein Zitat der Filmmusik von LAWRENCE VON ARABIEN, das "Harry Lime Theme" aus DER DRITTE MANN und weitere Einlagen kommen vor, und Jacques Brel singt "Bruxelles". Es gibt auch immer wieder ein von Bene selbst gesprochenes Voice-over, das sich meist in der dritten Person über den Protagonisten äußert. Alle Szenen kreisen eng um ihn und damit um Bene, der einen expressiven, aktionistischen und körperbetonten Schauspielstil pflegt. In gewissem Sinn ist UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN auch ein Film über den Schauspieler Bene, aber weniger über die Person, sondern vielmehr über den Körper des Schauspielers. Dennoch, Lydia Mancinelli, die nicht nur die weibliche Hauptrolle spielt, sondern auch ca. 20 Jahre lang Benes Lebenspartnerin war, bestätigt in einem Interview, das im Booklet der DVD abgedruckt ist, auch das Vorhandensein gewisser autobiographischer Bezüge. Wie auch schon im Kurzfilm HERMITAGE von 1968, der etwas wie eine Vorübung zu UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN wirkt, hinterlässt Bene einen ziemlich narzisstischen Eindruck.

UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN
Ich schrieb oben, dass die einzelnen Episoden durch den "Geist" des Films zusammengehalten werden, aber worin besteht dieser Geist eigentlich? Ich hatte und habe erhebliche Schwierigkeiten, das zu erkennen. Bene war philosophisch und kunsthistorisch sehr bewandert und interessiert. Auf der DVD befindet sich als Bonus ein Fernsehinterview, das eigentlich ein 50-minütiger Monolog ist, in dem Bene über sein Werk und seine Vorstellungen im allgemeinen und UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN im besonderen doziert. Dabei springt er fast erratisch von einem Künstler oder Denker als Referenzpunkt zum nächsten (mehrfach werden beispielsweise die Namen Schopenhauer, Nietzsche und Deleuze genannt - mit Gilles Deleuze war Bene auch befreundet), und am Ende konnte ich diesem Redeschwall recht wenig sinnvolle Information entnehmen. Und ähnlich erging es mir mit UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN selbst - was will mir Bene damit eigentlich sagen? Einige Anhaltspunkte gab er selbst doch. Im oben erwähnten Monolog sagt er, der Film sei gegen die 68er gerichtet - davon ist mir beim Ansehen nichts aufgefallen, und auch im Nachhinein weiß ich nicht, worin sich das äußern sollte. Im Booklet gibt es weitere Hinweise, die zugleich zeigen, dass ich nicht der einzige bin, der gewisse Verständnisschwierigkeiten hat. In der engl. Übersetzung heißt es da: "I have always been clumsily misunderstood. [...] OUR LADY OF THE TURKS was not understood. Neither the fact that it was a great epic poem on the "saints of the southern-most point of the South of Italy" nor its cinematographic language were grasped and, indeed, like my novel of the same name, nothing was understood of the fact that it was a parody of the interior life."

SALOMÉ - die Titelfigur
Dass sich süditalienische Eigenheiten wie übertriebener Heiligen- und Wunderglaube durch den Film ziehen, ist offensichtlich, aber das scheint mir ein eher oberflächlicher Aspekt zu sein. Der letzte Punkt ist wohl ergiebiger. Das Voice-over lässt sich zumindest phasenweise auch als innerer Monolog verstehen, um nicht zu sagen als stream of consciousness (James Joyce wird im 50-minütigen Monolog auch erwähnt), und die Bedeutung der Bilder kann man sich wohl entsprechend zurechtinterpretieren. Trotzdem, so ganz hat mich auch das nicht überzeugt. Aber vielleicht sollte man sich am besten der wilden Schönheit der einzelnen Szenen hingeben, ohne zu versuchen, daraus irgendeinen tieferen Sinn zu extrahieren. Das Problem dabei ist jedoch, dass mir der Film mit 124 Minuten für diesen Sichtungsmodus zu lang ist. So ganz ohne roten Faden wird es nach spätestens eineinhalb Stunden für mich doch etwas ermüdend. Ohnehin sind mir einzelne Szenen für sich genommen schon etwas zu lang geraten, vor allem eine, in der Bene gleich zwei Rollen übernimmt, einen bärtigen Mönch und seinen Adepten. Eine faszinierend wüste Performance, aber mit fast 20 Minuten dann doch etwas des Guten zuviel. So bleibt ein nicht ganz ungetrübtes Fazit. Wer auf narrative Stringenz Wert legt, ist bei Bene völlig fehl am Platze, aber wer auch experimentelle Filme goutiert, findet hier ein faszinierendes Werk mit gewissen Längen. UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN gewann 1968 bei den Filmfestspielen in Venedig den Spezialpreis der Jury (geteilt mit einem Film von Robert Lapoujade). Lydia Mancinelli behauptet im erwähnten Interview sogar, dass sich die Jury einstimmig darauf geeinigt habe, Bene den Goldenen Löwen zuzuerkennen. Die Jury sei aber gezwungen worden, den Preis stattdessen Alexander Kluge für DIE ARTISTEN IN DER ZIRKUSKUPPEL: RATLOS zu verleihen. Wie glaubwürdig diese Behauptung ist, kann ich nicht beurteilen.

SALOMÉ - Herodes Antipas
SALOMÉ ist leichter verdaulich als UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN. Er ist noch delirierender und visuell berauschender, aber mit 73 Minuten (auf DVD) deutlich kürzer, und er folgt einem bekannten Handlungsgerüst: Es handelt sich um eine freie Interpretation von Oscar Wildes gleichnamigem kurzem Drama, das wiederum auf einem biblischen Stoff aus dem Matthäus- und dem Markus-Evangelium beruht, der mehrere literarische Bearbeitungen erfuhr. Für die nicht ganz bibelfesten (und Wilde-festen) Leser sei der Stoff kurz rekapituliert. Johannes der Täufer (bei Wilde heißt er Jochanaan) sitzt im Kerker, weil er das Herrscherpaar Herodes Antipas und Herodias wegen ihrer Ehe öffentlich scharf kritisiert hat: Die beiden waren nah miteinander verwandt, sie sind bereits verheiratet gewesen und haben sich vom jeweiligen ersten Partner scheiden lassen, und durch diese ersten Ehen waren sie auch bereits Schwager und Schwägerin, was zusammengenommen doch etwas skandalös war. Herodias will den aufmüpfigen Propheten am liebsten sofort tot sehen, aber Herodes zögert, weil er den Zorn des Volkes fürchtet, und weil der Inhaftierte ja vielleicht wirklich ein heiliger Mann sein könnte.

SALOMÉ - Ausschweifungen
Da betritt Herodias' Tochter aus ihrer ersten Ehe die Szene (in der Bibel ist sie noch namenlos, den Namen Salome bekam sie von der Überlieferung erst Jahrhunderte später zugewiesen). Herodes hat ein Auge auf seine schöne junge Stieftochter geworfen, und er bittet sie, den "Tanz der sieben Schleier" (so etwas wie ein Striptease, aber nur bei Wilde - in den Evangelien geht es züchtiger zu) für ihn zu tanzen. Salome stimmt erst zu, als ihr Herodes die Erfüllung einer beliebigen Bitte gewährt. Nach Absolvierung ihres Schleiertanzes fordert sie den Kopf von Johannes/Jochanaan (in der Bibel auf Herodias' Einflüsterung hin, bei Wilde mehr aus eigenem, erotisch-morbidem Antrieb, weil Jochanaan zuvor ihre Avancen schroff zurückgewiesen hat). Herodes ist schockiert und will sie umstimmen, aber Salome bleibt standhaft. So wird der Prophet also enthauptet und sein Kopf auf einem silbernen Tablett präsentiert. Der Rest steht nicht mehr in der Bibel, nur bei Wilde: Salome küsst den Toten auf den Mund, was der Lebende zuvor verweigert hatte. Herodes ist so angewidert von seiner Stieftochter, dass er sie von den Palastwachen töten lässt. Über dem ganzen Geschehen stand von Anfang an der nächtliche Mond als Symbol des Unheils.

SALOMÉ - die verdoppelte Herodias (l.o.) und Jochanaan im Dress eines
italienischen Fußballers; bei Bene geht ein Kamel locker durch ein Nadelöhr

Zwar sind die Bilder des Films nicht immer ohne weiteres mit der oben skizzierten Handlung in Einklang zu bringen, und es gibt sogar Einschübe, die eigentlich nichts damit zu tun haben, wie das letzte Abendmahl und ein Jesus mit Vampirzähnen, sowie einen kurzen Abstecher zu Wildes unvollendetem Dramenfragment "La Sainte Courtisane", zu dem die Charaktere Honorius und Myrrhina gehören, aber zumindest im gesprochenen Text - meist mehr Monolog als Dialog, dafür aber oft mehrfach überlagert und sich überlappend - hält sich der Film weitgehend an den Kern der Handlung, wie er von Wildes Stück vorgegeben ist. So gibt es genug Anhaltspunkte für eine wenigstens grobe Einordnung der Szenen und eine Interpretation der Bilder. Aber auch wenn man der Handlung nicht folgen kann oder will, ist das kein großer Schaden - diesen Film kann man auch bedenkenlos genießen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was da eigentlich abläuft. Denn der geradezu abenteuerliche Rausch an Bildern, Farben und Tönen ist einfach unfassbar und lässt sich nicht in Worte kleiden. Es ist eine atemlose tour de force, eine nicht endende Kette an Extravaganzen, an schwülen und schwülstigen Ausschweifungen. Es beginnt mit der Verdoppelung von Herodias in einen männlichen und einen weiblichen Part (ersterer mit eindrucksvollem Turban und Schnauzbart) und hört mit einem Mann, der sich selbst ans Kreuz nageln will, beim zweiten Arm aber passen muss, noch lange nicht auf. Die Farben sind teilweise unglaublich kräftig (ich vermute, dass wieder Farbumkehrfilm verwendet wurde, weiß es aber nicht sicher), der Soundtrack wüst und erhaben. Man muss das einfach gesehen und gehört haben. Ein unglaublicher Film!

