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Freitag, 2. Februar 2018

Unterstützt Terza Visione, das Festival des italienischen Genrefilms!

Vom 26. bis 29. Juli findet im Frankfurter Filmmuseum das 5. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms statt.

Die Veranstaltung ist in Deutschland in vielerlei Hinsicht einzigartig, weil sie einen Bereich der Filmgeschichte erschließt, der entweder sehr beschränkt wahrgenommen (allenfalls Sergio Leones Westerns und die Hill-Spencer-Filme) oder nicht ernst genommen wird oder vielleicht mal peripher in einem Quentin-Tarantino-Interview überlesen wird – und diese Erschließung konsequent im mittlerweile historischen Medium des 35mm-Films betreibt.
Ganz simpel gesagt (und das wage ich nach nur einem Besuch so zu schreiben): Terza Visione ist einfach absolut großartig. Das Programm ist extrem gut kuratiert und abwechslungsreich. Ein kleines italienisches Filmparadies am Main für vier Tage. Ein echtes Festival für Filmleidenschaftliche – von Filmleidenschaftlichen organisiert.
Und genau da stößt die Veranstaltung auch auf ihre Grenzen: sie wird mit wenig Budget von Ehrenamtlichen organisiert, die das „nebenbei“, unter sehr stressigen, weil personell unterbesetzten und finanziell begrenzten Bedingungen machen. Damit das Festival die Ressourcen bekommt, die es verdient, braucht es natürlich ein größeres Budget, und deshalb hat sich das Orga-Team für die kulturMut-Kampagne für Kulturprojekte im Rhein-Main-Gebiet beworben. Es ist eine Kulturförderung, die mit Crowdfunding verknüpft wird. Wenn genug zahlungswillige Unterstützer für das Projekt zusammen kommen, wird es von kulturMut gefördert.

Wenn ihr, werte Leser, Terza Visione finanziell unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier tun:
Es gibt acht verschiedene Unterstützungsoptionen. Wer das Festival sowieso gerne besuchen würde, sollte gleich eine Dauerkarte auf der Seite bestellen.

Teilt den Link fleißig mit euren film- oder auch italienbegeisterten Freunden.
Teilt den facebook-Post des Festivals zu der Sache: https://www.facebook.com/terzavisione/posts/699070940481411

Wer noch zweifelt, den kann der Mitbegründer und Co-Chef des Festivals vielleicht besser überzeugen:



Wer mehr über das Terza Visione erfahren möchte, findet auf der oben genannten startnext-Seite beim Punkt „Worum geht es in dem Projekt?“ einige Links zu Besprechungen vergangener Ausgaben (darunter meinen Text zur vierten Ausgabe). Besprechungen zu einzelnen Filmen gibt es noch hier bei „Remember it for later“. Auf „Hard Sensations“ wurde gar jede bisherige Ausgabe des Festivals besprochen (No 1, No 2, No 3, No 4).

Sonntag, 28. Januar 2018

„Gefühl ist die gefährlichste Schmuggelware“: Euphorien vom 17. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (Erster Teil)

Vorwort

„Du solltest unbedingt mal zu einem Hofbauer-Kongress kommen!“ – sagte mir ein Eskalierender Träumer im Sommer 2017 während des Terza Visione. Viel hatte ich über diese ominöse Veranstaltung gelesen, ich war mir nicht so sicher, ob das wirklich etwas für mich ist, aber meist schwankten die Eindrücke von Menschen, die darüber schrieben, irgendwo zwischen Euphorie und Ekstase. So ging es also für mich gegen Ende meines verlängerten Weihnachts- und Neujahr-Urlaubs in Richtung Nürnberg.
Um es vorweg zu nehmen: Ich kam, sah und jubilierte...


Prolog: „Morituri te salutant!“

Der Hofbauer-Kongress in seiner jetzigen Form widmet sich nicht nur dem abseitigen, unterschlagenen, verfemten Kino, sondern auch einem todgeweihten Modus der Filmvorführung, nämlich der 35mm-Projektion. Statt eines längeren Vortrags über den Tod des analogen Kinos gab es...

Donnerstag, 4. Januar, ca. 14.30 Uhr

CINEMA FUTURES
Regie: Michael Palm
Österreich / Indien / Norwegen / USA 2016 (DCP)
Das analoge Kino stirbt – oder wird es gestorben? Eine assoziative Spurensuche, unter anderem im Gespräch mit Filmemachern und Restaurateuren.
Am 14. August 2012 sah ich TED von Seth MacFarlane im Weimarer CineStar in einer 35mm-Kopie. Das war wahrscheinlich der letzte, aktuell gestartete Film, den ich in einem Multiplex-Kino auf echtem Film sah. Beim Programm-Kino dauerte das Verschwinden einen kleinen Tick länger: Danny Boyles TRANCE lief am 1. September 2013 im Weimarer Lichthaus noch in einer wunderschönen Kopie durch einen Filmprojektor. Das sind jetzt knapp über fünf bzw. vier Jahre her. Das ist eigentlich nichts, aber oft fühlt es sich wie vier bis fünf Jahrhunderte an.
CINEMA FUTURES erforscht unter anderem, was in diesem „halben Jahrtausend“ passiert ist. Als aggressiv-polemisch kann man seinen Duktus kaum bezeichnen, aber es ist schwer, nach der Sichtung des Films die Digitalisierung des Kinos nicht als Generalangriff großer Hollywood-Studios zu sehen, die ihre eigene Monopolstellung noch nachhaltiger festigen wollen (wobei „nachhaltig“ hier im Grunde das falsche Wort ist). Fünf „Jahrhunderte“ später müssen wir feststellen, dass Vielfalt in der Kinolandschaft verloren gegangen ist. Multiplexe werden immer mehr zu reinen Event-Veranstaltungen, Programmkinos immer mehr zu einem Ort, wo für Filme außerhalb des „Arthouse-Mainstreams“ kein Platz mehr ist. Die Bastionen, die gegen die Alles-oder-Nichts-Digitalisierung kämpfen, sind eher Ausnahmen zur Regel: Christopher Nolan, einer der Interviewpartner im Film, wehrt sich lautstark gegen das Verschwinden des Films. Er sei nicht gegen das digitale Kino, sondern für die Wahlfreiheit (mit seiner Prominenz kann er es sich natürlich „leisten“, seine Werke auf Film zu drehen).
Und dann das Sterben. Wir sehen in CINEMA FUTURES Eindrücke aus einem Restaurationswerk der Eastman Kodak Company. Manche Filme, die dorthin gelangen, werden „Pucks“ (wie die Dinger beim Hockeyspiel) genannt: man nimmt sie aus der Dose, kann mit einem Hammer draufschlagen, wie man möchte – sie bleiben fest, weil sie zu einer ultrakompakten Masse geworden sind. Bei einer anderen Dose zerfällt der Film hingegen schon nur beim Draufgucken. Der Restaurateur kippt die Brösel aus der Dose, wischt sie von der Tischkante nonchalant auf die Hand und dann ab damit in eine große blaue Tonne. Das sei eben Original-Negativ von Georges Méliès‘ LE JUIF ERRANT gewesen, erklärt er beiläufig. Auch das ein Teil seiner Arbeit: feststellen, dass ein Film unwiderruflich tot ist, und ihn dann sang- und klanglos „beerdigen“. Hinzu kommt dann noch ein großes moralisches Dilemma: jede Entscheidung zur Restaurierung eines Films sei zugleich auch ein Todesurteil für drei bis vier andere Filme.
Und dann der Verlust: die digitale Restaurierung ist auch stets eine ganz bestimmte Interpretation eines Films. Jeden „Dreck“ beseitigen? Was ist, wenn einiges vom „Dreck“ Teil des Negativs ist. „Saubermachen“ ohne Verluste? Ein kleiner Bildausschnitt mit Vorher-Nachher-Vergleich bei TAXI DRIVER zeigte, was eine übergründliche digitale Restauration auch anstellen kann: die Konturen des Taxis verschwinden, Robert De Niros Gesicht wird hinter der Windschutzscheibe unkenntlich.
(No) CINEMA FUTURES? Der Film stimmt auf jeden Fall pessimistisch. In den kommenden Jahren müssen wir befürchten, dass unzählige Filme sterben werden. Ganz gleich, ob sie analog sind (und aufgrund der „Jahrhunderte alten“ Technik nicht mehr angefasst werden) oder digital – und dann nicht mehr lesbar sind, weil digitale Technik für Standardisierungsprobleme anfällig ist und Aberdutzende Updates am laufenden Band (pun slightly intended) braucht.
Beim Hofbauer-Kongress wie auch bei anderen Festivals zeigt sich: 35mm-Kino stirbt nicht aus. Nicht komplett. Zumindest noch nicht. Das ist positiv und doch bleibt ein bitterer Nachgeschmack: mehrere Dutzende Leute treffen sich in Nürnberg, um verfemtes Kino in mehr oder minder glanzvollen 35mm-Kopien zu schauen. Das geht gleichzeitig Hunderttausenden, ja gar Millionen – mit Verlaub – vollkommen am Arsch vorbei. Millionen, die sich nicht dafür interessieren, dass die Vielfalt des Kinos verloren geht, für die Filmgeschichte bis THE LORD OF THE RINGS reicht (wenn überhaupt!) und für die die „Zukunft des Films“ bedeutet, die nächste Staffel von THE WALKING DEAD oder von GAMES OF THRONES zu schauen oder die supertolle neue „Qualitätsserie“, die nächste Woche bei Netflix oder Amazon Prime anläuft – wobei nach „Gebrauch“ das Gesehene „gespoilt“, also verdorben ist und daher weggeworfen gehört. Was man mit „Restaurierung/Bewahrung/Pflege alter Filme“, meint, dürfte ein imaginärer Außerirdischer oftmals sogar besser verstehen als manch ein Mitmensch.
Ein Film lebt erst dann, wenn er Zuschauer hat – so eine französische Befragte im Film (war es Nicole Brenez?). Für die Dauer des Hofbauer-Kongresses wurde der bittere Nachgeschmack von CINEMA FUTURES jedenfalls von einer ungeheuren Lebendigkeit, von einer frischen (wenn auch manchmal leider essig-aromatischen) Brise analogen Kinos weggeweht.



Ernst Hofbauer und seine wackeren Gefährten


ca. 17.30 Uhr

DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN
Regie: Ernst Hofbauer
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1965
CIA-Agent Mike Scott (Stewart Granger) ermittelt in Hongkong im Fall eines ermordeten Kontaktagenten und soll dabei auch noch eine Schmugglerbande um Pierre Milot (Sieghardt Rupp) auffliegen lassen. Mehr oder weniger behilflich sind ihm dabei die Agentin Carol (ausgesprochen: Kähroll – Rosanna Schiaffino) und der trinkfreudige Smoky (Harald Juhnke). Doch Achtung! Ein äußerst tödlicher Killer mit stets gut angefeuchteter linker Geheimratsecke (Horst Frank) ist Mike auf den Fersen.
Eine große Ansammlung vieler kleiner Freuden kann sehr viel Glück bereiten! Im Programmheft wurde DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN als eher untypischer Hofbauer-Film angekündigt. Wer bin ich, um den Hofbauer-Kommandanten zu widersprechen – mir ist aber dennoch eine starke strukturelle Ähnlichkeit aufgefallen zu seinem früheren TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X (den ich hier schon besprochen habe): das fadenscheinige Drehbuch nutzt Hofbauer als Grundlage für eine detailverliebte Ode an kleine Verrücktheiten. Pure Kinofreude! Noch jede so triviale Szene wird mit einem kleinen Einfall, einer schönen Idee, einem hingereimten Witz, einer verblüffenden Irritation, einer poetischen visuellen Komposition angereichert. In anderen Filmen stehen Figuren klotzig herum und wickeln einen Expositionsdialog nach dem anderen ab und im Gespräch mit anderen Zuschauern erfuhr ich später, dass deutsche Hongkong-Filme teils nervenzerfetzende (oder im Kongress-Jargon: stählerne) Geduldsproben sein können. Hier gibt es allerdings in jeder Szene, in praktisch jedem Bild irgendetwas Denkwürdiges.
Wie viele Agentenhelden werden beim völlig selbstvergessenen Spiel mit einer Modelleisenbahn in den Film eingeführt? Stewart Granger, mit Zigarettenspitze im Mund, im Bademantel, rangiert zwei Züge aus verschiedenen Richtungen in seinen Zielbahnhof – der eine trägt ein Whisky-Fläschchen, der andere eine kleine Flasche Sodawasser in einem Waggon. Als er sich gerade seinen Drink daraus mixt, wird er unterbrochen von einem Anruf und ist davon sichtlich nicht begeistert. Mike Scott ist im Urlaub, muss diesen abbrechen und sein Unmut darüber zieht sich durch den ganzen Film: immer wieder merkt man ihm an, dass er gerade keine Lust auf seine Arbeit hat und sich lieber an der Figur seiner Agenten-Kollegin Carol oder an einem steifen Drink ergötzen möchte. „Und was machen Sie eigentlich in der Zwischenzeit?“ fragt Smoky den CIA-Agenten, als dieser ihn mit einem Auftrag wegschickt. Er müsse sich erst einmal erholen und sich danach auf das nächste Anstehende vorbereiten... Alles klar!
Mike Scott und Smoky... Im Grunde das schönste Pärchen im ganzen Film. Smoky erfährt eine ebenso denkwürdige Einführung wie Mike: er sitzt bei einem Open-Air-Friseur und lässt sich gerade das Haar schamponieren. Als Mike ihn trifft und sogleich zum Partner-in-Anti-Crime machen möchte, fackelt Smoky nicht lange rum. Das Haar wird gar nicht erst ausgewaschen, sondern notdürftig mit einem Handtuch abgewedelt und mit schaumiger Igelfrisur chauffiert er Mike erst mal wohin. Mike und Smoky – aus dem Zwischenspiel der beiden zaubert Hofbauer eine Art kleine Sub-Screwball-Komödie innerhalb der Agentengeschichte. Da fliegen die One-Liner wie Pingpongbälle hin und her. Da entwickelt sich nach und nach eine beidseitige platonische Liebe. Als Smoky einmal draußen Schmiere steht und Carol in der Höhle des Löwen Mike ganz eindeutige Angebote macht, entscheidet sich der ergraute CIA-Agent dazu, Smoky warten zu lassen und sich die schöne Zeit mit Carol zu gönnen – allerdings musste er sich das erst einmal ganz gründlich überlegen. Mike und Smoky – Stewart Granger und Harald Juhnke zusammen zu bringen war aber auch echt ein toller Besetzungscoup!
DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN explodiert vor Freude an lauter Kleinigkeiten. Ein Scherge, der sich als blinder Bettler tarnt und dann kurz vor dem Attentat eine Pistole aus seinem Blindenstock holt. Milot, der im Gespräch mit seinem Killer Nummer 1 ein Flaschenbier in der Hand hält und die Flasche hört einfach nicht auf, Schaum zu sprudeln, so sehr Sieghardt Rupp ihn auch immer wieder irritiert wegwischt. Horst Frank, so brutal charismatisch wie eh und je, der immer wieder einen Finger anleckt und sich dann die linke Geheimratsecke kurz massiert. In einer Nachtsequenz ist er einmal nur als tiefschwarze  Silhouette zu sehen – aufmerksame Zuschauer erkennen in den sich bewegenden Umrissen, dass er sich gerade wieder die Geheimratsecke anfeuchtet.
Natürlich ist DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN ein James-Bond-Film-Abklatsch, mit einem leicht altherrenschmierigen Granger als 007-Verschnitt (er ist 26 Jahre älter als seine Filmpartnerin – den Altersunterschied und die Altherrenschmierigkeit hat Roger Moore später bei seinem letzten 007-Auftritt in A VIEW TO A KILL allerdings noch getoppt). Manchmal ist der Abklatsch, die Kopie, der Verschnitt oder wie man es auch nennen möchte, besser als das zeitgenössische Original. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass ich die Bond-Filme Terence Youngs sehr mäßig bis unerträglich finde, sondern auch damit, dass DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN einfach rasanter, unterhaltsamer, überraschender, verblüffender und lustiger ist. Und im Grunde mit seiner stets sicheren, flüssigen und eleganten Kameraführung auch besser aussieht. Mit Riz Ortolani als Komponisten gibt es dabei auch immer etwas schönes für die Ohren.


