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Samstag, 24. Oktober 2015

Kurzbesprechung PORCILE

Wer sich wundert, warum hier bei „Whoknows Presents“ in letzter Zeit so wenig Neues kam: Manfred und ich sind im Abstand von nur wenigen Wochen umgezogen. Manfred hatte dies ja angekündigt. Ich habe es versäumt (Asche auf mein Haupt). Und natürlich kennt ihr es alle: nach dem Umzug ist vor dem richtigen Einleben, und bis man sich an die neue Lebenssituation gewöhnt hat, sind einige Tage, sogar Wochen und viele Gelegenheiten für das Verfassen von Filmartikeln vergangen. Ich hoffe, dass auf „Whoknows Presents“ bald wieder regelmäßiger neue Posts kommen.

In der Zwischenzeit ein kleiner Übergangs-Schmankerl – „wiederverwertet“, aber hoffentlich trotzdem einigermaßen genießbar.
Die folgende Kritik von Pier Paolo Pasolinis PORCILE habe ich im April / Mai dieses Jahres für ein Online-Magazin verfasst. Dort wurde sie bisher nicht gepostet. Daher sehe ich diese DVD-Besprechung als de-facto-Schubladentext, den ich hiermit endlich der Öffentlichkeit freigebe – wie gesagt eben auch, damit die Pause bis zum nächsten, umfangreicheren Text nicht noch länger wird. Bis auf wenige kleine Änderungen handelt es sich um den Originaltext.

PORCILE („Der Schweinestall“)
Italien / Frankreich 1969
Regie: Pier Paolo Pasolini
Darsteller: Pierre Clémenti (der junge Kannibale), Jean-Pierre Léaud (Julian Klotz), Alberto Lionello (Herr Klotz), Ugo Tognazzi (Herdhitze), Anne Wiazemsky (Ida), Marco Ferreri (Hans Günther), Franco Citti (Kannibale), Ninetto Davoli (Maracchione)

„Ich habe meinen Vater getötet, Menschenfleisch gegessen und ich zittere vor Freude!“ Kurz vor seinem Tod rezitiert der Protagonist von PORCILE diesen Satz, und wiederholt ihn immer wieder, bis er die Textur eines Gedichts oder gar eines Gebets bekommt. Auch der eine oder andere Zuschauer dürfte in diesem Moment erzittern ob des Schauers, der ihm über den Rücken läuft.

PORCILE verwebt zwei Geschichten mit komplett unterschiedlichen Figuren, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten leben, und das in ganz unterschiedlicher Weise inszeniert. In der ersten Episode irrt ein junger Mann (Pierre Clémenti) durch eine gespenstische karge Landschaft aus Steingeröll. In der Vergangenheit? In einer postapokalyptischen Gegenwart? In der Zukunft? Schwer zu sagen! Der hungernde Mann trifft einen Soldaten, tötet ihn und isst ihn. Die Zeit vergeht, und mehr und mehr Männer schließen sich dem Kannibalen an, um Passanten auszurauben, zu töten und zu verspeisen. Dies ruft dann auch bald die Ordnungsmächte der naheliegenden Stadt auf den Plan.
In der zweiten Episode irrt der junge Julian Klotz (Jean-Pierre Léaud) durch das prunkvolle Schloss seines Vaters (Alberto Lionello), einem Altnazi, der während des Wirtschaftswunders zu einem führenden, erfolgreichen und respektierten Unternehmer geworden ist. Der unentschiedene junge Mann unterhält sich mit seiner Freundin Ida (Anne Wiazemsky) über revolutionäre Politik, verfällt zwischendurch in ein Wachkoma und fühlt sich vom Schweinestall des Anwesens stark angezogen. Währenddessen spinnt sein Vater mit seinen Altnazikollegen Hans Günther (Marco Ferreri) und Herdhitze (Ugo Tognazzi) Intrigen.

PORCILE galt lange Zeit als der „verschollene Pasolini-Film“, als „missing link“ zwischen dem frühen und späten Werk des bis heute umstrittenen italienischen Regisseurs. Das gilt besonders für Deutschland. Aber auch außerhalb wurde dieser Film wesentlich spärlicher rezipiert als andere Produktionen Pasolinis. Man kann, wenn man will, diese mysteriöse Aura auch im Film selbst sehen oder ihn aber „gegen den Strich“ als den vielleicht klarsten Film des Italieners sehen.

Fast schon tabellarisch könnte man die „Kannibalen-Episode“ und die „68er-Episode“ (nennen wir sie im folgenden der Einfachheit halber so) miteinander vergleichen und gegenüberstellen. Erstere ist purer Film, distanziert und nüchtern inszeniert, ein Bilderreigen fast komplett ohne Dialoge, in der die Darsteller minimalistisch agieren. Zweitere ist purer Diskurs, in langen Plansequenzen und ausgetüftelten Dekors manieriert in Szene gesetzt, ein Dialogmarathon mit expressiven, maximalistisch agierenden Darstellern. Wie von verschiedenen Regisseuren in unterschiedlichen Universen wirken die beiden Episoden, und werden scheinbar nur durch die verschränkende Montage zusammengehalten.

Doch so unterschiedlich die zwei Geschichten von PORCILE auch sein mögen, so untrennbar gehören sie zusammen formal wie inhaltlich. Sie funktionieren erst dadurch richtig, dass sie ineinander verschlungen sind, sich gegenseitig ihren Erzählfluss immer wieder abrupt unterbrechen. Die „Kannibalen-Episode“ wirkt sicherlich ursprünglicher und scheint eher dazu prädestiniert, einen unabhängigen Film zu bilden. Als solcher würde sie wahrscheinlich aber irgendwann ihren mysteriösen, fast mystischen Zauber verlieren. Von der modernen „68er-Episode“ ständig unterbrochen wirkt sie mit jedem „Neubeginn“ wieder frisch, überraschend, irritierend, verstörend. Die „68er-Episode“ hingegen würde zusammenhängend wohl die Wirkung eines mit Gewalt eingeführten pädagogischen Mastschlauchs entwickeln. Erst durch die stetige Unterbrechung der „Kannibalen-Episode“ entwickelt die antibourgeoise und antifaschistische Satire, die zu Beginn wie eine Karikatur ihrer selbst aussieht, eine reflektierte Ernsthaftigkeit und schließlich eine ganz eigene, perverse Faszination.

Mit zunehmender Laufzeit erschließen sich auch nach und nach inhaltliche Zusammenhänge. Julian etwa redet ständig von Rebellion, der Kannibale begeht sie. Die „Kannibalen-Episode“ macht Gewalt recht explizit auf einer sehr unmittelbaren und körperlichen Ebene erfahrbar. In der „68er-Episode“ ist sie kaum weniger abwesend, zumal diese nicht zuletzt auch vom Holocaust handelt, tritt jedoch nicht explizit auf den Plan, sondern lediglich dialogisch und hochzivilisatorisch „sublimiert“ und ist wohl eben deswegen noch unerträglicher, weil beiläufiger. Im letzten Drittel wird dann auch in beiden Episoden eine Beobachterfigur eingeführt, jeweils gespielt von dem Pasolini-Stammdarsteller Ninetto Davoli. Spätestens hier (oder auch schon früher, als Julian kurzzeitig in ein Wachkoma fällt) kann man sich fragen, ob die „Kannibalen-Episode“ ein Traum Julians ist, der darin mittels eines alter ego alles macht, wozu er sich in der Wirklichkeit der „68er-Episode“ nicht traut: gegen seinen Vater und dann gegen die komplette Gesellschaft wahrhaftig zu rebellieren.

PORCILE ist zweifelsohne ein sehr intellektueller Film, dabei ist er aber im Gesamtdesign und im Detail auch sehr sinnlich. Besonders die fast dialogfreie „Kannibalen-Episode“, gedreht auf dem Ätna, hat es in sich. Die scheinbar endlose, desolate Geröll-Landschaft, durch die sich der zornige junge Mann bewegt, fängt Pasolini fast irreal und geisterhaft ein, fügt ihr eine mystische Note bei. Dadurch entsteht hier in einer gewissen Weise das, was man sich ungefähr unter einem Pasolini-Science-Fiction-Film vorstellen könnte. Auch der „Sündenfall“ des jungen Mannes, nämlich der Mord an dem Soldaten, wird in unvergesslichen Bildern eingefangen: ein Kampf auf Leben und Tod, der unter dem Zeichen einer latenten erotischen Spannung steht und der in einer kurzen Bilderfolge Gefecht, Freundschaft, Begehren, Unterwerfung, Rache und Erbarmungslosigkeit nacheinander folgen lässt. Nun, vielleicht hätte Pasolini zusätzlich zu PORCILE sich auch noch an einer Langfassung der „Kannibalen-Episode“ versuchen sollen...


PORCILE wurde vor einem Jahr in Deutschland von Filmedition 451 auf DVD veröffentlicht. Bild- und Tonqualität sind sehr gut, wenn auch im positiven Sinne nicht makellos (die Körperlichkeit des Filmmaterials ist stets wunderbar zu spüren). Die Scheibe selbst präsentiert sich so spartanisch wie eine Gerölllandschaft am Ätna, mit nur einigen Trailern anderer Pasolini-Filme, die Filmgalerie 451 herausgebracht hat. Sehr schön ist allerdings das 24-seitige Booklet mit Georg Seßlens Essay „Versuch über Pasolinis lange unsichtbaren Film“, in dem der Filmkritiker kenntnisreich Deutungsansätze und Querverbindungen zu anderen Pasolini-Filmen (u. a. SALÒ) präsentiert.

Von PORCILE gibt es auch DVD-Edition aus Frankreich, UK, Italien und offenbar auch Norwegen, die ich allerdings nicht einschätzen kann.