SALOMÉ - das letzte Abendmahl und ein Vampir-Jesus
Bene spielt seine Rolle wiederum äußerst exaltiert. Neben Lydia Mancinelli und weiteren Darstellern aus Benes Dunstkreis sind mit Donyale Luna und Veruschka diesmal auch zwei "externe Kräfte" dabei. Veruschka (vollständiger Veruschka von Lehndorff, noch vollständiger Vera Gottliebe Anna Gräfin von Lehndorff) war eines der Supermodels der 60er und frühen 70er Jahre. Von ihren gelegentlichen Filmauftritten ist sicher der in Antonionis BLOWUP am bekanntesten. In SALOMÉ hat sie nur einen kurzen, wenn auch spektakulären Auftritt - wegen ihr muss man den Film jedenfalls nicht ansehen. Die Amerikanerin Donyale Luna (geboren als Peggy Ann Freeman) dagegen ist eine echte Attraktion. Auch sie war ein angesagtes Model, als eine der ersten Farbigen, die in diesem Beruf an die Spitze kamen, und sie hatte Auftritte in Filmen von Regisseuren wie Andy Warhol, Otto Preminger und in Fellinis SATYRICON. 1979 starb sie an einer Überdosis Drogen. Mit ihrem glattrasierten Kopf, den Mandelaugen und ihrem mageren Körper ist sie eine ätherische Erscheinung. Meist wirkt sie fast wie eine unschuldige Kindfrau, aber in einer grandiosen Sequenz am Schluss des Films erscheint sie wie eine Spinne, die Herodes bei lebendigem Leib die Haut abzieht. - Man hat Carmelo Bene mit manch anderem Regisseur verglichen, von Kenneth Anger bis Derek Jarman und Peter Greenaway, und man könnte weitere Referenzen hinzufügen. Aber mit solchen Vergleichen bekommt man ihn höchstens am Rande zu fassen. Auf seine Art war Bene wohl einzigartig.

SALOMÉ - Veruschka
UNSERE LIEBE FRAU VON DEN TÜRKEN ist in Italien auf einem 2-DVD-Set erschienen, mit engl. Untertiteln. Ein Teil des Bonus-Materials, darunter der erwähnte 50-minütige Monolog von Bene, ist ebenfalls untertitelt, und das informative Booklet ist zweisprachig (ca. 25 engl. Seiten). SALOMÉ ist ebenfalls in Italien auf DVD erschienen, ohne fremdsprachige Untertitel und ohne Bonusmaterial (es gibt aber engl. Untertitel auf einschlägigen Internetseiten zum Download). Der Film soll eine Kino-Laufzeit von 80 Minuten haben. Wenn das stimmt, fehlen auf der DVD ca. 3 Minuten.

PS: Benes Tochter heißt übrigens Salomè.

SALOMÉ

Donnerstag, 24. Februar 2011

Ausharren in der Diktatur - Teil 2: Luis García Berlanga

Teil 1: Juan Antonio Bardem

DER HENKER (span. EL VERDUGO, ital. LA BALLATA DEL BOIA)
Spanien/Italien 1963
Regie: Luis García Berlanga
Darsteller:
  • Nino Manfredi (José Luis Rodríguez)
  • Emma Penella (Carmen)
  • José Isbert (Amadeo)
  • José Luis López Vázquez (Antonio Rodríguez)

José Luis Rodríguez hat es nicht leicht. Eigentlich will der junge Mann nach Deutschland gehen, um sich zum Mechaniker ausbilden zu lassen, doch vorerst ist er nur Totengräber. Und zuhause muss er noch seinem älteren Bruder Antonio, einem Schneider, zur Hand gehen und dabei seine zänkische Schwägerin ertragen. Als er eines Tages mit seinem Kollegen die Leiche eines Hingerichteten im Gefängnis abholt, lernt er den Henker kennen: Amadeo ist ein freundlicher alter Mann, der mit seiner Tochter Carmen in bescheidenen Verhältnissen lebt. José Luis und Carmen kommen sich näher - und sie sind auch wie geschaffen füreinander. Denn sobald mögliche Heiratskandidaten Carmens vom Beruf ihres Vaters erfahren, suchen sie das Weite, und José Luis ergeht es mit potentiellen Freundinnen nicht anders. Als Carmen schwanger wird, wird geheiratet. Amadeo, der vor der Pensionierung steht, sähe José Luis gerne als seinen Nachfolger, doch der sträubt sich. Um mehr Wohnraum zu haben, beantragt Amadeo für sich und das Paar eine Neubauwohnung in einem Hochhaus. Die wird auch bewilligt, jedoch nur unter der Bedingung, dass sich Amadeo im Ruhestand befindet. Jetzt muss endgültig ein Nachfolger her, und um der Wohnung willen erklärt sich José Luis, nach einigen abgebrochenen Anläufen, zähneknirschend dazu bereit. Amadeo erleichtert ihm die Entscheidung, indem er erklärt, dass die Verurteilten ohnehin alle in letzter Minute begnadigt würden.


Etwas später. Die neue Wohnung ist bezogen, das Kind ist da. José Luis ist jetzt offiziell Henker, doch er hofft inständig, das Amt nie ausüben zu müssen. Aber bald kommt ein Brief vom Ministerium: José Luis soll in Palma de Mallorca seines Amtes walten. So macht sich die ganze Familie mit Kind und Kegel auf zur Ferieninsel. Je näher der Hinrichtungstermin rückt, desto mehr schlottern José Luis die Knie ...


DER HENKER ist eine bitterböse, makabre und bisweilen schrille Komödie. Und wie die meisten von Berlangas Komödien, hat sie kein richtiges happy end. "Das werde ich nie wieder tun!", sagt der in sich zusammengesunkene José Luis nach getaner Arbeit zu seiner Familie. "Das habe ich mir beim erstenmal auch geschworen", entgegnet Amadeo gelassen, und er macht damit klar, dass José Luis weitermachen wird - er wird sich an das Töten gewöhnen. Und Carmen steckt diskret das Geldbündel beiseite, das José Luis als Lohn erhalten hat. DER HENKER verteilt Seitenhiebe und Sticheleien nach vielen Richtungen - die Mühen des Familienlebens auf engem Raum, pietätloser Umgang mit Toten, die Wohnungsbürokratie, der Massentourismus auf Mallorca, der beginnt, das Verhalten der Einheimischen zu ändern, und anderes mehr. Doch im Zentrum steht die Todesstrafe, die wie ein Damoklesschwert nicht über den Opfern, sondern über dem Henker in spe schwebt. José Luis' Sorgen sind durchaus realistisch begründet. Die Todesstrafe wurde in Spanien meist mit der Garrotte vollzogen, einer Vorrichtung zum Erdrosseln des Delinquenten. Die letzten Hinrichtungen mit der Garrotte fanden in Spanien 1974 statt, und bei einem der beiden Opfer hat die Prozedur aufgrund der Unerfahrenheit des Henkers eine halbe Stunde gedauert. Der letzte Gang von José Luis' erstem "Kunden" gerät zu einer grotesken Umkehrung der üblichen Rollen. Während der Verurteilte teilnahmslos vor sich hin trottet, sträubt sich José Luis mit Händen und Füßen. Die Gefängniswärter müssen ihn regelrecht zur Hinrichtungsstätte schleifen, und kurz davor übergibt er sich. Schon vorher hat man ihm in der Gefängnisküche reichlich Alkohol eingeflößt. Der abgeklärte Amadeo sieht das alles gelassen. "Gesetz ist Gesetz", sagt er einmal, "und irgendwer muss es ausführen".


Ebenso wie Bardems DER TOD EINES RADFAHRERS, ist DER HENKER eine spanisch-italienische Coproduktion. Neben dem Star Nino Manfredi und einem Nebendarsteller war Kameramann Tonino Delli Colli der italienische Beitrag zum Film. Delli Colli war einer der renommiertesten italienischen Kameramänner - er drehte unter anderem 13 Filme für Pasolini, ZWEI GLORREICHE HALUNKEN, SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD und ES WAR EINMAL IN AMERIKA für Sergio Leone, und einige Spätwerke von Fellini (mit dem Berlanga gut befreundet war). DER HENKER lief 1963 bei den Festspielen in Venedig, und verursachte eine kleine diplomatische Krise zwischen Spanien und Italien, denn der Film wurde von der Zeitgeschichte eingeholt. Im April bzw. August 1963 wurden der Kommunist Julián Grimau und die Anarchisten Francisco Granados Mata und Joaquín Delgado Martínez hingerichtet, was weltweite Proteste nach sich zog. In dieser Situation mochte das Franco-Regime keinen spanischen Film, der die Todesstrafe thematisiert, im Ausland gezeigt sehen. Der spanische Botschafter in Italien protestierte gegen die Vorführung in Venedig. Hinter der Kampagne stand vor allem Manuel Fraga Iribarne, von 1962-69 Tourismus- und Informationsminister, und in dieser Eigenschaft sowohl für das Filmwesen in Spanien als auch für die Kommunikation der Todesurteile an die Öffentlichkeit zuständig (wir werden ihm gleich nochmal in anderem Zusammenhang begegnen). Doch DER HENKER wurde auf dem Festival gezeigt und gewann den FIPRESCI-Preis. Franco persönlich soll daraufhin gesagt haben: "Berlanga ist kein Kommunist, er ist etwas schlimmeres als ein Kommunist, er ist ein schlechter Spanier."