ca. 21.00 Uhr

IMMER WENN ES NACHT WIRD
Regie: Hans D. Bove
Bundesrepublik Deutschland 1961
Bobby (Jan Hendriks), der Sohn eines renommierten Arztes, führt ein ausschweifendes Leben voller rauschhafter Partynächte. Dabei steckt er sich mit Syphilis an und reicht die Krankheit prompt weiter, unter anderem an die Gelegenheitsprostituierte Elke (Hannelore Elsner) sowie an die feierwütige Kitty. Das Melodrama zieht immer mehr Kreise und involviert schließlich den Assistenzarzt Harald (der am Anfang auch Kittys Verlobter ist) und die Assistenzärztin Karin.
„Ein miserabler Film, dilettantisch in seiner Machart“ – so urteilt das immer wieder im negativen Sinne zuverlässige Lexikon des internationalen Films. Das ist natürlich vollkommener Humbug, denn auch wenn IMMER WENN ES NACHT WIRD mich nicht zu Begeisterungsstürmen animiert hat, so ist er doch ganz offensichtlich ein extrem minutiös inszenierter Film mit einem meisterhaft umgesetzten Drehbuch.
Die Inhaltsangabe eben ist wesentlich geradliniger, als der Film es eigentlich hergibt. Es gibt so gut wie kaum Exposition: jede Figur wird in media res präsentiert, und zwar wirklich immer genau da, wo sie sich befindet. Wir sehen die Menschen zuerst, und während der Film läuft, lernen wir sie, ihren sozialen Stand, ihre Beziehungen, ihre Probleme, ihre Gefühlswelt nach und nach kennen. Anzeichen von Wirkungen werden gezeigt, bevor man sich Ursachen überhaupt irgendwie zusammenreimen kann. So wirkt IMMER WENN ES NACHT WIRD unglaublich dicht und konzentriert, obwohl er dabei keiner konventionellen Erzähldramaturgie folgt (und im Grunde auch keine Hauptfigur hat).
Bobby ist, mit Verlaub, ein schmieriges, niederträchtiges Arschloch, der Frauen verführt und dann wegwirft. Er will natürlich die respektable Assistenzärztin Karin verführen, fährt sie nach einer der vielen Parties nach Hause und fingiert zwischendurch eine kleine Übelkeit am Steuer – so dass sie ihn zu seiner Wohnung fahren muss. Ein billiger Trick, bis wir schließlich merken, dass ihm tatsächlich übel ist (und das ist auch das erste Anzeichen dafür, dass er ernsthaft krank ist – ein gutes Drittel des Films ist da soweit ich mich erinnere schon vorbei). Aus dem Schmierbatzen wird so plötzlich ein bemitleidenswerter Mensch, der sich ehrlich in Karin verliebt hat und sich nach und nach nicht nur als verantwortungsloser Nichtsnutz, sondern auch als Opfer seiner Obsessionen und seines sozialen Standes erweist. Karin ist es schließlich, die Bobby allen Erwartungen widersprechend Avancen macht, aber er muss gewaltsam verzichten. Der aufrechte, ehrliche Harald, der zu Beginn als schwer arbeitender Assistenzarzt präsentiert wird, der im Gegensatz zu Bobby und seinen Party-Kumpanen mangels gut betuchten Elternhauses ein asketisches Leben führen muss, bekommt gleich zu Beginn Hörner von seiner Verlobten aufgesetzt. Ein klassischer Saubermann – der sich nach und nach als Heuchler erweist, mit einem ungeheuer aggressiven und sehr abstoßenden Besitzanspruch gegenüber Frauen: sei es seine Verlobte und dann Ex-Verlobte Kitty, sei es Karin, die er rasch für eine „Alternativ-Verlobung“ auserkoren hat. Die Avancen der jungen, sexuell vollkommen ausgehungerten Ehefrau seines Chefs ignoriert er aber... IMMER WENN ES NACHT WIRD ist ein schwieriger Film voller schwieriger Menschen.
Es ist auch ein Film über eine junge Frau, die der Enge ihres unterprivilegierten Elternhauses entflieht, sich durch Gelegenheitsprostitution ein kleines Zubrot gewinnen möchte, von einem desinteressierten Freier angesteckt wird und schließlich in ein Irrenhaus gesteckt wird, wo Frauen mit Geschlechtskrankheiten in der glänzend wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik entsorgt werden, um schließlich nach einem Selbstmordversuch elendig zu sterben. Elke ist nicht die Hauptfigur von IMMER WENN ES NACHT WIRD (der Film hat sowieso keine), aber sie ist vielleicht der Anker (?) des Geschehens. 15 Jahre nach Ende des Dritten Reichs jung sein, eine Frau sein, arm sein und dadurch zu einem nicht-respektablen „Lebenswandel“ gezwungen zu werden, das war nicht zum Feiern... Dabei wird in IMMER WENN ES NACHT WIRD viel gefeiert. Peer Tellmann, Sohn eines reichen Wurstfabrikanten (der nach dem Krieg sein Wurstimperium als Schmuggler und Schieber aufgebaut hat, wie man in einem kurzen Nebensatz erfährt) richtet regelmäßig große Parties, die zu später Stunde gerne zu Orgien werden, aus, zu denen möglichst viele hübsche Mädchen eingeladen werden, denen er dann beim Feiern stets auf etwas doppeldeutige Weise „Tellmann-Würstchen“ anbietet – die Buffetverköstigung besteht aus Bergen, gar riesigen Eimern von Würsten aus Papas Wurstfabrik.
IMMER WENN ES NACHT WIRD hat meine Wahrnehmung dessen, was ein Matching Cut sein und tun kann, für immer und ewig geändert. Während Elke nach einem Selbstmordversuch operiert wird, gibt es wieder eine Feier, für die Tellmann die Verköstigung arrangiert hat. Beide Stränge werden verschlungen. Die Operation wird immer dramatischer, die Feier immer ausgelassener und wilder. Schließlich sehen wir einen Eimer am Boden des Operationssaals, in den der Arzt blutige Tupfer hineinwirft. Schnitt zur Party, auf einen Eimer, aus dem die Würste herausquellen. Einer der härtesten Magenschläge, die es beim Kongress zu bekommen gab. Die absolut göttliche Geschmacklosigkeit dieses Schnitts steht außer Frage, seine Wirkung schmettert direkt in Leib und Seele. Das Abfeiern der gutbetuchten Wirtschaftswunder-Gewinner und das elendige Sterben der sozio-ökonomischen Außenseiter, die nicht dazu gehören – zusammengefasst in einer simplen Zusammenführung zweier unvergesslicher Bilder...

Hannelore Elsner war übrigens ein oder zwei Tage später im Nürnberger Filmhaus zu Gast, anlässlich der Edgar-Reitz-Retrospektive, die parallel zum Kongress lief. Letzteres war immer wieder ein Quell von kleinen Witzen unter den Kongressniki: ob vielleicht der eine oder andere Reitz-Zuschauer sich in den falschen Saal verirren würde, zu einem japanischen Erotikfilm, einem New Yorker Schwulenporno, Ulli Lommels delirierenden Altherren-Alpträumen? Zugleich sah das eine Plakat der Retro, nämlich zu CARDILLAC (siehe hier) aus, als würde der Film zum Hofbauer-Kongress gehören. Hinzu kamen, wenn wir vor einem Saal aufgrund der Programmverzögerungen der Retrospektive warteten, kleine Wortwitze hinzu („Da überreitzt jemand die Zeit“).
Ein Co-Kongress-Besucher kam mit Hannelore Elsner dann auch ins Gespräch, aber darüber kann er selbst natürlich besser berichten.


ca. 23.30 Uhr

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU („Angel Guts: Red Classroom“)
Regie: Sone Chusei
Japan 1979
Der Pornograf Tetsuro verliebt sich bei der Sichtung eines Vergewaltigungspornos in Nami, die „Hauptdarstellerin“ des Films (der tatsächlich nicht gespielt ist). Als er sie schließlich trifft, beginnt eine schwierige Liebe.
Der japanische Erotikfilm ist nichts, womit ich mich gut auskenne. Einige Blogger-Kollegen und Filmautoren schwärmen immer wieder von einem Genre, das gerade auch innerhalb der großen Filmstudios Platz bereit hielt für bilderstürmerischen Wahnsinn und eine völlig entfesselte Experimentierlust. Bei bislang zwei „klassischen“ Vertretern des Genres spürte ich nichts davon – bei TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU umso mehr.
Bereits der Anfang legt im Grunde alles vor, was den Film im weiteren Verlauf auszeichnen wird. Eine Frau wird in einem hässlichen, kalten Gebäude von Männern verfolgt, schließlich vergewaltigt. Das ganze ist in einem frostigen Blau gehalten, untermalt von einer kakophonischen elektronischen Musik. Dann plötzlich wird klar, dass das ein Film im Film ist: Männer sitzen in einem improvisierten, ungemütlichen Kinosaal und gucken sich, je nach Gesicht aufgegeilt oder völlig hypnotisiert, einen Vergewaltigungsporno an... TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU ist voll von Männern, die auf fotografische oder filmische Aufnahmen von Frauen schauen; er spielt in einer kalten, abstoßenden, abwechselnd zugemüllten oder gähnend leeren Stadt; der Sex ist gewalttätig, chaotisch, roh, grotesk, oft dezidiert unsexy; die Gefühlsachterbahn wird von einer jeweilig passenden Farbdramaturgie und aufrüttelnden Bild- und Ton-Montage begleitet.
Einige unvergessliche Bilder... Die beiden liebenden Protagonisten unterhalten sich in einer langen, langen, unendlich langen statischen Sequenz über ihre Beziehung und das Leben. Sie sind als winzige Figürchen in einer Stadtlandschaft zu sehen, deren Lärm aus Straßenverkehr ihre Worte fast verschluckt.
Oder nachdem Tetsuro sein Date mit ihr verpasst, weil er verhaftet wurde und Nami nach Monaten Suche endlich in einer schäbigen Bar wiederfindet. Betrunken torkelt er hinein, versucht mit ihr zu reden, aber das hat keinen Sinn. Ton und Bild setzen immer wieder in kurzen, alles verzerrenden Reissschwenks aus. Communication Breakdown. (hier zu sehen).
Und natürlich diese furchterregende, qualvoll lange Sexszene. Nami, schwer enttäuscht, dass Tetsuro sie versetzt hat (nicht wissend, dass er verhaftet wurde), bandelt in einer Bar mit dem Erstbesten an. Es handelt sich offenbar um einen biederen, unangenehm betrunkenen Geschäftsmann und beide nehmen sich gleich ein Hotelzimmer. Einen Teil der ersten Sex-Runde zeigt der Film in horizontal rotierenden Spiegeln verzerrt. Das sieht auf der großen Leinwand, zumal TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU auch ein grandioser Cinemascope-Film ist, absolut verblüffend aus. Ein wenig später sehen wir einen vollkommen verzerrten POV von ihr auf ihren One-Night-Stand: es handelte sich wohl um Namis von Wahnsinn verzerrte Perspektive. Nach Vollzug ist der biedere Geschäftsmann erst mal müde, doch sie lässt nicht von ihm ab, zerrt ihn, der nach jeder weiteren Runde zunehmend erbarmungswürdiger versucht, wegzukriechen, immer wieder zurück. Groteske Bilder, bei denen das Lachen immer wieder im Hals stecken bleibt.
Und schlussendlich diese absolut niederschmetternde Erkenntnis bei Tetsuro und beim Zuschauer, als klar wird, dass Nami wohl den Verstand verloren hat: Tetsuro verspricht ihr ein neues Treffen, aber wozu braucht sie ein neues Treffen – sie wartet nach eigener Aussage immer noch auf ihn... Im Kern ist TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU ein rührendes Melodrama, eine herzzerreissende Romanze über zwei kaputte Menschen. Ein ganz großer, tragischer Liebesfilm.
Einen ziemlich guten Amateur-Trailer zu dem Film gibt es hier zu sehen.