Dienstag, 14. Juli 2015

Casa Ricordi: Oper als Film, Film als Oper

Oder: Ein Reader's Digest der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts

CASA RICORDI (DAS HAUS RICORDI)
Italien/Frankreich 1954
Regie: Carmine Gallone
Darsteller: Paolo Stoppa (Giovanni Ricordi), Renzo Giovampietro (Tito I Ricordi), Andrea Checchi (Giulio Ricordi), Roland Alexandre (Gioachino Rossini), Marcello Mastroianni (Gaetano Donizetti), Maurice Ronet (Vincenzo Bellini), Fosco Giachetti (Giuseppe Verdi), Gabriele Ferzetti (Giacomo Puccini), Märta Torén (Isabella Colbran), Roldano Lupi (Domenico Barbaja), Micheline Presle (Virginia Marchi), Nadia Gray (Giulia Grisi), Myriam Bru (Luisa Lewis), Elisa Cegani (Giuseppina Strepponi), Fausto Tozzi (Arrigo Boito), Danièle Delorme (Maria)

Giovanni Ricordi in der Scala
Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi, Puccini. Die klangvollen Namen stehen für rund hundert Jahre italienischer Operngeschichte, die grob vom Beginn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht, und CASA RICORDI ist ein Episodenfilm, der jedem der fünf Meister einen Abschnitt widmet. Gekrönt sind die Episoden jeweils durch eine Arie des in diesem Abschnitt behandelten Komponisten, dargeboten auf einer Opernbühne im farbenfroh-opulenten Stil des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um Ausschnitte aus Rossinis "Der Barbier von Sevilla", Donizettis "Der Liebestrank", Bellinis "Die Puritaner", Verdis "Othello" und Puccinis "La Bohème". Carmine Gallone stellte dazu keine Opernsänger auf die Bühne, sondern Schauspieler, und ließ sie von professionellen Sängern stimmlich doubeln - darunter so klangvolle Namen wie Mario del Monaco (der den Othello singt) und Renata Tebaldi (Mimi in "La Bohème"). Als Aufhänger und verbindende Klammer des Ganzen fungiert eine Familien- und Firmengeschichte: Der in Mailand beheimatete Musikverlag Casa Ricordi wurde bald nach seiner Gründung im Jahr 1808 zum weltweit führenden Verlag für Opernpartituren und sonstige klassische Musik, und CASA RICORDI folgt über mehrere Generationen den Leitern des Verlags, der ca. 150 Jahre lang ein Familienbetrieb blieb (ohne intensiv auf deren Geschicke einzugehen - im Vordergrund stehen immer die Komponisten). Auch die fünf im Film behandelten Tonsetzer waren alle bei Casa Ricordi unter Vertrag.

Rossini und Isabella Colbran
Während bei den meisten italienischen und französischen Episodenfilmen der 50er und 60er Jahre jede Episode von einem anderen Regisseur realisiert wurde, lag hier alles in den Händen von Carmine Gallone. Allerdings gibt es sechs Drehbuchautoren (einer davon ist Gallone), und bei jedem ist übereinstimmend in der IMDb "story and screenplay" vermerkt. Ohne dass ich eine Bestätigung dafür gefunden hätte, legt das den Verdacht nahe, dass einer von ihnen für die Rahmenhandlung und von den anderen jeder für eine Episode verantwortlich war - insofern also doch ein typischer Episodenfilm. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht und nachgeprüft, was an der Handlung authentisch und was erfunden ist - von einem solchen Film erwartet ohnehin niemand historische Genauigkeit. Das Folgende ist also der Inhalt des Films, aber nicht unbedingt im Detail die historische Wahrheit.

Der "Barbier von Sevilla" - erst Debakel, dann Triumph
1808 im napoleonisch regierten Mailand: Der Drucker Giovanni Ricordi macht mit überall angeklebten Flugblättern Reklame für seine Künste, und das bringt ihm einen Auftrag des damals schon renommierten Opernhauses, der Scala, ein: Er soll Noten in einem Rekordtempo drucken, das kein Konkurrent liefern kann. Ricordi nimmt den Auftrag an und gestaltet die Konditionen zu scheinbar für ihn ungünstigen Bedingungen um: Statt sich in Geld bezahlen zu lassen, verlangt er die Berge an altem, mit Noten beschriebenem Papier (samt Verwertungsrechten), das in den Kellergewölben der Scala unbeachtet vor sich hin gammelt. Der Intendant der Oper hält ihn für verrückt, doch in Wirklichkeit hat sich Ricordi damit eine Goldgrube eröffnet. Im sich schnell entwickelnden Markt für Partituren erlangt Casa Ricordi bald ein Quasi-Monopol, und Giovanni kann von den Direktoren der Opernhäuser ebenso wie von der Laufkundschaft viel höhere Preise verlangen, als sie bislang üblich waren. Doch er handelt nicht nur eigennützig: In bisher ungekanntem Ausmaß beteiligt er auch die Komponisten an den Einnahmen, und er gewinnt so ihr Vertrauen, ja ihre Zuneigung, und er kann viele mit langfristigen Verträgen an sein Haus binden.

Donizetti und Virginia Marchi; unten Marchi in "Der Liebestrank"
Gleich einer der ersten seiner neuen Klienten ist ein abgerissener junger Hungerleider, ein gewisser Gioachino Rossini, den er erst einmal mit einem von seiner Frau gekochten Gulasch aufpäppeln muss, bevor über Musik und Geschäfte gesprochen werden kann. Nach ersten Erfolgen arbeitet Rossini an einer Vertonung des Librettos "Der Barbier von Sevilla", und das ist ein gewagtes Unterfangen, weil bereits Jahre zuvor Giovanni Paisiello dasselbe Libretto zu einer Oper gemacht hatte. Paisiello hat viele fanatische Anhänger, die es als Majestätsbeleidigung auffassen werden, wenn ein Emporkömmling denselben Stoff nochmal in die Finger nimmt und damit die Künste ihres Idols in Frage stellt. Rossini hat auch ein hausgemachtes Problem: Er ist ein heißblütiger Frauenheld, und er beginnt eine Affäre mit der Sängerin Isabella Colbran, die eigentlich mit Rossinis Freund Domenico Barbaja liiert ist, dem Impresario des Opernhauses in Neapel, wo er seine ersten Opern zur Aufführung brachte. Eigentlich wollte Barbaja seinen Freund gegen Paisiello unterstützen, aber zufällig bekommt er Wind vom Verhältnis Rossinis mit Isabella, und so macht er nun das Gegenteil. So gerät die Uraufführung in Rom zum Debakel mit teilweise unfreiwillig komischen Einlagen. Anhänger Paisiellos und bezahlte Störer pfeifen pausenlos, und Rossini ist am Boden zerstört. Doch sein Aufstieg lässt sich nicht verhindern: Ricordi hält an ihm fest, setzt sofort eine neue Aufführung mit aufgeschlossenerem Publikum durch, und die gerät zum Triumph. Selbst Barbaja hat ein Einsehen und gibt der Oper ebenso wie Rossini und Isabella seinen Segen.

Generationenwechsel - Giovanni und Tito Ricordi
Der Einzige, der bei der ersten Aufführung Rossini verteidigt hat, war ein junger Mann, der selbst Musiker ist. Er stellt sich Ricordi als Gaetano Donizetti vor und wird bald selbst unter Vertrag genommen. In einem raffiniertem Schachzug erledigt Ricordi gleich mehrere Probleme gleichzeitig. Denn er selbst und mit ihm zusammenarbeitende Operndirektoren leiden unter den Launen der Diva Virginia Marchi, der man nichts recht machen kann, und die wegen jeder Kleinigkeit vor Gericht zieht. Ricordi arrangiert Proben von Donizetti mit Marchi, und trotz einiger Irritationen zwischen den beiden ist am Ende Marchi einmal zufrieden, Donizetti hat eine erstklassige Sängerin für die Titelpartie, die Direktoren akzeptieren Donizettis Werk für ihr Haus, und so steht einer triumphalen Premiere nichts mehr im Weg - und Donizetti und Virginia werden auch noch ein Paar. - Jahre später. Giovanni Ricordis Sohn Tito ist inzwischen ein junger Mann, der sich im Verlag engagiert, und - teilweise gegen den Widerstand seines Vaters - einige Neuerungen einführt, z.B. neue Druckverfahren. Nun wird er nach Paris geschickt, wo Vincenzo Bellini lebt und arbeitet, bereits ein Starkomponist. Doch in letzter Zeit hat man nichts mehr von ihm gehört, es gibt nur Gerüchte über seine angegriffene Gesundheit. Tito reist also nach Paris, um sich nach Bellinis Befinden zu erkundigen. Wie sich erweist, wird Bellini von seiner Geliebten Luisa Lewis in einer Villa außerhalb von Paris abgeschirmt und vor seinen Freunden, die ihn besuchen wollen, verleugnet - angeblich, um ihn zu schonen, aber in Wirklichkeit aus Eigennutz, weil sie ihn mit niemandem teilen will, wie der Arzt des tatsächlich kranken Bellini konstatiert. Insbesondere vor Bellinis früherer Geliebten Giulia Grisi, die zugleich die Sängerin seiner großen Partien ist, will sie ihn fernhalten. Erst als er am Abend der Premiere seiner neuen und letzten Oper im Fieberwahn zusammenbricht, erkennt Luisa ihren Fehler. Sie fährt mit einer Kutsche in die Oper, gesteht ihre Machenschaften und fordert Giulia, Tito und den mit Bellini befreundeten Rossini auf, mit ihr zu Bellini in die Villa zu kommen. In einer rasenden nächtlichen Kutschfahrt bei Gewitter, die wie ein Ausflug in den Gothic Horror wirkt, eilen die vier in die Villa - nur um Bellini tot auf dem Boden liegend vorzufinden. Verzweifelt bricht Luisa über ihm zusammen.

"Die Puritaner"; Bellini liegt krank darnieder; Giulia Grisi, Tito Ricordi und Rossini in Bellinis
Sterbezimmer; der tote Bellini und Luisa Lewis - Finale wie in der Oper
Erneuter Sprung in die Zukunft: Giovanni Ricordi ist tot, Tito ist der Chef des Hauses Ricordi, und der immer noch expandierende Verlag hat ein neues, größeres Gebäude bezogen. Titos Sohn Giulio stößt sich in den Revolutionswirren 1848 die Hörner ab und engagiert sich dann ebenfalls im Verlag. Der neue Star des Hauses heißt Giuseppe Verdi. Doch nachdem er für "Ein Maskenball" schlechte Kritiken erntet, gerät Verdi in eine tiefe Schaffenskrise. Die neue Mode der Wagner-Oper hat auch in Italien ihre Anhänger gefunden, und Verdi wird von einem Teil der Kritiker als altmodisch geschmäht. Beleidigt beschließt der Maestro, überhaupt keine Musik mehr zu schreiben, sondern sich als Edel-Bauer auf sein Landgut zurückzuziehen. Verdis Frau Giuseppina und sein Librettist Arrigo Boito können nur mit Mühe verhindern, dass er die schon begonnene Partitur zu "Othello" vernichtet, aber weder sie noch Giulio Ricordi (der in die Fußstapfen von Tito getreten ist, der sich zur Ruhe gesetzt hat) können ihn dazu bewegen, wieder zu komponieren. Der Umschwung kommt erst, als Verdi nach Parma fährt und mit seiner Kutsche mitten zwischen die Fronten von rebellierenden Armen und schussbereiter Polizei gerät. Als man ihn erkennt, stimmen die Massen spontan den Gefangenchor aus "Nabucco" an, und nun begreift Verdi, wer sein wahres Publikum ist: nicht die Kritiker, mögen sie ihn feiern oder verdammen, sondern das einfache Volk, das seine Musik liebt. Er macht sich wieder an die Arbeit zum "Othello", und einmal mehr endet eine Episode in diesem Film mit einer umjubelten Premiere.