Luis García Berlanga stammte aus einer großbürgerlichen Familie. Sein Vater war Politiker in der spanischen Republik, und nach dem Bürgerkrieg wurde er inhaftiert und zum Tod verurteilt. Teils um ihm zu helfen, teils aus Abenteuerlust, meldete sich Luis freiwillig zur Blauen Division, einem spanischen Verband, der für Hitler in Russland kämpfte. Er war jedoch nicht an Kämpfen beteiligt. Sein Vater wurde nicht hingerichtet, aber er blieb bis 1952 im Gefängnis und starb einige Monate nach seiner Freilassung. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg studierte Berlanga kurz Architektur und Literatur, doch 1947 wechselte er zur neu gegründeten Filmhochschule IIEC, wo er Juan Antonio Bardem kennenlernte. Nach dem gemeinsam mit Bardem gedrehten ESA PAREJA FELIZ war WILLKOMMEN, MR. MARSHALL sein erster allein inszenierter Spielfilm. Es geht um ein rückständiges Dorf, das sich auf den Empfang einer amerikanischen Delegation vorbereitet, die Gelder nach dem Marshall-Plan verteilen soll. Der Film lief 1953 in Cannes und gewann den Preis für die Beste Komödie, und es gab eine Besondere Erwähnung für Bardem, Berlanga und Miguel Mihura für das Drehbuch (Mihura trug allerdings so gut wie nichts dazu bei). Und WILLKOMMEN, MR. MARSHALL erregte ein Skandälchen, weil amerikanische Diplomaten und Edward G. Robinson in seiner Eigenschaft als Jury-Mitglied gegen den Film protestierten und ihm Antiamerikanismus vorwarfen. Das war kaum gerechtfertigt. Berlanga stichelte, wie so oft, in viele Richtungen, auch gegen die Amerikaner, aber in erster Linie doch gegen die eigenen Landsleute. Was Robinson betrifft, so vermutete Berlanga, dass er sich als besonders guter Patriot profilieren wollte, nachdem er in Hollywood ins Visier der Kommunistenjäger geraten war. Wie dem auch sein mag, der Rummel war gute Werbung und sorgte dafür, dass ESA PAREJA FELIZ, der zunächst keinen Verleih gefunden hatte, jetzt auch ins Kino kam. Nach den nicht ganz so erfolgreichen NOVIO A LA VISTA und CALABUCH folgte 1957 LOS JUEVES, MILAGRO. In einer Kleinstadt fabrizieren die Honoratioren und ein Gauner falsche Wunder, um einen Wallfahrtsort mit den entsprechenden Einnahmen zu kreieren. Da hier die katholische Kirche direkt attackiert wurde, schlug die Zensur heftig zu. Erst nach endlosen Änderungen wurde der Film freigegeben, und es wurde sogar ein nicht von Berlanga gedrehter Schluss angeklebt.


1959 und 1960 schrieb der bis dahin erfolglose Schriftsteller und Journalist Rafael Azcona die Drehbücher, jeweils nach eigenen Romanen, zu zwei Filmen von Marco Ferreri. (Der Italiener Ferreri drehte seine ersten drei Spielfilme in Spanien.) Die Filme machten Eindruck und brachten frischen Wind in das spanische Kino. Berlanga engagierte daraufhin Azcona für seinen nächsten Film PLÁCIDO - und dann für jeden seiner Filme bis 1987, insgesamt elf. (Azcona arbeitete auch weiterhin für Ferreri. Er war an insgesamt 17 seiner Filme beteiligt, darunter die bekanntesten, die skandalträchtigen DAS GROSSE FRESSEN und DIE LETZTE FRAU. Auch an einigen der besten Filme von Carlos Saura und am Oscar-gekrönten BELLE EPOQUE war Azcona beteiligt.) Azcona brachte ein pessimistisches Weltbild, gepaart mit schwarzem Humor, in Berlangas Filme ein. In PLÁCIDO geht es um weihnachtliche Wohlfahrtsaktivitäten der Oberschicht, an deren Ende die Reichen ihr Prestige gemehrt haben und die Armen ärmer sind als zuvor. Nach dem Trubel um EL VERDUGO bekam Berlanga Schwierigkeiten, und er drehte zwei seiner nächsten drei Filme im Ausland. Nach dem Ende der Diktatur konnte er 1978 mit LA ESCOPETA NACIONAL (wörtlich "die nationale Schrotflinte") seinen größten Publikumserfolg feiern. Diese sarkastische Komödie um eine Jagdgesellschaft in den 60er Jahren war von einem realen Ereignis inspiriert: Im Februar 1964 schoss der bereits erwähnte Manuel Fraga Iribarne auf einer Jagd versehentlich ins Hinterteil von Francos Tochter. Der Erfolg zog 1980 und 1982 zwei weitere Teile nach sich, die nun in der Gegenwart angesiedelt waren. Die Protagonisten der Trilogie, eine aristokratische Familie, müssen sich widerwillig an das neue demokratische Spanien anpassen.


Es folgten bis 1999 noch vier weitere Spielfilme und ein Fernseh-Zweiteiler, 2002 schließlich noch ein Kurzfilm. Im Gegensatz zum ausgesprochen linken Bardem war Berlangas politische Einstellung weniger fassbar, aber er war immer subversiv bis anarchisch, und er schöpfte dabei aus volkstümlichen Traditionen wie dem Sainete, schwankhafte und dabei sozialkritische Einakter mit Musik, die in Spanien vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein populär waren. Der im November 2010 verstorbene Berlanga gewann Festivalpreise in Cannes, Venedig, Berlin, Karlovy Vary und anderswo, und er erhielt zahllose Auszeichnungen und Ehrungen.


EL VERDUGO und weitere Filme Berlangas sind in Spanien auf DVD erschienen, abgesehen von WILLKOMMEN, MR. MARSHALL jedoch ohne Untertitel. Zu PLÁCIDO und EL VERDUGO gibt es auf einschlägigen Seiten englische Untertitel zum Download. Über Berlanga ist eine Dissertation erschienen, die man käuflich erwerben kann.

Samstag, 19. Februar 2011

Ausharren in der Diktatur - Teil 1: Juan Antonio Bardem

Teil 2: Luis García Berlanga

DER TOD EINES RADFAHRERS (span. MUERTE DE UN CICLISTA, ital. GLI EGOISTI)
Spanien/Italien 1955
Regie: Juan Antonio Bardem
Darsteller:
  • Lucia Bosé (María José)
  • Alberto Closas (Juan)
  • Bruna Corrà (Matilde)
  • Carlos Casaravilla (Rafa)
  • Otello Toso (Miguel)
  • Julia Delgado Caro (Juans Mutter)
  • Matilde Muñoz Sampedro (Nachbarin des Radfahrers)

Eine einsame Landstraße, irgendwo außerhalb von Madrid, im Morgengrauen. Eine Limousine braust durch den Regen - und fährt einen einsamen Radfahrer über den Haufen. Am Steuer sitzt María José de Castro, die Frau des reichen Industriellen Miguel Castro, neben ihr Juan Fernandez Soler, ihr Geliebter. Die beiden haben die Nacht irgendwo miteinander verbracht, und nun haben sie es eilig, wieder in die Stadt zu kommen. Juan steigt aus, um sich den bewusstlosen Radfahrer anzusehen, doch María José ruft ihn zum Wagen zurück. Niemand ist weit und breit zu sehen. Die beiden lassen den Verletzten liegen und fahren weiter. Am nächsten Tag macht auf einer Gesellschaft der geistreiche und etwas schmierige Kunstkritiker Rafa, der sich auf den Partys der High Society aushalten lässt, María José gegenüber Andeutungen, dass er sie am vorigen Tag gesehen habe, und dass er für sein Schweigen gewisse Gegenleistungen erwarte, was sie in Panik geraten lässt. Juan, ein Assistenzprofessor für Mathematik - eine Stellung, die er seinem einflussreichen Schwager verdankt -, liest unterdessen während der mündlichen Prüfung einer Studentin in der Zeitung, dass der Radfahrer gestorben ist. Gedankenabwesend bricht er die Prüfung ab, was dazu führt, dass Matilde Luque, die Studentin, durchfällt.


Juan, der seit dem Unfall aus dem Grübeln nicht mehr herauskommt, sucht die Wohnung des Radfahrers, eines einfachen Fabrikarbeiters, in einer schäbigen Mietskaserne auf. Er gibt sich als Reporter aus, um einerseits etwas über den Toten und seine Familie zu erfahren, und um andererseits herauszufinden, ob die Polizei etwas weiß. Er trifft die Witwe nicht an, aber eine Nachbarin erzählt ihm alles, was er wissen will. Die Polizei weiß nichts und glaubt nicht, den Unfall jemals aufzuklären. Doch beruhigt ist Juan nicht - es arbeitet in ihm. Rafa stellt unterdessen María José seine Forderungen: Er will nicht nur Geld, sondern auch sie, was sie angewidert zurückweist. Betrunken erzählt Rafa María Josés Mann Miguel daraufhin, was er weiß. Doch der ist gewillt, die ehrbare Fassade der Familie aufrechtzuerhalten, und bügelt Rafa ab. Und María José erkennt, dass Rafa nur von ihrem Verhältnis weiß, aber vom Unfall keine Ahnung hat. Nach Miguels Reaktion auf Rafa ist sie ihre Sorgen weitgehend los. Matilde stellt Juan wegen der Prüfung zur Rede, und sie wirft ihm vor, dass er selbstsüchtig sei und sich das nur wegen der Protektion durch seinen Schwager leisten könne. Juan kann nicht anders, als ihr recht zu geben, und er ist von ihrer Courage und Ehrlichkeit beeindruckt. Er war mit seinem bisherigen Leben ohnehin nicht zufrieden, insbesondere mit seiner Stellung an der Universität, die er nur seinen verwandtschaftlichen Beziehungen verdankte. Als aufgebrachte Studenten wegen seines Verhaltens eine gewalttätige Demonstration durchführen und seine Absetzung fordern, zieht er die Konsequenzen und tritt zurück. Und er spricht María José gegenüber aus, was sich in seinem Verhalten bereits andeutete: Er will sich der Polizei stellen, und er fordert sie auf, ihn zu begleiten ...


