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Samstag, 17. März 2018

Die Mauern von Malapaga

DIE MAUERN VON MALAPAGA (ital. LE MURA DI MALAPAGA, franz. AU-DELÀ DES GRILLES, auch LES MURS DE MALAPAGE)
Italien/Frankreich 1949
Regie: René Clément
Darsteller: Jean Gabin (Pierre), Isa Miranda (Marta/Malin), Vera Talchi (Cecchina/Janine), Andrea Checchi (Giuseppe), Robert Dalban (Bosco)


Der nicht mehr ganz junge Pierre ist auf der Flucht: In Frankreich hat er in einem Anfall rasender Eifersucht seine junge Frau oder Geliebte getötet, und die französische Polizei ist ihm schon auf den Fersen. Mit Hilfe des Matrosen Bosco kann er unter Deck eines Frachtschiffes entkommen, aber das fährt erst mal nur bis Genua und liegt da einige Tage vor Anker. Am besten sollte Pierre auf dem Schiff bleiben und die Weiterfahrt abwarten, doch dummerweise wird er gerade von unerträglichen Zahnschmerzen geplagt. So geht er, ohne Italienisch zu können, von Bord, um sich vom erstbesten Zahnarzt behandeln zu lassen und dann so schnell wie möglich zurückzukommen. Weil er nur Francs bei sich hat, wechselt er im Hafenviertel einen Teil davon in italienisches Geld, doch dabei gerät er an einen Ganoven, der ihm Falschgeld andreht und den Rest des Geldes klaut, ohne dass es Pierre zunächst bemerkt. Die ca. zwölfjährige Cecchina (in der deutschen Synchronfassung Janine), die ihm über den Weg läuft, bringt ihn zum Zahnarzt - sie spricht Französisch, denn sie ist mit ihrer Mutter erst kürzlich aus Nizza nach Genua gekommen. Beim Zahnarzt bemerkt Pierre den Verlust des Geldes, aber der Doktor zieht ihm den eitrigen Zahn trotzdem, freilich ohne Betäubung. Jetzt hat Pierre richtig Hunger, zugleich ist sein Kampfgeist auf ein Minimum geschwunden, und so beschließt er, sich der Polizei zu stellen - im Gefängnis wird man ihn wenigstens durchfüttern. Als ihn auf dem Polizeirevier zunächst mal niemand beachtet und eine Kellnerin aus einem Restaurant um die Ecke eine Mahlzeit bringt, ändert Pierre seinen Plan etwas: Er folgt der Kellnerin in ihr Lokal, um sich kostenlos den Bauch vollzuschlagen und danach zur Polizei zurückzukehren - mehr als der Totschlag wird ihm die Zechprellerei auch nicht einbringen.


Pierre gönnt sich also ein üppiges Essen und unterhält sich dabei mit Marta, der Kellnerin (in der deutschen Synchro heißt sie Malin). Wie sich erweist, ist sie die Mutter von Cecchina, und sie hat gerade Probleme: Sie hat sich in Nizza von ihrem herrschsüchtigen Mann Giuseppe, der zudem eine anrüchige Bar betreibt, getrennt und ist nach Genua geflohen, doch jetzt hat sie Giuseppe aufgespürt. Er bedroht Marta und will Cecchina mit sich nach Nizza nehmen. Just während Pierres Festmahl taucht er im Lokal auf, und Cecchina entkommt ihm nur, weil Pierre gerade im Weg steht. Als es ans Bezahlen geht, nimmt Marta die falschen Scheine entgegen und dreht es so hin, dass für den Wirt nicht mehr erkennbar ist, wer mit Falschgeld bezahlt hat, und sie gibt Pierre sogar noch echtes Wechselgeld zurück. Danach begleitet er Marta noch ein Stück auf ihrem Weg nach Hause, und er wehrt dabei souverän einen erneuten Angriff von Giuseppe ab, der ihr aufgelauert hat. Nun will Pierre, gut gestärkt und mit frischem Mut, nicht mehr zur Polizei, sondern bei Dunkelheit zurück auf das Schiff. Doch man kommt leichter aus dem Hafen heraus als in ihn hinein - Pierre schafft es nicht, an den Wachen vorbeizukommen. Damit er nicht auf der Straße übernachten muss, geht er zurück zu Martas Wohnhaus und fragt sich zu ihr durch. Marta ist von seiner Rückkehr überrascht und zwar einerseits nicht unerfreut, aber andererseits will sie seine Anwesenheit vor Cecchina geheim halten, und so bringt sie Pierre in ein Turmgeschoß, das als Dachboden dient, und bereitet ihm dort eine notdürftige Schlafstelle, die er mit Cecchinas Huhn teilt.

Giuseppe auf der Lauer
In Genua beginnen bekanntlich gleich hinter der Küste die Berge, und so ist ein Teil der Stadt von schmalen, steilen Gassen geprägt. Die "Mauern von Malapaga", das sind ein Teil der umfangreichen alten Stadtmauern, von denen sich in Genua mehr als in jeder anderen italienischen Stadt erhalten hat. Da gab es einst Forts und Kasematten, auch einen Schuldnerturm, und viele dieser trutzigen Gemäuer beherbergen nun, nach dem Zweiten Weltkrieg, schäbige Mietskasernen für die Gestrandeten. Auch Marta wohnt mit Cecchina in so einer von den äußeren Dimensionen her eindrucksvollen, aber halb verfallenen Wohnburg, die mal ein Kloster war, weit über der Küstenlinie. - Pierre schläft sich also auf dem Dachboden gründlich aus, und bei seiner Unterhaltung mit Marta am nächsten Vormittag hat sich an seinen Plänen nichts geändert - er will immer noch versuchen, so schnell wie möglich auf das Schiff zu kommen. Marta dagegen will ihn überreden, in Genua zu bleiben und eine falsche Identität anzunehmen. Sie sagt es noch nicht, aber es ist offensichtlich, dass sie auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm hofft. Unterdessen hat Giuseppe Cecchina auf dem Schulweg aufgelauert, um sie zu entführen. Doch sie macht soviel öffentlichen Aufruhr, dass Giuseppe, Marta und Cecchina zur Klärung des Vorfalls bei der Polizei landen. Bis zu einer endgültigen gerichtlichen Klärung behält Marta recht, und Giuseppe kündigt an, vorerst nach Nizza zurückzufahren. Er wird nun nicht mehr im Film auftauchen.