Verdi als Ehrengast bei den Ricordis und zwischen den Fronten in Parma
Und schließlich Giacomo Puccini. Wir befinden uns mittlerweile im Jahr 1895, "im Zeitalter des Eiffelturms", wie jemand im Film sagt, denn Puccini recherchiert in Paris. Das Café Momus im Quartier Latin, in dem sich die Protagonisten von Henri Murgers Scènes de la vie de bohème trafen, existiert schon lange nicht mehr, doch Puccini will jenen Stoff zu einer Oper mit dem Titel "La Bohème" machen. In einer Parallele zwischen Roman und Oper einerseits und der Wirklichkeit andererseits lernt Puccini eine Clique junger Künstler kennen, die ohne Geld, aber sorglos in den Tag hinein leben. Eine von ihnen ist Maria, und Puccini verliebt sich in sie. Doch wie Mimi, die Heldin von "La Bohème", leidet auch Maria an der Schwindsucht, aber sie verschweigt Puccini ihren Zustand. Die Premiere von "La Bohème" findet in Italien statt, und Puccini war zur Vorbereitung schon - ohne Maria - einige Wochen anwesend. Nun soll zum Premierenabend Giulio Ricordis Sohn, der wie sein Großvater Tito heißt (zur besseren Unterscheidung werden sie auch als Tito I und Tito II bezeichnet), Maria mit dem Zug aus Paris holen. Doch er bringt nur die Nachricht, dass sie vor vier Wochen gestorben ist. So endet diese Episode für Puccini mit einem künstlerischen Erfolg, aber in Trauer. Und damit endet auch der Film - nein, nicht ganz. Als Giulio Ricordi wieder im Verlagshaus ist, wartet dort ein junger Musiker, der um ein Gespräch gebeten hat, und der zum Zeitvertreib ein paar seiner eigenen Noten auf dem Klavier spielt. Giulio hält einige Momente inne und lauscht interessiert den Klängen, bevor er sich dem jungen Mann zuwendet. Das Leben geht weiter, und die Musikgeschichte auch ...

Othello und die tote Desdemona
Man muss weder Opernexperte noch Opernliebhaber sein, um CASA RICORDI etwas abgewinnen zu können (wie ich als Opernmuffel hiermit ausdrücklich bestätige). Der Film ist in keiner Weise tiefschürfend, aber er bietet ansehnliche Schauwerte, insbesondere prächtige Technicolor-Farben, und mit seiner episodischen und anekdotenhaften Struktur wird er über seine Länge von ungefähr zwei Stunden hinweg nie langatmig, sondern bietet kurzweilige Unterhaltung (wobei die deutsche Version, die ich gesehen habe, um ungefähr 10 Minuten gekürzt ist). Große Gefühle und Dramatik (eben wie in der Oper) gibt es auch, vor allem das Finale der Bellini-Episode ist hier fast eine Oper im Kleinen.

Puccini und Maria
So etwas wie ein Reader's Digest (was ich hier nicht abwertend meine) ist CASA RICORDI nicht nur in Bezug auf 100 Jahre Operngeschichte, sondern auch hinsichtlich Carmine Gallones Schaffen. Gallone (1885-1973) war ein sehr produktiver Regisseur, der seit 1913 ca. 125 Filme drehte und dabei natürlich verschiedene Genres bediente. So schuf er etwa aufwändige Historienepen, z.B. eine dreistündige Stummfilmfassung von DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI (1926), den im Zweiten Punischen Krieg spielenden KARTHAGOS FALL (1937), der als der teuerste Film des faschistischen Italien gilt, MESSALINA (1951), DER KURIER DES ZAREN (1956, die Version mit Curd Jürgens) und zuletzt KARTHAGO IN FLAMMEN (1960, diesmal ist es der Dritte Punische Krieg). Bei uns ist Gallone wahrscheinlich am besten als Regisseur des dritten und vierten der Don-Camillo-Filme mit Fernandel und Gino Cervi in Erinnerung. Aber sein eigentliches Metier war der Opernfilm: MADAME BUTTERFLY (1939), RIGOLETTO (1946), VERDIS LA TRAVIATA (1947, auch als DIE KAMELIENDAME), IHRE WUNDERBARE LÜGE (1947, wie der Originaltitel ADDIO MIMÌ! schon vermuten lässt, handelt es sich um "La Bohème"), DER TROUBADOUR (1949), LA LEGGENDA DI FAUST (1949, nach "Mefistofele" von Arrigo Boito, der nicht nur Librettist, sondern auch Komponist war), SIZILIANISCHE LEIDENSCHAFT (CAVALLERIA RUSTICANA, 1955), MADAME BUTTERFLY (1954), und schließlich TOSCA (1956). Dazu kamen noch einige Musikerbiografien wie DREI FRAUEN UM VERDI (1938), MELODIE ETERNE (1940, mit Gino Cervi als Mozart - kein Witz!), und PUCCINI - LIEBLING DER FRAUEN (1953). Fosco Giachetti, Gallones Verdi in CASA RICORDI, spielte auch schon im Film von 1938 den Maestro, und auch Gabriele Ferzetti war schon im Puccini-Film von 1953 in der Titelrolle zu sehen, wo auch Märta Torén, Nadia Gray, Myriam Bru und Paolo Stoppa mitspielten, die allesamt in CASA RICORDI wieder auftauchten. Bei all diesen (und noch weiteren) Filmen konnte Gallone auf begnadete Stimmen zurückgreifen (als Schauspieler oder Sänger-Doubles), wie etwa mehrfach Beniamino Gigli, Jan Kiepura und Maria Cebotari. CASA RICORDI bildet also so etwas wie einen Schnelldurchlauf, einen (wenn auch sicher nicht repräsentativen) Querschnitt durch Gallones Werk als Opernfilmregisseur.

"La Bohème" - Mimi auf ihrem Sterbebett; Marias Platz in der Vorstellung bleibt frei
CASA RICORDI ist in Italien auf DVD erschienen (ohne fremdsprachige Untertitel). Die Originalfassung ist derzeit auch auf YouTube zu finden (ebenfalls ohne Untertitel). Die deutsche Fassung mit einer Fernseh-Laufzeit von 104 Minuten (was einer Kino-Laufzeit von gut 108 Minuten entspricht) war letztens in mindestens zwei Dritten Programmen zu sehen. Vielleicht lohnt es sich, darauf zu achten, ob sie nochmal irgendwo läuft.

Giulio Ricordi, bereit für einen neuen Klienten - vielleicht ein neues Genie

Freitag, 25. April 2014

Kurzbesprechung: Die schönste Soiree meines Lebens

LA PIÙ BELLA SERATA DELLA MIA VITA
Italien/Frankreich 1972
Regie: Ettore Scola
Darsteller: Alberto Sordi (Alfredo Rossi), Pierre Brasseur (Graf De La Brunetière/Verteidiger), Michel Simon (Herr Zorn/Staatsanwalt), Charles Vanel (Herr Dutz/Richter), Claude Dauphin (Herr Bouisson/Schriftführer), Janet Agren (Simonetta), Giuseppe Maffioli (Kutscher/Henker)

"Dottore" Alfredo Rossi fährt von Mailand aus über die Grenze, um ein Köfferchen voll Schwarzgeld auf einer Schweizer Bank zu deponieren. Doch er trifft erst nach Schalterschluss ein, und so muss er einen Tag zuwarten und erst einmal die Zeit totschlagen. Da trifft es sich gut, dass ihn eine Motorradfahrerin, die auch mit aufgesetztem Helm einen attraktiven Eindruck macht, offenbar auffordert, ihr zu folgen. Da geht etwas, denkt sich der Dottore, und fährt ihr hinterher, auf zunehmend einsamen Straßen in die Tessiner Berge. Bis unversehens sein Maserati den Geist aufgibt und das Motorrad seinen Blicken entschwindet. Zum Glück kommt bald ein Pferdefuhrwerk vorbei und nimmt ihn mit zu einem abgelegenen Bergschlößchen, von wo telefonisch eine Autowerkstatt verständigt werden kann. Der Hausherr des Schlößchens, der letzte Graf De La Brunetière, begrüßt Rossi persönlich und lädt ihn zum Verweilen ein. Als bald darauf der Maserati wieder fahrtüchtig vorbeigebracht wird, will Rossi eigentlich gleich wieder aufbrechen, doch er ändert seine Meinung und nimmt die Einladung des Grafen an, als er durch eine halb geöffnete Tür einen Blick auf das wohlproportionierte Zimmermädchen Simonetta erhascht, das sich gerade umzieht - auch hier könnte ja etwas gehen ... Signor Rossi lernt drei alte Freunde des Grafen kennen, die Herren Zorn, Dutz und Bouisson. Wie es sich erweist, handelt es sich bei allen vieren um pensionierte Juristen, die ein eigenwilliges Hobby pflegen: Sie spielen im Schlößchen Prozesse nach, wobei sie ihre früheren Rollen vor Gericht wieder übernehmen. Weil man dafür auch Angeklagte braucht, wird der Gast gebeten, diesmal diese Rolle auszufüllen, und Rossi nimmt amüsiert an. Und wie lautet die Anklage? Irgendetwas wird sich schon finden, meint der "Staatsanwalt" ...