DER TOD EINES RADFAHRERS vereint Stilmittel des Film noir mit denen des Neorealismus, mit der von Lucia Bosé (alternative Schreibweise Bosè) gespielten María José als femme fatale. Die in Mailand geborene Bosé, die "Miss Italy" von 1947, stieg 1948 in die Schauspielerei ein. Hierzulande ist sie am besten durch ihre Hauptrollen in CHRONIK EINER LIEBE (1950) und DIE DAME OHNE KAMELIEN (1953), zwei Frühwerke von Michelangelo Antonioni, in Erinnerung. Bei ihrer Ankunft zu den Dreharbeiten in Madrid lernte sie den berühmten Stierkämpfer Luis Miguel Dominguín kennen, den sie wenig später heiratete. Die Ehe und die drei Kinder, die daraus hervorgingen, führten zu einer rund zehnjährigen Unterbrechung ihrer Karriere, doch nach ihrer Scheidung 1967 setzte sie ihre Laufbahn fort (ihre bislang letzte Rolle spielte sie 2007). Die anderen Darsteller in DER TOD EINES RADFAHRERS waren mir alle unbekannt, doch sie machen ihre Sache durchweg gut. Neben Bosé stellen Bruna Corrà (Matilde) und Otello Toso (Miguel) - sowie natürlich ein Teil der Finanzierung - den italienischen Anteil an der Coproduktion dar.


Die Welt der reichen Oberschicht und die proletarische Mietskaserne, die Juan aufsucht, bilden einen grellen Kontrast, doch im Vordergrund des Films stehen nicht die materiellen Klassengegensätze, sondern die Geisteshaltung des Vergessens und Verdrängens, der Flucht aus der Verantwortung. Man kann DER TOD EINES RADFAHRERS allegorisch verstehen: Der tote Radfahrer steht danach für die Klasse der Arbeiter und Bauern, die im Spanischen Bürgerkrieg und auch in den ersten Jahren danach zu Hunderttausenden interniert, gefoltert und ermordet wurden. Juan repräsentiert dann die Mittelschicht, die das siegreiche Regime mittragen muss, ob sie will oder nicht, und die zum Schweigen über die Verbrechen der Vergangenheit verurteilt ist. María José schließlich repräsentiert die Oberschicht, die Stützen des Systems, die von der Situation profitieren und ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen. Es gibt einige mehr oder weniger offene Hinweise auf die spanische Vergangenheit, auf den Bürgerkrieg. Die Stelle, an der der Radfahrer überfahren wird, und an der gegen Schluss des Films eine weitere entscheidende Szene stattfindet, war zugleich eines der Schlachtfelder im Krieg, wo Juan selbst in den Schützengräben lag, wie er María José erzählt. Juans Mutter sagt einmal: "Ich schaue oft in dieses Fotoalbum. Ich sehe meine Kinder aufwachsen. Die erste Kommunion, Schule, Militärdienst, Politik, der Krieg, der Tod." Kirche, Schule, Militär, Politik, Krieg, Tod - eine bemerkenswerte Reihe. Es gibt auch noch subtilere Hinweise, und vermutlich einige, die mir entgangen sind.


DER TOD EINES RADFAHRERS lief 1955 bei den Filmfestspielen in Cannes, jedoch nicht im Wettbewerb um die Goldene Palme, weil Bardem selbst in der Jury saß. Doch der Film gewann in Cannes den Preis der internationalen Filmkritiker (FIPRESCI-Preis). Juan Antonio Bardem (1922-2002) und sein Freund und Kollege Luis García Berlanga (1921-2010) gelten als die wichtigsten spanischen Regisseure der 50er und 60er Jahre (wenn man den Exilanten und mexikanischen Staatsbürger Luis Buñuel nicht berücksichtigt). Bardem entstammte einer Schauspielerfamilie. Sein Vater Rafael Bardem und seine Mutter Matilde Muñoz Sampedro spielten in fünf bzw. sieben seiner Filme mit, seine jüngere Schwester Pilar Bardem, ebenfalls Schauspielerin (vier Einsätze in Bardem-Filmen), ist die Mutter von Javier Bardem, inzwischen bekanntester Spross der Familie. J.A. Bardem war zeitlebens Kommunist und ab 1943 Mitglied der unter dem Franco-Regime verbotenen Kommunistischen Partei Spaniens (PCE). Er machte einen Abschluss als Landwirtschaftsingenieur und trat eine Stelle in der Filmabteilung des Landwirtschaftsministeriums an, doch 1947 wechselte er an die Madrider Filmhochschule IIEC, die gerade erst nach dem Vorbild des italienischen CSC gegründet worden war, machte dort jedoch keinen Abschluss. Die Filmhochschule sollte eigentlich den staatlichen Einfluss auf das Filmwesen stärken, brachte jedoch (ähnlich wie das italienische Vorbild, das von Mussolini ins Leben gerufen wurde) eine Reihe von begabten und kritischen Geistern hervor. Am IIEC befreundete sich Bardem mit seinem Mitstudenten Berlanga, mit dem zusammen er 1949 den stummen Kurzfilm PASEO POR UNA GUERRA ANTIGUA schrieb und inszenierte. 1950 folgte ein Kurzfilm über den Madrider Flughafen, den Bardem allein drehte.

Das Filmschaffen im repressiven Spanien der 40er Jahre war von Belanglosigkeit und Mittelmäßigkeit geprägt - Musicals, Flamenco-Folklore, seichte Melodramen und Komödien. Bardem und seine Mitstreiter wollten das ändern. Ein Schlüsselereignis für den spanischen Film der 50er Jahre war eine Woche des Italienischen Films, die 1951 in Madrid stattfand, und in der vor allem die Hauptwerke des Neorealismus gezeigt wurden. (Ebenfalls gezeigt wurde Antonionis CHRONIK EINER LIEBE mit Lucia Bosé.) Bardem, Berlanga und andere bezogen ihre Inspiration daraus, ohne den Neorealismus direkt zu kopieren. In seiner Zeit am IIEC hatte Bardem auch die Montagetheorien des sowjetischen Stummfilms studiert - zeitweise trug er den Spitznamen "Bardemstein", obwohl er mehr Wsewolod Pudowkin als Eisenstein zuneigte.


Das franquistische Regime kam den Bestrebungen nach besseren Filmen etwas entgegen. Man wollte die internationale Isolierung durchbrechen und nicht ewig das Schmuddelkind unter den westlichen Staaten bleiben, deshalb gab man sich ein etwas liberaleres Antlitz (mit Erfolg: 1953 wurde ein Truppenstationierungsabkommen mit den USA geschlossen, und 1955 trat Spanien der UNO bei) und versuchte, mit kulturellen Leistungen international zu punkten. Das Spanische Filminstitut, das dem Tourismus- und Informationsministerium unterstand, war teilweise mit relativ gemäßigten und fachkundigen Leuten besetzt und bildete bisweilen ein Gegengewicht zur von der katholischen Kirche dominierten allgegenwärtigen Zensur (viele der Zensoren waren Priester). Andererseits wurde der Film als ein Propagandamittel betrachtet, mit dessen Hilfe die Bevölkerung auf die nationale Einheit getrimmt werden sollte, und dementsprechend gab es eine Reihe von Vorschriften, die beachtet werden mussten. Beispielsweise durfte in spanischen Filmen nur Spanisch gesprochen werden, und nicht etwa Katalanisch, Galicisch oder gar Baskisch.


Bardem und Berlanga schlossen sich 1951 wieder zusammen und schrieben und inszenierten gemeinsam ESA PAREJA FELIZ (übersetzt "Dieses glückliche Paar"). Berlanga konzentrierte sich dabei auf die mise-en-scène, Bardem auf die Schauspielerführung. Der Film war nicht nur vom Neorealismus beeinflusst, sondern auch von Jacques Beckers ZWEI IN PARIS (1947), der eine ähnliche Handlung aufweist. Der für seine Zeit in Spanien ungewöhnliche ESA PAREJA FELIZ fand zunächst keinen Verleih und kam erst 1953 heraus. 1952 schrieben Bardem und Berlanga das Drehbuch zu WILLKOMMEN, MR. MARSHALL, bei dem Berlanga allein Regie führte, und 1954 arbeitete Bardem am Script von Berlangas NOVIO A LA VISTA mit. Danach entwickelten sich die beiden filmisch etwas auseinander, blieben jedoch befreundet. Während Bardem einem geradlinigen, politisch engagiertem Stil verpflichtet blieb, benutzte Berlanga meist das Mittel der Farce, um menschliche und gesellschaftliche Schwächen offenzulegen. Ich werde im zweiten Teil des Artikels auf Berlanga zurückkommen.

Die ersten von Bardem allein inszenierten Spielfilme, CÓMICOS und FELICES PASCUAS, entstanden 1953 bzw. 1954, dann folgte DER TOD EINES RADFAHRERS. 1956 erschien HAUPTSTRASSE (CALLE MAYOR), der neben DER TOD EINES RADFAHRERS als Bardems bester Film gilt. Eine Gruppe von Taugenichtsen bringt einen gutaussehenden Trottel dazu, einer schüchternen Einzelgängerin einen üblen Streich zu spielen, indem er ihr schöne Augen macht. Wider Erwarten verlieben sich die beiden. Wie in DER TOD EINES RADFAHRERS, vereint auch HAUPTSTRASSE die präzise Schilderung psychologischer Vorgänge mit subtiler Gesellschaftskritik. Die Hauptrolle spielte die Amerikanerin Betsy Blair, die ein Jahr zuvor in MARTY von Delbert Mann eine ähnliche Rolle hatte und dafür für den Oscar nominiert wurde (MARTY gewann auch die Goldene Palme in Cannes, als Bardem in der Jury saß). DIE RACHE (LA VENGANZA) von 1958, ein Drama um Rache und Vergebung mit Raf Vallone in der Hauptrolle, war für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Während der Dreharbeiten zu HAUPTSTRASSE, kurz nachdem DER TOD EINES RADFAHRERS den Kritikerpreis in Cannes erhalten hatte, wurde Bardem erstmals inhaftiert, aufgrund internationaler Proteste jedoch nach zwei Wochen wieder freigelassen (unter den Protestierenden befanden sich beispielsweise Charlie Chaplin und Albert Schweitzer). Es blieb nicht sein letzter Gefängnisaufenthalt: Insgesamt war Bardem siebenmal in Haft. Es versteht sich auch von selbst, dass viele seiner Filme von der Zensur gebeutelt wurden. Oft musste er umfangreiche Änderungen an den Drehbüchern und Schnittauflagen hinnehmen, und auch der Schluss von DER TOD EINES RADFAHRERS machte Konzessionen an die Zensur. Nach seiner ersten Verhaftung erwog Bardem die Emigration, wurde aber zum Bleiben überredet.