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU war der beste Film des Tages und eigentlich ein idealer Abschluss für einen ersten Festivaltag. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit und einer sogar noch weiter fortgeschrittenen Müdigkeit ließ ich das darauf folgende „Überraschungsprogramm“ sausen. Das sollte ich sehr schwer bereuen, denn erstens konnte ich in meiner Unterkunft weit über zwei Stunden lang nicht einschlafen, zweitens gab es als Überraschung wohl eine digitalisierte VHS-Fassung des italienisch-türkischen Mafiafilm QUEI PARACUL... PI DI JOLANDO E MARGHERITO zu sehen, über den einige Kongressniki sich am nächsten Tag recht begeistert äußerten.


Freitag, 5. Januar, ca. 15.00 Uhr

Der zweite Tag beginnt mit dem traditionellen „StÜF“, dem „stählernen Überraschungsfilm“. Das italienische Genre-Kino, so Christoph in seiner wunderbaren Einführung, habe nur wenige Subgenres hervorgebracht, die derartig extrem waren wie...



... die Militärkomödie!

Mein Sitznachbar, im Gegensatz zu mir wahrscheinlich kein Hofbauer-Kongress-Neuling und sicherlich auch ein besserer Kenner dieses Subgenres, bricht stöhnend fast komplett zusammen, als er das hört, bleibt aber dennoch tapfer sitzen.
In der zweiten Reihe weiter vorne wird ein kleiner Glas-Flachmann zwecks Einölung des Humorzentrums im Gehirn rumgereicht, ein Zuschauer mit militärischem Amt lockert seine Uniform. Feuer frei für...


IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE („Der Divisionstrottel“)
Regie: Mariano Laurenti
Italien 1975
Feldwebel Pfeifenwichs (auf Italienisch „Rompiglioni“ – eine Abwandlung von „rompicoglioni, also in etwa: „Geht-auf-die-Eier“) erscheint eines schönen Morgens in einer NATO-Kaserne. Mit seinem fröhlich-grimassierenden Gemüt, seinem begnadeten Spürsinn zur Enttarnung von Spionen und seinem unverwechselbaren Talent, in jeder Situation stets die perfekten Worte zu finden, wird er bald zum großen „Liebling“ des Stützpunktes.
Nun ja... auf eine gewisse Weise muss man sich auf diesen Film einlassen. Wenn man die ersten zehn Minuten mit ihrem ultragroben, dämlichen Klamauk erst einmal so halbwegs überstanden hat – tja, dann kommt erst der richtige Härtetest in Form des Protagonisten Pfeifenwichs und der extremen Gesichtseskalationen seines Darstellers Franco Franchi (aus dem berühmten Komiker-Duo Franco & Ciccio – hier ohne Ciccio). Ab hier wird der Klamauk noch härter, erklimmt Gipfelstürme des Irrsinns. Da wird aus Versehen „Suppe“ aus dem Topf zum Auskochen der Bodenwischlappen probiert. Soldaten werden außerhalb des Stützpunktes bei Dates oder Schäferstündchen mit anderen (weiblichen) Soldaten verfolgt – und entpuppen sich dann als Vorgesetzte. Natürlich fliegen schlussendlich auch Torten in Gesichter und in einem chinesischen Restaurant bricht eine große Kungfu-Keilerei aus. Und zwischendrin Pfeifenwichs / Rompiglioni, der so schwer grimassierend wie auch vollkommen absolut überzeugt von sich selbst eine Katastrophe nach der anderen baut.
Am Ende haben die anderen Soldaten nicht nur die Schnauze, sondern auch noch wortwörtlich die Hose voll von Pfeifenwichs. Aus Versehen aktiviert der tollpatschige Feldwebel eine geheime Superwaffe, die der verrückte Wissenschaftler des Stützpunkts gebaut hat: eine Kanone, die hochgradig abführend wirkende Gasladungen abfeuert. Ob Mann oder Frau, General oder simpler Soldat, ob Italiener, Deutscher, Brite, Amerikaner oder Chinese: alle rennen wie um ihr Leben, um möglichst rasch irgendwo scheißen zu gehen... Das bringt das Faß zum Überlaufen, und Pfeifenwichs wird nach seiner Degradierung dann auch vom Stützpunkt verjagt.
IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE verbirgt durchaus, wie ich finde, eine dunkle Seite. Pfeifenwichs ist auf eine unangenehme Art ein Alltagsfaschist. Er ist ein Kriecher, ein Heuchler, ein bornierter Spießer, der keine Gelegenheit verstreichen lässt, um Personen, die in seinen Augen minderwertig sind (also hauptsächlich Frauen und rangniedrigere Soldaten), zu demütigen, belästigen, schikanieren und denunzieren. Bei einem seiner Angriffe gegen den Koch lässt er dessen Radio von zwei Militärpolizisten zerstören: sie beugen sich über den großen Gartopf, in dem das Gerät versteckt ist und schlagen es mit ihren Gewehrkolben kaputt. Der Aufbau der ganzen Szene ist witzig und grotesk, doch der Zerstörungsakt wirkt trotzdem bauchmäßig sehr unangenehm, fast ein wenig verstörend... Wäre IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE keine Komödie, läge eine vage Assoziation zum ersten Teil von FULL METAL JACKET in der Luft. Die zutiefst unsympathische Hauptfigur gibt Laurentis Film auch etwas unterschwellig Hartes.
Pfeifenwichs ist zudem auf völlig verblendete Art von seiner eigenen Überlegenheit überzeugt. Er lebt in einer kleinen Blase „alternativer Fakten“, die er selbst erschafft. Aber auf eine gewisse Weise ist IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE auch eine wunderschöne Utopie, weil Pfeifenwichs aus praktisch jeglicher Situation stets als totaler Depp hervorgeht.
Stählern? Ein bisschen vielleicht im letzten Drittel, aber möglicherweise lag das an der Müdigkeit. Doch irgendwie mochte ich IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE auch. Die Frage, ob beim nächsten Terza Visione vielleicht auch eine Militärkomödie laufen wird, stelle ich mir fast ein wenig hoffnungsvoll – ich weiß bloß nicht, ob die Betonung auf „fast“ oder „hoffnungsvoll“ liegt...


ca. 17.30 Uhr

SANTA („Santa – Sklavin des Lasters“)
Regie: Norman Foster, Alfredo Gómez de la Vega
Mexiko 1943
Die junge Santa verliebt sich in einen Soldaten, der sie schwanger stehen lässt. Der darauf folgende Abstieg führt sie geradewegs in ein Bordell, wo der blinde Hauspianist sich in sie verliebt. Santa härtet sich ab, nimmt sich reiche Freier, bis sie schließlich mit einem beliebten Stierkämpfer anbandelt. Ihr sozialer Aufstieg ist perfekt – aber natürlich doch fragil...
Wenn man mich fragt: SANTA war weniger überraschend, dafür aber stählerner als IL SERGENTA ROMPIGLIONI DIVENTE... CAPORALE. Es hat nicht geholfen, dass die deutsche Synchro kaum weniger selbst-vertrashend als beim vorherigen Film war, was bei einem schmachtenden Melodrama noch weniger passt als bei einer Klamaukkomödie.
Mein Lieblingsmoment ist das Kennenlernen zwischen Santa und dem Stierkämpfer. Das Set ist ziemlich interessant aufgebaut, mit Logen im ersten Stock für die Edlen und einer Art Bankett im Erdgeschoss, für die Anhänger des Matadors. Santa diniert gerade mit ihrem reichen Freier, während man im unteren Hintergrund die Feierlichkeiten um den Stierkämpfer sieht. Dann steigt sie herab, so dass man ab jetzt die edlen Logen im oberen Hintergrund sieht. Nachdem sie sich zu dem feiernden Bankett hinzugesetzt hat, folgt dieser fast schon obszöne Austausch von Blicken zwischen ihr und dem Stierkämpfer. Eine Leidenschaftsbande, geknüpft durch zwei Paar gierige Augen.
SANTA ist gespickt mit brutalen Ellipsen, die erst einmal verblüffend sind, fast Ozu‘esk. Allerdings hängt das sicherlich damit zusammen, dass die deutsche Kinofassung, die gezeigt wurde, um über 15 Minuten gekürzt war. So wirkte SANTA ziemlich „ruckelig“, auf nicht immer angenehme Weise. Auch die ausgedehnten, schmalzigen Gebetsszenen, die immer wieder saudämlichen Dialoge (aber auch hier wieder: Synchonfassung), die mäßig begeisternde Hauptdarstellerin machten es mir schwer, in den Film reinzukommen.  SANTA ist definitiv der Kongress-Film, der mir am wenigsten gegeben hat. Als schlecht könnte ich ihn guten Gewissens nicht bezeichnen. Vielleicht muss ich ihm mal eine zweite Chance geben – in einer vollständigeren Fassung.

Es gibt wohl nichts, was mich auf den kommenden Film irgendwie hätte vorbereiten können...

ca. 21.00 Uhr

DER ZWEITE FRÜHLING
Regie: Ulli Lommel
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1975
Der Boulevard-Journalist Fox (Curd Jürgens) heiratet überstürzt die wesentlich jüngere Krankenschwester Gertrud (Irmgard Schönberg). Statt eines ersehnten „zweiten Frühlings“ wird die Ehe für beide Partner zunehmend zur Hölle.
Wahnsinn... Wahnsinn! WAHNSINN!!!
DER ZWEITE FRÜHLING ist einer der verrücktesten, verblüffendsten, poetischsten, schwierigsten und schmierigsten und schönsten Filme, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Die unglaubliche visuelle Kreativität, die schambefreite Lust an der Provokation, das „Beflecken“ des Melodramas mit bizarren, grotesken Störfaktoren, die ehrliche Offenheit für das Peinliche, das Unschöne, das Perfide, das Verdrängte (wobei vieles davon im Grunde alltäglich ist): das alles lässt DER ZWEITE FRÜHLING wie von einem anderen Planeten erscheinen, auch wenn es sich eigentlich „nur“ um ein Melodrama über eine entfremdete Ehe handelt.
Schon in den ersten Bildern ist ein leichtes, unbehagliches Vibrieren, das einen ungewöhnlichen Film ankündigt: eine geheime Hochzeit auf einem Hügel vor Rom, im Hintergrund ein Panorama der Ewigen Stadt und der Petersdom. Und schon hier ein Störfaktor: Bekannte des Bräutigams stoßen, sichtbar zu dessen großen Unmut, dazu. Nach der sexlosen und bettgetrennten Hochzeitsnacht besucht dann eine Ex-Geliebte Fox‘, Maria, das Ehepaar und steigt wenig später zu Getrud in die Badewanne, streichelt sich und dann auch die Braut nonchalant, spricht über Selbstbefriedigung. Als hätte der Film einen kleinen Sprung und wir wären gerade im falschen Film gelandet. Eine Täuschung: DER ZWEITE FRÜHLING ist der richtige Film.
Wer daran zweifelt, wird spätestens dann eines Besseren belehrt, wenn wir völlig ohne Vorwarnung die Sauna besuchen. Das Bild: Curd Jürgens liegt entspannt auf einer Sitzbank neben einem Freund, mit dem er sich unterhält. Er hat die Beine locker übereinander geschlagen und sein Handtuch ist etwas zu kurz: wahrscheinlich haben nur wenige internationale Schauspiel-Stars ein so derartig freies Sichtfeld auf ihren Damm präsentiert. Ein bisschen weiter saunieren eine junge Dame und zwei junge Herren. Sie wird bald ihr Handtuch lüften, einem der beiden einen blasen und dann mit diesem oder dem anderen in aller Öffentlichkeit Sex haben. Fox‘ Freund erregt dieser Anblick in jeglicher Hinsicht. Er ist gleichermaßen geil und empört, äußert seinen Wunsch, der jungen Dame mal hinten einen reinzustecken. Leicht genervt hat sich Fox wieder in eine Sitzposition gebracht, antwortet sinngemäß „Dann geh doch hin und sag ihr das!“. Und dann kratzt er sich die Eier – mehr als ein Jucken scheint das eher eine totale Gleichgültigkeit auszudrücken. Da sein Freund den Rat nicht beherzigen will, geht Fox eben selbst als Bote zu der jungen Frau und sagt ihr in paraphrasierten Worten den Wunsch seines Freundes. „Warum nicht, aber erst will ich seinen Schwanz sehen!“. Gleichgültig kehrt Fox zu seinem Platz zurück – währenddessen ist sein kurzes Handtuch wieder etwas hochgerutscht und nonchalant kratzt er sich am entblössten Hintern. Dass die Dame bei einer zufrieden stellenden Gliedbetrachtung eventuell bereit wäre, seinen Wunsch zu erfüllen, glaubt der Freund gar nicht. „Vielleicht ein paar Scheine...“ – aber nein, das fände er sehr verwerflich, dafür zu bezahlen. Fox blickt die ganze Zeit so, als müsse er sich weiter irgendwo kratzen. Gegen geballte Heuchelei kann ein Kratzen an manchen Stellen mehr Erleichterung verschaffen als es jegliche moralische Predigt könnte...
Fox sitzt dabei aber eigentlich auch selbst im Glashaus. So verzichtsvoll die Hochzeitsnacht, so sehr tobt sich der sich selbst für geläutert haltende Don Juan mit seinem Überraschungsbesuch Maria aus. Das geschieht in Abwesenheit seiner Gattin, doch beide treiben es im Wohnzimmer so wild, dass sie irgendwann vor Müdigkeit wegnicken. Als Getrud nach Hause kommt, findet sie beide schlafend in, na ja, eindeutiger Position wieder: beide splitternackt auf einem Sofa, er über die Armlehne geknickt, mit seinem Kopf zwischen Marias Beinen (dieses unvergessliche Tableau gibt es – allerdings nicht in glorreichem Cinemascope – hier zu sehen). Schon nur für die Mischung aus Mut, Entschlossenheit und einer totalen Gleichgültigkeit gegenüber seinem „guten Ruf“ als Weltstar, die Curd Jürgens in DER ZWEITE FRÜHLING an den Tag legt, sollte man ehrfürchtig auf die Knie fallen. Ganz nach dem Motto: was Marlon Brando kann, kann ich besser und härter.
Das sind natürlich die ganz großen Schmier-Highlights des Films (na gut: ein Partnertausch, der ziemlich in die Hose geht, kommt gegen Ende noch dazu), aber DER ZWEITE FRÜHLING ist noch viel, viel großartiger: randvoll mit kleinen Irritationen und tollen Einfällen. Das extrem auffällige Kreuz, das Curd Jürgens an einer etwas zu langen Kette trägt (welches Kreuz muss Fox denn tragen?). Das Foyer oder Wohnzimmer mit dem riesigen Gemälde „großer“ Männer in Kampfrüstung, vor das sich Fox wahlweise alleine oder mit seiner riesigen Tigerdogge platziert (ich habe leider auf die Schnelle nicht erkennt, ob da reelle Persönlichkeiten portraitiert sind). Oder das Ende eines Gesprächs zwischen den beiden entfremdeten Eheleuten, gefilmt durch ein Aquarium: Jürgens geht eine Treppe hinunter, die parallel zum Aquarium steht und so sieht es aus, als würde er nach und nach in den Boden des Aquariums versinken – und dann schwimmt noch ein Fisch durch das Bild und Schönbergs Busen. Eine Jagd auf dem Land: Gertrud, die beim Anblick eines kleinen Schnitts im Finger vorher noch ohnmächtig wurde, knallt mit einem gezielten Schuss gnadenlos einen Fasan ab (LA RÈGLE DU JEU lässt grüßen). Fox, der in seinem schnittigen Cabrio nach Hause kommt, das Zellophan von einem Rosenstrauss abwickelt, kurz zögert und dann auf die Rückbank legt (im Gegensatz zum Zuschauer nicht ahnend, dass seine Frau gerade seinen lieben Hund kaltblütig ermordet hat). Fox, mittlerweile aus seiner Villa ausgezogen und in einem Herbergszimmer, einer „Künstlerbude“ wohnend, im Gespräch mit seiner Noch-Ehefrau – und plötzlich wird das Fenster durch den Wind aufgestoßen, und der Wind bläst einen Kerzenleuchter aus: das Feuer dieser Ehe ist definitiv ausgegangen...
DER ZWEITE FRÜHLING thematisiert unterschwellig wie auch manch anderer Kongressfilm, wie Beziehungen zwischen Mann und Frau an unterschiedlichen Erwartungen scheitern, ja zum Scheitern verurteilt sind. Fox will eigentlich überhaupt keinen „zweiten Frühling“: was er möchte, ist im Grunde ein „letzter Herbst“. In Rente gehen, das, was er früher mal gemacht hat, nämlich literarisch zu schreiben, als Hobby betreiben: seine Frau soll dazu nur eine Zeugin sein. Immer wieder verspricht er ihr, dass sie bald Rom verlassen und nach Amerika gehen werden, wo er dann seine ganze Zeit ihr widmen kann. Das erscheint ihm als eine derartig großartige Idee, dass ihm gar nicht auffällt, wie Gertruds Gesicht sich bei diesem vergifteten „Versprechen“ jedes Mal verdunkelt. Sie erwartet etwas anderes vom Leben, als nur die stumme und selbstgenügsame Zeugin eines Rentners zu sein. Mal wirklich miteinander sprechen, diese Gelegenheit lassen bei einer unvergesslichen Bootstour auf sein Bestreben hin verstreichen. Am Ende des Films, wenn Getrud auf einer langen Treppe steht, im Hintergrund eine von Eddie Constantine angeführte Band, tanzende Bekannte auf den Stufen, der Blick frei auf ein Stadtpanorama – da gehört der „zweite Frühling“ nach einem missglückten „Herbst“ vielleicht endlich ihr...