Bei einem üppigen Abendessen in mehreren Gängen wird aus der Unterhaltung schnell ein Verhör, bei dem der selbstbewusste und joviale Rossi bereitwillig Auskunft über sich gibt. Den Warnungen seines "Verteidigers" zum Trotz, vorsichtig mit seinen Äußerungen zu sein, gibt der aus einfachen Verhältnissen stammende Rossi unverhohlen preis, zu welchen Tricks er gegriffen hat, um beim sozialen Aufstieg nicht in der Mittelschicht hängenzubleiben. So hat er, um schneller voranzukommen, seinen Vorgesetzten in den Tod durch Herzinfarkt getrieben, indem er mit dessen Frau schlief und es ihn durch eine gezielte Indiskretion wissen ließ. Als später der "Verteidiger" in seinem Plädoyer versucht, Rossi als harmlosen Kleinbürger hinzustellen, der seine Geschichte maßlos übertreibt, protestiert Rossi, vom eigenen Geltungsdrang getrieben, heftig. Dagegen stimmt er dem "Staatsanwalt" ausdrücklich zu, der ihn als den maß- und skrupellosen Tatmenschen präsentiert, der er ja tatsächlich ist. Für den "Mord" am Vorgesetzten fordert der "Staatsanwalt" die Todesstrafe - im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten in der Schweiz verhängt dieses besondere Gericht auch die Höchststrafe. Und tatsächlich wird Rossi zum Tod verurteilt - und er amüsiert sich dabei prächtig, denn es ist ja alles nur ein Spiel. Oder etwa doch nicht? Von reichlich Speis' und Trank ermattet, und gleichzeitig aufgekratzt, weil er mit Simonetta noch ein Rendezvous vereinbart hat, sinkt Rossi spät abends ins "Napoleon-Bett", und er fällt in einen unruhigen Schlaf mit einem bizarren Albtraum. Und am nächsten Morgen erwartet ihn eine unliebsame Überraschung ...

DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS, eine Mischung aus Tragikomödie, Kammerspiel und Groteske, beruht auf Friedrich Dürrenmatts 1956 erschienener Erzählung "Die Panne". Neben oberflächlichen Änderungen wie bei Namen und Schauplätzen gibt es auch größere Abweichungen, vor allem beim Schluss. Aber auch bei Dürrenmatt selbst war der Schluss nicht in Stein gemeißelt: Eine ebenfalls 1956 entstandene Hörspielfassung und eine auch schon in den 50er Jahren geschriebene, aber erst 1979 veröffentlichte Bühnenversion verfügen jeweils über ein anderes Ende. Dürrenmatts schweizerischer Stoff wirkt in Ettore Scolas Anverwandlung wie maßgeschneidert für italienische Verhältnisse (das Drehbuch schrieb Scola gemeinsam mit Sergio Amidei) - der satirische Biss ergibt sich zwanglos wie von selbst. 1972 war Scola kein Unbekannter mehr - er war schon seit den 50er Jahren vor allem als Drehbuchautor aktiv, und er hatte 1970 mit EIFERSUCHT AUF ITALIENISCH einen Erfolg errungen -, aber er besaß noch nicht die Prominenz, die er sich mit Filmen wie DIE SCHMUTZIGEN, DIE HÄSSLICHEN UND DIE GEMEINEN, FLUCHT NACH VARENNES oder LE BAL - DER TANZPALAST erarbeiten sollte. DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS wird vor allem von seinem grandiosen Ensemble getragen. Alberto Sordi brilliert als berlusconiesker Geschäfts- und Lebemann, der wie selbstverständlich einen falschen Doktortitel führt, der sein Schwarzgeld in die Schweiz transferiert, und der mit seiner Frau telefoniert, während er gleichzeitig den Seitensprung mit dem Zimmermädchen plant. Zur Seite stehen Sordi die illustren französischen Altstars Pierre Brasseur, Michel Simon und Charles Vanel (sowie der etwas weniger charismatische Claude Dauphin) als juristische Altherrenrunde. Der blonden Schwedin Janet Agren wird in ihrer Rolle als doppelbödiges Zimmermädchen schauspielerisch nicht allzuviel abverlangt, aber optisch ist sie eine Augenweide. - DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS läuft am 29.04. um 14:05 Uhr sowie am 08.05. um 2:10 Uhr auf arte. Es gibt auch eine italienische DVD, offenbar ohne Untertitel.

Montag, 26. August 2013

GLI ULTIMI - Spät-Neorealismus und Vogelscheuchen aus Friaul

GLI ULTIMI (DIE LETZTEN)
Italien 1962
Regie: Vito Pandolfi
Darsteller: Adelfo Galli (Checo), Lino Turoldo (Zuan), Margherita Tonino (Anute), Laura De Cecco (Josette), Vera Pescarolo (Lehrerin)


Ein Off-Sprecher stimmt auf Thema und Schauplatz ein: "In den 30er Jahren begann die Landflucht auch in Friaul. Diese scheinbar zufälligen Ereignisse erzählen die Geschichte eines Jungen, der fühlte, wie die Tragödie von vielen auch sein Heim bedrohte. War es richtig zu bleiben, oder besser zu gehen?" Friaul im Nordosten Italiens war damals, abgesehen von der Provinzhauptstadt Udine, eine agrarisch geprägte Gegend, doch der Landbevölkerung ging es schlecht. Die Weltwirtschaftskrise hatte auch in dieser randständigen Region Italiens zugeschlagen, und die mühsam beackerten Böden gaben oft nicht viel her. So kam es zur angesprochenen Landflucht: Einzelne Familienmitglieder oder ganze Familien verließen die Dörfer zeitweise oder dauerhaft, um sich anderswo Arbeit zu suchen. Um das mit Zahlen zu veranschaulichen: Die Gemeinde Sedegliano, zu der das Dorf Coderno di Sedegliano, der Hauptschauplatz des Films, gehört, rund 20 km von Udine entfernt, hatte 1931 5775 und 1936 5350 Einwohner.

Eine Vogelscheuche wird aufgestellt
Der Held des Films ist der zehnjährige Checo. Auch seine Familie ist von der Armut betroffen. Seine ältere Schwester Nerina arbeitet bereits als Dienstmädchen im fernen Novara in Piemont, sein Bruder Roberto, der älteste der Geschwister, hat sich sogar in einem Kohlebergwerk in Belgien verdingt, obwohl er noch keine 18 ist. So leben nur noch Checo und seine kleine Schwester Liana bei ihrem Vater Zuan und ihrer Mutter Anute. Die Landwirtschaft, die sie betreiben, besteht aus einer Kuh, drei Schafen, und etwas mühsamem Ackerbau. Weil das nicht ausreicht, muss Zuan gelegentlich auch als Tagelöhner arbeiten, z.B. beim Bau eines Bewässerungskanals mit Hacke und Schaufel. Checo hat es doppelt schwer: Unter den Kindern im Dorf ist er ein Außenseiter. Er ist kleiner und schmächtiger als seine Klassenkameraden, und dabei der Klassenbeste - eine ungünstige Kombination. So wird er ständig gehänselt, als Schandfleck und Vogelscheuche bezeichnet, und auch körperlich malträtiert. Da er oft die drei Schafe hüten muss, ist er regelmäßig mit sich und den Schafen allein auf freiem Feld, wo eine echte Vogelscheuche zu einem Anlaufpunkt und einer Art von Freund für ihn wird, und er gibt sich dann seinen Tagträumereien hin. Seine einzige echte Freundin wird das kleine belgische Mädchen Josette. Ihr Vater, ein Bergmann, war an Tuberkulose gestorben, und einer seiner Kollegen, ein alter Freund von Zuan, hat sie adoptiert und in seine Heimat Friaul mitgenommen, wohin er wegen seiner Staublunge zurückkehrte.

Anute und Zuan
Wie der Satz von den "scheinbar zufälligen Ereignissen" schon andeutet, besteht GLI ULTIMI aus etlichen nur lose miteinander verbundenen Episoden. Der Tod eines noch relativ jungen Mannes, in dessen Haus Zuan mit anderen Dorfbewohnern Totenwache hält, versetzt Checo, der wohl zuvor noch nicht mit dem Tod konfrontiert wurde, in Schrecken. - Zwischen den Episoden gibt es immer wieder Szenen, die im Haus, vor allem in der Wohnstube, spielen, und die sowohl die Armut veranschaulichen als auch die Familie charakterisieren. Die Einrichtung ist karg, fast spartanisch, und zu essen gibt es meist nur Polenta mit irgendeinem Salat. Aber trotz zweier abwesender Kinder - die regelmäßig schreiben - ist die Familie intakt. Zuan liebt seine Kinder, und er zeigt es auch, auch wenn er gelegentlich streng zu Checo ist. Bezeichnend ist eine Szene beim Abendessen: Zuan gibt Checo und Liana je ein Stück Polenta, und sagt "das ist die Polenta". Dann gibt er ihnen noch ein Stück Polenta, und sagt "das ist der Käse". Die beiden nehmen es mit Humor, aber eigentlich schämt sich Zuan etwas, und er verspricht, dass es bald richtigen Käse gibt. Zuan ist auch kein Patriarch. Wenn Anute anderer Meinung ist als er, hört er auf sie, und wenn er böse auf Checo ist oder zuviel von ihm verlangt, gelingt es ihr schnell, ihn ohne große Worte zu besänftigen. - In der Schule hört Checo, der gut zeichnen kann, von der Lehrerin die legendenhafte Geschichte von Giotto di Bondone, dem Pionier der Renaissancemalerei, der Schäferjunge war, bevor er für die Kunst entdeckt wurde, und später identifiziert er sich in einem seiner Tagträume mit dem Genie, indem er mit Kreide einen Kreis auf einen Felsbrocken zeichnet - Giotto soll einmal als Talentprobe einen perfekten Kreis mit freier Hand gezeichnet haben. Doch Checo vernachlässigt dabei die Aufsicht über die Schafe, und eines frisst von mit Gift verseuchtem Boden und stirbt wenig später, was Checo gehörigen Ärger mit Zuan einhandelt.

In der Wohnstube
Im Dorfgasthaus unterhalten sich einige Männer über die gegenwärtige Lage, darunter auch ein faschistischer Funktionär. Es ist dies eine von nur zwei kurzen Stellen im Film, in denen "große Politik" und die Tatsache, dass Italien ein faschistisches Land ist, thematisiert wird. Wieder im Freien, wiederholt Zuan eine der Phrasen des Faschisten und macht dazu eine abschätzige Handbewegung - ein dezenter, aber doch eindeutiger Hinweis auf seine Position: Er ist kein Freund des Faschismus. Die zweite Stelle mit Politik folgt kurz danach: Ein Musterungsbefehl wird angeschlagen, weil, wie drei Männer meinen, "dieser Kerl in Österreich" ermordet wurde (ich nehme an, dass Engelbert Dollfuß gemeint ist), und einer der drei räsoniert über falsche Versprechungen des Staats. - Eine Nachbarsfamilie bricht, das ganze Hab und Gut auf einen Leiterwagen gepackt, nach Udine auf. - Checo geht in der Kirche dem Küster und dem Pfarrer zur Hand und wird zur Belohnung zur Hochzeit eines wohlhabenden Paars eingeladen. Doch dort nimmt niemand irgendeine Notiz von ihm, abgesehen vom Fotografen, der ihn aus dem Bild scheucht. Checo fühlt sich als der Fremdkörper, der er auch tatsächlich ist, und zieht bedrückt wieder ab, ohne etwas vom Festessen abbekommen zu haben. Es ist schlimmer, als wenn man ihn überhaupt nicht eingeladen hätte. Bei "seiner" Vogelscheuche, wo er in der Abenddämmerung einen wilden "Vogeltanz" aufführt, findet er Trost.