Marta hatte nach Pierres Übernachtung seine Anwesenheit immer noch vor Cecchina verheimlicht, doch die hat längst den Braten gerochen. Cecchinas Haltung Pierre gegenüber ist komplex und wechselhaft. Zunächst fand sie ihn interessant und war sichtlich stolz darauf, dass er ihre Hilfe benötigte, um den Zahnarzt zu finden. Doch jetzt, wo sie bemerkt, dass sich ihre Mutter für ihn interessiert (und sie auch noch ausschließt, indem sie nichts davon erzählt), wird sie eifersüchtig und empfindet Pierre als Eindringling, den sie loswerden will. Doch bei der Polizei ist sie natürlich loyal und erzählt nichts von Pierres Anwesenheit, weil das ein schlechtes Licht auf Marta werfen würde. Aber danach wird der Konflikt zwischen Mutter und Tochter deutlich, und Marta und Pierre fragen sich nun, ob Cecchina auch etwas von Pierres nächtlichem Mordgeständnis Marta gegenüber mitgekriegt hat. Cecchina sieht ihre Chance, Pierre loszuwerden, indem sie ihn mitten am Tag durch den Vordereingang in den Hafen schleust - mit ihr als Begleiterin erregt er keine Aufmerksamkeit. Nun ist es an Pierre, eine Entscheidung zu treffen. - Als Cecchina danach Marta im Lokal trifft, erzählt sie nur die halbe Wahrheit, nämlich dass Pierre auf dem Schiff ist und nicht mehr zurückkommt. Ihre eigene Rolle dabei unterschlägt Cecchina. Doch als die beiden nach Hause kommen, ist Pierre zu ihrer Überraschung schon da. Er hat sich im Hafen für Marta entschieden und ließ sich nur noch von Bosco seinen Koffer aushändigen, der noch an Bord war, und in dem er auch noch eine größere Menge Geld und einige Wertsachen hatte.

Mietskaserne; rechts unten: dort, im Turm, hat Pierre übernachtet
Pierre nutzt den bescheidenen Geldsegen, um Marta einige neue Kleider zu kaufen, und die beiden machen einen Ausflug. Die Welt der beiden scheint nun in guter Ordnung zu sein, doch in Wirklichkeit ist sie zum Untergang verdammt. Die französische Polizei hat sich mit der italienischen in Verbindung gesetzt, bei dem Ganoven, der Pierre beklaut hatte, fand man seinen Ausweis, und über den Zahnarzt hat sich die Genueser Polizei inzwischen zu Martas Restaurant vorgearbeitet und ihre Adresse herausgefunden. Auch wenn in der Mietskaserne kein Mensch der Polizei gegenüber jemals von Pierre gehört hat (obwohl alle von seiner Anwesenheit wissen, weil es hier keine Geheimnisse gibt) - es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis man ihn schnappen und nach Frankreich ausliefern wird. Cecchina, nun wieder loyal, will Pierre vor der Polizei warnen, wenn er vom Ausflug zurückkommt. Doch Pierre und Marta übernachten irgendwo (und schlafen wahrscheinlich miteinander, doch das wird zumindest in der deutschen Fassung ausgeklammert), so dass Cecchina Warnungen mit Kreide an die Mauern kritzelt und dann draußen auf den Stufen einschläft. Dort sehen sie dann Pierre und Marta bei ihrer Rückkehr, wollen sie umgehen - und laufen gerade deshalb der Polizei in die Arme. Pierre wird verhaftet, und er resigniert umgehend. Marta bleibt mit Cecchina zurück. Sie wird ihn wohl nie wiedersehen.

Cecchina mit Huhn, und beim Grübeln: Was soll sie mit Pierre anfangen?
Poetischer Realismus trifft Kino der Qualität trifft Neorealismus. So ungefähr könnte man DIE MAUERN VON MALAPAGA in einem Satz zusammenfassen. Fangen wir mit dem Neorealismus an. Dafür war einerseits der Schauplatz Genua zuständig. Zwar entstanden die Innenaufnahmen in Rom, aber es wurde viel on location in den Straßen und Gassen von Genua gedreht. Kameramann Louis Page fängt hier wuselndes Leben in den Straßen ebenso wie reichlich Spuren des Zerfalls ein, und gelegentlich fragt man sich, ob das Spuren des Krieges sind, oder ob der Verfall hier schon seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten am Werk ist. Dem Neorealismus zuzurechnen waren auch Cesare Zavattini und Suso Cecchi D'Amico, die zusammen mit Alfredo Guarini, dem Produzenten des Films (und Ehemann von Isa Miranda), die erste Drehbuchfassung schrieben. Cesare Zavattini war nicht nur ein sehr produktiver Drehbuchautor, sondern auch ein Vordenker und Theoretiker des Neorealismus. Besonders eng war seine Zusammenarbeit als Autor mit De Sica, für den er bei rund zwei Dutzend Filmen am Drehbuch mitarbeitete, darunter Hauptwerke des Neorealismus wie SCHUHPUTZER (SCIUSCIÀ), FAHRRADDIEBE und UMBERTO D. Aber auch mit anderen Regiegrößen von Antonioni über Fellini bis Visconti hat Zavattini zusammengearbeitet. Nicht minder beeindruckend ist das Œuvre von Suso Cecchi D'Amico, die ebenfalls an FAHRRADDIEBE beteiligt war, aber vor allem mit Visconti (u.a. SENSO, WEISSE NÄCHTE, ROCCO UND SEINE BRÜDER, DER LEOPARD) und später Zefirelli eng zusammenarbeitete. - "Kino der Qualität", das klingt zunächst mal positiv, aber es war ein negativ besetzter Kampfbegriff. So wie die Regisseure des Jungen Deutschen Films gegen "Papas Kino" antraten, so hatten die Kritiker der Cahiers du cinéma und baldigen Regisseure der Nouvelle Vague eben das "Kino der Qualität" (cinéma de qualité) oder die "Tradition der Qualität" (tradition de la qualité) als Feindbild auserkoren, gegen das sie unermüdlich polemisierten. Verstanden wurde darunter der französische Nachkriegsfilm, der sich ihrer Meinung nach durch ein Übermaß an sterilen Literaturverfilmungen auszeichnete. Typische und von den Cahiers-Kritikern angegriffene Regisseure waren etwa Claude Autant-Lara, Jean Delannoy, Henri-Georges Clouzot und auch René Clément.