Die Kopie, die ein Eskalierender Träumer durch Zufall bei einem Filmsammler gefunden hat, war wunderschön, in strahlenden Technicolor-Farben, original gepresst im Technicolor-Werk Rom, mit knackig scharfem Bild, in glorreichem Cinemascope, aber das wird leider nicht dauern: sie ist bereits in einem frühen Stadium des Essig-Syndroms. Da von dem Film, der wie so einige Filme beim Kongress ein waschechter „film maudit“ ist, wohl leider nicht an jeder Ecke eine Kopie lauert, kann ich nur sagen: wenn es eine Crowdfunding-Kampagne à la „Rettet Curd Jürgens‘ Arsch“ gäbe – ich würde sofort spenden. Ich war nicht der einzige Kongressnik, der diese Idee hatte...

Nach dem Ende des Films, die Credits sind, soweit ich mich richtig erinnere, eben weiß auf rotem Hintergrund zu Stelvio Ciprianis grandiosem Score hochgerollt, bin ich in einem völlig jenseitigen Zustand. Irgendwo zwischen vollkommen euphorie-besoffen, leicht high und so sehr wie noch nie bereit, die Welt zu erobern. Ich schwebe geradezu. Über den Highness-Grad der anderen Zuschauer müsste ich spekulieren. Ein Eskalierender Träumer, langjähriger Veteran des Hofbauer-Kongresses, nennt DER ZWEITE FRÜHLING bei einem Gespräch vor dem Kinosaal den zweitbesten aller bisherigen Kongress-Filme und spricht glaube ich auch von der Schwierigkeit, jetzt wieder „runterzukommen“. Nun denn... Zum Runterkommen gab es:


ca. 23.30 Uhr

KARUSSELL
Regie: Alwin Elling
Deutschland 1937
Erika liebt Fritz und Fritz liebt Erika (Marika Rökk). Einer Ehe steht also nichts im Weg? Doch: Theodor Huhn (Paul Henckels), seines Zeichens gleichermaßen Antiquar sowie Fritz‘ Onkel, Vorgesetzter und Erziehungsberechtigter, hält nichts von einer potentiellen ehelichen Verbindung seines Neffen. Während Fritz sich ergeben würde, heckt Erika einen Plan aus: mit anderen Männern flirten, bis Fritz aus Eifersucht erst recht heiraten will. Notfalls bandelt Erika sogar mit „Hühnchen“ höchstpersönlich an.
Nach DER ZWEITE FRÜHLING hatte es KARUSSELL zugegeben sehr, sehr schwer. Eine Screwball-Komödie, der es meiner Meinung nach in der Gesamtansicht etwas an Schwung und Spritzigkeit fehlte, auch wenn einzelne Momente durchaus schön waren. Mein Favorit war dann auch das Treiben einer eigentlich ziemlich unwichtigen Figur. Eines Abends hat Erika, wie man in Neudeutsch sagen würde, ein Date mit einem Kunden von der Tankstelle, bei der sie arbeitet. Ein eifersüchtiger Fritz und der Koch, der so gerne mit viel Liebe Pudding für Erika kocht, seine Arbeitsstelle direkt neben Erika hat und wohl offensichtlich ein bisschen in sie verliebt ist, folgen den Spuren Erikas vom Rummel bis zu der Wohnung ihres Dates. Der Koch sammelt zwischendurch eine Puppe auf – ich glaube es ist ein Gewinn bei einer Schießbude, aber ich bin mir da nicht mehr sicher. Jedenfalls schleppt er bei der groß angelegten Suche nach Erika die Puppe mit sich. Dabei ist er leicht betrunken, aber das macht ja auch nichts. Er und Fritz (und die Puppe) kommen bei dem schmierigen reichen Typen an, der Erika völlig selbstlos ein hübsches Abendkleid anbietet und sie dann heimlich fotografiert, während sie es anzieht. Dort läuft gerade eine große Feier, und später kommt es zu einer schicksalhaften Mantelverwechslung in der Garderobe – aber das interessiert den Koch überhaupt nicht, weil seine Gedanken und seine Hände bei der Puppe verweilen. Auf einem Stuhl in der Garderobe erblickt er einen Teddy-Bären, setzt dann prompt die Puppe dazu und versucht die beiden zu verkuppeln. Das läuft alles nebenher, während die „eigentliche“ Handlung weiterspielt (Mantelverwechslung, wo ist Erika etc.?). Irgendwann wird Fritz klar, dass Erika verschwunden ist und so müssen er und der Koch wieder aufbrechen. Der Koch zögert nicht, sondern klaut den Teddy-Bären einfach, oder poetischer ausgedrückt: er nimmt den neuen Geliebten seiner Puppe mit...
Sehr anregend anzusehen war auch die „Elektrobehandlung“, die Onkel „Hühnchen“ aus Versehen bekommt. Der Gag wird so aufgebaut, dass man ihn schon eine brutale Elektroschock-Tortur erhalten sieht. Statt des äußerst „nervösen“ Herrn wird das aufgeregte „Hühnchen“ in das Behandlungszimmer geführt und bevor er irgendetwas tun kann, bekommt er bereits eine anregende Elektro-Massage: kleine elektrische Strömungen breiten sich über seinen Körper aus und das ganze ist offensichtlich sehr entspannend und angenehm. So etwas sollte man bei Filmfestivals auch anbieten: das wäre ideal für Zuschauer, deren Muskeln vom langen Sitzen in eher beengten Sitzen schon ganz verkrampft sind...

Sehr müde. Aber nach meiner Erfahrung der letzten Nacht bleibe ich noch zum Überraschungsfilm. Falls es dazu käme: Filme schlafend zu „sehen“ gehört zum Leben eines echten Filmsüchtigen mit dazu und das wäre allemal besser als mich in meiner Unterkunft schlaflos zu wälzen. Zumal wurde dann auch über einen Film gemunkelt, in dem alle Darsteller Bodybuilder seien...


ca. 02.00 Uhr

KILLING AMERICAN STYLE
Regie: Amir Shervan
USA / Kanada 1988 (digitalisierte VHS-Kopie)
Ein paar stark durchtrainierte Herren begehen einen Raubüberfall, werden geschnappt, brechen wieder aus und verschanzen sich im Haus einer Familie mit einem stark durchtrainierten Oberhaupt.
Der von mir sehr geschätzte Oliver Nöding schrieb über zwei bestimmte Filme einmal, dass sie nicht „gemacht“ wirken, sondern vielmehr vielleicht schon immer da waren, nur von ihren Machern „geborgen“ wurden – über einen anderen schrieb er zu anderer Gelegenheit, er sei vielleicht in einer Paralleldimension gedreht worden und man könne sich nicht vorstellen, dass echte Menschen mit echten Leben oder gar einem Feierabend nach Dreh daran teilgenommen haben. Ausgehend von diesen Gedanken wäre KILLING AMERICAN STYLE, der so aussieht, als wäre er aus einer Paralleldimension geborgen worden, also irgendwo anzusiedeln zwischen RIO BRAVO, DIRTY HARRY und MUTANT HUNT. Mit dem ersten teilt er Grundzüge des Belagerungsszenarios, mit dem zweiten verbindet ihn die extralegale Lösung von Konflikten mithilfe großer Pistolen, mit dem dritten die Einblicke in visuellen Abgründe der 1980er Jahre.
Der gemeinsame Nenner dieser drei Filme dürfte zusätzlich auch sein, dass sie Vorstellungen davon, was ein „guter“ Film sei, völlig sprengen: RIO BRAVO und DIRTY HARRY sind in ihrer Großartigkeit völlig jenseits eines banalen Begriffs wie „gut“, MUTANT HUNT setzt denn Sinn jeglicher Kategorisierung mit Adjektiven ad absurdum. Auch KILLING AMERICAN STYLE ist kein „guter“ Film. Er, oder „es“ wirkt tatsächlich ein wenig wie aus einem Paralleluniversum: es gibt einen relativ geradlinigen Raubüberfall, und dann auch eine Fluchtszene und dann ein im Grunde archetypisches Belagerungsszenario. Alles vertraut und schon x-mal gesehen, und doch wirkt es irgendwie auch fremd.
Fremd durch die aufgepumpten Körper der Hauptdarsteller. Klar, Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger waren auch aufgepumpt – aber hier sind es gleich fünf Stück, ein Held und vier Antagonisten (einer davon allerdings verletzt und meist bettlägerig). Fremd durch die aufreizende Langsamkeit: lange Sexszenen, die extrem schmierig und durch die eher statische Inszenierung aber auch sehr trivial, banal wirken; oder auch diese merkwürdig langen Dialoge zwischen den Polizisten, die sich gegenseitig am Telefon grüßen und nachfragen, wie es eigentlich mit der Pferdezucht nach Feierabend so läuft (die Antwort: Pferdezucht ist out, die große Kohle gäbe es bei Hundezucht); und diese bis zum bitteren Ende durchexerzierte Befragung im Bordell, wo der seriöse Polizist so viele Fragen stellen kann, wie er nur möchte: er bekommt von den Damen nur weitere Anzüglichkeiten und erregende Doppeldeutigkeiten ins Ohr gehaucht. Fremd durch diese auffällige Ansammlung unfassbarer Modesünden: etwa diese nippelfreien Bodybuilder-Tanktops mit Spaghettiträgern, oder diese augenkrebsinduzierenden, lilafarbenen Ensembles aus Jogginghose mit Jacke und Goldkettchen – niemals zu vergessen sind auch diese unglaublichen Vokuhilas. Auch das ist KILLING AMERICAN STYLE: eine hymnische Ode an die ästhetisch zersetzende Kraft des Vokuhila in seinen grässlichsten und abgründigsten Formen. Der japanische Arzt, gespielt von einem Latino, kombiniert sein Exemplar mit einem pornösen Schnurrbart, doch den Vogel schießt ein junger Cop ab: wer so eine Frisur trägt, muss eine Dienstmarke und eine Knarre haben, sonst überlebt er nicht lange.
KILLING AMERICAN STYLE ist in seiner ganzen Laufzeit vollkommen frei von jeglicher Ironie: ein grimmiger Film, der es todernst meint. Er fährt seine Geschütze auf, als würde sich hier ein großes existenzielles Drama der Weltklasse abspielen, ein geniales Kammerspiel Shakespeare‘scher Dimension, und nicht ein No-Budget-Action-Shlock, in dem sich Bodybuilder mit merkwürdigen Frisuren und augenkrebserregenden Klamotten in gerade mal zwei bis drei Räumen und in spießigen Schrebergärtchen-Hinterhöfen gegenseitig die Rübe einschlagen. Diese Ironiefreiheit, dieser bitterer Ernst kommt ihm zugute. KILLING AMERICAN STYLE spielt auf eine erfrischende Art mit ehrlichen Karten.
Von „seriösen“ Zuschauern werden immer wieder schlechte Darsteller als Merkmal von solch „unseriösen“ Filmen erwähnt. Mit klassischer Schauspielerei hat das sicherlich überhaupt nichts zu tun, was Robert Z‘Dar, Harold Diamond und John Lynch hier abziehen, aber sie stehen wortwörtlich ihren Mann: Blöcke, wie aus Granit gehauen. Robert Z‘Dar ist natürlich eine Wucht. Z‘Dar litt an Cherubismus: eine Krankheit, die durch Auswucherungen des Kiefers das Gesicht verformt. Sein einzigartiges Gesicht ist auch der eigentliche Star des Films. Wer Z‘Dars natürliches Charisma verkennt, muss einfach bösartig sein – fast so bösartig wie die Figur Lynch, gespielt von John Lynch. Seine Muskeln sprechen für sich, aber sein Schnurrbart, sein fieses Lächeln und sein Tick, sich vor einer Vergewaltigung umständlich oberkörperfrei zu machen, treiben den Schmiergehalt von KILLING AMERICAN STYLE in ungeahnte Höhen: ein Mann, den man zu hassen liebt. Harold Diamond, der den belagerten Hausherren spielt, ist einem etwas breiteren Kreis von Filmliebhabern als Stockkampf-Gegner Rambos in RAMBO III bekannt. In KILLING AMERICAN STYLE ist seine Frisur genau so schmierig, seine Kleidung noch abscheulicher, aber er spielt eigentlich den „Guten“. Das wird zu einer echten Herausforderung, denn irgendwie fetzen Z‘Dar und Lynch mehr. Diamond – John Morgan (so der Filmname): der Mann, den man zu lieben hasst?
KILLING AMERICAN STYLE wurde als „Videoknüppel“ präsentiert: eine deutsche VHS, die für die Kinoprojektion so digitalisiert wurde, dass alle VHS-Artefakte „lebensecht“ zu sehen waren. Dem grindigen Charme des Films kam das zugute, aber die deutsche Synchro war aus rein technischer Sicht unter aller Kanone: wenn jemand sprach, wurde jeglicher Ambienteton sofort ausgeblendet, um dann wieder aufgeblendet zu werden, wenn geschwiegen wurde. Ich bezeichne deutsche Synchronisationfassungen ja gerne als „bebilderte Hörbücher“ – hier gingen Ton und Bild ganz besonders krass auseinander, wirkten manchmal so, als würden sie sich nicht im gleichen Kontext, nicht im gleichen Raum, nicht auf der gleichen Welt befinden. Der halluzinatorischen Wirkung des Films kam das irgendwie zugute, aber es machte ihn auch noch anstrengender. Die letzte halbe Stunde des Films war dann auch relativ hart durchzustehen, aber das hing auch damit zusammen, dass um 3.15 Uhr morgens meine Tagesform schon einen ganz massiven Schwund erlitten hatte... Nichtsdestotrotz: der zweitbeste Film des Tages!