Totenwache für einen verstorbenen Dorfbewohner
Zuan muss die Kuh verkaufen, weil sie weniger einbringt, als der Unterhalt kostet. Wenigstens kann vom Erlös ein neues Schaf gekauft werden, um das tote zu ersetzen. - Mit einigen ihrer Nachbarn und Freunde beraten Zuan und Anute, ob man nicht auch das Land verlassen und in die Stadt ziehen sollte. Einige betrachten das als Option, aber Zuan ist strikt dagegen. Er fühlt sich an das Land gebunden und fürchtet anderswo die Entwurzelung. - Zwei junge Männer brechen mit dem Zug nach Belgien auf, um in den Kohlegruben zu arbeiten. Ihre jüngeren Brüder, etwas älter als Checo, kündigen an, so bald wie möglich nachfolgen zu wollen. - Checo vernachlässigt wieder einmal die Aufsicht über die Schafe, die in das Feld eines reichen Bauern eindringen. Dieser verjagt sie und beschimpft Zuan und seine Familie als "Sack Flöhe". Zuan ist stinksauer auf Checo und bezeichnet ihn jetzt selbst als "Vogelscheuche". - Checo erhält zuhause einen Klaps, fühlt sich ungerecht behandelt und haut ab. Aber er kommt nicht weit. Im Tal des Tagliamento läuft er einer kleinen Militäreinheit in die Arme, die mit aufgesetzten Gasmasken gerade eine Übung abhalten. Checo bekommt einen Riesenschreck und kehrt um. Zuhause gibt es wegen seiner Abwesenheit wieder Ärger. - Checo beobachtet eine Gruppe der Dorfjungen, die einen "Geheimbund" gegründet und irgendwo eine Flasche Wein abgestaubt haben. Checo gesellt sich zu ihnen und wird zum ersten Mal in ihrer Runde akzeptiert.

Checo schließt Freundschaft mit Josette
Checo unternimmt mit Josette einen Sonntagsausflug zu einer Mühle, die ihnen als Abenteuerspielplatz dient. Am Ende bekommt er von Josette einen Kuss. - Ein tragisches Ereignis verändert Checos Situation grundlegend: Sein Bruder Roberto stirbt bei einem Grubenunglück in Belgien. Neben dem Schock und der Trauer gibt es auch materielle Auswirkungen: Es fehlt das wenige Geld, das Roberto regelmäßig überwiesen hat, und Checo muss einspringen. Obwohl er der beste Schüler im Dorf ist und irgendwann studieren wollte, muss er die Schule verlassen, um demnächst irgendwas zu arbeiten. - Beim Münzenwerfen gewinnt Checo etwas Kleingeld von den anderen Dorfjungen und kauft Zuan davon eine Zigarre. Dieser ermahnt ihn, das Geld lieber Anute zu geben, aber insgeheim freut er sich über die Zigarre. - Checo wird von einer wohlhabenden Bäuerin wieder einmal "Vogelscheuche" genannt. In einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Selbstbehauptungswillen rennt er zu seiner Vogelscheuche, schreit "Ich bin keine Vogelscheuche! Ich bin keine Vogelscheuche!", bewirft sie mit Steinen, reisst sie um und trampelt darauf herum. - Letzte Szene: Checo, allein unterwegs und mit sichtlich gestiegenem Selbstbewusstsein, sucht und findet eine Arbeit beim Abschlagen von Ästen auf hohen Bäumen. Als guter Kletterer ist er dafür prädestiniert. Wie am Anfang werden die letzten Bilder von einem Off-Sprecher begleitet: "Als diese Ereignisse stattfanden, war Checo 10 Jahre alt. Heute ist er ein erwachsener Mann. Aber wo ist er? Würden wir ihn immer noch finden, wenn wir in sein Friaul gehen würden?"

Die Dorfschule
GLI ULTIMI wurde von Vito Pandolfi inszeniert, aber der Film ist ebensosehr das Werk von David Maria Turoldo. Turoldo (1916-1992) war ein progressiver katholischer Priester und Pater des Servitenordens, und er war ein in Italien bekannter Poet und Schriftsteller. Turoldo wurde 1916 als neuntes von zehn Kindern einer Bauernfamilie in Coderno di Sedegliano geboren, also im Milieu und am Handlungsort von GLI ULTIMI. Nach dem Theologie- und Philosophiestudium war er, gefördert vom dortigen Erzbischof, in den 40er Jahren in Mailand tätig, wo er 1943-45 auch mit dem antifaschistischen Widerstand verbunden war und die Untergrundzeitschrift L'Uomo herausgab. 1948 gründete der linke katholische Priester Don Zeno Saltini aus einem Vorgängerprojekt heraus das Kinderheim Nomadelfia, das damals vor allem Kriegswaisen beherbergte, und das in Form einer selbstverwalteten katholischen Kommune organisiert war und die Kinder auf Adoptivfamilien verteilte, ähnlich wie etwas später die SOS-Kinderdörfer (Saltini hatte seinerzeit erhebliche Probleme mit den Kirchenbehörden und war sogar jahrelang vom Priesteramt entbunden, ist aber inzwischen auf dem Weg zur Seligsprechung). Turoldo war von Anfang an ein begeisterter Förderer von Nomadelfia. Um 1950 herum trat er auch erstmals mit Gedichtbänden hervor.

Vogelscheuchen
Nach zwei Jahren in ausländischen Niederlassungen seines Ordens, darunter auch in Österreich und Bayern, und dann einigen Jahren in Florenz wurde Turoldo 1961 in ein Konvent in Udine versetzt. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er wieder in seiner Heimat, die sich inzwischen stark verändert hatte. Italien hatte in den 50er-Jahren eine Turbo-Industrialisierung erlebt, und eine zweite Welle der Landflucht dauerte immer noch an (hier kann man einige der Zahlen für Sedegliano nachlesen). Die Probleme der verbliebenen Landbevölkerung waren teilweise noch die selben wie vor 30 Jahren. Da hatte Turoldo die Idee, über die im Schwinden begriffene Welt seiner Kindheit einen Film zu machen. Zugleich sollte der Film zeigen, wie man auch in der Armut seine Würde bewahren konnte. Turoldo hatte sogar weitergehende Pläne zu einer Trilogie, die Checos Leben weiter verfolgen sollte, aber da GLI ULTIMI ein kommerzieller Fehlschlag wurde, zerschlug sich das. Unter Vermittlung von Pier Paolo Pasolini, der auch teilweise in Friaul aufgewachsen war, und mit dem Turoldo befreundet war (er hielt 1975 auch seine Grabrede), versammelte er ein Häuflein von Mitstreitern, die für die Produktion die Firma "Le Grazie Film" gründeten. Den Verleih von GLI ULTIMI übernahm Henry Lombroso, der mit seiner Firma "Globe Films International" auch Werke von Dreyer, Bergman und Tarkowskij nach Italien brachte. Als Regisseur gewann Turoldo den mit ihm befreundeten Vito Pandolfi, und Pandolfi und Turoldo schrieben gemeinsam das Drehbuch (unter Mitarbeit eines Mario Casamassima), basierend auf Turoldos bis dahin unveröffentlichtem autobiographischen Text "Io non ero un fanciullo", was wohl ungefähr "Ich hatte keine Kindheit" heißt. Checo ist also in einem gewissen Ausmaß das alter ego von Turoldo als Kind.

Eine Familie bricht nach Udine auf
Vito Pandolfi (1917-1974) war ein linksintellektueller Theaterautor, -regisseur und -kritiker. Ein Theaterwissenschaftler, der an der Universität Genua lehrte und mehrere Bücher schrieb, war er auch. Als Jean Renoir 1952 in Italien DIE GOLDENE KAROSSE drehte, engagierte er Pandolfi als Berater für die Commedia dell'arte. Im Gegensatz zu Turoldo, der von großer körperlicher Statur und kräftiger Stimme sowie von unkompliziertem und impulsivem Charakter war, wird Pandolfi als sehr zurückhaltend geschildert. Ebenso wie Turoldo war Pandolfi, ein Marxist und Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, in den 40er Jahren im Mailänder Raum Mitglied der Widerstandsbewegung gegen die Nazis, und seitdem waren die beiden miteinander befreundet. 1966 sagte Pandolfi in einem Interview, dass er schon immer Filme liebte, und zwar insbesondere Dokumentarfilme (hier nennt er als Beispiel den Namen Flaherty) und den italienischen Neorealismus, und nur durch Zufall beim Theater gelandet sei. Beides - Neorealismus und eine Spur Flaherty - findet sich auch in GLI ULTIMI wieder. Der Film wurde in klassischer neorealistischer Manier gedreht: Ausschließlich an den Originalschauplätzen in Friaul, und komplett mit Laiendarstellern. Wie Pandolfis Aussage im Interview belegt, war das in erster Linie künstlerisch begründet, auch wenn es natürlich den Anforderungen eines knappen Budgets entgegenkam. Checos Darsteller Adelfo Galli kam aus Nomadelfia, dem Kinderheim, für das Turoldo unermüdlich Spenden einwarb. Die Einnahmen von GLI ULTIMI sollten nach Deckung der Herstellungkosten komplett an Nomadelfia fließen, aber nach dem kommerziellen Misserfolg konnte kein oder allenfalls sehr wenig Geld an das Heim überwiesen werden. Zwar fielen die Laiendarsteller finanziell nicht ins Gewicht, aber die Techniker bekamen die üblichen Löhne einer kommerziellen Filmproduktion. Neben Galli, der als "der kleine Adelfo aus Nomadelfia" als einziger Darsteller namentlich in den Credits genannt wird, war Vera Pescarolo, die die Dorfschullehrerin spielt, die einzige Darstellerin, die nicht aus Friaul stammte. Sie war die Schwester von Pandolfis Regieassistenten Leo Pescarolo, der später ein erfolgreicher Film- und Fernsehproduzent wurde. Die meisten anderen Laiendarsteller kamen aus Coderno di Sedegliano oder der engeren Umgebung. "Zuan" Lino Turoldo war ein Bruder von David Maria Turoldo, und "Anute" Margherita Tonino (in der IMDb wird sie mit der spanischen Schauspielerin Margarita Torino verwechselt) wurde zufällig von Pater Turoldo entdeckt, als er eigentlich ihren Sohn als Kandidaten für Checo testen wollte. Die Laiendarsteller verleihen dem Film in vielen Szenen dokumentarische Glaubwürdigkeit. Wenn etwa Zuan mit vollkommener Beiläufigkeit die Polenta mit einer Schnur teilt, dann glaubt man ihm jede Sekunde, dass er selbst mit Polenta aufgewachsen ist und nicht mit Saltimbocca alla romana, und ähnlich verhält es sich mit den landwirtschaftlichen Handgriffen. Und in solchen Szenen wandelt GLI ULTIMI auch in den Spuren von Robert Flahertys ethno-dokumentarischen Filmen, insbesondere in denen von MAN OF ARAN (1934), den Flaherty auf einer kleinen sturmumtosten Insel vor der irischen Westküste gedreht hat, wo ähnlich karge Lebensbedingungen wie in GLI ULTIMI herrschen, und in dem sich die Inselbewohner - im Rahmen einer von Flaherty zusammengestellten fiktiven Familie - selbst spielten.