Bardem versuchte nicht nur durch seine Arbeit als Regisseur, die Qualität des spanischen Films zu heben. 1953 gründete er die Filmzeitschrift Objetivo, die das Niveau der Filmkritik in Spanien verbessern sollte, und die auch über von der Zensur verbotene Filme berichtete. Nach zwei Jahren und neun Ausgaben wurde die Zeitschrift von den Behörden selbst verboten. 1955 beteiligte sich Bardem an einer Filmkonferenz, die als Conversaciones de Salamanca bekannt wurde. Als einer der Wortführer auf der Konferenz hielt er eine Brandrede, in der er das traditionelle spanische Kino in Grund und Boden verdammte. Am wichtigsten war jedoch Bardems Engagement in der kommunistisch beeinflussten Filmproduktionsfirma Unión Industrial Cinematográfica (UNINCI), die von 1949 bis 1962 existierte. Ab 1958 war Bardem Präsident dieser Firma, die bereits Berlangas WILLKOMMEN, MR. MARSHALL produziert hatte. Zu seinen Mitstreitern in dieser Phase gehörten Berlanga, Ricardo Muñoz Suay, Carlos Saura und der Stierkämpfer Domingo Dominguín (der weniger berühmte Bruder des bereits erwähnten Luis Miguel Dominguín). Auch progressive Schauspieler wie Francisco (Paco) Rabal, Fernando Fernán Gómez und Fernando Rey gehörten zum Dunstkreis von UNINCI. Der größte Triumph der Firma führte zugleich zu ihrem Untergang. 1961 produzierte UNINCI auf spanischer Seite Luis Buñuels VIRIDIANA, mit ausdrücklicher Billigung des Spanischen Filminstituts unter seinem damaligen Leiter José María Muñoz Fontán. Bardem mochte Buñuels Drehbuch nicht - es war ihm zu unpolitisch -, und er bezeichnete es Saura, Buñuels größtem Fan und Fürsprecher innerhalb UNINCI, gegenüber sogar als "Schwachsinn" und Buñuel selbst als "Rechtsanarchisten". Doch der Film wurde gemacht, auch deshalb, weil der mexikanische Coproduzent Gustavo Alatriste fast die gesamten Kosten trug, und mit ein paar Tricks und Protektion durch Muñoz Fontán durch die Zensur gebracht. VIRIDIANA lief 1961 als offizieller spanischer Wettbewerbsbeitrag in Cannes, wo er in letzter Minute eintraf, und gewann die Goldene Palme (gemeinsam mit einem Film von Henri Colpi). José Maria Muñoz Fontán persönlich nahm freudestrahlend die Trophäe entgegen, doch bald verging ihm das Lachen. In der Vatikan-Postille L'Osservatore Romano erschien unmittelbar nach dem Festival ein Artikel, der VIRIDIANA als Blasphemie verdammte, und der katholische Klerus in Spanien und anderswo stimmte in den Chor ein. Die Franquisten fielen aus allen Wolken. Muñoz Fontán und die Mitglieder seiner Delegation in Cannes wurden noch während der Heimreise gefeuert, VIRIDIANA wurde in Spanien verboten und alle greifbaren Kopien eingezogen und vernichtet, und die Medien mussten den Film totschweigen. Doch es war alles umsonst: Buñuel, Alatriste und eine Kopie des Films waren längst wieder in Mexiko, von wo aus VIRIDIANA weltweit vermarktet wurde. Das Regime rächte sich, indem die Behörden und die Justiz UNINCI soweit behinderten, dass die Firma keinen einzigen Film mehr drehen konnte und bald bankrott war.


Das war für den progressiven Film in Spanien ein herber Schlag, insbesondere für junge, noch nicht arrivierte Regisseure wie Saura, der nach seinem ersten Spielfilm DIE STRASSENJUNGEN von 1960 den nächsten erst 1964 drehen konnte. Bardem selbst konnte in den 60er und 70er Jahren weiterarbeiten, aber die Qualität und der Erfolg seiner Filme nahmen langsam ab. DIE VERSUCHUNG HEISST JENNY (1965) mit Melina Mercouri, James Mason und Hardy Krüger war eine uninspirierte internationale Coproduktion, DIE GEHEIMNISVOLLE INSEL (1973) eine Jules-Verne-Verfilmung mit Omar Sharif als Kapitän Nemo, die sowohl als Spielfilm wie auch als TV-Miniserie erschien. Doch dazwischen gab es immer noch Filme, in denen anhand der Widersprüche und Entfremdung einzelner Protagonisten (die überdurchschnittlich oft Juan hießen) das nach wie vor repressive System unterschwellig attackiert wurde. Nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975 genoss Bardem natürlich weit mehr Freiheiten als zuvor, und sein kreatives Potential war noch nicht erschöpft, und auch seine politische Einstellung hatte er sich bewahrt. SIEBEN TAGE IM JANUAR (1979) erzählt die wahre Geschichte der Ermordung einiger Kommunisten durch eine faschistische Untergrundorganisation im Jahr 1977, und DIE MAHNUNG (1982), eine Coproduktion verschiedener Ostblockstaaten, handelt von den Aktivitäten eines bulgarischen Widerstandskämpfers gegen die Nazis in den 30er Jahren. Nach einigen Fernseharbeiten folgte 1998 ein mit RESULTADO FINAL passend betitelter letzter Spielfilm. Der 2002 verstorbene Bardem war einige Jahre der Vorsitzende der spanischen Regisseursvereinigung, und er erhielt zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen. Im Jahr seines Todes erschien seine Autobiographie.


DER TOD EINES RADFAHRERS ist in den USA bei Criterion und in Hongkong bei Bo Ying (in guter Qualität) auf DVD erschienen (engl. Titel DEATH OF A CYCLIST).

Mittwoch, 19. Januar 2011

Her mit der deutschen DVD! - die Sechste

Judex
(Judex, Frankreich/Italien 1963)

Regie: Georges Franju
Darsteller: Channing Pollock, Francine Bergé, Edith Scob, Michel Vitold, Jacques Jouanneau, Théo Sarapo, Sylva Koscina u.a.

Während die Engländer eine Vorliebe für skurrile, aber rechtschaffene und mit Ausnahme von Sherlock Holmes (er käme heute wegen seines Kokain-Konsums in Schwierigkeiten) gesetzestreue Detektive hatten, die jeden noch so kniffligen Fall mit unerbittlicher Logik lösten, zogen die Franzosen für ihre Krimis eine andere Art von Helden vor. Es handelte sich um dunkle, zwiespältige Gestalten, von denen man nie so recht wusste, ob nun das Gute oder das sie verlockende Verbrecherische in ihrer Seele am Ende obsiegen würde. Und mit Ausnahme des Meisterdiebs Arsène Lupin, dessen Erschaffung wir dem Schriftsteller Maurice Leblanc verdanken, gingen alle, möge es sich nun um reine Erfindungen oder historische Gestalten wie Louis Mandrin und Eugène François Vidocq, einst Krimineller, später Kriminalist, gehandelt haben, durch die Feder von Arthur Bernède (1871-1937), der auch den Roman “Belphégor” schrieb. - Diese “Nationalheiligen” des französischen düsteren Krimis wurden selbstverständlich  in Filmen verewigt, manche bereits im Stummfilm,  andere in den 50er- oder 60er Jahren. Sogar das neue Millenium entdeckte für sich den Reiz jener  zwielichtigen Aura, die solche Helden umgab (“Vidocq”, 2001, “Arsène Lupin”, 2004).


Eine der von Bernède erfundenen Figuren ist zumindest hierzulande in Vergessenheit geraten, obwohl ihr bereits der Stummfilm-Regisseur Louis Feuillade zwischen 1914 und 1918 eine ganze Serie gewidmet hatte: Judex, der geheimnisvolle, stets in Schwarz gekleidete Rächer, Meister der Verwandlungskunst, der sich in unterirdischen Gängen bewegt und von ihm nahezu ebenbürtigen Bösewichten verfolgt wird, jedoch immer auf ein ganzes Netzwerk an Helfershelfern bauen kann. - Dieses Vorläufers der amerikanischen Superhelden nahm sich 1963 der französische Regisseur Georges Franju (“Les yeux sans visage”, 1960) an und drehte einen Film, der als regelrechtes Tribut  an die episodische Stummfilmversion betrachtet werden kann, jedoch eine eigene Handschrift aufweist, und den  Kritik und Publikum damals höchstens lauwarm aufnahmen, weil er so gar nicht in die Zeit zu passen schien. - Heute wird er jedoch im französischen und angelsächsischen Raum als Meisterwerk gewürdigt.

Georges Franju war ein Regisseur, der im Gegensatz zu René Clair nicht der “Nouvelle Vague” wich, sondern eigentlich zusammen mit ihrem Aufkommen erst seine grossen Filme zu drehen begann, die ihren eigenen Weg gingen, sich einem Stil verpflichtet sahen, der als “magischer Realismus” bezeichnet wird, und die mit ihren Fabelwesen und einer höchst detaillierten Ausstattung, in die das Unwirkliche, Gespenstische umso überraschender einbricht, sowohl an Jean Cocteau als auch an Surrealisten wie Salvador Dalí und Luis Buñuel erinnern.

