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Sonntag, 3. März 2013

Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk: The Specialist


THE SPECIALIST
USA/Peru 1994
Regie: Luis Llosa
Darsteller: Sylvester Stallone (Ray Quick), Sharon Stone (May Munro), James Woods (Ned Trent), Eric Roberts (Tomas Leon), Rod Steiger (Joe Leon)



Der großartigste US-amerikanische Film der 1990er Jahre ist – zweifelsohne – HAPPINESS. Im dichten Verfolgerfeld, sagen wir mal unter den neun Kompagnons für eine entsprechende Top-10-Liste, befindet sich ein Film, der gänzlich anders ist: ein grell-vulgärer platter Actioner, dessen überdimensioniertes Budget seinen B-Movie-Geist nicht zu verbergen vermag... und der trotzdem ein Meisterwerk ist: THE SPECIALIST.

Ja: THE SPECIALIST! Ein Film, gegen den scheinbar alle Beweise für sich sprechen. Angefangen bei der riesigen Masse an vernichtenden Kritiken, die man nur sehr unschwer in den großen Weiten des Internets finden kann. Da wäre zunächst einmal die Wertung von 5,1 bei imdb.com – nur sehr knapp über der magischen (also peinlichen) 5,0-Grenze. Bei rotten tomatoes kommt der Film insgesamt auf 4 % (alles unter 60 % gilt als „verfaulte Tomate“!), in der Top-Critic-Kategorie sogar auf 0 %. Mit 33 % bewertet ihn das Publikum erheblich besser, aber immer noch sehr schlecht. THE SPECIALIST war einer der größten Abräumer bei den 15. Golden Raspberry Awards von 1995, gewann die goldene Himbeere in den Kategorien schlechteste Hauptdarstellerin (Sharon Stone) und schlechtestes Filmpaar (Sylvester Stallone/Sharon Stone), und war für schlechtester männlicher Hauptdarsteller (Sylvester Stallone), schlechtester männlicher Nebendarsteller (Rod Steiger), und schlechtester Film (Produzent Jerry Weintraub) nominiert. Da wirkt die Wertung von 2 Sternen von 5 möglichen bei allmovie.com verhältnismäßig gnädig!


Bei letzterem ist die Rede von einem „somewhat silly and incoherent plot“. Der dürfte den Kennern des Films zwar hinlänglich bekannt sein, andererseits den armen Lesern, die ihn noch nicht gesehen haben, nicht schwer zu erklären sein. May Munro (eine sehr bescheuerte Schreibweise für den Nachnamen) dürstet nach Rache: Gangster Tomas Leon und seine Schergen haben ihre Eltern ermordet, als sie ein kleines Mädchen war. Jahre später und nun erwachsen heuert sie als Instrument der Vergeltung Ray Quick an, ein Sprengstoffexperte und ehemaliger Auftragskiller der CIA. Bei einer Operation gegen einen Drogenbaron vor zehn Jahren hatte Ray sich geweigert, ein Auto mit jugendlichen Insassen zu sprengen und darauf hin seine Karriere beendet – und zugleich auch die seines skrupellosen Partners und Vorgesetzten Ned Trent. Als Berater für den in Miami ansässigen Mafia-Boss Joe Leon hat Trent sein Spezialisten-Wissen auf anderen Gebieten mittlerweile wiederverwertet. Dann werden die ersten Schergen des Leon-Clans in die Luft gesprengt...