Noch mehr Würste, noch mehr Engelsgedärme, noch mehr tragische Liebesgeschichten um kaputte Menschen, um Männer, die nicht mehr als ihre besitzergreifende Liebe zu vergeben haben und Frauen, die etwas mehr vom Leben erwarten, gab es auch in den zwei nächsten Tagen des Hofbauer-Kongresses. Mehr dazu hier in Kürze...

Mittwoch, 3. Januar 2018

Luppolo amaro, profumi dolci e altri vizi delicati – 2017 im persönlichen Rückblick


Wahrscheinlich war ich vom aktuellen Kinogeschehen noch nie so sehr abgekoppelt wie in diesem Jahr. Bei regulären Kinobesuchen habe ich 2017 nicht einmal ein Dutzend Filme gesehen – abzüglich meiner üblichen Besuche von musikbegleiteten Stummfilmvorführungen kommt keine nennenswerte Zahl an aktuellen Filmen dabei heraus. Mit drei Stück habe ich dieses Jahr allerdings mehr Festivals besucht als jemals zuvor: das goEast-Festival, das Terza Visione und das exground – einzig bei letzterem sah ich eine größere Anzahl an aktuellen Produktionen. Eine richtige Top-, ganz zu schweigen von einer Flop-Liste aktueller Produktionen kriege ich dieses Jahr nicht zusammen, nur ein kurzen Rückblick auf 


Sehenswerte aktuelle Filme 2017


JOHN WICK: CHAPTER 2 (Chad Stahelski: USA / Hong Kong / Italien / Kanada 2017)
Die Rückkehr des melancholischen Profikillers war sicherlich schwächer als der erste Teil, aber das ist Meckern auf höchstem Niveau. Mehr zu diesem erzählerisch etwas überfrachteten, aber dennoch visuell stets spitzenmäßigen Action-Kracher gibt es von mir (mit Schwerpunkt auf dessen Verbindungen zum Slapstick-Stummfilm) hier zu lesen.

REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. (Bojan Vuletić: Serbien / Bulgarien / Mazedonien / Russland / Frankreich 2017)
Der qualvolle, von vielen bürokratischen Hindernissen und Zufällen gesäumte Weg einer Selbstmörderin in ihren Freitod wird in Deutschland außerhalb des Festivalbetriebs wohl erst einmal nicht zu sehen sein. Schade. Mehr zu dieser emotionalen tour de force gibt es von mir hier zu lesen.

AM ABEND ALLER TAGE (Dominik Graf: Deutschland 2017)
Grafs TATORT: DER ROTE SCHATTEN bekam zwar nicht zuletzt aufgrund seiner RAF-Thematik sehr viel mehr Aufmerksamkeit, mir erschien er persönlich ein bisschen zu sehr „auf Handbremse“ inszeniert (besonders im Vergleich zu seinem wahnwitzigen und entfesselten TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT von 2013). Wesentlich unbemerkter, und von mir fast verpasst lief sein Melodrama um die Suche eines Kunsthistorikers nach einem verschollenen Bild, und die sich daraus entwickelnde leidenschaftliche Liebesbeziehung zur Nichte des vermuteten Besitzers. Die Anleihen an den Fall Gurlitt können zum Glück kaum davon ablenken, was für ein unglaublich sinnlicher und auch erotischer Film AM ABEND ALLER TAGE ist. Die Freude, im Garten des Onkels der geliebten Frau an einem heißen Sommertag rumzugraben, um sich später mit ihr auf dem farbbefleckten Boden ihres Künstlerateliers rumzuwälzen – so unmittelbar und leidenschaftlich kann das gegenwärtig wohl nur Graf filmen. Ohne Zweifel: sein bester Film seit TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT.

120 BATTEMENTS PAR MINUTE (Robin Campillo: Frankreich 2017)
Ein bewegtes Portrait der Pariser Act-Up-Militanten Anfang der 1990er Jahre: großartiges politisches Kino mit unbändigem Zorn, großer Lebensfreude und ohne erhobenen Zeigefinger. Mehr dazu gibt es von mir hier zu lesen.

ALBÜM (Mehmet Can Merto
ğlu: Türkei / Frankreich / Rumänien 2016)
Es ist für mich immer noch kaum zu glauben, dass diese zornige Abrechnung mit spießig-autoritären Familienglück-Fantasien ein Debütfilm ist, der zudem in der gegenwärtigen Türkei so entstanden ist. Mehr dazu gibt es von mir hier zu lesen.

in der Kategorie „guilty pleasure“:

BAYWATCH (Seth Gordon: USA 2017)
Ich bin ein absolut hoffnungsloser Fall von einem Dwayne-Johnson-Fanboy. Sonst würde ich natürlich einen solchen totalen Schwachsinn mit Überlänge, der zudem von so einer unangenehmen 1990er-Jahre-typischen Selbstironie durchzogen ist, nicht eine Minute lang tolerieren. Aber Dwayne Johnson tut da (in einer Nicht-FAST-&-FURIOUS-Umgebung) Sachen... Zum Beispiel dieses furchtbare Grinsegesicht Zac Efron verbal zusammenfalten, oder auf einer Party in schickem, weißem Hemd, schwarzen Anzugshosen und Flipflops erscheinen.


Meine großen Namen des Jahres 2017

Drei Regisseure habe ich dieses Jahr für mich entweder komplett neu entdeckt bzw. auf neue Weise wiederentdeckt.


Lucio Fulci
Anfang des Jahres hätte ich mich noch als Fulci-Skeptiker bezeichnet. ZOMBI 2, L‘ALDILÀ  und LO SQUARTATORE DI NEW YORK kamen mir dösig bis fürchterlich langweilig vor, lediglich SETTE NOTE IN NERO fand ich einigermaßen guckbar.
Eine Neusichtung eben von SETTE NOTE IN NERO „in Vorbereitung“ auf das Terza Visione wirkte wie eine kleine Offenbarung: was für ein unglaublich toller visueller Erzähler Fulci ist, kann man in diesem übernatürlichen Mystery-Thriller (als typischen Giallo würde ich ihn nicht bezeichnen) sehr rasch in den ersten, praktisch dialogfreien Minuten erkennen. Noch klarer wurde das knapp 24 Stunden später mit UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA. In acht weiteren Filmen verwandelte ich mich dann definitiv zu einem loyalen Neumitglied in der Gilde der leidenschaftlichen Fulci-Verteidiger. Darunter befand sich eine Neusichtung des ehemals „dösigen“ ZOMBI 2, dessen tiefe, fatalistische Melancholie sich nun vollkommen entfaltete – wie überhaupt viele Fulci-Filme von Melancholie, Fatalismus, Verzweiflung und vor allem einer tiefen Trauer durchzogen sind. Das ist besonders im großartigen NON SI SEVIZIA UN PAPERINO zu spüren, meinem bisherigen Lieblings-Fulci. Mit GATTO NERO habe ich einen seiner eher unbekannteren Filme gesehen: ein kleines Schmuckstück in Cinemascope (Fulci ist sowieso ein begnadeter Cinemascope-Regisseur!), voller faszinierender Closeups auf Patrick Magees Augen. Am komplexen period-Melodrama und -Politthriller BEATRICE CENCI muss ich mich gedanklich und emotional noch etwas abarbeiten – wiederholte Sichtungen dürften gerade hier besonders lohnenswert sein. Und nicht zuletzt dürfte LE PORTE DEL SILENZIO als semi-autobiografischer Todes-Film und letzter Film schwer zu toppen sein (Nicholas Rays LIGHTNING OVER WATER vielleicht abgesehen). Bei über 50 Regie-Credits habe ich zum Glück noch vieles von diesem traurigen Kinopoeten zu entdecken!



Giulio Questi
Seinen Debütfilm sah ich im Herbst 2013 und er ließ mich weitestgehend kalt. Was das für ein Fehler war, merkte ich bei der Sichtung seines ARCANA im Rahmen des Terza-Visione-Festivals. Es folgten eine radikal augenöffnende Neusichtung von SE SEI VIVO SPARA, dann die späten Digitalvideofilme, über die Manfred hier geschrieben hat und schließlich LA MORTE HA FATTO L‘UOVO. Das ist auch schon alles, was von einem der großen cinéastes maudits des europäischen Kinos auf die Schnelle gesichtet werden kann. Es sind keine einfachen Filme, aber wer sich auf sie einlässt, wird eine furiose Mischung aus radikaler Kapitalismus- und Faschismuskritik und visionärem Surrealismus entdecken.



Yoshida Yoshishige
Der Anlass zu meiner Entdeckung des japanischen nouvelle-vague-Regisseurs ist fürchterlich banal: ich fand die schöne französische DVD-Edition von EROSU PURASU GYAKUSATSU („Eros + Massacre“) im Internet zu einem unschlagbaren Preis. Nach der durchaus anspruchsvollen Sichtung des Dreieinhalbstunden-Epos über Vordenker des Anarchismus und der freien Liebe in den 1910er und 1920er Jahren und rebellische Jugend in den 1960er Jahren wollte ich mehr davon! Der Höhepunkt war sicherlich sein verschlungenes Dreifach-Frauen-Portrait KOKUHAKUTEKI JOYURON („Confessions Among Actresses“). Die „Nachfolgerfilme“ von EROSU PURASU GYAKUSATSU aus der sogenannten Trilogie des politischen Radikalismus RENGOKU EROICA („Heroic Purgatory“) und KAIGENREI („Coup d‘État“) haben mir weniger zugesagt – seine Nagasaki-Filme SARABA NATSU NO HIKARI („Farewell to the Summer Light“) sowie KAGAMI NO ONNATACHI („Women in the Mirror“) wiederum mehr, und sie scheinen mir auch für mehrfache Sichtungen prädestiniert. Eins bleibt aber immer gleich, nämlich diese ganz eigenartige Bildkadrage, die Figuren meist etwas an den Bildrand drängt und mit hervor ragenden Gegenständen im Vordergrund und den Formen von Gebäuden, Fenstern u. ä. extrem spannungsreiche, geometrische Bilder schafft. Ob in Cinemascope oder im Academy-Format, in Schwarzweiß oder in Farbe: Yoshidas Filme sind visuell immer verblüffend.


2017 – ein persönlicher Kanon der Erstsichtungen

Hier folgt nun meine Auswahl der allerbesten Filme, die ich dieses Jahr zum ersten Mal gesehen habe. 52 Stück: Wer auf die Idee kommt, alle Filme in diesem Jahr zu gucken, hätte also für jeden Film eine Woche Zeit.
Besonders gut vertreten ist dieses Jahr das Filmland Italien mit 11 Stück (10 Filme und 1 Nennung mit mehreren Kurzfilmen). Von diesen 11 sah ich wiederum 5 Stück beim Terza-Visione-Festival. Im Oktober und November bekam ich dann einen großen Schub an „Italien-Fieber“, unter anderem auch durch die Mario-Bava-Retrospektive bei arte begünstigt. Den Eingang im meine Liste haben einige Filme nur knapp verpasst, so etwa Lucio Fulcis GATTO NERO, Giulio Questis LA MORTE HA FATTO L'UOVO, Michele Soavis DELIRIA, Mario Bavas SHOCK und Raffaello Matarazzos LA NAVE DELLE DONNE MALEDETTE. 2017 war für mich ein sehr italienisches Jahr!