Über den Dächern von ... nicht Nizza, sondern Genua
Nun muss man die damaligen Bilderstürmer von den Cahiers du cinéma in ihrem jugendlichen Überschwang zwar verstehen (und sie ließen ihren Worten ja auch Taten folgen), aber ihren Urteilen über die Geschmähten muss man sich nur partiell anschließen - oft schossen sie über das Ziel hinaus oder lagen ganz daneben, und das gilt auch für den vor allem von Truffaut angegriffenen Clément. Der hatte nach Lehrjahren als Mitarbeiter von Jacques Tati und als Dokumentarfilmer 1946 seinen semidokumentarischen ersten Spielfilm BATAILLE DU RAIL (SCHIENENSCHLACHT) vorgelegt, der ein Kapitel aus der Geschichte der Résistance in der französischen Eisenbahn rekapituliert. Im selben Jahr war Clément als technischer Berater oder (ungenannter) Co-Regisseur an Jean Cocteaus LA BELLE ET LA BÊTE beteiligt (mir ist nicht ganz klar, wie groß sein Anteil daran tatsächlich war). DIE MAUERN VON MALAPAGA war Cléments vierter Spielfilm, 1952 hatte er mit JEUX INTERDITS (VERBOTENE SPIELE) seinen vielleicht größten Erfolg. Auch danach hatte er interessante Filme vorzuweisen. Er probierte dabei viele Stile und Genres (was manchmal zu seinen Ungunsten ausgelegt wurde). René Cléments letzter Film erschien 1975, aber er lebte noch bis 1996.


Geradezu archetypische Vertreter des "Kino der Qualität" waren Jean Aurenche und Pierre Bost, die das Drehbuch von Zavattini, Cecchi D'Amico und Guarini noch überarbeiteten und insbesondere für die französischen Dialoge zuständig waren. Fast immer gemeinsam (bis zu Bosts Tod 1975) schrieben sie Drehbücher wie am Fließband. Der direkteste Cahiers-Angriff auf das Kino der Qualität bestand in Truffauts Artikel "Eine gewisse Tendenz im französischen Film" (Une certaine tendance du cinéma français) vom Januar 1954, und darin griff er auch Aurenche und Bost frontal an. Aber auch wenn Truffaut und seine Mitstreiter zeitweise die Meinungshoheit errangen, so überstanden das Aurenche und Bost unbeschadet. Sie blieben produktiv und schrieben in späteren Jahren beispielsweise die (meiner Meinung nach) besten Filme von Bertrand Tavernier.

Zerfall
War da nicht noch was? Ach ja, Poetischer Realismus. Da denkt man an Filme wie Duviviers PÉPÉ LE MOKO, Renoirs LA BÊTE HUMAINE und Carnés LE QUAI DES BRUMES und LE JOUR SE LÈVE. In all diesen Filmen treibt Jean Gabin seinem scheinbar unentrinnbaren Schicksal entgegen, und am Schluss des Films wird er verhaftet (PÉPÉ LE MOKO) oder er stirbt (in den anderen drei Beispielen). DIE MAUERN VON MALAPAGA nimmt quasi als Reprise dieses Handlungsmuster noch einmal auf. Aber 1949 war nicht nur der Schauspieler Jean Gabin sichtlich um ein Jahrzehnt gealtert, sondern auch die Figur Pierre lässt viel vom Mut und der Energie der Vorgänger aus den 30er Jahren vermissen. Nur halbherzig kämpft er um seine Zukunft, und mehr als einmal will er vorzeitig aufgeben und sich der Polizei stellen. Für Gabin waren die 40er Jahre ein schlechter Abschnitt, was seine Karriere betraf. Nur sechs Filme mit ihm kamen in diesem Jahrzehnt heraus, ein herber Rückschritt gegenüber seinem Triumphzug in der zweiten Hälfte der 30er Jahre. Erst in den 50er Jahren, als er sich in das neue Rollenbild des gesetzten älteren Herrn eingefügt hatte (der dann immer noch Gangster ebenso wie Kommissar sein konnte), startete er wieder durch. DIE MAUERN VON MALAPAGA fällt also in eine Übergangsperiode für ihn.

Der letzte Ausflug
Gabin hat gelegentlich seine Filmpartnerinnen an die Wand gespielt, in geradezu peinlichem Ausmaß beispielsweise in LES BAS-FONDS (NACHTASYL). Doch in DIE MAUERN VON MALAPAGA hat er in Isa Miranda eine in jeder Hinsicht gleichwertige Partnerin. Von ihren Anfängen in den 30er bis in die 50er Jahre war sie einer der größten weiblichan Stars im italienischen und europäischen Film (auch einen kurzen Abstecher nach Hollywood machte sie). Danach begann ihr Ruhm zu verblassen, auch wenn sie weiter aktiv blieb, und sie geriet in finanzielle Nöte. In DIE MAUERN VON MALAPAGA sieht man mit ihr keinen Star am Werk, sondern eine gänzlich unprätentiöse und ausdrucksstarke Darstellerin. Es ist einfach wunderbar, wie sie die Kellnerin verkörpert, die mit 34 schon die Hoffnung auf das große Glück aufgegeben hat, die nun die sich bietende Chance mit aller Kraft festhalten will und dafür auch den Konflikt mit ihrer Tochter in Kauf nimmt. Miranda bekam dafür 1949 in Cannes den Preis für die beste Darstellerin, wie auch Clément den für die beste Regie bekam. Und schließlich gab es für DIE MAUERN VON MALAPAGA auch noch den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