Die Geschichte, die “Judex” erzählt, ist denkbar einfach und geradlinig, gewinnt jedoch durch die eigenwillige Gestaltung an Komplexität. Sie umfasst einen korrupten Bankier und dessen schöne unschuldige Tochter Jacqueline, in die sich der Rächer verliebt, die eigentliche Gegenspielerin Diana Monti, ebenfalls eine Meisterin der Verkleidung, einen falschen Vater auf der Suche nach seinem Sohn und einen völlig inkompetenten Detektiv, der nebenbei im ebenfalls von Feuillade verfilmten Roman “Fantômas” (eines jener Elemente des hintergründigen Humors, die den Film auflockern) liest: Eines Tages erhält der Bankier Favraux den Brief eines ihm unbekannten Mannes, der sich Judex nennt und damit droht, ihn umzubringen, wenn er sein zu Unrecht erworbenes Vermögen nicht den betrogenen Besitzern zurückzahle. Tatsächlich erscheint an einem Maskenball zu Ehren der Verlobung von Favraux’ Tochter ein Fremder, der sich einen überdimensionalen Vogelkopf übergestülpt hat, eine scheinbar (der Schein spielt im Film eine bedeutende Rolle) tote Möwe in der Hand hält und die Gäste mit seinen Zaubertricks überrascht. Plötzlich fällt Favraux scheinbar (!) tot um, wurde jedoch von Judex nur betäubt und entführt, damit er ihn unter Druck setzen kann. Mittlerweile kehrt die frühere Angestellte des Bankiers, Diana Monti, in dessen Schloss zurück, um sich sein Vermögen anzueignen. Als sie bemerkt, dass er noch lebt, entführt sie Jacqueline, die gar keinen Anspruch auf das Geld erhebt. Von nun an beginnt ein eigenartiges Katz und Maus-Spiel, innerhalb dessen der Zuschauer unfreiwillig immer wieder Partei für den weiblichen Bösewicht ergreift, weil ihr Judex mit seinem aus Zirkusartisten und anderen vermummten Gestalten bestehenden Netzwerk stets einen Schritt voraus ist, ohne selber kaum je wirklich in Gefahr zu geraten.

Was Franjus Film auszeichnet, ist nicht zuletzt die oft verblüffende Langsamkeit, die ein Grauen ohne Blutvergiessen erzeugt, weil man nie so recht voraussagen kann, wie eine seiner unheimlichen Szenen enden wird. Bezeichnend dafür sind etwa das von Maurice Jarres effektvoller Musik begleitete Auftauchen des Rächers am Maskenball, sein mehrere Minuten andauerndes Durchschreiten des Saals, oder die Szene, in der sich die als Nonne verkleidete Maria Monti  in einer Mühle über die bewusstlose Jacqueline beugt, sich gemütlich eine Zigarette anzündet und dann eine Nadel aus ihrem Kleid holt, mit der sie sie umbringen will. Nichts geschieht hektisch, selbst Marias Verwandlung von einer Nonne in eine katzenhafte “Lederbraut”, die boshafte Version von Emma Peel, verläuft langsam - obwohl sie doch auf der Flucht ist. Und als - eines der bezeichnenden “Deus ex machina”-Elemente gegen das Ende hin - die Artistin Daisy auftaucht, die den für einmal gefesselten Helden befreien soll, erklettert sie gemütlich die Hausfassade und bleibt vor dem Balkon für einen Augenblick lächelnd stehen (als führe sie ihre Nummer vor einem Publikum auf), bevor sie das Zimmer betritt. - Die häufig in der Dunkelheit spielenden Szenen (Strassen, durch die vermummte Gestalten eilen) werden gelegentlich von Bildern abgelöst, deren Helligkeit beinahe beängstigend wirkt. Und das Abheben der Silhouetten vom Hintergrund (die Artistin im weissen Kleid etc.) zeugt vom Willen, das Schwarweiss-Spektrum zur Gänze auszunutzen. - Unvergesslich die Szene, in der der leblose Körper von Jacqueline den Fluss hinunter getrieben wird - oder der wie ein Tanz arrangierte Kampf zwischen der "Damsel in distress" und Diana Monti.

Für die Besetzung der Hauptfigur erlaubte sich Franju einen ganz besonderen Coup: Er engagierte den amerikanischen Magier Channing Pollock, der bis anhin nur in wenigen Filmen mitgespielt hatte. Pollock galt damals als der berühmteste Magier der Welt, der überdies für sein gutes Aussehen bekannt war (er war eine Art Vorläufer von David Copperfield mit dem Gesicht von Rudolpho Valentino). Der Amerikaner bewältigt die Rolle erstaunlich gut, darf sogar einige seiner berühmten Zaubertricks zum Besten geben. - Maria Monti sollte ursprünglich mit Brigitte Bardot besetzt werden; Françine Bergé erweist sich jedoch als Idealbesetzung und vermag trotz ihrer Boshaftigkeit in ihrer Todesszene das Mitleid des Zuschauers zu erwecken.

Ich erinnere mich, als Junge eine Ausstrahlung von “Judex” im deutschen Fernsehen verfolgt zu haben. Später geriet der Film in Vergessenheit. Mittlerweile wird der vielen kaum bekannte Name des grossen Regisseurs von Kennern immer wieder lobend erwähnt; sein Weg zwischen den zum Teil seichten französischen Komödien der 60er Jahre, denen man auch die Neuverfilmungen von “Fantômas” zuordnen möchte, und der oft nur ein intellektuelles Publikum ansprechenden “Nouvelle Vague”  als künstlerisch überragend betrachtet. “Judex” ist im französischen und englischsprachigen Raum als DVD erhältlich. Es scheint mir an der Zeit, ihm auch hier endlich eine Chance zu geben.

Sonntag, 23. Mai 2010

Elfen mit Trichtergrammophon

Diesen Eintrag möchte ich speziell meinem Foren-Freund Bob widmen, damit er sich wenigstens am Film delektieren kann, sollte er mit der Lektüre des Stücks wider Erwarten nicht zurechtkommen.

Ein Sommernachtstraum
(A Midsummer Night's Dream, Italien/Grossbritannien/USA 1999)
Regie: Michael Hoffman
Darsteller: Kevin Kline, Michelle Pfeiffer, Stanley Tucci, Rupert Everett, Calista Flockhart, Dominic West, Christian Bale, Anna Friel, Sophie Marceau, Sam Rockwell u.a.


Michael Hoffman’s Verfilmung von Shakespeare’s “A Midsummer Night’s Dream” wurde von verschiedenen Seiten heftig angegriffen, wobei die Palette der Begründungen von abstrus (“Shakespeare schrieb seine Stücke nun mal für die Bühne, weshalb eine Adaption für den Film einer starken Bearbeitung bedarf“) bis nachvollziehbar, zum Teil berechtigt (“Hoffman schwimmt im Fahrwasser von Kenneth Branagh und setzt durch die Verlagerung der Handlung in die Toscana der Jahrhundertwende auf realistischen, zum Teil oberflächlichen Witz, der die Magie des Stücks vernachlässigt und zugleich altmodisch wirkt“) reichte. Da die Kritikpunkte oft ineinander übergreifen, sich zum Teil auch widersprechen, möchte ich zusammenfassend zu ihnen Stellung nehmen:

Niemand vermochte überzeugender als der grosse Laurence Olivier  aufzuzeigen, wie sehr die Einbildungskraft des Zuschauers sich wohl nicht nur im spärlich eingerichteten  Elisabethanischen Theater  bemühte, ein Bühnenstück in wahrhaftiges Leben umzuwandeln: In seinem “Heinrich V.“  (1944) werden aus überschminkten Schauspielerfratzen nach und nach  echte Menschen, mit denen wir leiden und lieben, die lediglich Schauplätze andeutende Bühnenszenerie entwickelt sich auf wundersame Weise zum Schlachtfeld bei Agincourt.  Olivier veranschaulichte diese Verwandlung im Geiste des Zuschauers mit Hilfe des Mediums Film, das wohl gerade einem Autor wie Shakespeare besonders gerecht wird, möge man die Vorlage drastisch überarbeiten (Orson Welles’ “Macbeth”, 1948) oder ihr weitgehend treu bleiben und “abgefilmtes Theater” in Kauf nehmen. - Nun wird “A Midsummer Night’s Dream”, dies zeigte schon die grandiose Verfilmung aus dem Jahre 1935, zum Beispiel nie die  zu Verfilmungen verlockenden Schauplatzwechsel wie etwa “Much Ado About Nothing” ermöglichen, da dem im Wald vor Athen spielenden Hauptteil etwas Bühnenhaftes, nach Kulissen Schreiendes innewohnt, auch wenn man noch so mit Tricks arbeitet, mit denen eine Freilichtbühne im Regent’s Park nicht aufwarten kann. Und diesen Umstand gilt es zu seinem Vorteil auszunutzen.

Viele Fans von “A Midsummer Night’s Dream” hängen natürlich am Reinhardt/Dieterle-Film (1935), der das Stück als wirkliches Kunstwerk mit poetischer Magie umzusetzen versuchte (allein die rund sieben Minuten dauernde Ouvertüre und die Ballettszenen lassen die Messlatte erkennen, die sich der grosse österreichische Theaterregisseur und sein filmerfahrener Helfer gesetzt hatten). Allerdings konnte dieses Meisterwerk, das ich jedem Filmfreund ans Herz legen möchte (James Cagney spielte den Bottom, Mickey Rooney legte einen umwerfenden Puck hin!), nicht der Weisheit letzter Schluss sein, da Shakespeare von jeder Generation neu entdeckt werden will. Und es ist sicher nicht verwunderlich, dass sich Hoffman an Kenneth Branagh anhängte, der den grössten Bühnenautor aller Zeiten in den frühen 90er Jahren für den Film  "aufgefrischt" und “Much Ado About Nothing” (1993) als regelrechte “Screwball-Comedy” auch in der Toscana statt in Sizilien inszeniert hatte.. - Dabei mag Hoffman’s Verlagerung der Handlung in ein malerisches italienisches Dörfchen des späten 19. Jahrhunderts
deutschen Theatergängern, die vielleicht eher einen “Sommernachtstraum” mit Shakespeare’s Text lediglich stammelnden Figuren in einer radioaktiv verseuchten Welt (im Basler Schauspielhaus dürften als Dekoration noch ein paar Statuen von  Muammar al-Gaddafi und Kim Jong-il in einer verwüsteten Turnhalle herumstehen) gewohnt sind, schon sehr altmodisch, eventuell sogar kitschig vorkommen. Gerade in England selber bemüht man sich jedoch oft (etwa die Royal Shakespeare Company), dem Barden halbwegs gerecht zu werden, ihn nicht mit zum Teil verändertem Text für leicht abwegige Zwecke zu benutzen respektive zu misbrauchen. Und in der Komödie des Elisabethanischen Zeitalters ging es eben vor allem darum, das Publikum zu unterhalten und zu verzaubern. Weshalb also nicht zur Abwechslung den Witz eines Stücks betonen?