Albern und inkohärent? Wer eine gewisse Anzahl von ganz gezielten und klugen Fragen stellt, wird diese Frage nur mit einem lauten „ja“ beantworten können. Solche Fragen wie zum Beispiel: Warum kontaktiert May den Spezialisten Ray über eine Anzeige, die sich wie eine Telefonsex-Annonce liest? Wie ist sie überhaupt auf ihn gestoßen (diese Frage wird im späteren Verlauf des Films mit einer Wendung beantwortet, die wiederum sehr viel absurdere Gegenfragen auslöst)? Warum weiss Ray so genau von den Angewohnheiten seiner Opfer und dementsprechend über die bestmögliche Platzierung seiner Chargen, wo er doch seine ganze Zeit offensichtlich damit verbringt, May zu stalken und dabei seine aufgezeichneten Telefon-Gespräche mit ihr auf dem Walkman zu hören? Warum braucht May so lange, um zu merken, dass ein nicht gerade unauffälliger Typ sie ständig stalkt? Wo nimmt Ray, der von der CIA bestimmt keine großzügigen Pensionsansprüche zu erwarten hat, das ganze teure Hightech-Spreng-Material her, mit dem er eine komplette ausrangierte Lagerhalle füllen kann? Wie genau hat er denn eigentlich (als rangmäßig unterlegener Agent) dafür sorgen können, dass Trent ebenfalls gefeuert wird, da doch ihr tödlicher Auftrag ordnungsgemäß ausgeführt wurde? Wie kann die 25-jährige May ihren eigenen Tod glaubhaft vortäuschen, in dem sie ihren Ausweis mit dem einer über 60-jährigen Frau austauscht, die sie nur ganz zufällig getroffen hat? Und wie konnte sie wissen, wie diese Frau heisst? Warum altert May offenbar als einzige Filmfigur im Flashback-Jetztzeit-Vergleich? Warum ist Ned so schnell am Tatort, wenn wieder einer vom Leon-Clan in die Luft gesprengt wurde, erkennt aber Ray nicht, der zehn Meter daneben steht? Warum gehen Ray und May, die offensichtlich schnellstmöglich fliehen wollen, in das nächst gelegene Hotel Hilton, um da erst einmal die ganze Nacht... zu duschen? Warum sprengt der moralisch anspruchsvolle Ray bei einem Fluchtversuch ein ganzes Restaurant in die Luft, obwohl da höchstwahrscheinlich zahlreiche Unschuldige drinsaßen? Und schlägt der Selbstzerstörungsmechanismus in Rays Lagerhalle nicht ein kleines bisschen über die Stränge?

Das allerwichtigste dürfte jedoch sein: wen zum Teufel interessieren diese völlig unwichtigen und belanglosen Fragen? Den Film selbst ganz offensichtlich nicht, denn der hat was anderes zu tun. In der Tat pfeift THE SPECIALIST mit einer bewundernswerten Sorglosigkeit auf zahlreiche „Logikfragen“, die er höchst gekonnt im Sinne einer effizienten Filmökonomie einfach umgeht. Action, Atmosphäre, Handlung und rhetorische Schlagfertigkeit sind die treibenden Kräfte dieses fast ruhelosen Films, der sich zu keinem Zeitpunkt seiner Genre-Begrenzungen schämt (und es auch nicht braucht). Mit anderen Worten: ein Film, der ganz und gar Film ist, auch wenn das ebenfalls bedeutet, dass auf dem laufenden Zelluloid eine große Menge an Schmierigkeit, Klischees und oberflächliche Dummheiten mit aufgesammelt werden, die an der Oberfläche eine auf den ersten Blick etwas unappetitliche Kruste bilden.

Unter dieser verbergen sich jedoch zahlreiche viele Qualitäten und manch große Schönheit. So sind Fotografie, Ausleuchtung und Schnitt so makellos, zugleich aber auch mit einer eleganten Diskretion versehen, dass die meisten Hasser dieses Films das vollkommen übersehen. Die zahlreichen Schauplätze werden mine de rien in ihrer ganzen materiellen Textur exzellent eingefangen – um nicht zu sagen atemberaubend, wenn man es sich wirklich überlegt. Der drückend verhangene Himmel im grünen Dschungel bei Bogotá, der „grau-grünes“ Licht auf Ray und Ned hämmern lässt. Die Schummerigkeit und Neonlichter der Nachtclubs in Miami. Sonnendurchflutete Gangstervillen-Terrassen. Die mediterrane Ausgelassenheit der Miami‘er Latino-Viertel. Die staubige Luft von Luxushotel-Fluren. Die in Dunkelheit eingetauchte Einsamkeit in Rays konspirativer Wohnung, nächstens durchbrochen von den Lichtern vorbeifahrender Metros und morgens von den körnigen Sonnenstrahlen, die durch die Lamellenjalousie brechen. Überhaupt die Sonne. Als würde man das transpirationsinduzierende Aufprallen der Sonnenstrahlen auf die entblösste menschliche Haut spüren. „Glatter“ Look? Ja, vielleicht! Aber eine überzeugende „Glattheit“ (die deutlich macht, dass „Rauheit“ kein Wert an sich ist).