Cecchina kritzelt Warnungen an die Mauern - und schläft dann ein
DIE MAUERN VON MALAPAGA ist in Italien und Frankreich auf diversen DVDs erschienen. - Eine gewisse Verwirrung herrscht bezüglich der Laufzeit des Films. Die üblichen Quellen nennen 104 Minuten für Italien, 95 Minuten für Frankreich und 87 Minuten für Deutschland. Doch die Zensurfreigabe für Italien vom Juni 1949 nennt eine Länge von 2410 Metern, was einer Laufzeit von 88 Minuten entspricht. Wo da noch Platz für eine 104-minütige Version ist, weiß ich nicht. Und die 88 Minuten sind schon nah an den 87 Minuten der deutschen Version (woraus im Fernsehen durch den PAL-Speedup 83 Minuten werden). Falls die italienische Version einen längeren Vorspann hat als die deutsche, könnten die beiden Versionen sogar ansonsten gleich lang sein. Auf YouTube findet man derzeit eine französische Fassung von 83 Minuten, also exakt die Länge der deutschen Version. Ist das (bzw. im Kino 87 oder 88 Minuten) womöglich die tatsächliche Originallänge? Doch für die französischen DVDs wird auf Amazon eine Laufzeit von 95 Minuten angegeben (was dann im Kino sogar 99 Minuten ergeben müsste). Ich werde da nicht schlau daraus. - Wie dem auch sein mag: Die deutsche Synchronfassung (die ich bis jetzt als einzige kenne) mit einer TV-Länge von 83 Minuten findet man in ausgezeichneter Bildqualität auf archive.org als Stream und Download. Quelle ist eine Ausstrahlung im MDR. Ob man dieses Angebot auch in Deutschland als legal betrachten kann, entzieht sich meiner Kenntnis.

Sonntag, 24. November 2013

Wenn es Nacht wird in Paris

TOUCHEZ PAS AU GRISBI (WENN ES NACHT WIRD IN PARIS)
Frankreich 1954
Regie: Jacques Becker
Darsteller: Jean Gabin (Max), René Dary (Riton), Lino Ventura (Angelo), Paul Frankeur (Pierrot), Michel Jourdan (Marco), Jeanne Moreau (Josy), Dora Doll (Lola), Marilyn Buferd (Betty)


Max und Riton, zwei gealterte Gangster und Freunde seit 20 Jahren, haben gerade das letzte, das ganz große Ding gedreht: In Orly erbeuteten sie Goldbarren im Wert von 50 Millionen (alten) Francs. Alles ging gut - niemand hat sie erkannt, niemand verdächtigt sie, das Gold ist sicher verstaut. Jetzt ist es an der Zeit, sich zur Ruhe zu setzen und einen bürgerlichen Lebensabend zu genießen. Doch natürlich kommt es anders. Der nicht sehr helle Riton verplappert sich gegenüber seiner Freundin, der Varietétänzerin Josy, ohne zu wissen, dass diese inzwischen genug von ihm hat und die neue Geliebte des Zuhälters und Drogenhändlers Angelo ist. Und der will nun den Kuchen für sich. Sein erster Versuch, Max und Riton durch seine Männer auszuschalten, scheitert, und die beiden sind nun gewarnt. Sie tauchen in der geheimen Zweitwohnung von Max unter. Max beabsichtigt, Angelo zu ignorieren, das Gold so schnell wie möglich bei seinem Onkel, einem Hehler, gegen Geld einzutauschen und dann endgültig abzutauchen. Doch der in seiner Ehre gekränkte Riton will sich an Josy rächen und wird dabei von Angelo geschnappt. Dieser setzt Max unter Druck: Ritons Leben im Austausch gegen das Gold. Mit Unterstützung des befreundeten Nachtclubbesitzers Pierrot und des jungen Kollegen Marco holt Max zum Gegenschlag aus. Beim Austausch von Gold gegen Geisel kommt es zum Showdown, der mit schwerem Gerät (Handgranaten und Maschinenpistolen) ausgetragen wird, und am Ende gibt es viele Tote, wenige Überlebende, und keinen Gewinner.

Nachtleben in Pigalle. Riton, Max, Marco (v.l.n.r.)
TOUCHEZ PAS AU GRISBI wurde zu einem Prototypen und herausragenden Beispiel des französischen Film noir und Kriminalfilms der 50er und 60er Jahre. An technischen Details des Verbrecherberufs zeigt er sich nicht interessiert. Einen minutiös geplanten und durchgeführten Einbruch oder Überfall, wie in RIFIFI oder mehrfach bei Jean-Pierre Melville, gibt es nicht zu sehen. Ganz im Gegenteil: Am Anfang des Films hat der Coup bereits stattgefunden, die Beute lagert scheinbar sicher im Kofferraum von Max' Auto in einer Tiefgarage. Umso mehr interessiert sich Jacques Becker für die Mechanismen von Freundschaft, Ehre und Verrat in der Gesellschaft der Gangster und Ganoven und die sich daraus ergebenden Zwänge und Rituale, und hier erweist sich TOUCHEZ PAS AU GRISBI dann doch als ein Vorläufer der Filme von Melville (der 11 Jahre jüngere Melville war auch ein Bewunderer von Becker). Ebenso interessiert zeigt sich der Film am wenig glamourösen und gelegentlich sogar spießbürgerlich wirkenden Alltag seiner Protagonisten. Die Abende verbringen sie meist in den Bistros und Nachtclubs rund um den Place Pigalle, das traditionelle Zentrum der Pariser Halb- und Unterwelt. Doch Max hat längst die Freude daran verloren, er sieht keinen Sinn mehr darin, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, und er sehnt den seiner Meinung nach wohlverdienten Ruhestand herbei. In der Szene in Max' Geheimwohnung kann man ausgiebig dabei zusehen, wie Max das Abendessen serviert, seinen Freund mit sorgsam gefalteter Bettwäsche, Handtuch und Schlafanzug versorgt, wie sich die beiden älteren Herren im Pyjama die Zähne putzen (auch in Melvilles erstem Genre-Film BOB LE FLAMBEUR sieht man den Titelhelden im Schlafanzug), wie Riton im Spiegel skeptisch seine Falten und Tränensäcke begutachtet. In TOUCHEZ PAS AU GRISBI wird das Verbrecherdasein (und damit der Verbrecherfilm) entmythologisiert. In den Dialogen wird reichlich Argot verwendet, der traditionelle französische Verbrecher-Slang, was auch bereits im dem Film zugrunde liegenden Roman von Albert Simonin der Fall ist (das Buch enthielt sogar ein Glossar mit den einschlägigen Ausdrücken, um die Leser nicht zu überfordern).