Einige kleinere Rollen wurden von friaulischen Freunden von Turoldo übernommen, so spielte der Schriftsteller Riedo Puppo den Küster und der Fotograf Elio Ciol den unfreundlichen Fotografen bei der Hochzeit. Ciol war auch der Standfotograf bei den Dreharbeiten und machte fast 2000 Aufnahmen, von denen eine Auswahl 2002 in einem 200-seitigen Bildband erschien. Ein 1998 erschienenes 52-seitiges Büchlein über GLI ULTIMI mit dreisprachigem Text wird ebenfalls von Ciols Bildern illustriert. Eine Ausstellung von Ciols Bildern vom Set im Jahr 1990 war auch der wichtigste Auslöser dafür, sich ernsthaft um die Erhaltung und Wiederbelebung des Films zu kümmern. - Adelfo Galli spielt seine Rolle sehr natürlich und ausdrucksstark, und Michelangelo Antonioni hat ihn seinerzeit als den besten Kinderdarsteller im italienischen Film bezeichnet (weitere Filmrollen hatte er aber nicht mehr). Freilich benutzte Pandolfi auch fragwürdig anmutende Mittel, die damals aber als normal galten. Im schon erwähnten Interview von 1966 bekannte er: "Ich musste ein System für ihn [Adelfo Galli] erfinden. Um eine bestimmte Emotion zu produzieren, musste ich eine entsprechende Reaktion auslösen. Wenn ich zum Beispiel wollte, dass er weinte, gab ich ihm ein paar Schläge. Er weinte. Wenn er lächeln sollte, zog einfach jemand hinter der Kamera Grimassen." GLI ULTIMI hat einige sehr emotionale Momente, aber er ist nie auch nur annähernd sentimental. Im Gegenteil - die strenge Inszenierung des Films hat ihm Vergleiche mit Dreyer, Bergman und Bresson eingetragen. Zugleich erweist sich GLI ULTIMI auch als thematischer Vorläufer von Filmen wie DER HOLZSCHUHBAUM und PADRE PADRONE, die rund 15 Jahre später entstanden. Einen wichtigen Anteil an der Wirkung des Films hat Kameramann Armando Nannuzzi, dem sehr klare und schöne Aufnahmen der bäuerlichen Lebenswelt und der friaulischen Landschaft gelingen, ohne je in die Nähe von Postkartenklischees zu geraten. Später drehte Nannuzzi so unterschiedliche Filme wie Bernhard Wickis DER BESUCH (der alten Dame), GENOSSE DON CAMILLO, A. Pietrangelis ICH HABE SIE GUT GEKANNT, Viscontis LUDWIG, EIN KÄFIG VOLLER NARREN, FLUCHT NACH VARENNES und Stephen Kings MAXIMUM OVERDRIVE. David Maria Turoldo war ständig am Filmset und nahm aktiv an den Dreharbeiten teil. Die eigentliche Regie überließ er Pandolfi, aber sonst kümmerte er sich um alles. Man kann ihn ohne weiteres als Produzenten von GLI ULTIMI bezeichnen, auch wenn in den Credits kein Produzent genannt wird. Dagegen war Henry Lombroso, dem verschiedentlich diese Funktion zuerkannt wird, nur für den Verleih zuständig.

Abenteuer am Tagliamento
GLI ULTIMI war der erste Spielfilm, der in Friaul gedreht wurde, und Turoldo und die anderen Macher hofften auf entsprechende Resonanz, wurden aber enttäuscht. 1962 lief GLI ULTIMI in seiner ursprünglichen Länge von 96 Minuten bei den Filmfestspielen von Venedig, allerdings nicht im Wettbewerb, sondern in einer Nebenreihe in einem kleinen Saal, wo er wenig Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Januar 1963 kam eine von Pandolfi um sieben Minuten gekürzte Fassung in die friaulischen Kinos, die Premiere war in Udine. Aber die von Turoldo und seinen Mitstreitern erhoffte Begeisterung blieb aus, und viele im Publikum und unter den Kritikern fühlten sich und ihre Region sogar als rückständig verunglimpft und protestierten dagegen. Außerhalb Friauls lief GLI ULTIMI in größeren Städten, aber nicht flächendeckend, ebenfalls mit sehr bescheidenem Erfolg. Unter den Wenigen, die uneingeschränkt positive Kritiken verfassten, waren Pasolini und der Schriftsteller Giuseppe Ungaretti. Die Sprache des Films ist übrigens - auf Turoldos ausdrücklichen Wunsch - allgemeinverständliches Italienisch, mit nur wenigen lokalen Ausdrücken wie dem Grußwort "mandi" aus dem Friaulischen (Furlan), das eine eigene Sprache darstellt. - Vito Pandolfi drehte 1965 PROVINCIA DI LATINA, eine Dokumentation in Spielfilmlänge, die die Entwicklung der Arbeitswelt einer bestimmten Region aus soziologischer Sicht beleuchtet, von der bäuerlichen Lebensweise über Handwerk und Industrie bis zur Arbeit in einem Kernkraftwerk. Im erwähnten Interview von 1966 sagte Pandolfi, dass er viel lieber Filme dreht, als Theater zu inszenieren, weil letzteres körperlich viel anstrengender ist und ihm an die Nerven und auf den Magen schlägt. Aber weitere Filme von ihm gibt es nicht. Die Leitung eines von ihm gegründeten Theaters in Rom und seine universitären Verpflichtungen ließen ihm wohl keine Zeit mehr dafür.


GLI ULTIMI erfüllte also alle Voraussetzungen, um komplett in der Versenkung zu verschwinden, doch dazu kam es nicht. Schon 1982, zum 20-jährigen Jubiläum, sendete die RAI vier kurze Gesprächsrunden mit Turoldo und je einem oder zwei Gästen, in denen an den Film erinnert wurde. Und friaulische Lokalpatrioten, Filmliebhaber und Filmhistoriker bemühten sich, diese Rarität zu erhalten und ihre Entstehungsgeschichte zu dokumentieren. Koordiniert wurden diese Anstrengungen in den letzten gut 20 Jahren von der Cineteca del Friuli in Gemona in Zusammenarbeit mit dem Centro Espressioni Cinematografice in Udine und weiteren Institutionen. 2002 wurde die Verleihfassung des Films in restaurierter Form wiederveröffentlicht und auch auf VHS herausgebracht. Diese Fassung von 2002 wurde gelegentlich auch im deutschsprachigen Raum gezeigt, so 2006 im Italienischen Kulturinstitut Köln und 2009 im Österreichischen Filmmuseum in Wien sowie im Verein Lichtspiel/Kinemathek Bern. 2012 schließlich, pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum, wurden sowohl die Verleih- als auch die originale Venedig-Fassung mit allen Finessen digital restauriert präsentiert, und es erschien ein 2-DVD-Set, das beide Versionen des Films enthält, regionalcodefrei und mit englischen und spanischen Untertiteln. Damit war ein außerhalb seiner engeren Heimat weitgehend vergessenes Meisterwerk endgültig wiederauferstanden. Leider kam man bei der Cineteca nicht auf die Idee, auch das reichhaltige Bonusmaterial mit Untertiteln zu versehen, und die sicher sehr informativen Texte im 43-seitigen Booklet wurden auch nicht übersetzt. Obwohl diese Ausgabe also nur halbherzig für den internationalen Markt tauglich gemacht wurde, gewann sie beim diesjährigen Festival Cinema Ritrovato in Bologna den Preis für die beste DVD. - Für hilfreiche Informationen danke ich Luca Giuliani von der Cineteca del Friuli.

Sonntag, 19. Mai 2013

Italienische Station im Exil: Max Ophüls und LA SIGNORA DI TUTTI


LA SIGNORA DI TUTTI
Italien 1934
Regie: Max Ophüls
Darsteller: Isa Miranda (Gaby), Memo Benassi (Leonardo Nanni), Tatiana Pawlova (Alma Nanni), Federico Benfer (Roberto Nanni)



Gaby im OP-Saal, mit Leonardo, Roberto und Alma
Die international gefeierte Schauspielerin Gaby Doriot begeht einen Selbstmordversuch. Im Dämmerzustand zwischen Leben, Tod und der OP-Narkose durchlaufen Teile ihres Lebens wie ein Film ihr geistiges Auge... Als Jugendliche wird sie von ihrer Schule verwiesen, weil einer ihrer Lehrer, der mit ihr eine Liebesbeziehung unterhielt, aus Verzweiflung und Schuldgefühlen gegenüber seiner Familie heraus Selbstmord begangen hat. Fortan wird Gabriella von ihrem strengen Vater unterrichtet. Eines Tages beobachtet eine Gruppe Gymnasiasten das Mädchen im Garten. Einer von ihnen, Roberto, Sohn eines reichen Unternehmers, lädt Gabriella auf einen Familienball ein. Roberto ist in das Mädchen verliebt, und seine Gefühle stoßen durchaus auf Gegenliebe, aber die beiden jungen Menschen finden aus Verlegenheit nicht so recht zueinander, und die Anbahnung eines intimen Moments wird durch den Ruf von Robertos querschnittgelähmter Mutter Alma im Keim erstickt. Diese findet jedoch zur Freude ihres Sohnes schnell Gefallen an Gabriella, da ihr Mann ständig auf Reisen ist und sie sich mangels Bewegungsfreiheit über die nette Konversationsgesellschaft der jungen Frau freut. Als ihr Mann Leonardo zurückkehrt, verliebt er sich Hals über Kopf in Gabriella und vernachlässigt dabei immer mehr seine kranke Ehefrau. Die Rollstuhlfahrerin hegt eines Abends Verdacht, stürzt, als sie zornig und aufgeregt ihren Ehemann sucht, die Treppen hinunter und stirbt.