Zu sagen, dass die Action in THE SPECIALIST exzellent inszeniert ist, mag vielleicht müßig erscheinen, aber gut inszenierte Action ist nie eine Selbstverständlichkeit: übersichtlich, immersiv, räumlich weitestgehend kohärent, spannend und spektakulär ist sie hier. Im Kulturpessismus-Modus könnte man sagen: Attribute, die auf viel zu viele heutige Actionfilme nicht zutreffen. Vielleicht hat THE SPECIALIST etwas zu viele auskostende Zeitlupen in seinen Massenexplosions-Sequenzen. Das ist jedoch ein Stilmittel, das im Gegensatz zu den heute so überaus beliebten Wackelkamera-Schnellschnitt-Orgien diese Bezeichnung jedenfalls verdient.

Und doch wäre dies alles vielleicht nur halb so schön, wäre da nicht John Barrys Score. Der Brite setzt in gewohnter James-Bond-Manier auf einige wenige, relativ einfache, jedoch sehr konsistent und konsequent durchgehaltene Musik-Stücke. Zwei dramatische Themen mit kleinen Variationen und ein romantisches Thema, alle drei mit simplen aber ergreifenden und einprägsamen Melodien, durchziehen THE SPECIALIST. Diese stets elegische extradiegetische Musikbegleitung steht in einem sehr krassen Gegensatz zu den intradiegetischen Klängen, die aus Nachtclubs, Autoradios und Kopfhörern zu uns stoßen und die das Allerschlimmste aus Latin-Verschnitt und peinlichem 1990er-B-Popmusik vereinigt. Eigentlich ist die intradiegetische Musik zum Davonlaufen, verbindet sich aber mit der vorhin angesprochenen visuellen Schmierkruste zu einer merkwürdig betörenden Mischung.


Von den versteckten Qualitäten des Films können wir nun zur ganz offensichtlichen Spitze des Eisbergs gelangen: den Darstellern. Über deren Leistungen kann man sich prächtig streiten, wie auch die Himbeer-Preise und -Nominierungen zeigen. Am ehesten auch von Hassern des Films anerkannt wird James Woods in seiner Nebenolle als (Haupt-)Bösewicht. Das ist nicht verwunderlich: in einem von überlebensgroßen Figuren nur so strotzenden Film überragt sein Ned Trent alle anderen wie ein Koloss. Dieser großartige Schauspieler, der in (zu wenigen) Haupt- und (gerade genug) Nebenrollen glänzt, spielt hier, als gäbe es kein Morgen, und kostet seine Ausdruckspalette zwischen vollkommen exzessivem Overacting und extrem subtiler Mimik voll aus. Die Verrücktheit Neds demonstriert er am spektakulärsten in der Szene, in der er in einer Polizeistation exaltiert aus einem Stück Plastiksprengstoff und einem Kugelschreiber eine Bombe baut, und damit droht, das Gebäude in die Luft zu sprengen (zu bewundern hier). So subtil demonstriert Woods zugleich die grenzenlose Verachtung gegenüber Joe Leon (den er offenbar wie den Rest seiner Familie und Mitarbeiter für einen zurückgebliebenen Bauern hält), wenn dieser ihm den Rücken kehrt: mit einem fast unsichtbaren millimeterweisen Zucken der Mundwinkel.