Josy (links) und Lola
TOUCHEZ PAS AU GRISBI punktet auch mit den reich texturierten Schwarzweißbildern, die Becker und sein Kameramann Pierre Montazel schufen. WENN ES NACHT WIRD IN PARIS spielt fast vollständig in der Nacht, deshalb ist der deutsche Titel durchaus passend, auch wenn er nichts mit dem Originaltitel (der ungefähr "Hände weg von der Beute" bedeutet) zu tun hat. - Die Besetzungsliste des Films klingt heute wesentlich illustrer als damals. Lino Ventura spielt seine erste Rolle überhaupt, und er stolperte eher zufällig in dieses Abenteuer. Er hatte damals überhaupt keine Absichten, Schauspieler zu werden, und Becker kann man getrost als seinen Entdecker bezeichnen. Jeanne Moreau hatte auch erst einige wenig beachtete Rollen gespielt. Und Jean Gabins Karriere war nach den grandiosen Erfolgen der 30er Jahre in den 40ern deutlich ins Stocken geraten (er hatte in diesem Jahrzehnt nur sechs oder sieben Filme gedreht), und es war TOUCHEZ PAS AU GRISBI, der ihr wieder Schubkraft verlieh. Am ehesten war damals noch Paul Frankeur ein zugkräftiger Name, aber ein echter Star war er auch nicht. Dieses Fehlen großer Namen trug dazu bei, dass der Film relativ billig war.

Unterweltgrößen unter sich
Wie ich in meiner Renoir-Reihe schon erwähnte, war Jacques Becker in den 30er Jahren regelmäßig Jean Renoirs Regieassistent. Tatsächlich war er damals Renoirs engster Mitarbeiter, ein sehr guter Freund und zeitweilig fast ein Familienmitglied. Gelegentlich spielte er in den Renoir-Filmen auch kleinere Rollen. Nach ersten bescheidenen Regieversuchen in den 30er Jahren und einem Jahr in Kriegsgefangenschaft trat er 1942 mit seinem ersten Spielfilm hervor. Die Nähe zu Renoir hat dazu geführt, dass Becker trotz Meisterwerken wie CASQUE D'OR (GOLDHELM) und LE TROU (DAS LOCH) oft als Epigone des großen Meisters abgetan wurde, vergleichbar vielleicht mit dem ein Jahr später geborenen Rudolf Jugert, der (ebenfalls zu Unrecht) oft nur als Anhängsel von Helmut Käutner betrachtet wurde. Dabei sind auch einige seiner weniger bekannten Filme sehenswert, etwa ANTOINE ET ANTOINETTE (ZWEI IN PARIS), in dem die Suche nach einem verschwundenen Lotterieschein als Aufhänger dazu dient, die Alltagsnöte eines jungen Paars in Paris liebevoll auszubreiten (dieser Film hat ESA PAREJA FELIZ, den ersten Spielfilm von Juan Antonio Bardem und Luis García Berlanga, stark beeinflusst). "Ich bin Franzose, ich mache Filme über die Franzosen, ich schaue auf die Franzosen, ich interessiere mich für die Franzosen", sagte Becker (der eine schottische Mutter hatte) einmal in einem Interview.

Hochnotpeinliche Befragung eines gefangenen Gegners (rechts jeweils Pierrot)
TOUCHEZ PAS AU GRISBI ist in den USA bei Criterion und in England (jeweils unter dem Originaltitel), in Frankreich und in einigen anderen Ländern auf DVD erschienen (aber in Deutschland wieder mal nicht). Morgen läuft er als WENN ES NACHT WIRD IN PARIS um 20:15 Uhr auf arte.

Donnerstag, 20. Juni 2013

Nachtasyl - der Dieb, der Baron und die Schnecke

LES BAS-FONDS (NACHTASYL)
Frankreich 1936
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Jean Gabin (Pepel), Louis Jouvet (Baron), Junie Astor (Natacha), Suzy Prim (Vassilissa), Vladimir Sokoloff (Kostylev), Robert Le Vigan (der Schauspieler), Jany Holt (Nastia), Gabriello (Inspektor), René Génin (Luka)

Ein Baron mit Schnecke
Am Anfang kreuzen sich die Wege von zwei Männern, die bisher nichts gemein hatten, abgesehen davon, dass sie beide Diebe sind. Der Baron (seinen Namen erfährt man nicht, ebenso wie jenen des Schauspielers) ist Angehöriger der Aristokratie und ein hoher Beamter, doch seine Spielsucht hat ihn ruiniert. Er hat nicht nur enorme Schulden, sondern er hat auch in eine geheime Kasse seiner Behörde gegriffen, was nicht unbemerkt blieb. Zunächst sah man darüber hinweg, doch nun fordert ihn sein Vorgesetzter in diplomatisch gedrechselten Worten auf, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Ein letzter Versuch, im Spielcasino alles zurückzugewinnen, scheitert komplett, und er ist nun endgültig bankrott und wird von seinen Ämtern suspendiert. Für den nächsten Tag haben sich die Gläubiger mit dem Gerichtsvollzieher angesagt, um den geräumigen Stadtpalast des Barons leerzuräumen. Als er nächtens mit Selbstmordgedanken vom Casino dorthin zurückkehrt, trifft er einen unerwarteten Gast. - Pepel ist ein kleiner Dieb, der nichts anderes gelernt hat, weil schon sein Vater ein Dieb und Dauergast im Gefängnis war. Er haust in einem Nachtasyl, einem trostlosen Ort voller gescheiterter Existenzen, der im Wesentlichen aus einem einzigen großen Raum im Souterrain besteht, der auch tagsüber im Halbdunkel liegt. Dessen Besitzer, der windige Kostylev, ist zugleich Pepels Hehler, und Kostylevs Frau Vassilissa ist seine Geliebte. Er ist ihrer inzwischen überdrüssig, doch sie hängt an ihm wie eine Klette. Aber Pepel hat inzwischen ein Auge auf Vassilissas jüngere Schwester Natacha geworfen. Diese fühlt sich einerseits zu Pepel hingezogen, doch andererseits verachtet sie seine verbrecherische Lebensweise. Unter den Insassen des Asyls nimmt Pepel eine Sonderstellung ein: Er ist der einzige, der über Selbstachtung und Tatkraft verfügt, und der einer halbwegs einträglichen Arbeit nachgeht - und wenn es auch nur Einbruch und Diebstahl ist. Im Palast des Barons findet er aber in jener Nacht nicht die erhofften Reichtümer, und dann wird er auch noch vom Baron überrascht.