1 STARCI NA CHMELU (Ladyslav Rychman: ČSSR 1964)
Ein Film über jugendliche Hopfenpflücker, in dem kein einziges Bier getrunken wird, kann so toll sein? Ja! STARCI NA CHMELU ist ein puristisches Musical, eine einzige große Choreografie von Körpern, Bewegungen und Musik – und dabei ein auch ein wunderbares Plädoyer für die Jugend und gegen Spießertum und Konformismus. Mehr zu diesem tollen Cinemascope-Wunderwerk von mir gibt es hier zu lesen.

2 DIE WEIBCHEN (Zbyněk Brynych: Bundesrepublik Deutschland / Frankreich / Italien 1970)
...und satt machst nur Du!
Ein Film, den ich im April vor den Toren der Wiesbadener Casino-Gesellschaft angeteasert bekam und der tatsächlich noch viel großartiger wurde. Eine schwarze Komödie über eine Gruppe von Sanatoriumspatientinnen, die Männer verführen, dann ermorden, aufessen und/oder zu Katzenfutter verarbeiten und dabei eine absolute Riesengaudi haben, während Uschi Glas mit Wuschikopf und großen Augen hilflos zugucken muss, Peter Thomas‘ Soundtrack die Trommelfelle genüsslich zerfetzt und Charly Steinbergers grandiose Kamera in 360-Grad-Schwenks und irren Zooms das Treiben festhält.
Danke an Bildstörung für die mustergültige DVD-Edition des Films. Die enthaltene Alternativfassung, wahrscheinlich eine Ur- bzw. Vorpremieren-Fassung, zeigt, dass es manchmal sinnvoll ist, wenn Filmemacher noch einmal dazu verdonnert werden, ihre Filme zu kürzen: die Ur-Fassung ist ein guter Film, aber mit seinem elliptischeren Schnitt, seiner fetzigeren Ton-Montage und seinem erweiterten Score ist erst die Kinofassung (trotz weniger Splatter) der absolute Wahnsinn. Jedenfalls: Leser, die die Bildstörung-Edition von DIE WEIBCHEN noch nicht ihr Eigen nennen, sollten das schnellstens nachholen.

3 POSLEDNATA DUMA (Binka Željazkova: Bulgarien 1973)
Wenn Jean-Luc Godard, Dario Argento und Jess Franco gemeinsam einen Frauenknastfilm träumen würden – er wäre bestimmt nicht von einer solch wilden Schönheit wie Binka Željazkovas Meisterwerk. Mehr von mir zu diesem fantastischen Film gibt es hier zu lesen.


4 TRET‘JA MEŠČANSKAJA (Abram Room: UdSSR 1927)
Stalin hängt zwar schon an der Wand der kleinen Wohnung in der „Dritten Kleinbürgerstraße“, doch durch diese Dreier-Liebesgeschichte wehen kein revolutionärer Pathos und kein realsozialistischer Mief, sondern der Wind purer Lebensfreude, der Lärm vom regen Leben in den Straßen Moskaus und der Geruch eines leckeren Tees mit Marmelade. Mehr zu diesem Film gibt es hoffentlich demnächst von mir in diesem Blog zu lesen.

5 NON SI SEVIZIA UN PAPERINO (Lucio Fulci: Italien 1972)
Fulcis Ausnahme-Giallo ist bildgewordene Trauer. Stell dir vor, kleine Kinder werden in einem Dorf ermordet, und es gibt nichts, was man dagegen tun kann, weil die allmächtige katholische Kirche das Heil nicht für das Diesseits verkündet, die „besorgten Bürger“ des Ortes lieber irgendwelche Außenseiter lynchen als an ihrem Lebensalltag etwas zu ändern und die beiden einzigen, die den Fall lösen wollen, ein schmieriger Boulevard-Reporter und eine pädophile Jet-Set-Erbin auf Drogenentzug sind. Das Ende aller Menschlichtkeit hat Fulci wohl selbst in seinen apokalyptischen Splatterfilmen der frühen 1980er Jahre nicht so gut verbildlicht wie hier bei der Ermordung von Florinda Bolkans Maciara.


6 FRENCH CANCAN (Jean Renoir: Frankreich / Italien 1955)
Kann man FRENCH CANCAN vielleicht als eine optimistische Antwort Renoirs auf Powells und Pressburgers pessimistischen THE RED SHOES sehen? Wo in letzterem die erschaffene Kunst schließlich die Künstler lebendig auffrisst, können bei Renoir beides in Koexistenz bestehen. Das ist eine andere Weltsicht, eine andere Art, Filme zu machen. FRENCH CANCAN bietet viel Platz für beides: für das Spektakel, für das Leben und für die Lust an beidem. Die finale Darbietung von „La complainte de la butte“ und die Dialoge zwischen dem Direktor und dem Gerichtsvollzieher, der so überhaupt keine Lust auf Gerichtsvollzug hat, sondern lieber über Kunst spricht und griechische Chöre singt, gehören zusammen.

7 IL TUO VIZIO È UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE (Sergio Martino: Italien 1972)
Die Erstsichtung war milde enttäuschend, in meiner nervlichen Überstrapazierung und Müdigkeit wollte ich nur einen Giallo mit viel Gemetzel und nackter Haut  sehen – das gibt IL TUO VIZIO È UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE natürlich nicht her (also zumindest nicht so geballt). Die Zweitsichtung offenbarte schließlich das, was Hans Schmid als „purpurn schillerndes Schmuckstück der Dekadenz“ als „Josef von Sternberg im Giallo-Format“, als „kompromisslose Studie über das Böse und die Morbidität“ bezeichnete, in der praktisch jede Figur Opfer und Täter zugleich ist (hier der zweite Teil von Hans Schmids wunderbarem Text über Sergio Martinos fünf Gialli, in dem er über IL TUO VIZIO È UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE spricht). Was kann man allerdings mit Luigi Pistilli, Edwige Fenech, Anita Strindberg und Ivan Rassimov in einem einzigen Film versammelt auch groß falsch machen? Wenn eine schwarze Katze stets alles gut im Blick behält: gar nichts!


8 LA MAMAN ET LA PUTAIN (Jean Eustache: Frankreich 1973)
Dreieinhalb Stunden lang in körnigem 16mm-Schwarzweiß Jean-Pierre Léaud beim Reden zuzuhören (auch bei Dialogen spricht seine Figur stets so, als wäre es gerade ein Monolog) – wer hätte gedacht, dass das so faszinierend sein kann?

9 LA NOTTE DEI SERPENTI (Giulio Petroni: Italien 1969)
Den Western aus purer Melancholie heraus neu erfinden. Den Westernhelden aus einem kleinen und dauerverkaterten Häufchen Elend neu erschaffen. Mehr zu diesem leider eher unbekannten Italo-Western gibt es von mir hier zu lesen.
(Italienische Forscher haben kürzlich herausgefunden, dass jeder Film, in dem Luigi Pistilli mitspielt, automatisch immer um 54 % besser ausfällt als ohne ihn – nur, wenn Pistilli einen Bösen spielt, dann steigt die Zahl auf 87 %... Nein, das ist gerade von mir erfundene „fake news“, aber Hand auf‘s Herz: se non è vero, è ben trovato – und ein bisschen stimmt es ja schon.)

10 ROLF (Mario Siciliano: Italien 1984)
Ein Endpunkt-Film über männliche Gewaltfantasien im Gewand eines Söldner-Rache-Actionfilms voller christlicher Märtyrer-Ikonographie. Mehr dazu von mir lest ihr hier.

11 DER KOMMISSAR: DER PAPIERBLUMENMÖRDER (Zbyněk Brynych: Bundesrepublik Deutschland 1970)
Die vier Episoden für DER KOMMISSAR, die Zbyněk Brynych drehte, sind alle zumindest auf die eine oder andere Weise interessant, könnten vielleicht gar als Gesamtkunstwerk bezeichnet werden. In DER PAPIERBLUMENMÖRDER wird die Sau allerdings wirklich komplett rausgelassen. Die giallo-eske POV-Eröffnung, die Befragung in der Hippie-Kneipe, wo die psychedelische Beleuchtung, die Musik, die extremen Nahaufnahmen den Plot gierig an den Rand drängen, der poetische Aufstieg Kleins und der jungen Frau aus der U-Bahn. Und wie die Musik erzählerisch eingesetzt wird. So etwas lief einmal „nur“ im Fernsehen!


12 UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA (Lucio Fulci: Italien / Frankreich / Spanien 1971)
Mein persönlicher Fulci-Durchbruchsfilm: wer solche Bretter dreht, kann nur ein Guter sein! Hier gibt es weniger Trauer als in manch anderem seiner Filme, aber dafür umso mehr pure visuelle Erzählkunst. Mehr dazu von mir gibt es hier zu lesen (ja, der gleiche Link wie für ROLF und LA NOTTE DEI SERPENTI – das Terza-Visione-Festival war eben so verdammt gut!)

13 MAÎTRESSE (Barbet Schroeder: Frankreich 1975)
Vollkommen nüchtern erzählt Schroeder von der Liebesbeziehung zwischen einer Domina (Bulle Ogier – göttlich) und einem Herumstreuner (Gérard Depardieu – ausgezeichnet) und von ihrem Arbeitsalltag. Dabei findet er genau die richtige Distanz zu dem Geschehen: nicht zu weit weg, um kalt zu werden, nicht zu nah, um sensationalistisch zu wirken.

14 HAUT BAS FRAGILE (Jacques Rivette: Frankreich / Schweiz 1995)
Rivettes Version eines Musicals, inspiriert vom 1950er-Jahre-MGM-Musical. Für Tanz- und Sing-Einlagen gibt es genau so viel Platz wie für einen kurzen, paranoiden Verschwörungs-Subplot oder für eine Figur, die neben den zwei Protagonistinnen auch ihr Leben leben darf.


15 COSMOS (Andrzej Żuławski: Frankreich / Portugal 2015)
Zwei Studenten mieten sich bei einer reichen Familie zum Semesterurlaub ein. Vögel werden daraufhin erhängt aufgefunden und weitere merkwürdige Sachen passieren. Das große Ereignis in Żuławskis surrealistischem letztem Film ist (wieder einmal) die bilderstürmerische Kraft, mit der das ganze dann von sich geht. COSMOS ergibt (für mich) weniger Sinn als POSSESSION, vielleicht sollte man Witold Gombrowicz‘ Romanvorlage kennen, aber in seiner schieren Intensität steht er Żuławskis Über-Meisterwerk nur wenig nach.

16 BEAU TRAVAIL (Claire Denis: Frankreich 1999)
Ein postkoloniales Bildgedicht aus gestählten Körpern, der sich nach und nach in eine fürchterliche Rachegeschichte entwickelt. Ich hoffe sehr, dass Terrence Malick (dessen Filme der 2010er Jahre zumindest visuell ähnlichen Mustern folgen wie Denis‘) sich ab und zu in den Schlaf weint bei dem Gedanken, dass seine Filme nie so schön sein werden wie BEAU TRAVAIL.

17 MARTIN (George A. Romero: USA 1978)
Suburbia-Tristesse, ein fanatisch-religiöser Großvater, der unstillbare Durst nach Blut – es ist schwer, ein Teenager zu sein. Drei Jahre später hätte Martin vorzüglich in die Truppe von Billys „Knightriders“ gepasst, aber es sollte nicht... Ja, ausserhalb der Zombie-Epen könnte man MARTIN tatsächlich als Vorgänger von KNIGHTRIDERS sehen.

18 ARCANA (Giulio Questi: Italien 1972)
Suburbia-Tristesse und Teenager-Nöte nicht nur in Pittsburgh, sondern auch in Mailand... Mehr zu diesem nahezu unklassifizierbaren Film (urbaner Hexen-und-Zauberer-Film, Coming of Age, reiner Surrealismus) gibt es von mir hier zu lesen.

19 THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (Tobe Hooper: USA 1974)
Am traurigsten ist natürlich, dass es Tobe Hoopers Tod brauchte, um diesen Klassiker auf meiner to-see-Liste nach oben zu katapultieren. Diese faszinierende Mischung aus Amateur-Ästhetik (der dreckige 16mm-Look, die mäßigen Darsteller), Avantgarde (der bizarre, kakophonische Score) und einer fast archaischen Ur-Kraft (als würden wir Bilder einer längst vergangenen Zivilisation sehen) hat nach spätestens einem Viertel des Films angefangen, bei mir einzuschlagen.

20 RESIDENT EVIL: RETRIBUTION (Paul W. S. Anderson: Deutschland / Kanada / USA / Frankreich 2012)
Der Anfang ist natürlich ein Filmbeginn für die Ewigkeit: eine Action-Sequenz, in extremer Zeitlupe rückwärts abgespielt. Eine Augenweide, die natürlich auch vorwarnt, dass Chronologie und normale Zeit-Raum-Kontinuität gleich egal sein werden. Für den fünften Teil eines Film-Franchise ist es dann ein happiges Stück: ein puristisches, vollkommen plot-befreites Action-Ballett, in dem Figuren, die teilweise nur Klons sind, durch völlig simulierte Umgebungen kämpfen und dabei auf erbitterte Gegner treffen, die kurz vorher noch als Verbündete zu sehen waren (und auch umgekehrt). Die schöne „Oberfläche“ ist aber nicht alles: zwischendurch findet, wie in den meisten Anderson-Filmen, das Menschliche seinen Weg. Und nur weil ein kleines Mädchen „nur“ eine Kopie ist, und ihre Erinnerungen an ihre (falsche) Mutter implantiert sind, gibt es keinen Grund, sie nicht zu retten.


21 BREEZY (Clint Eastwood: USA 1973)
Eastwoods erste Regiearbeit, in der er selbst nicht mitspielte (von einem Mini-Cameo abgesehen) ist zugleich auch die optimistische (man könnte sagen: liberale) Version seines Debüts PLAY MISTY FOR ME: die Begegnung zwischen einem Hippie-Mädchen und einem gesetzten Immobilienmakler in seinen Fünfzigern. Was sich als Stalking entpuppen könnte, entwickelt sich zu einer rührenden Liebesgeschichte – von Eastwood gewohnt nüchtern erzählt.