Weniger offensichtlich ist die meisterhafte Glanzleistung des Mannes, der wohl bis an sein Lebensende zu Unrecht als der große Bruder von „Pretty Woman“ gelten wird: Eric Roberts. Mit seiner Darstellung des schmierigsten, widerwärtigsten, abstoßendsten, lächerlichsten Dummbrotes von einem prolligen Mafioso in der Film-Geschichte hämmert er gezielt auf der Tastatur des Abscheus, die tief in jedem Cinephilen schlummert. Tomas Leon ist die Karikatur eines Klischees eines prolligen Gangsters. Ein Widerling, der davon  überzeugt, dass er unwiderstehlich (nicht ahnend, dass die Verführte seinen Tod bringen wird), megacool (Rauchringe und One-Liner wie „What I want, I take“ von sich gebend), romantisch zum Dahinschmelzen (Leute vor seiner neuen Freundin verprügelnd) und ultrahart (Springklingen-Messer vor den Gesichtern harmloser Passanten wedelnd) zugleich sei. Alles nichts im Vergleich zum widerlichsten Luftküsschen in der Geschichte der Menschheit, den er vollkommen unvermittelt Freunden wie Feinden gleichermaßen entgegen haucht.


Sylvester Stallone hingegen, der bekanntermaßen eher auf Charisma denn auf Charakterdarstellung mit emotional differenzierter Mimik setzt, verkörpert mit seinem Understatement sehr passend den tiefen melancholischen Weltschmerz eines Mannes, der einen labilen Gefühlshaushalt verwaltet, der gerne anhängliche Straßenkatzen adoptiert und der letztlich den ihm angetragenen Tötungsauftrag impulsiv annimmt, nachdem ihn sein potentielles Opfer auf der Straße mit dämlichen Sprüchen dumm gemacht und mit einem Messer bedroht hat. Wo andere Depressive ins Glas blicken, greift er zu Plastiksprengstoff, um sich Erleichterung zu verschaffen. Mithin wirkt Ray aber auch verloren in einem Spinnennetz aus überkreuzten Rachegelüsten, in den er wahlweise als Zielobjekt oder als Erfüllungsgehilfe verstrickt wird. Und so nimmt er immer wieder seine Sonnenbrille ab, um in dieser verwirrenden Welt, in der böse Männer unschuldige Kinder zeugen und schwangeren Frauen einen Busplatz verweigern, den Überblick und die Fassung bewahren zu können.

Wie vorhin angesprochen ist THE SPECIALIST kein Film, der sich groß mit unwichtigen Fragen beschäftigt, sondern einer, der einfach drauf los prescht, ohne jegliche Skrupel bezüglich Kollateralschäden „realistischer“ Logik. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass er nicht zutiefst detailverliebt ist. Er platzt, ja explodiert geradezu vor lauter kleiner Details. Ein Straßenkater wird nicht nur zum Haustier, sondern gleich noch zum Nebencharakter adoptiert, der Buddy- wie auch Psychiater-Qualitäten in sich vereint. Ein Barmann mit einem Vokuhila serviert Tequila und gibt Feuer. Eine Escort-Dame lässt gerne Kaugummi-Blasen platzen. Ein Sprengstoff-Spezialist hasst Messer und wirft Pistolenlader in Weihwasserbecken weg. Ein anderer Sprengstoff-Spezialist fährt in einem knallroten Cabrio durch die Gegend, der in der gleißenden Sonne Miamis manchmal ins Rosarote kippt. Ein Mafia-Boss ist unsterblich in seine eigene Altmänner-Brust verliebt, fürchtet sich aber vor seiner eigenen Couch. Eine hübsche Latina-Polizistin bildet mit ihrer natürlichen, ein wenig schüchternen Art ein markantes Gegengewicht zur stilisierten femme-fatale-Hauptfigur im Bereich sex appeal. Ein hoffnungsloser Romantiker beobachtet die Metro und bewundert ihre Pünktlichkeit.

THE SPECIALIST ist ein Film, der mit einer rauhen Menge an Naivität ausgestattet einen riesigen Spaß an sich selbst hat. Ein Film, der Mut zur Peinlichkeit beweist – und das nicht selten. Ein Film, der trotzdem lacht, wenn alle ihn dumm finden. Ein Film, der ausgerechnet bzw. passenderweise in seiner (Quoten-)Sexszene all seine Qualitäten zusammenfasst: eine todesmutige Gratwanderung zwischen schmierigem Trash und entrückt schönen emotionalen Eruptionen, zwischen grotesker Freakshow und einem irrsinnigen ästhetischen Rausch.