Der Baron noch in Amt und Würden; Pepel; Natacha; der Schauspieler
Die Begegnung verläuft anders, als man es unter solchen Umständen erwarten könnte. Der Baron erkennt in Pepel gewissermaßen einen Kollegen - Diebe unter sich -, und weil ihm in seinem Haus ohnehin nichts mehr wirklich gehört, lädt er Pepel kurzerhand ein. Der ist zunächst verblüfft und etwas misstrauisch, aber dann lässt er sich darauf ein. Und so gibt es ein improvisiertes Abendessen, und dann wird Karten gespielt bis zum Morgengrauen. Am Ende haben die beiden eigentlich sehr ungleichen Männer Freundschaft geschlossen, und der Baron hat aus der Unterhaltung mit Pepel die Erkenntnis gewonnen, dass auch ein Leben ohne Geld und Status lebenswert sein könnte. Zum Abschied schenkt er Pepel eine Bronzestatuette von zwei Pferden. Der wird damit von der Polizei aufgegriffen und ironischerweise für einen Dieb gehalten, doch der verständigte Baron, dessen Abstieg sich noch nicht herumgesprochen hat, eilt ins Polizeirevier und bekommt Pepel problemlos frei. Beim erneuten Abschied verspricht er, dass man sich wohl bald wiedersehen werde, ohne zu konkretisieren, was er damit meint. Doch das erweist sich bald: Er taucht in abgetragener Kleidung im Nachtasyl auf. Nachdem er buchstäblich alles bis auf die Kleider am Leib verloren hat, wird er jetzt selbst im Asyl wohnen. Dort hat sich unterdessen einiges getan. Pepel hat Vassilissa endgültig den Laufpass gegeben, aber die reagiert auf ihre eigene Art: Sie schlägt Pepel unverblümt vor, er solle Kostylev umbringen, dann könnten die beiden verschwinden und gemeinsam von dem Geld leben, das Kostylev durch seine Hehlerei angehäuft hat. Pepel lehnt nur angewidert ab. Kostylev droht Ungemach durch eine angekündigte Untersuchung der Polizei, aber ein korrupter jovialer Inspektor, der seine schützende Hand über seine krummen Geschäfte hält, bietet einen Ausweg: Er hat ebenso wie Pepel ein Auge auf Natacha geworfen, und so wird diese von Kostylev und Vassilissa genötigt, einen Sonntagsausflug mit dem Inspektor in ein Restaurant zu machen. Doch Pepel erwischt die beiden, was mit einem blauen Auge für den Inspektor endet und Pepel und Natacha dazu führt, sich gegenseitig ihre Liebe zu erklären. Pepel, der das Leben im Asyl schon lange satt hat, verspricht, das Stehlen aufzugeben und stattdessen seinen Unterhalt als ehrlicher Handwerker zu verdienen.

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft
Aber zunächst kommt es anders. Nachdem sich der Inspektor bei Kostylev über den Vorfall im Restaurant beschwert hat, verprügeln dieser und seine Frau Natacha. Pepel schreitet ein und will nun seinerseits Kostylev verprügeln oder gar umbringen. Die anderen Bewohner des Asyls kommen hinzu, und im allgemeinen Tumult wird Kostylev umgestoßen, er fällt mit dem Kopf auf einen Amboss und stirbt. Das nutzt Vassilissa zur Rache: Sie behauptet gegenüber der Polizei, Pepel habe ihren Mann ermordet. Obwohl die anderen Asylbewohner für ihn aussagen, wird er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Vassilissa, die Kostylev jetzt los ist, packt ihre Koffer, um mit seinem Geld aus der Stadt (und aus dem Film) zu verschwinden, ohne juristisch oder vom Schicksal bestraft zu werden. Natacha dagegen bleibt und wartet auf Pepel. Am Tag seiner Freilassung holt sie ihn am Gefängnis ab, und nachdem sich die beiden im Asyl vom Baron verabschiedet haben, wandern sie auf einer Landstraße in eine gemeinsame Zukunft, die von ehrlicher Arbeit geprägt sein wird.

Auf baldiges Wiedersehen
LES BAS-FONDS beruht auf dem gleichnamigen Bühnenstück von Maxim Gorki (das nacheinander zwei Titel trug - das deutsche "Nachtasyl" ist eine Übersetzung des ersten Titels, das franz. "Les Bas-fonds" und das engl. "The Lower Depths" des zweiten Titels, den das Stück bekam, nachdem es sich Gorki anders überlegt hatte). Doch Kenner von Gorki werden sich inzwischen wundern: Ziemlich wenig von dem, was ich bisher beschrieben habe, kommt in dem Stück vor, und jede Menge von dem, was bei Gorki passiert, habe ich noch nicht erwähnt. Renoir verstand Literaturverfilmungen immer so, nicht einfach eine Vorlage von einem Medium in ein anderes zu transportieren, sondern sich von einer Vorlage zu einer eigenständigen Schöpfung inspirieren zu lassen, und diese Einstellung rechtfertigt per se Abweichungen vom Original. Doch bei LES BAS-FONDS überstiegen diese Abweichungen das sonst bei ihm übliche Ausmaß. Gorkis Stück spielt komplett im Asyl, während im Film nicht einmal die Hälfte der Zeit dort verbracht wird. Etliche von Gorkis Figuren wurden von Renoir und seinem Co-Autor Charles Spaak in ihrer Bedeutung stark reduziert, bis hin zu Statisten ohne Dialoge, oder sie verschwanden ganz. Dagegen wurden die Rollen von Pepel und dem Baron stark ausgebaut und auch viel positiver gestaltet als im Stück. Nur wenige der ursprünglichen Charaktere bleiben im Film erwähnenswert. Da ist einmal der alte Vagabund Luka, der aus Mitleid und christlicher Nächstenliebe heraus den anderen im Asyl Trost spendet, was sich jedoch als zwiespältig entpuppt. Einerseits erleichtert er der sterbenskranken Anna mit seinen Tröstungen den unausweichlichen Tod (sie stirbt dann auch direkt nach ihrer einzigen Szene im Film), andererseits macht er dem Schauspieler Hoffnungen, die sich nicht erfüllen lassen. Dieser Schauspieler, der, wie oben schon erwähnt, namenlos bleibt, ist starker Alkoholiker und musste deshalb seinen Beruf schon vor Jahren aufgeben, doch Luka erweckt in ihm die Hoffnung, er könne in einer Klinik mit etwas Willensstärke von seiner Sucht geheilt werden und dann auf die Bühne zurückkehren. Doch am Ende des Films, während gleichzeitig Pepel aus dem Gefängnis entlassen wird, und Luka inzwischen weitergezogen ist, macht der Baron dem Schauspieler klar, dass das nur Illusionen sind. Aller Hoffnungen beraubt, und schon halb im Delirium, erhängt sich der Schauspieler (was den Schluss des Stücks bildet, während im Film noch der Aufbruch von Natacha und Pepel folgt). Die letzte nennenswerte Figur ist Nastia, eine Prostituierte, die den anderen ständig von ihrem Liebhaber erzählt, der sie eines Tages aus der Hölle des Asyls holen wird. Doch der Liebhaber existiert nicht, es handelt sich um ein Wolkenkuckucksheim, das sie sich aus Kitschromanen zusammenliest; alle wissen es, und alle (außer Luka) machen sich darüber lustig.