22 FIRST BLOOD (Ted Kotcheff: USA 1982)
Auf eine gewisse Weise könnte man FIRST BLOOD auch als eine Art Folgefilm zu WAKE IN FRIGHT sehen, als seine Spiegelung: der Außenseiter Rambo kriegt in dem Redneck-Städtchen keine kühlen Biere spendiert, sondern saftige Tritte in den Arsch. Seine Reaktion darauf ist aber auch eine Art Reise ins eigene Unterbewusstsein, deren Gewalt allerdings nicht nach innen (wie John Grants Selbstzerstörungstrip), sondern nach außen gerichtet ist. Und da ist natürlich noch Vietnam, aber dazu haben andere Kollegen schon viel Lesenswertes geschrieben.
(im Grunde war dies meine anderthalbte Sichtung: längere Passagen dieses Films hatte ich als Schuljunge bei einem Samstagabend-Zapping geschaut)

23 MISSING IN ACTION (Joseph Zito: USA 1984)
An einer Stelle ist Braddock bei einer Schau-Anhörung, wo offensichtlich unter Druck gesetzte vietnamesische Zeugen aussagen. Braddock läuft an ihnen vorbei, schaut in ihre beschämten Gesichter, wirft ihnen einen Blick zu, der ganz klar sagt „Ich verstehe schon: ihr seid bedrängt worden, falsch auszusagen. Ihr seid wie ich, ein Opfer von denen da oben, die alles verdrehen!“. Für einen angeblichen darstellerischen Nichts-Könner wie Chuck Norris ist das meiner Meinung nach eine ganze Menge in nur einem Blick. MISSING IN ACTION ist voll mit solchen kleinen Momenten. Man siehe zum Beispiel nur, wie Thailand plötzlich im Vergleich zum puritanisch-tristen Vietnam als eine Art fröhliche Hölle des Lasters präsentiert wird.

24 TEPEPA (Giulio Petroni: Italien / Spanien 1969)
oder: der Arzt, der Sozialbandit und die alles verschlingende Revolution! Die Schlussfolgerung von TEPEPA ist natürlich absolut niederschmetternd: Idealisten sind eben auch nur Menschen im schlimmsten Sinne, also Verräter, Mörder, Vergewaltiger, Intriganten, kalte Befehlsausführer. Ein wunderbarer Revolutions-Western gekoppelt mit einem Rache-Drama.


25 SECRET DÉFENSE (Jacques Rivette: Frankreich 1998)
Das erste Viertel (also die ersten 45 Minuten) mögen etwas die Geduld strapazieren, doch dann bricht Sandrine Bonnaire wild entschlossen auf, um im Namen ihres Bruders einen Mann zu ermorden. Die lange Zugreise, auf der ihre Entschlossenheit zwischendurch von Unwohlsein und Übelkeit im Angesicht ihrer geplanten Tat gebrochen wird, ist ein visuelles Wunderwerk, gestützt von einer fabelhaften Darstellerin. Das ganze mündet in Rivettes Version eines Hitchcock-Thrillers (ein bisschen STRANGERS ON A TRAIN, ein bisschen VERTIGO), mit versehentlichen Morden und unheilvollen, durch gegenseitiges Wissen geschmiedete Allianzen.

26 E DIO DISSE A CAINO... (Antonio Margheriti: Italien / Bundesrepublik Deutschland 1970)
...ist nicht ganz der mystische Western bzw. Horror-Gothic-Western, als der er gelegentlich bezeichnet wird, toll ist er trotzdem: Klaus Kinski, frisch begnadigt nach Jahren Zwangsarbeit trotz Unschuld, reist zu den Leuten, die für seine Inhaftierung verantwortlich waren, um sich zu rächen. So simpel ist das. Margheriti erzählt das ganze in ausgesucht schönen Cinemascope-Bildern, in Quasi-Echtzeit (die Handlung dauert vielleicht knapp 12 Stunden) und seine Erfahrungen als Horror-Regisseur kommen ihm bei den dunklen, nebligen Nachtszenen zugute.

27 Ausgewählte „walking movies“ von Alan Clarke für die BBC (UK 1977-1989)
Laufen als erzählerisches Mittel... SCUM (die Kinofassung) faszinierte mich 2014 durch seine politische Haltung, sein Bewusstsein für die Nuancen von struktureller (staatlicher) und affektiver (individueller) Gewalt und ihre Beziehung und durch seine kompromisslose Härte, die für Naivität keinen, für einen humanistischen Standpunkt hingegen viel Platz lässt. Genau das zeichnet, mit kleinen Variationen, alle Filme Alan Clarkes aus. Die Ur-Fassung des Knastfilms SCUM, den die BBC jahrelang in den Giftschrank sperrte, ist tatsächlich noch härter, radikaler und konzentrierter als die Kinofassung und gefiel mir besser (nicht zuletzt durch David Threlfalls großartiger Darstellung Archers). Ganz und gar Tim Roths Film (und sein erster!) ist MADE IN BRITAIN, der in sehr schnellen Schritten einem Neonazi-Teenager folgt und protestierendes, erruptives Gewaltpotential in einem eigentlich normalen jungen Mann ansiedelt. THE FIRM bringt Gewalt in die schönen Yuppie-Vorgärten der Thatcher-Ära: kein Bild könnte männliche Selbstüberschätzung besser und furchtbarer darstellen, als das kleine Kind, das mit dem nachlässig herumliegenden Kampf-Cutter seines Vaters spielt (und ihn in den Mund nimmt). ROAD hingegen zeigt, wie die Arbeiterjugend nach der atomaren Apokalypse so den Freitagabend verbringen würde – zumindest sieht der gezeigte, völlig marode Vorort ein wenig nach Post-Apokalypse aus. Hier wird schon ganz schön viel gelaufen. Und Alan Clarkes radikalster, im Grunde letzter Film, sein bis zum Skelett reduzierter „walking movie“, ist dann ELEPHANT: laufen, töten; laufen, töten; laufen, töten; laufen, töten; laufen, töten...

28 HRA O JABLKO (Věra Chytilová: ČSSR 1977)
Eine Screwball-Komödie mit viel Screw und fingergespießten Tomaten als „balls“, gedreht durch den Fleischwolf der Tschechoslowakischen Neuen Welle und mit wenig Budget, absolut keinem Respekt für Autorität oder das Respektable, dafür aber mit sehr mobiler Handkamera gedreht. Mehr zu Chytilovás Version einer Krankenhaus-Erotikkomödie gibt es von mir hier zu lesen.

29 IL PROFUMO DELLA SIGNORA IN NERO (Francesco Barilli: Italien 1974)
Dem klaustrophobischen Horror-Thriller à la Polanski, besonders REPULSION und (dem natürlich späteren) LE LOCATAIRE, ist IL PROFUMO DELLA SIGNORA IN NERO näher als dem handelsüblichen Giallo. Wie Polanski dreht auch Barilli die Schraube des Grauens  langsam an: vom leichten Unbehagen zu den ersten alarmierenden Zeichen bis schließlich zum puren Terror.


30 AKIBIYORI (Ozu Yasujiro: Japan 1960)
Ozu hat hier, wenn man so will, den ultimativen Horrorfilm über sozialen Konfirmitätsdruck gedreht: alle in AKIBIYORI wollen, dass die Unverheirateten unverzüglich heiraten, weil es eben so gemacht wird und es sich so eben gehört. Und die schlimmsten Monster sind die eigenen Verwandten, die am meisten drängen und drücken und dabei auch noch stets freundlich lächeln und es ernsthaft gut meinen! Natürlich ist „Spätherbst“ auch ein „leichte“ Familienkomödie, mit viel Alkohol und herrlichen Missverständnissen, die in einer ähnlich gelagerten Hollywood-Komödie aus dieser Zeit gar nicht so deplatziert wären. Und eine Ode an die wunderbare Hara Setsuko, die ebenso wie Ozu im richtigen Leben niemals heiratete.

31 KOKUHAKUTEKI JOYURON (Yoshida Yoshishige: Japan 1971)
Drei Schauspielerinnen erinnern sich: an ihre schwierige Teenager-Zeit, an ihre nervenaufreibenden Ehen, an die Hindernisse in ihren Karrieren. „Confessions Among Actresses“ ist ein verschachteltes Farb-Puzzle aus kleinen, nebeneinander, nacheinander, ineinander erzählten Episoden.

32 THE HOME-MADE CAR (James Hill: UK 1963)
Wie baue ich mir selbst meinen eigenen Oldtimer? James Hill gibt hier in klaren Bildern und ohne ein einziges Wort die Antwort. Mehr zu diesem Kurzfilm gibt es von mir hier zu lesen.

33 DIE LIEBE DER JEANNE NEY (Georg Wilhelm Pabst: Deutschland 1927)
Je mehr Stummfilme der 1920er Jahre ich sehe, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass man in dieser Zeit mit Film schon wirklich ALLES tun konnte, wenn man nur wollte – und Pabst wollte! Schwindelerregende Montagen, völlig entfesselte Handkameraszenen, Regen, Nebel und schließlich Schatten, dass es eine reine Freude ist, ein absolut sicherer Erzählfluss, zu wenigen Bildern verdichtete Emotionen – totales Kino. Man siehe nur die Szene, in der Rasp die Hand der blinden Brigitte Helm hält, während er mit der anderen Hand und seinem ganzen Körper Édith Jéhanne sexuell bedrängt – Nicht-Sehen, Fühlen, Greifen, Grapschen, Vertrauen und Perfidie in einem Bild. Der Bonus des Ganzen: ein erstklassiger Fritz Rasp, der vielleicht noch nie so herrlich schmierig und wunderschön hassenswert war!

34 ASPHALT (Joe May: Deutschland 1929)
Vielleicht der erste und mustergültige film noir: rechtschaffener Mann wird von gefallener Frau verführt und tötet deren Zuhälter. Wie DIE LIEBE DER JEANNE NEY ist auch ASPHALT ein krönendes Meisterwerk des frühen Kinos und eine Feier dessen Möglichkeiten.

35 DIE SÜNDERIN (Willi Forst: Bundesrepublik Deutschland 1951)
Sublime Exploitation. Da dieser Film eigentlich zum „Kanon“ gehört, hätte ich niemals eine solche Wucht, ein solch lustvolles Tabubrechen, ein derart hemmungsloses Schwelgen in schwüler Melodramatik erwartet. Ganz groß!

36 PHENOMENA (Dario Argento: Italien 1985)
Ganz groß oder zumindest viel größer als unmittelbar bei und nach der Sichtung im Rahmen des Terza Visione ist nun auch Argentos Coming-of-Age-Giallo in meinem Herzen geworden. Wie Argento einfach mal nebenbei Schulmobbing visualisiert (und nicht „thematisiert“) dürfte meiner Meinung nach vielleicht ein Totschlag-Argument für seine große Meisterschaft sein (ohne die gewaltigen Bilderwelten von SUSPIRIA oder PROFONDO ROSSO damit mindern zu wollen). Mehr dazu von mir hier zu lesen.

37 REAZIONE A CATENA (Mario Bava: Italien 1971)
Öko-Thriller, antikapitalistische schwarze Komödie, Slasherfilm-Blaupause – und vielleicht Bavas erster „nicht-unschuldiger“ Film (auch wenn 5 BAMBOLE PER LA LUNA D‘AGOSTO quasi eine Vorstudie dazu war)? REAZIONE A CATENA ist bei der Erstsichtung zunächst unfassbar abstrakt, weil alles, was man Exposition nennen könnte, in den letzten Drittel abgeschoben wird. Hans Schmids Hinweis, dass die Struktur sich an Ophüls‘ Episodenfilm LA RONDE orientiert, ist für die nächste Sichtung bestimmt eine gute Orientierung.

38 Die späten digitalen Videofilme von Giulio Questi (Italien 2002-2006)
Giulio Questi erfindet zuhause in seiner Wohnung mit einer billigen Digitalkamera das Kino neu und wenn er gerade dabei ist noch alle möglichen Genres und Stile (Giallo, Doppelgänger-, Paranoia- und Polit-Thriller, Splatterfilm, Mystery, Fantasy, Ehe-Melodrama, Gothic Horror, Vergangenheitsbewältigungs-Drama). Auch wenn mir LETTERA DA SALAMANCA und VISITORS wohl am besten gefallen haben, so sollte man Questis letzte Filme vielleicht auch als Gesamtkunstwerk sehen. Mehr zu ihnen schrieb Manfred hier.

39 IN THE CUT (Jane Campion: UK / Australien / USA 2003)
In der ersten halben Stunde von IN THE CUT habe ich mich manchmal gefragt, ob Campion die Zuschauer verarschen möchte: verschwommene, „impressionistische“ Bilder, als würde ein Filmstudent versuchen, Tony Scott zu „out-Tony-Scott‘en“, dazu eine Räuberpistole um einen Serienmörder, die ziemlich schlampig erzählt schien... Doch die verschwommenen Bilder gewannen irgendwann eine klare Sinnlichkeit und die Charaktere wuchsen langsam zu etwas, dem die Serienmorde eine Fallhöhe verliehen. Schließlich dämmerte mir, dass ich gerade einen großen New-York-Sleaze-Neo-noir sah.

40 A MATTER OF LIFE AND DEATH (Michael Powell, Emeric Pressburger: UK 1946)
Wie viele Filme haben mich bisher schon in den ersten zehn Minuten beinahe weinen lassen, mich emotional fast zum Kollaps gebracht? Kennenlernen, Annäherung, Verlieben und Trennung durch Tod: Wofür andere Leute einen kompletten Film drehen, verhandeln Powell und Pressburger gleich zu Beginn in nur einigen wenigen Minuten. Der Rest von A MATTER OF LIFE AND DEATH ist natürlich auch toll.


41 NOWHERE TO RUN (Robert Harmon: USA 1993)
SHANE (der mir ehrlich gesagt nicht so zugesagt hat) – neu erzählt mit Jean-Claude Van Damme. Der Film ist tatsächlich ein sehr merkwürdiger Hybrid aus Actionfilm, Romanze, Neo-Western und ambitioniertem Drama, mit leicht deplatzierten One-Linern und etwas irritierenden Humor-Eruptionen. Deswegen war wohl keiner der Beteiligten zufrieden damit – mir hingegen gefällt es, wie sich diese eigentlich unvereinbaren Elemente aneinander reiben.