“A Midsummer Night’s Dream” wird im allgemeinen nicht zu den ganz grossen Shakespeare-Komödien (“As You Like It”, “Much Ado About Nothing”, “Twelth Night or What You Will”) gezählt, erfreut sich jedoch ausserordentlicher Beliebtheit - und kann beinahe als eine Art “Metakomödie” betrachtet werden, eine Komödie, die das Wesen der anderen Komödien erklärt - ihre Leichtigkeit, die die Bedeutungslosigkeit der eigentlichen Handlung (man beachte die Titel, die alle auf ein kleines Nichts verweisen) hervorhebt,  sich auf das Aufzeigen der Flüchtigkeit menschlicher Gefühle beschränkt  --- und im Gegensatz zu den Tragödien etwas erkennen lässt, was in “As You Like It” in unsterbliche Worte gefasst wurde:
“All the world’s a stage,
And all the men and women merely players...”
Das Besondere an “A Midsummer Night’s Dream”: Es wird (beinahe zur Entlastung menschlicher Schwächen) eine Welt in die Geschichte mit einbezogen, deren magische Kräfte nicht ganz unschuldig an unseren Verwirrungen sind, die aber selber höchst menschlichen Regungen ausgesetzt ist. - Wie setzt Hoffman diese Begegnung zweier Welten um?


Die in ein  Monte Athena genanntes Dörfchen verlegte Handlung  wird im wesentlichen beibehalten, der Text - was ich sehr schätze - nur leicht gekürzt übernommen. Der opulente Anfang, der uns Bilder von den Vorbereitungen für die Hochzeit des Fürsten Theseus zeigt, lässt beinahe ein farbenfrohes filmisches Grossereignis im Stil von Branagh’s Komödienverfilmung erwarten (man achte auf die Elfen, die sogar tagsüber als kleine Diebe neuer Errungenschaften der Menschheit unterwegs sind). Wer die Geschichte kennt, weiss, dass sich jedoch bald junge Liebende im nächtlichen Wald vor dem Dorf herumtreiben und zu zunehmend verwirrten Opfern einer ehelichen Krise zwischen Elfenkönig Oberon und seiner Gattin Titania werden. Dieser Zauberwald  mit seinen seltsamen Bewohnern kann schlicht nicht realistisch dargestellt, sondern muss trickreich in ein romantisches  Theaterrreich verlegt werden. - Hoffman versucht dieser Notwendigkeit des Bühnenhaften entgegenzuwirken, indem er etwa das neu erfundene Fahrrad mit ins Spiel einbezieht (ziemlich unglücklich, da die auf Drahteseln herumirrenden jungen Menschen nicht sonderlich interessant wirken und höchstens einen grauhaarigen Puck mit Glatze faszinieren, der sich das Ding zur Erfüllung seiner Aufträge denn auch zunutze macht) oder Elfen mit einem Trichtergrammophon spielen lässt (herrlich: die armen Dinger setzen sich den Trichter als Hut auf und benutzen die Schellackplatten als Servierteller). - Trotzdem bereitet das Treiben im nächtlichen Wald oft durchaus  Vergnügen, was neben den herausragenden Darstellern und Schauplätzen wie einem Weiher, in dem man ein malerisches Bad nimmt, nicht zuletzt an kleinen Ideen liegt, die das Stück bereichern und interpretieren (auch die “Sterblichen” werden von der den Elfen - einer zum Teil wilden Horde - eigenen Nacktheit  “ergriffen”, was ihnen am folgenden Morgen  die Welt ganz verändert, einfacher vorkommen lässt). Besonders berührend: Das Staunen der Elfenkönigin und ihres Geleits
über Bottom’s "gekonnten" Umgang mit dem Grammophon, das plötzlich eine Opernarie erklingen lässt und Titanias Äusserung über den Eselskopf (“Thou art as wise as thou art beautiful”) einen seltsam neuen Sinn verleiht. - Allerdings verbreiten mehrere   Szenen (die sich auf gleiche Weise wiederholenden Streitereien zwischen den Liebenden, Oberons blumige Sprache) gelegentlich auch eine unnötige Langeweile, die in einer Theateraufführung vermieden würde...

Die Schauspieler (beinahe die Crème de la Crème) bereiten durchwegs Freude und bemühen sich, dem Zuschauer neben der Leichtigkeit des Stücks auch Shakespeare’s gar nicht so schwer zu verstehende Sprache näher zu bringen. - Kevin Kline darf als sich für schauspielerisch talentiert haltender Bonvivant und Weber Bottom seine komödiantischen Fähigkeiten natürlich voll ausspielen und das Stück  an sich reissen; er  macht auch als Esel eine gute, menschliche Züge bewahrende Figur  (interessantes Detail: ausgerechnet dieser selbstgefällige Trottel erhält, wie sein nachdenkliches Betrachten der Statuen im Schlosspark am nächsten Morgen  zeigt, das Privileg, von den Ereignissen der Nacht eine Ahnung bewahren zu dürfen). Rupert Everett (wer in der Bezeichnung “Fairy King” für den sich im Gras räkelnden Nackedei keine ironische Anspielung erkennt, ist mit schwuler Blindheit geschlagen) gibt einen recht phlegmatischen Pascha, weshalb sich Michelle Pfeiffer, die mittlerweile auch Weichzeichner benötigt, wohl  lieber einem Eselskopf zuwendet (man erhält in “A Midsummer Night’s Dream” grundsätzlich den Eindruck, einige Liebesverstrickungen würden ohne Zauber ebenfalls funktionieren!)  und ihn mit einer herrlich übertriebenen Erotik und Köstlichkeiten aus aller Welt für sich einzunehmen versucht (ihn gelüstet es freilich eher nach etwas Heu). Da man sich die Figur des Puck gerne als ausserordentlich lebhaft vorstellt, ist Stanley Tucci in der Rolle etwas gewöhnungsbedürftig. Seine Versuche, die Positionen seines faul herumliegenden Königs Oberon nachzuahmen, sind freilich umwerfend - und das Fahrrad verhilft ihm ja letztlich zu der Quirligkeit, die einem Mann in seinem Alter sonst fehlt. - Die jungen Liebenden sind eben junge Liebende, was nichts über die schauspielerischen Leistungen von Bale, West etc. aussagt, sondern lediglich über die Rollen, zu denen sie "verurteilt" wurden; immerhin erweist sich Serienstar Calista Flockhart  als erstaunlich begabt. - Die grösste Überraschung beschert vielleicht die Aufführung der von den Handwerkern so fleissig geprobten “lustigen” Tragödie von Pyramus und Thisbe vor der erlauchten Hochzeitsgesellschaft am Schluss des Films: Während Bottom als Pyramus effektvoll mehrere Tode zu sterben versucht, gelingt ausgerechnet Francis Flute, der sich so dagegen wehrte, eine Frau spielen zu müssen,  die Darstellung seines Lebens, weil er zu Thisbe wird, sich in die Figur hineinversetzt - und die Zuschauer zutiefst anrührt.


Im Gegensatz zur Verfilmung von 1935, die ganz auf Mendelssohn-Bartholdy setzte, lässt Hoffman - vielleicht der Zeit angemessen - eher Opernmelodien von Verdi, Puccini und Rossini erklingen (um Mendelssohns “Hochzeitsmarsch” kommt freilich auch er nicht herum). - Eine gesamthaft liebenswerte Verfilmung, “abgefilmtes Theater” im positiven Sinne - wenn auch mit einigen Längen. Hoffman gelingt es sicher nicht, an Branagh’s meisterhafte Adaption von “Much Ado About Nothing” anzuknüpfen - und Freunde älterer Filme werden der Magie von Reinhardts/Dieterles überragendem “A Midsummer Night’s Dream” verständlicherweise den Vorzug geben, da der Witz in der Verfilmung von 1999 gelegentlich etwas schal anmutet. Allein schon die Darsteller lohnen jedoch eine Sichtung von Hoffman’s “Sommernachtstraum” - und Zeitgenossen, die um jedes Theater einen grossen Bogen machen, erleben eine zu mehr verlockende, wunderschön fotografierte Begegnung der eher konventionellen Art mit Shakespeare.

Donnerstag, 13. Mai 2010

Ein Alterswerk

Der Garten der Finzi Contini
(Il giardino dei Finzi-Contini, Italien/Deutschland 1970)
Regie: Vittorio De Sica
Darsteller: Lino Capolicchio, Dominique Sanda, Fabio Testi, Romolo Valli, Helmut Berger u.a.