Die Trauer um seine verstorbene Frau betäubt der Industrielle damit, dass er mit seiner Geliebten Gabriella wochenlang verreist – nachdem er den Wunsch seines Sohns, die junge Frau zu heiraten, höchst energisch zurückgewiesen hat. Leonardos Liebesobsession wird immer besitzergreifender, während die junge Frau fast wahnsinnig vor Schuldgefühlen ob Almas Tod wird. Schließlich verlässt sie nicht nur ihren Liebhaber, sondern kehrt auch ihrem früheren Leben radikal den Rücken zu, um in Paris ihr Glück zu versuchen. Leonardo, der zur Finanzierung seiner ausgedehnten Reise mit Gaby in die Kasse seines Unternehmens gegriffen hat, wird der Veruntreuung angeklagt und landet nach einem Gefängnisaufenthalt auf der Straße. Derweilen kontaktiert Roberto die mittlerweile berühmte Filmdiva und teilt ihr mit, dass er deren Schwester vor einigen Jahren geheiratet hat. Aus Verzweiflung darüber, sich nicht rechtzeitig für Roberto entschieden und trotz Ruhms ein Leben in Einsamkeit geführt zu haben, versucht Gaby, sich umzubringen. Aus der OP-Narkose wird sie nicht mehr wieder aufwachen.


Falls diese Geschichte ein bisschen wie die Zusammenfassung eines schlechten Groschenheftchens klingt, so liegt das vielleicht daran, dass das Filmdrehbuch in der Tat auf einen Fortsetzungsroman basiert, der in einer italienischen Boulevardzeitschrift erschienen ist. Was jedoch Max Ophüls mit diesem Stoff in LA SIGNORA DI TUTTI angestellt hat, grenzt geradezu an ein Wunder. Er hat nicht nur einen höchst experimentellen Film inszeniert, sondern möglicherweise in Rom 1934 seine persönliche Handschrift als Regisseur gefunden. Alle Emotionen, die sich in den Händen eines anderen Filmemachers in Klischees und Plattitüden erschöpft hätten, flimmern in diesem italienischen Film geradezu. Doch wie kam Max Ophüls, ein deutsch-jüdischer Emigrant von 1933, dazu, ein Jahr später im damals bekanntermaßen faschistischen Italien einen Film zu drehen?

Im Frühjahr 1933 hatte er LIEBELEI fertig gestellt, der sein letzter deutscher Film überhaupt bleiben sollte (von der deutschen Produktionsbeteiligung am französischen LOLA MONTÈS abgesehen). Bei der Premiere des Films im März war er noch anwesend, verließ dann aber schnell das Deutsche Reich. Wie viele andere deutsche Film-Emigranten fand er Zuflucht in Paris, wo er als Bürger der Saar sogar relativ einfacher eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis beschaffen konnte als seine Kollegen, die Reichsbürger waren. Sein letzter deutscher Film diente Ophüls zugleich auch als eine Art Visitenkarte, denn LIEBELEI wurde in Paris mit Wohlwollen von Publikum und Filmkritik aufgenommen. Unter dem Titel UNE HISTOIRE D‘AMOUR drehte er rasch eine französisch-sprachige Version des Films. Der weitere Weg des Emigranten in Frankreich verlief jedoch nicht so glänzend. Seinen Plan, ein politisches Plädoyer gegen das Nazi-Regime mit dem Titel JE SUIS UN JUIF („Ich bin ein Jude“) zu drehen, scheiterte an der Finanzierung und am mangelnden Interesse. Letzteres soll auch an einer deutschfeindlichen und latent antisemitischen Atmosphäre liegen, die Teile der französischen Filmindustrie und -presse nach dem Exodus deutsch-jüdischer Filmemacher entwickelte. So war es auch Erich Pommer, der Ophüls‘ erstes Filmprojekt im Exil vermittelte: ON A VOLÉ UN HOMME, eine Liebeskomödie um einen Krimiplot, in der sich ein entführter Industrieller und eine Entführungshandlangerin ineinander verlieben. Der Film gilt heute als verschollen.

Viel lieber hätte Ophüls ein anderes und weitaus anspruchsvolleres Pommer-Vorhaben gedreht, nämlich LILIOM, doch dieses ging an Fritz Lang, der nicht nur renommierter als der Saarbrücker war, sondern dem berühmten deutschen Produzenten Pommer aufgrund der langjährigen Zusammenarbeit natürlich näher stand. ON A VOLÉ UN HOMME wurde jedenfalls eher verhalten aufgenommen. Das lag teilweise auch daran, dass der Film (genauso wie der ebenfalls kommerziell wenig erfolgreiche LILIOM) als „deutsch“ wahrgenommen wurde. Nationalkonservative und rechtsradikale Medien veranstalteten eine regelrechte Hetzkampagne gegen die angebliche „Überfremdung“ der französischen Filmindustrie und die Kritik an der Krimikomödie gingen teilweise in persönliche antisemitische Beleidigungen gegen den Regisseur über. Obwohl eine Quotenregelung den Anteil an Ausländern in der französischen Filmindustrie bereits regulierte, zeitigte die anti-deutsche (anti-jüdische) Kampagne in Ophüls‘ Fall durchaus unangenehme Folgen: Ein bereits unterschriebener Regievertrag wurde ihm nach massiven Angriffen in der Presse gekündigt.

Das Angebot des italienischen Verlegers Angelo Rizzoli, in Rom einen Film zu drehen, kam Ophüls daher wie gerufen. Rizzoli (der später noch Filme Vittorio De Sicas, Federico Fellinis und Michelangelo Antonionis produzieren sollte) wollte sein Medienimperium nun auch auf den Filmbereich ausdehnen. Er gab auch den zu bearbeitenden Stoff vor: nämlich einen Roman des Schriftstellers Salvatore Gotta, der in einer seiner zahlreichen Illustrierten erschienen war. Abgesehen davon ließ Rizzoli dem Regisseur vollkommene künstlerische Freiheit, sowohl in der Bearbeitung des Romans wie auch in der Auswahl der Mitarbeiter und gewährte ihm zudem ein überaus üppiges Budget. Mit seiner Familie, den Drehbuchautoren Curt Alexander und Hans Wilhelm, dem Regieassistenten Ralph Baum und dem Sounddesigner Hans Bittman reiste Ophüls im März 1934 nach Rom und begann im Auftrag von Rizzolis frisch gegründeter Produktionsfirma „Novella“ sogleich mit den Dreharbeiten.

Standen hinter der Kamera zahlreiche Deutsche, so rekrutierte Ophüls die Darsteller vor Ort: den Theaterschauspieler Memo Benassi als Leonardo, die aus Russland stammende Theaterregisseurin und Schauspielerin Tatiana Pawlova als Alma, den Deutsch-Italiener Friedrich (Federico) Benfer als Roberto und die bislang eher unbekannte Isa Miranda für die Haupt- und Titelrolle. In letztere verliebte sich Ophüls praktisch auf den ersten Blick, und die Erwiderung seiner Avancen führte zu einer Affäre, die etwa ein halbes Jahr dauerte (knapp 16 Jahre später spielte sie eine Rolle in LA RONDE). Seine Premiere erlebte LA SIGNORA DI TUTTI am 13. August 1934 bei der zweiten Biennale in Venedig, wo er den Preis für den technisch besten Film erhielt – aus symbolischen Gründen sollte der Hauptpreis nicht an ein Filmvorhaben mit maßgeblicher ausländischer Beteiligung verliehen werden.

Ophüls hatte seinen Aufenthalt in Italien eigentlich nur als Notlösung gesehen. Doch nach seinem überaus positiven Arbeitserlebnis plante er weitere Filmprojekte. Gioachino Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ wollte er in Italien drehen: das Drehbuch war bereits fertig ausgearbeitet und eine Kooperation mit Tullio Serafin, dem Dirigenten der römischen Oper, schon in die Wege geleitet. Doch die Budgetvorstellungen sprengten jegliches vernünftiges Maß und da trotz der massiven Werbekampagne in den Rizzoli-Medien LA SIGNORA DI TUTTI beim Publikum floppte, verlief die Opernverfilmung im Sande. Und als ob dies nicht genug wäre, fiel das Saarland nach der Volksabstimmung über dessen Status dem Deutschen Reich zu, was Ophüls perspektivisch zu einem Staatenlosen machte. Er kehrte nach Frankreich zurück und beantragte als erstes die französische Staatsbürgerschaft, die er 1938 erhielt. Sein italienisches Intermezzo war damit jedoch beendet.

Doch der aus dieser Episode entstandene Film kann aufgrund seiner schieren inszenatorischen Bravour keineswegs als Fußnote in Ophüls‘ Werk abgetan werden. Der Filmhistoriker Jean Gili, Spezialist für den italienischen Film, lobte die „dramatische Intensität“ und das „expressionistische Delirium“ von LA SIGNORA DI TUTTI.

Bereits die ersten Minuten, ja gar Sekunden des Films machen deutlich, welch Bild- und Tonstrudel die nächsten anderthalb Stunden bestimmen wird. Als der Vorspann endet (bemerkenswert: ohne eigene Credits für Regisseur Max Ophüls), läuft das romantische Schlagerlied weiter und eine Schwarzblende wird spiralförmig aufgelöst (dieses eigentlich auf den Stummfilm zurückgehende Auf- und Zudecken von Bildarealen nutzte Ophüls später noch ausgefeilter bei LOLA MONTÈS): eine Schallplatte kommt zum Vorschein, die das Vorspann-Lied abspielt. Der Plattenspieler befindet sich in einem Büro, wo zwei Herren sich angeregt unterhalten. Der eine ist ein Filmproduzent, der andere der Agent der Schauspielerin Doriot. Ihre Unterhaltung ist schwer zu verstehen, nicht nur, weil sie die meiste Zeit gleichzeitig sprechen, sondern vor allem, weil die Musik (ein Lied, das die Doriot singt) ihre Unterhaltung fast übertönt. Es geht um die Preisverhandlung für die nächsten beiden Doriot-Filme. Entnervt hebt schließlich der Agent den Tonarm des Spielers (und beendet damit die Musik) und will gehen, doch der Produzent versucht ihn davon abzuhalten, führt ihn, einen Arm vertraulich um die Schultern gelegt, um seinen Schreibtisch, greift versöhnlich nach der Platte und legt sie auf den Grammophon-Teller. Letzteres führt uns in einer Plansequenz von einer Nahaufnahme des Spielers durch das Büro zurück zu einer Nahaufnahme des Spielers.
Natürlich denkt man bei Ophüls an die langen, eleganten Plansequenzen (und die gibt es in LA SIGNORA DI TUTTI zur Genüge), doch gerade die ersten Minuten zeigen, dass der Regisseur auch bei der Nutzung des Tons nur wenig kreative Grenzen kannte. Was im Prolog angelegt ist, also das Überfließen extradiegetischer in intradiegetische Musik, überhaupt die Weiterführung der Soundkulisse in szenendramaturgisch klar abgetrennten Szenenwechsel , die Überlappung von Dialog- und Geräusch-Kulisse, taucht immer wieder im Film auf.