Nastia geht ihrer Arbeit als Prostituierte nach
Dass Pepel und der Baron den Film dominieren, liegt nicht nur am Drehbuch, sondern auch an der grandiosen Besetzung. Louis Jouvet war zwar als Darsteller und Regisseur hauptsächlich ein Theaterstar, aber seit den 30er Jahren brillierte er auch regelmäßig auf der Leinwand, und seinem Baron verleiht er die nötigen Nuancen, um ihn zu einer ungemein interessanten Figur zu machen. Beispielhaft ist etwa eine Szene, in der Pepel und der Baron im Gras am Ufer eines russischen Flusses liegen (der für Eingeweihte wie die Marne aussieht, weil es die Marne ist) und sich von ihren Zukunftsplänen erzählen, wobei der Baron nicht Pepel ansieht, sondern fasziniert eine Schnecke betrachtet, die ihm auf die Hand gekrochen ist (die Schnecke stand übrigens nicht im Drehbuch, sondern wurde von Renoir improvisiert, nachdem die Szene für seinen Geschmack zunächst nicht richtig funktionierte). Jean Gabin war Mitte 1936 noch kein großer Star, aber LES BAS-FONDS beförderte ihn ein großes Stück in diese Richtung, und innerhalb weniger Jahre war er mit Filmen wie Renoirs LA GRANDE ILLUSION und LA BÊTE HUMAINE und Marcel Carnés LE QUAI DES BRUMES und LE JOUR SE LÈVE dort angekommen. Sein bodenständiger, im Grunde gutmütiger, aber bisweilen aggressiver Pepel gibt schon die Richtung dieser späteren Rollen vor, aber zu Gabins geradezu archetypischer Leinwand-Persona aus den letztgenannten drei Filmen fehlt noch der tragisch-fatalistische Zug zum Tod. Das dritte darstellerische Schwergewicht in LES BAS-FONDS ist Robert Le Vigans Schauspieler. Es ist eine pathetische, theatralische Figur, voller Selbstmitleid, gelegentlich Shakespeare-Verse deklamierend, und Le Vigan spielt das voll aus. Man kann das übertrieben finden, aber der Charakter ist jedenfalls in sich schlüssig. Es ist ein Jammer, dass dieser interessante Darsteller Le Vigan nach der Besetzung Frankreichs offen mit den Nazis sympathisierte und über das Radio antisemitische Botschaften verbreitete. Nach dem Krieg bekam er die Quittung präsentiert: Er wurde zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt. Nach drei Jahren wurde er auf Bewährung entlassen, was er nutzte, um sich zunächst nach Spanien und dann nach Argentinien abzusetzen. Leider gibt es in LES BAS-FONDS auch einen eklatanten schauspielerischen Schwachpunkt, und der heißt Junie Astor. Sie war eine Freundin von Produzent Kamenka (oder vielleicht auch seine Geliebte), der sie Renoir aufnötigte, und dieser äußerte sich später sehr unverblümt über ihr mangelndes Talent und ihr ausdruckloses Gesicht. Es ist zwar nicht in allen Szenen so schlimm, aber gerade in ihren gemeinsamen Auftritten mit Gabin, die ja eigentlich ein emotionales Zentrum des Films bilden sollten, wirkt sie schon sehr blass. So bleibt die Freundschaft zwischen Pepel und dem Baron eine weitaus interessantere Beziehung als die Liebe zwischen Pepel und Natacha.