42 SÁTÁNTANGÓ (Tárr Béla: Ungarn / Deutschland / Schweiz 1994)
Der Zerfall eines tristen Dorfes mitten in der ungarischen Pampa, wahrscheinlich aber auch die Apokalypse, in faszinierenden, irritierenden, wunderschönen, qualvollen, irritierenden, aufreibenden und kurzweiligen sieben Stunden. Ich brauchte danach einen langen Spaziergang, um diesen Film zu verdauen (und natürlich um meine Beine nach dem langen, langen Sitzen wieder zu bewegen).

43 COHERENCE (James Ward Byrkit: USA / UK 2013)
Noch mehr Apokalypse: stell dir vor, die Welt ist untergegangen und besteht nur noch aus Versionen deiner selbst und deiner Partygenossen aus einem Paralleluniversum, die in genau demselben Haus Hundert Meter weiter wohnen. Mit welch geringen Mitteln (im Grunde ein No-Budget-Film), welcher Ernsthaftigkeit und welcher Konsequenz das durchgezogen wird, ist schier bemerkenswert.

44 UNDER THE SKIN (Jonathan Glazer: UK / USA / Schweiz 2013)
À propos leicht avantgardistische Science-Fiction-Filme aus dem Jahr 2013... Das Konzept der geheimen Alien-Invasion wird in UNDER THE SKIN nicht als Thriller, nicht als Eventmovie-Spektakel, sondern in langsamen, entschleunigten, meditativen Bildern exerziert.

45 L‘APOLLONIDE: SOUVENIRS DE LA MAISON CLOSE (Bertrand Bonello: Frankreich 2011)
oder: aus dem Arbeitsalltag Pariser Huren fin de siècle... Etwa in der Hälfte des Films gibt es einen Ausflug ins Grüne. Ganz unwillkürlich musste ich an die zweite Episode von Ophüls‘ LE PLAISIR denken. Vor allem aber sieht man hier zum ersten Mal und letzten Mal Natur, freien Himmel, Sonne.

46 EATEN ALIVE (Tobe Hooper: USA 1976)
Ich finde es persönlich fürchterlich, wenn Leute bei der Arbeit laut Radio hören. Der Musikgeschmack ist natürlich oft ein Problem, aber wie können die Leute denn eigentlich arbeiten, wenn ständig irgendetwas laut plärrt, im Zweifelsfall ein halbhysterischer Moderator oder ein völlig umnachteter Werbe-Jingle – und sich gegebenenfalls mit Arbeitskollegen über Problemlösungen unterhalten? Was hat das zu tun mit diesem Film um einen Serienkiller, der in seinem Gartenteich einen Krokodil hält und diesen mit seinen Opfern füttert? Während in seinem Haus der Wahnsinn zunehmend ausbricht (Frau im ersten Stock gefesselt, heimlich vögelndes Pärchen im Erdgeschoss, flüchtendes Mädchen unter den Stelzen, rumorendes Tier im Teich), dudelt die ganze Zeit Hillbilly-Musik aus dem Radio. Ja, diese kranke, gestörte Atmosphäre von provinziellem Hillbilly-Landhausverfall – das kann Tobe Hooper vorzüglich. Aber das I-Tüpfelchen: das ist das dauerplärrende Radio!

47 DEAD RINGERS (David Cronenberg: Kanada / USA 1988)
Cronenberg sagte in einem Interview einmal, alle seine Filme seien im Grunde Komödien. DEAD RINGERS ist tatsächlich, wenn man so will, eine Screwball-Komödie über zwei Zwillingsbrüder, die sich alles teilen und schließlich der gleichen Frau den Hof machen. Dabei geht es drunter und drüber, und als die Frau dann weg ist, ziehen sich die Brüder zurück, um Doktor zu spielen. Ein perverses, verstörendes, unheimliches Vergnügen – mit sehr viel Humor der gleichen Art.

48 ARSENAL (Aleksandr Dovženko: UdSSR 1929)
Was bei ARSENAL stark auffällt, ist seine merkwürdige, exzentrische Erzählweise. Dovženko hintergeht hier wirklich alles, was man als konventionelles Erzählen bezeichnen kann: kleine, fast abstrakte Episoden, die scheinbar ohne schlüssige Logik aneinander gereiht werden... Von der titelgebenden Arsenal-Revolte in Kiev sieht man nur Bruchstücke. ARSENAL scheint mir Vertovs experimentellen ČELOVEK S KINOAPPARATOM näher zu sein als Eisensteins Revolutionsepen.


49 THE LEGEND OF LYLAH CLARE (Robert Aldrich: USA 1968)
Es hat keinen Spaß gemacht, diesen Film zu sehen. Unter den nunmehr 20 Filmen Robert Aldrichs, die ich kenne, würde ich THE LEGEND OF LYLAH CLARE vielleicht sogar als seinen schwierigsten bezeichnen. Der Film ist chronologisch und weitestgehend übersichtlich erzählt, aber irgendwie scheint doch alles komplett auseinander zu fallen und nicht richtig zu passen – und nicht nur die Hauptfigur, die zwischendurch wie in Trance zu Lylah Clare „wird“ und ihre Umwelt mit wüsten deutschen Beschimpfungen („Drecksau“ – O-Ton) anspuckt, oder zwischendurch völlig unmotiviert oben herum nur mit BH zu einem Arbeitsgespräch geht. Dann noch diese völlig halluzinatorischen Rückblenden. Diese morbide Atmosphäre: alles scheint vom Geist der toten Lylah „infiziert“ zu sein. Bis hin zu diesem fast apokalyptischen Ende mit den Werbehunden, die alsbald jeden und alles in kleine Stücke zerfleischen werden (Jean-Luc Godard dürfte bei der Sichtung spätestens hier die Sonnenbrille von der Nase gefallen sein).
Den Rest des Abends, und die erste Hälfte des nächsten Tages fühlte ich mich vollkommen ausgelaugt, total leer, geradezu gelähmt von diesem Film. Kein angenehmes Gefühl, aber so absolut unmittelbar körperlich hat kein Film dieses Jahr auf mich gewirkt.

50 MOONFLEET (Fritz Lang: USA 1955)
Für Begräbnisse und Schlangen... von wegen! Lang meistert das Cinemascope-Format wunderbar und verwandelt eine simple Räuberpistole mit Räubern und Pistolen in ein visuelles Fest.

51 LUNCH HOUR (James Hill: UK 1961)
Der kleine unterschlagene Film der British New Wave: ein potentielles Schäferstündchen in einem Stundenhotel wird von der jungen Frau in eine hemmungslose Konfrontation mit den Lügengebilden ihres (verheirateten) Liebhabers umgemünzt – bis schließlich die Lügen zu einer eigenständigen Geschichte werden. Ob Abbas Kiarostami LUNCH HOUR in Vorbereitung zu seinem COPIE CONFORME sah?

52 SMASHING TIME (Desmond Davis: UK 1967)
Manfred schrieb Ende März 2017 über die Verfilmung von Edna O‘Briens Roman The Lonely Girl aka Girl with Green Eyes durch Desmond Davis. Auf eine gewisse Weise könnte man SMASHING TIME als das Sequel interpretieren: die Mädchen sind der irischen Landtristesse entkommen und im Swinging London angekommen, wo freundliche Hippie-Boutiquen, wilde Tortenschlachten, aufdringliche Kussroboter (!) und interessante Ketchup-Spülmittel-Verwechslungen auf sie warten.


Negativ-Film des Jahres / ultimatives Zeitdokument anno 2017

SVEZIA INFERNO E PARADISO (Luigi Scattini: Italien 1968)
Über diesen Mondo-Film schrieb ich bereits ausführlich in meinem Bericht zum Terza Visione.
Monate später nun... Nazis... Verzeihung... Vertreter des „besorgten Bürgertums“ sind in massiver Zahl in den Bundestag und in weitere eine Ländervertretung eingezogen. Und mittlerweile ist mir vielleicht noch klarer geworden, was mich an SVEZIA INFERNO E PARADISO so sehr abstößt: Es ist diese absolute Selbstverständlichkeit, gekoppelt mit einer großen Portion von Unschuld, mit der im Film die noch so größten Scheußlichkeiten ausgesprochen werden. So auch in Deutschland anno 2017: Menschen werden wieder in völliger Unschuld mit allen möglichen Begriffen und Beschimpfungen bezeichnet, die noch vor 10 Jahren zurecht als etwas galten, was man nur beim NPD-Stammtisch aussprach, und sobald diese Worte in völliger Unschuld ausgesprochen worden sind, folgen die abstrusesten und hirnrissigsten Behauptungen, paranoiden Fantasien, Verschwörungstheorien, die man sich nur vorstellen kann – mit absoluter Selbstverständlichkeit, als wären diese Aussprüche so natürlich wie das Atmen. Purer, unbändiger, unverstellter Hass, ausgedrückt mit einem freundlich-unschuldigen Lächeln. (Diese „neue Unschuld“ in Sachen Rassismus ist sicherlich in der ostdeutschen Provinz, und in dieser verbringe ich einen Großteil meines Alltags, wesentlich spürbarer als in westdeutschen Metropolen). SVEZIA INFERNO E PARADISO wirkt für mich mehr und mehr wie ein prophetisches Zeitdokument, mit dem eine deutsche und europäische Wirklichkeit anno 2017 ein halbes Jahrhundert vorher skizziert wurde. Wie eingefroren, in rotstichigen Bildern feiernder, arbeitender oder auch unglücklicher und leidender Menschen, die mit Häme übergossen werden.


Wiedersehen macht Freude 2017

Dieses Jahr habe ich anteilmäßig wieder mehr Filme geschaut, die ich bereits kenne. Einige Wiedersichtungen waren alles andere als erhebend und sogar sehr enttäuschend. Drei Filme habe ich allerdings mit völlig neuen Augen und großem Enthusiasmus wieder entdeckt.


THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (John Ford: USA 1962)
Als Schuljunge hat mich John Fords Klassiker schwer gelangweilt: wenig Action, viel Gerede, mehr von dem Normalo James Stewart als von dem charismatischen John Wayne... Die Meistererzählung des großen Frontier-Mythos in diesem Film und zugleich ihre präzise, analytische Dekonstruktuion, hat mich nun über ein Jahrzehnt, mehrere Seminare über politische Theorie und Kultur der USA, viele Ford-Filme und viel Lektüre über Ford im Allgemeinen und diesen Film im Speziellen nun in ihrem großen Reichtum viel besser erreicht. Da das ja auch ein Ford-Film ist, kommen die Themen (die amerikanische Bürgergesellschaft, begründet von idealistischen Juristen in der Frontier – nachdem ihre Feinde von Außenseitern erschossen wurden) nicht trocken rüber, sondern in einem Film voller Menschlichkeit. Über trockene Pädagogik macht sich Ford ja direkt selbst lustig: mitten im Unterricht meldet sich der kleine mexikanische Junge, weil er auf‘s Klo muss. Demokratie hin oder her: manchmal muss man halt eben!



CRASH (David Cronenberg: Kanada / UK 1996)
Einige Leute bezeichneten CRASH einmal als einen der erotischsten Filme aller Zeiten. Bei der Erstsichtung sah ich nur einen äußerst kalten Film, der mich, nun ja, kalt ließ und diese Einschätzung von CRASH als erotischen Film empfand ich einfach nur als verwunderlich und abstrus. Die Zweitsichtung offenbarte mir unter der kalten Oberfläche einen stürmischen, leidenschaftlichen, obsessiven Film, der alle Unterschiede zwischen „intellektuellem“ und „sinnlichem“ Zugang völlig verwischt. Der Gang dreier der vier Protagonisten durch das nächtliche „Unfall-Diorama“ hat mich in seiner erschreckenden, grausamen Schönheit fast umgehauen.



SE SEI VIVO SPARA (Giulio Questi: Italien / Spanien 1967)
Träge, zögernd, sinnlos mäandernd, langweilig – so schätzte ich Questis Debütfilm noch vor einigen Jahren ein. Wie schrecklich dumm und unwissend von mir! SE SEI VIVO SPARA ist natürlich ein grandioser Film. Da die Dinge, die er behandelt, nämlich kapitalistische Gier und sogenannter Alltagsfaschismus, voll und ganz weltlicher Natur sind, ist er kein komplett mystischer Western, auch wenn immer wieder surreale und christliche Motive die Bilder spicken (die Auferstehung des vielleicht toten Protagonisten nach Manier des Lazarus, seine Kreuzigung im Folterkeller, die Pietà- und Kreuzweg-Posen, als er seine ehemaligen Räuberkameraden vom Galgen abhängt). SE SEI VIVO SPARA ist auch ein im Keim erstickter Rachefilm: der Fremde kann sich nicht mehr an seinen Ex-Kameraden rächen, weil diese bereits mehrheitlich von den „besorgten Bürgern“ der Kleinstadt regelrecht massakriert wurden. Also wird er versuchen, die nicht völlig korrupten Elemente des Kaffs, nämlich einen Teenager-Jungen und eine von ihrem Ehemann gefangen gehaltene Frau, zu retten und dabei erbärmlich scheitern.


1. Januar 2018
Die Idee, am ersten Tag des Jahres nach dem späten Aufstehen und einem langen Frühstück RIO BRAVO zu gucken, ist meiner Meinung nach großartig! Weniger großartig ist es, wenn nach 75 Minuten der Player im Leerlauf dreht, weil die DVD aus der Reihe einer großen, überregionalen Tageszeitung rumspinnt. Diese Reihe mit den zu hohen Hüllen und den Rechtschreibfehlern in den Texten (es gibt zu Howard Hawks ein Zitat von „Jaques“ Rivette) wird mir immer mehr zuwider. Ein wahrhaftig fürchterlicher, niederschmetternd trauriger Start in das neue Jahr. Hoffentlich kein schlechtes Omen. Meine DVD von HATARI! funktionierte glücklicherweise und konnte den Tag retten...


Ich wünsche allen Lesern von „Whoknows Presents“ ein schönes Jahr 2018 – mit vielen tollen, spannenden, interessanten, aufrüttelnden und verstörenden Filmen!