Am beeindruckendsten ist sicherlich die Art, wie ein Opernstück in die Handlung eingefügt wird, indem es die unglückliche Liebe zwischen Gaby und Leonardo begleitet. Beide gehen, auf Anregung Almas, zusammen in die Oper und hören dort erstmals das Stück – die beiden künftigen Liebhaber werden in Doppelbelichtung mit dem Orchester gezeigt. In jener Nacht, als Gaby und Leonardo sich aus dem Haus schleichen, hört Alma gerade dieses Stück aus dem Radio, als sie beginnt, Verdacht zu schöpfen und ihren Ehemann suchen geht. Der dramatische Höhepunkt des Musikstücks begleitet den dramatischen Höhepunkt der Szene: Alma stürzt die Treppen herunter und stirbt. In höchster Erregung stürmt Gaby in Almas Zimmer und zertritt das Radio, bis es wieder schweigt. Und schließlich, nach dem Tod Almas und der ausgiebigen „Hochzeitsreise“ der beiden Geliebten, kehren sie in das trauernde Haus zurück. Der Geist Almas, besonders in Form eines Portraits über dem Kamin, scheint über alles zu schweben (an einer Stelle sehen wir das Wohnzimmer aus dem Point-Of-View-Blick der Portrait-Alma). Plötzlich hört Gaby – aber eben nur sie – das Opernstück aus dem Kamin „strömen“. Die schulderfüllte Erinnerung an die Frau, die ihr vertraut hatte und der sie den Ehemann weggenommen hat, führt sie in einen hysterischen Anfall, während die Musik in ihrem Kopf immer weiter anschwillt.

Der vielleicht irritierndste Einsatz des Tons findet sich jedoch gegen Ende des Films: Leonardo, inzwischen heruntergekommen und wahrscheinlich auf der Straße lebend, besucht die Vorhalle eines Kinos, in dem gerade die Premiere des neuesten Doriot-Films läuft. Er spaziert durch die geräumige Vorhalle und betrachtet weinend die Werbefotos seiner einstigen Geliebten. Die Titel- und Vorspannmelodie „La Signora di tutti“ läuft (ob extradiegetisch oder als in die Vorhalle tönender Abspann des Films aus dem nebenliegenden Kinosaal bleibt unklar). Vor allem aber hört man, bis Leonardo von einem skeptischen Wachmann angesprochen und aus dem Kino raus gebeten wird, eine Alarmglocke! Erst bei einer wiederholten Sichtung und bei meiner intensiveren Auseinandersetzung mit LA SIGNORA DI TUTTI bin ich darauf gekommen, was diese kryptische Tonstörung bedeuten könnte: im Prolog, als der Filmproduzent von dem Selbstmordversuch Gabys erfährt, drückt dieser eine Art Rundtelefon-Alarmknopf, mit dem er Dringlichkeits-Sitzungen der Studioabteilungen einberufen kann. Es ertönen daraufhin eine ganze Reihe verschiedener Alarmglocken. Der Störton, als Leonardo bei der Premiere durch die Vorhalle schlendert, weist also wohl darauf hin, dass etwa zeitgleich Gaby im Sterben liegt. Leonardo geht in Trauer raus und wird von einem Auto überfahren: das Stimmengewirr der Passanten geht beim Szenenübergang nahtlos in das Stimmengewirr des Produktionsbüros über.

Leonardos Streifzug durch die Kinovorhalle ist übrigens eine ausgedehnte, etwa 160 Sekunden dauernde Plansequenz. Die Plansequenz: das vielleicht bekannteste und hervorragendste Merkmal von Max Ophüls‘ Filmen. Sie folgt den Figuren und passt sich dabei an ihren Rhythmus an: in der erwähnten Vorhallen-Sequenz bewegt sich die Kamera zwar stetig, aber relativ langsam und gemächlich. Wenn aber die Figuren hektisch sind, dann beschleunigt auch die Kamera ihr Tempo. Das wird schon im Prolog deutlich, wenn rennende Regie-Assistenten die „verschwundene“ Gaby (die sterbend in ihrem Zimmer liegt) in Kantinen, Schminkräume und Tanzsalons suchen und die Kamera ihnen hinterherrennt – die Bilder bleiben dabei von einer bewundernswerten Klarheit. 

Wie auch in späteren Filmen (am extremsten schließlich in LOLA MONTÈS) lässt sich die Kamera von nichts beirren, was im Weg stehen könnte. Selbst eine Wand kann die Kamera nicht aufhalten, wenn Gabys Agent auf der Suche dem Star deren Hotelsuite Zimmer für Zimmer durchschreitet. Ophüls demonstriert hier auch, dass er eine der Meisterdisziplinen der Plansequenz, nämlich die Kamera-Begleitung tanzender Paare auf einer gerappelt vollen Tanzfläche, schon früh beherrschte (überhaupt war er einer der interessantesten Regisseure für Tänze überhaupt!). Das musikalische Kreisen endet hier mit einem abrupten 360-Grad-Reissschwenk, als Gaby im Freudenrausch (und vor lauter Drehen) auf den Boden sinkt und meint, dass sich ihr alles drehe. 

Nicht nur auf einer audio-visuellen Ebene experimentiert LA SIGNORA DI TUTTI. Zwischen Prolog und Epilog handelt es sich im Prinzip um einen Film-im-Film als Narkose-Traum einer Sterbenden. Innerhalb dieser Traum-Erzählung kommt es mehrmals zu Flashbacks. Viele Wendungen werden sehr implizit angedeutet und nicht weiter erklärt. Manch ein Zeitsprung wird erst im Verlauf der weiteren Handlung als solcher erkennbar und viele Überleitungen werden einfach ausgespart: wenn Gabrielle etwa nach dem Liebschaftsskandal aus der Schule genommen und von ihrem Vater regelrecht zu Hause eingesperrt wird, wenn sie nach einer kurzen Begegnung mit Alma von einer flüchtigen Bekanntschaft zu einer vertrauten Freundin wird oder wenn Leonardo seinem Sohn die Hochzeit mit Gaby mit einem brutalen „Nein“ verweigert und sofort auf den Zug und dann auf das gemeinsame Schlafabteil des Unternehmers und seiner jungen Geliebten geschnitten wird oder gegen Schluss eben aus der provinziellen Gaby ein Weltstar wird. Das führt dazu, dass LA SIGNORA DI TUTTI sich voll und ganz auf die rudimentäre Handlung konzentriert und dadurch auch einen erstaunlich flotten Erzählrhythmus entwickelt.

Wie so oft in Ophüls‘ Filmen steht hier ein weibliches Schicksal im Vordergrund (auch wenn der Name der Figur noch mit „G“, und nicht mit „L“ beginnt). Wie bei vielen anderen Ophüls-Filmen scheint die Grenze zwischen mitfühlendem Humanismus und desillusioniertem Zynismus sehr verschwommen zu sein. Zweifelsohne fühlt Ophüls mit dem Leidensweg der Protagonistin durchaus mit. Da sie gewissermaßen für den Tod zweier Männer und einer Frau und für eine nicht wirklich befriedigende Ehe verantwortlich ist, könnte man sie durchaus als eine Art femme-fatale-Typus sehen. Doch der Film gibt ihr nicht die Schuld und zeigt auch mitfühlsam, wie sie an den Erwartungen ihrer Mitmenschen zerbricht. Ihre Flucht nach vorne (ins Showbusiness) ist auch der Anfang ihres Endes. Trotz einiger heiterer Szenen ist der Grundton des Films arg pessimistisch: niemand entkommt hier seinem Schicksal, aber am allerhärtesten trifft es schlussendlich Gaby selbst. Alma hatte wenigstens noch Menschen um sich, die sie betrauert haben. Doch als Gaby am Ende stirbt, gibt es keine Trauer für sie. Die Filmproduzenten können sie nun nicht mehr gebrauchen und betrauern am ehesten den Verlust von Gewinnen. Die letzten Bilder zeigen, wie die Druckerpresse, die die aktuellsten Gaby-Doriot-Werbeplakate herstellt, abgestellt wird. Ein verbitterter Kommentar über die Pervertierung menschlicher Beziehungen im Showbusiness und ein absolut vernichtendes Ende – auch wenn es 21 Jahre später Lola noch erheblich grausamer treffen würde.


LA SIGNORA DI TUTTI ist in einer italienischen DVD-Edition mit italienischen und englischen Untertitel und in einer englischen Edition mit englischen Untertiteln zu erwerben. Bild und Ton sind – zumindest in der mir vorliegenden italienischen Edition – absolut hervorragend und für das Alter dieses Films auch erstaunlich klar. Eine Anschaffung lohnt sich also durchaus!
Die DVD dauert 86 Minuten. Gemäß imdb läuft LA SIGNORA DI TUTTI jedoch 97 Minuten. Mit einem Film-zu-DVD-Konvertierungsverlust von vier bis fünf Minuten würden also immer noch sechs bis sieben Minuten fehlen. Helmut G. Aspers mutmaßt in seiner Ophüls-Biographie (auf der auch die kontextualisierenden historischen Passagen meiner Besprechung größtenteils aufbauen), dass der Film möglicherweise zwischen der Festival-Premiere und der Kinoauswertung noch bearbeitet worden ist. Eine Zensur sei dabei auszuschließen, da einerseits Ophüls mit Rizzoli einen mächtigen, einflussreichen und wohlwollenden Patron auf seiner Seite wusste, andererseits der komplette Film auf der Kippe hätte stehen müssen, da er mit seiner überaus offenen Thematisierung von Selbstmord gegen die italienischen Zensurbestimmungen verstieß.