Pepel, Vassilissa und Kostylev
Für die Aufwertung des Barons und Pepels gibt es außer der Absicht, Jouvet und Gabin Gelegenheit zur Entfaltung zu verschaffen, noch einen weiteren und tieferen Grund. Gorkis Nachtasyl ist eine in sich abgeschlossene Welt - nicht nur räumlich (wie gesagt spielt das ganze Stück im Asyl), sondern auch in Bezug auf die (nicht vorhandene) soziale Mobilität: Es gibt keinen Ausweg außer dem Tod. Das aber widerspricht Renoirs Ansichten fundamental. In seinen Filmen gibt es immer Möglichkeiten zur Veränderung, zum Besseren wie zum Schlechteren, Gelegenheiten für die Protagonisten, ihre eigene Zukunft zu beeinflussen. Und genau das wird in LES BAS-FONDS von den gegenläufigen Handlungssträngen der beiden Freunde widergespiegelt: Pepels bescheidener (aber aus seiner Sicht essentieller) Aufstieg vom Verbrecher zum Handwerker und der Abstieg des Barons aus der Aristokratie ins Proletariat. Dabei repräsentiert Pepels Entwicklung auch den optimistischen Geist der damals noch intakten Volksfront. Wenn man mag, kann man in der Freundschaft der beiden auch eine Metapher für die mögliche Aussöhnung der gesellschaftlichen Klassen sehen, aber ich finde, dass man das nicht überstrapazieren sollte. Niemand weiß, wie die Begegnung der beiden verlaufen wäre, wenn der Baron in jener Nacht nicht alles verloren, sondern alles gewonnen und somit seinen Status gewahrt hätte. Der Abstieg des Barons ist zwar nicht zu leugnen, aber er hat nicht nur tragische Aspekte, sondern er ist auch eine Befreiung von den sozialen Konventionen seines Standes. Nachdem der Baron erst einmal erkannt hat, dass man nicht nur in einem Federbett, sondern auch im Gras bequem schlafen kann, und dass ein Kartenspiel um ein paar Kopeken ebenso spannend sein kann wie eines um 1000 Rubel, kann er unbeschwert in den Tag hinein leben und sich weiter dem Glücksspiel widmen. Deshalb bleibt er am Ende auch freiwillig im Asyl, statt Pepel zu begleiten. Natacha, Vassilissa und Kostylev dienen dazu, um die Geschichte vom sozialen Auf- und Abstieg herum eine melodramatische Handlungsebene um Liebe, Eifersucht und Tod zu konstruieren, aber die anderen Bewohner des Asyls sind dazu nicht notwendig. Sie liefern nur den atmosphärischen Hintergrund des Films und werden von Renoir in ihrer Bedeutung entsprechend reduziert. Übrigens hat Renoir sein Drehbuch an Gorki geschickt, und der hat zu allen Änderungen am Stück seine Zustimmung erklärt und das sogar öffentlich kundgetan. Zumindest erzählt Renoir das so in einer sechsminütigen Einführung in LES BAS-FONDS, die er wohl für das französische Fernsehen aufnahm (das Zeitfenster für diese Korrespondenz war etwas eng, denn Gorki starb im Juni 1936).

Neuankömmling im Asyl
Die Idee zu LES BAS-FONDS hatte Produzent Alexandre (ursprünglich Alexander) Kamenka, der sie an Renoir herantrug. Der Exilrusse Kamenka hatte einen gewissen Anteil daran, dass Renoir überhaupt Regisseur geworden war. Als junger Mann ging Renoir in den frühen 20er Jahren sehr häufig ins Kino, aber er sah fast nur Hollywoodfilme, denn die französischen Filme dieser Zeit fand er langweilig und prätentiös. Unter diesen Umständen schien ihm eine eigene Karriere im Film aussichtslos. Doch 1923 produzierte Kamenka mit einer gemischten Crew aus Russen und Franzosen LA BRASIER ARDENT (Regie und Hauptrolle Ivan Mosjoukine), der offenbar ein unterhaltsames Spektakel war. Renoir war begeistert, und er war jetzt überzeugt, dass man auch in Frankreich solche Filme drehen konnte, wie sie ihm vorschwebten. 1924 nahm er seinen ersten Film in Angriff. - Obwohl die Dreharbeiten zu LES BAS-FONDS wegen der Verzögerungen bei PARTIE DE CAMPAGNE mit zwei Wochen Verspätung begannen, lief die Produktion völlig reibungslos. Der Film war an der Kasse ein enormer Erfolg (bei Renoir in den 30er Jahren eher die Ausnahme als die Regel). Die Aufnahme bei den Kritikern war gemischt, aber es gab einen Prix Louis-Delluc (den ersten, der überhaupt vergeben wurde). Eine Eigenheit von LES BAS-FONDS habe ich oben schon mit der Erwähnung der Marne angedeutet: Der Film spielt ja eigentlich in Russland, die Charaktere haben russische Namen, die Polizisten tragen russische (oder irgendwie russisch aussehende) Uniformen. Und doch ist das alles erkennbar nicht Russland, sondern Frankreich. Das liegt nicht nur an den Schauplätzen, sondern vor allem an der Besetzung. Um den Effekt zu vermeiden, hätte Renoir wohl mit Exilrussen als Darstellern arbeiten müssen. Die gab es in Frankreich reichlich, und Kamenka hatte auch die nötigen Kontakte. So hätte wohl Mosjoukine auch einen guten Baron abgeben können. Doch Renoir beschränkte sich auf Vladimir Sokoloff (und Jany Holt war eine gebürtige Rumänin). Ironischerweise beschwerten sich einige Kritiker, dass Sokoloff unter all den Franzosen "zu russisch" wirke. In der oben erwähnten Einführung erzählt Renoir, er habe von vornherein beabsichtigt, den Film nicht russisch, sondern französisch aussehen zu lassen. Ob das nun stimmt oder nicht - russisches Flair darf man von LES BAS-FONDS jedenfalls nicht erwarten. Die Stärken (und leider auch Schwächen) liegen bei den Schauspielern, und die Kameraarbeit (wie zu erwarten wieder mit reichlich deep focus) erfüllt die von Renoirs früheren Filmen gesetzten Standards, mit einigen interessanten Plansequenzen und stimmungsvoll-schummrigen Aufnahmen aus dem Asyl mit seiner verwinkelten Holz-Architektur.

Im Asyl (r.o. Luka mit dem Schauspieler)
1957 drehte Akira Kurosawa mit DONZOKO seine eigene, äußerst sehenswerte Version der Geschichte (dt. ebenfalls NACHTASYL). Kurosawa verlegte die Handlung ins Tokyo des 19. Jahrhunderts, ansonsten hielt er sich aber viel enger an die Vorlage als Renoir. Und obwohl Toshirō Mifune den Dieb spielt, ist DONZOKO ein astreiner Ensemblefilm, und kein Starfilm wie LES BAS-FONDS. Renoir, der DONZOKO in den 70er Jahren sah, bezeichnete ihn als "viel wichtiger" als seinen eigenen Film. Diese beiden bekanntesten Verfilmungen des Stoffs (es gibt noch weitere) sind zusammen in einem 2-DVD-Set von Criterion in den USA erschienen (als THE LOWER DEPTHS). Wer keine Probleme mit Regionalcode 1 hat, kann beherzt zu dieser Version greifen. Ansonsten ist LES BAS-FONDS auch in Frankreich auf DVD erhältlich.

Am Flussufer