Ich habe mich nie intensiv mit dem italienischen Film beschäftigt, kenne nur seine wichtigsten Strömungen und die Hauptwerke bedeutender Regisseure. Trotzdem empfand ich es als beinahe beschämend, mich von 3sat belehren lassen zu müssen, dass der grosse Neorealist Vittorio De Sica (“Ladri di biciclette”, 1948, “Umberto D.”, 1952), von dem ich immer dachte, er habe sich ab den 60er Jahren zunehmend auf  belanglose Unterhaltungsfilme spezialisiert, mit “Il giardino dei Finzi-Contini” 1970 noch einmal sowohl Zuschauer als auch Kritiker zu begeistern vermochte - und  sogar den “Auslandsoscar” holte. De Sicas später Erfolg ist allerdings nicht nur  auf vielsagende Weise in Vergessenheit geraten, sondern wirkt  in mancherlei Hinsicht seltsam untypisch für den Regisseur, ja kommt dem heutigen Betrachter eigentümlich “unzeitgemäss” vor:

Als Mussolinis Rassengesetze 1938 den jüdischen Italienern die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verbieten, öffnet der angesehene Literaturprofessor Finzi Contini seinen Garten in Ferrara für die Allgemeinheit, um seinen Kindern Micòl und Alberto (sie wurden gerade aus dem Tennisclub ausgeschlossen) ein Refugium zu bieten, in dem sie mit ihren Freunden - Juden und Nicht-Juden - ihre Freizeit verbringen und die Realität vergessen können. Der scheinbar riesige, von herbstlichen Sonnenstrahlen durchflutete Garten wirkt tatsächlich beinahe wie ein Märchenland, in dem die jungen Leute sich der Illusion hingeben können, Heranwachsende in einer normalen Zeit zu sein - vielleicht ein wenig intensiver und grausamer. - Der junge Giorgio erinnert sich daran, wie er schon als Kind von der verführerischen Micòl
in den Garten gelockt worden war, und er hofft, aus der langen Freundschaft werde sich nun eine Liebesbeziehung entwickeln. Micòl, inzwischen eine kühle Schönheit, lässt ihn jedoch - immer noch halb lockend, halb abweisend - wissen, sie sähe in ihm lediglich einen zweiten Bruder. Tatsächlich verbringt sie ihre Nächte mit dem von ihr in der Öffentlichkeit abgelehnten Nicht-Juden Bruno Malnate, um den wiederum Alberto regelrecht buhlt (Helmut Berger darf die homoerotische Komponente seines Begehrens voll ausspielen).

Doch auch ausserhalb des Gartens gibt man  sich zu Beginn Illusionen hin. So behauptet etwa Giorgios bürgerlicher Vater, der in den Finzi Continis nicht in erster Linie Juden, sondern eine andere Klasse sieht, der Faschismus sei immer noch menschlicher als der Nationalsozialismus. Langsam vergehen jedoch mit der Herbstsonne die Hoffnungen, im faschistischen Italien “davonzukommen”. Es beginnt mit anonymen Telefonanrufen während der Sabbat-Feier; dann wird dem Studenten Giorgio der Zutritt zur Bibliothek verwehrt (grandios, wie  der Leiter der Bibliothek seine Hände in Unschuld zu waschen versucht). Am Ende, 1943, finden sich diejenigen, denen nicht rechtzeitig die Flucht gelang, in einem Schulzimmer wieder, in dem sie auf ihre Deportation nach Deutschland warten. Zu ihnen gehören auch die Finzi Contini und Giorgios Vater, der Micòl mitteilen kann, sein Sohn und die restliche Familie seien entkommen.

Man könnte De Sicas Verfilmung eines autobiographisch getönten Romans von Giorgio Bassani  jener Reihe von italienischen Filmen zuordnen, die sich um 1970 mit Faschismus und Nationalsozialimus beschäftigten. Sie scheint mit ihren luftigen, pastellfarbenen Bildern und ihrer schier altmodisch erzählten Geschichte jedoch einfach nicht so recht  an das anschliessen zu wollen, was Visconti mit dem 1968 gedrehten und heftig umstrittenen “La caduta degli dei” (ich denke etwa an das wächserne Gesicht von Ingrid Thulin, die von ihrem Sohn sexuell missbraucht wurde) oder Bertolucci mit der visuellen Umsetzung seiner Geschichte in “Il conformista” (1970) dem damaligen Publikum im wahrsten Sinne des Wortes zumuteten. Sogar Fellinis auf den ersten Blick nostalgischer “Amarcord” (1973), der den Faschismus nur scheinbar hintergründig  thematisiert (Tittas Vater wird verdächtigt, Kommunist zu sein), wirkt wesentlich realitätsnaher als die Bilder der “weichgespülten” Jugendlichen auf ihren Fahrrädern, die  wie einer Werbung entflohene Elfen
Einlass in den Park des unbeschwerten Heranreifens begehren - und ihn auch erhalten. Man mag sich deshalb des Eindrucks nicht erwehren, De Sica, der “Il giardino dei Finzi-Contini” denn auch nie als eines seiner Meisterwerke bezeichnen sollte, habe sämtliche geradezu revolutionäre Entwicklungen des italienischen Films in den 60er Jahren verschlafen, es sei ihm um eine romantische Liebesschnulze in Hollywood-Manier gegangen (worauf etwa die Rückblenden in die Jugendzeit hindeuten) --- und genau das habe dem damaligen, sich lieber Verklärungen hingebenden Publikum zugesagt. - Aber darf man es sich wirklich so einfach machen?

Bassanis Roman widmet sich Erinnerungen, Erinnerungen an eine Jugendzeit, in der man das, was sich in der Wirklichkeit ereignete, wohl besonders zwanghaft (siehe etwa das Verhalten von Micòl) zu verdrängen versuchte. Solchen Erinnerungen ist vielleicht das Traumhafte besonders angemessen. Traumhaft mutet De Sicas elegisches Alterswerk denn auch an. Dies lässt sich nicht nur an der impressionistischen- grandiosen! - Fotografie erkennen, sondern vor allem an den für Träume bezeichnenden fragmentarischen Handlungssträngen, die es leider auch Fabio Testi und Helmut Berger verunmöglichen, die Komplexität der von ihnen dargestellten Charaktere in diesem knapp 90 Minuten dauernden Film wirkungsvoll  auszugestalten (Albertos Tod, von dem man nicht weiss, ob er die Folge einer Krankheit oder seines Verzerrens nach seinem Freund ist, ein Aufenthalt in Frankreich, wo - ohne Konsequenzen - über die Konzentrationslager der Nazis gesprochen wird, die seltsame Abgehobenheit der aristokratischen Finzi Contini von der nicht zur Kenntnis genommenen Wirklichkeit). Auch den erotischen Szenen haftet etwas unwirklich Traumaftes, nach der Perfektion der Erinnerung Strebendes an (Micòls durchsichtige Bluse, als sie während eines plötzlichen Regens zusammen mit Giorgio in einem Schuppen Unterschlupf gefunden hat). - Man muss vielleicht sagen, alle Protagonisten von “Il giardino dei Finzi-Contini” seien in einen Traum geflüchtet, nähmen nur Fetzen der Realität wahr -  und De Sica habe sich in seiner Verfilmung ohne Zugeständnisse diesem Umstand angepasst. Darauf weist schon der Vorspann, der Sonnenstrahlen der Unschuld (in einer solchen Zeit!) durch Blätter dringen lässt, hin. Auch spätere Bilder des Gartens,  dessen Grösse der Zuschauer nicht annähernd einzuschätzen vermag (er scheint  der Jugend  gemäss keine Grenzen zu kennen), wirken wie das Innere der Villa der Finzi Contini (die Bibliothek, die  Giorgio zur Verfügung gestellt wird, ist noch besser, “erlesener” als die, aus der er verstossen wurde) unermesslich, irreal. - Dieses “traumhafte” Wahrnehmen einer letztlich poetischen Geschichte erwartet der Film wohl vom Publikum, fordert es ein, und man scheint anfangs der 70er Jahre begierig darauf gewesen zu sein, der Forderung nachzukommen, waren doch die hartherzigeren Konfrontationen mit einer schrecklichen Zeit alles andere als willkommen.



Der heutige Betrachter weiss allerdings gar nicht so recht, was er mit der herbstlich-impressionistischen Romanze, deren Erzähl-“Fetzen” in einem Schulzimmer enden, anfangen soll, zumal er auch aus der von Dominique Sanda verkörperten (überbewerteten) Figur nicht schlau wird: Hat ihr zweideutiges, sich entziehendes Verhalten mit einer aristokratischen Abgehobenheit zu tun, ist es beinahe  hysterischer jugendlicher Übermut - oder entwickelt sich Micòl tatsächlich zu jener “reifen” Frau, als die sie uns, während sie beim erzwungenen Verlassen des Guts auf die Villa zurückblickt, präsentiert wird? Es verharrt alles irgendwo im Schwebenden , Ungewissen. --- Vor allem fragt man sich rund vierzig Jahre nach dem Entstehen von “Il giardino dei Finzi-Contini” - und wesentlich weniger zurückhaltenden Leinwandbegegnungen mit dem Faschismus: Was ist die Botschaft des Films, falls er überhaupt eine hat? Geht es ihm einfach um die der Erinnerung zu “verdankende” Verklärung einer Romanze in einer schweren Zeit? Oder möchte er tatsächlich als realistische Darstellung verstanden werden?

Es ist anzunehmen, dass ein Teil des seinerzeitigen Lobs mit De Sicas unerwarteter Rückkehr zum anspruchsvollen Film zu tun hatte. Entsprechend wird der Film heute in einem veränderten Kontext (womit sich wieder einmal zeigt, dass der Untertitel meines Blogs durchaus Sinn macht, mag dieser gelegentlich auch herbeigezwungen werden) wohl eher als Kuriosum wahrgenommen. Dennoch lohnt sich eine erneute Begegnung mit  den bemerkenswert gut gespielten Erinnerungsfragmenten (De Sica kehrte insofern zum Neorealismus zurück, als er bloss die wichtigsten Rollen mit professionellen Schauspielern besetzte!), werfen sie doch allerlei Fragen zum filmisch adäquaten Umgang mit dem Faschismus - respektive mit einer möglichen anderen Annäherung an das Thema - auf. Und man sollte sich “Il giardino dei Finzi-Contini” unbedingt in der (lebendigen) italienischen Originalfassung anschauen; die deutsche Synchronisation erweckt nämlich zu Unrecht den Eindruck, man  habe es mit einem Schlafmittel zu tun...