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Dienstag, 2. Februar 2021

Eine Seuche aus China und der Faschismus

BÍLÁ NEMOC (DIE WEISSE KRANKHEIT)
Tschechoslowakei 1937
Regie: Hugo Haas
Darsteller: Hugo Haas (Dr. Galén), Zdeněk Štěpánek (der Marschall), Bedřich Karen (Prof. Sigelius), Václav Vydra (Baron Krog), František Smolík (Krogs Buchhalter), Helena Friedlová (dessen Frau), Ladislav Boháč (Pavel Krog), Karel Dostal (Propagandaminister)

Wir befinden uns im Jahr 1937 in einer ungenannten und halb fiktiven europäischen Großmacht, die aber Parallelen zu Nazi-Deutschland aufweist. Das Land wird diktatorisch regiert von einem Marschall, dessen Name ungenannt bleibt und auch unwichtig ist - "der Marschall" ist im Film so eindeutig wie in der damaligen Realität "der Führer" oder "der Duce". Abgesehen von seinen Uniformen erinnert der Marschall äußerlich nicht sehr an Mussolini oder Franco und gar nicht an Hitler, eher an Juan Perón (der aber erst in den 40er Jahren die große Bühne betrat). Doch der Diktator verfolgt eine aggressive Aufrüstungspolitik, die in die Eroberung neuen "Lebensraums" münden soll, wie er in Reden vor den jubelnden Massen ganz unverblümt verkündet. Es wird nicht explizit gesagt, dass dieser Lebensraum "im Osten" liegen soll, aber die Parallele zu Hitlers Eroberungspolitik ist trotzdem offensichtlich. Erstes Ziel soll ein kleines und scheinbar wehrloses Nachbarland sein, das auch nicht namentlich genannt wird, in dem man aber zwanglos die damalige Tschechoslowakei erkennen kann. Eine wichtige Stütze der militärischen Pläne ist der Rüstungsindustrielle Baron Krog, der in seinen Fabriken nicht nur Flugzeuge und Panzer, sondern auch Giftgas produzieren lässt. Sein Neffe Pavel ist der Adjutant und zukünftige Schwiegersohn des Marschalls - die Allianz der deutschen Schwerindustrie (Krupp, Flick, Thyssen etc.) mit Hitler lässt grüßen.

Der Marschall hält eine Rede; der Zivilist links ist der Propagandaminister, der natürlich an Goebbels erinnert
BÍLÁ NEMOC ist also eine politische Allegorie auf die damaligen Zeitumstände, aber es gibt einen wichtigen zusätzlichen Punkt: Es grassiert eine tödliche Pandemie, die ihren Ursprung in China hat. Offiziell heißt die Krankheit Morbus Chengi, nach dem chinesischen Wissenschaftler, der sie in Peking erstmals nachgewiesen und beschrieben hat. Doch allgemein wird sie "die Weiße Krankheit" genannt, nach dem ersten Symptom: kleine weiße Flecken auf der Haut, in denen die Sinnesrezeptoren abgestorben sind. Die Flecken vergrößern sich, und die Haut und das Gewebe darunter gehen ähnlich wie bei Lepra in Verwesung über, was üblen Gestank und heftigste Schmerzen verursacht und in wenigen Monaten zum sicheren Tod führt. Anders als eine wohlbekannte heutige Pandemie wird die Weiße Krankheit von Bakterien verursacht. Sie befällt aber nur Personen ab einem Alter von ungefähr 45 bis 50, die Jüngeren sind immun. Ein Heilmittel gibt es nicht, und Prof. Sigelius, Leiter einer großen Klinik und wichtigste medizinische Autorität im Land, empfiehlt zur Behandlung nur Desinfektionsmittel gegen die Geruchsbelästigung und Morphium für die Kranken im Endstadium. Der Marschall aber spielt die Seuche herunter und wähnt sich immun, gewissen heutigen Staatenlenkern nicht unähnlich.

Prof. Sigelius - in seiner Klinik ein Diktator im Kleinen
Die Lage ändert sich, als der einfache Hausarzt Dr. Galén (der Name ist eine Referenz an Galen, neben Hippokrates berühmtester Arzt der Antike) in der Klinik von Prof. Sigelius vorstellig wird. Er hat nämlich als bislang einziger doch ein Heilmittel für die Seuche entdeckt und in seiner Armenpraxis erfolgreich angewendet. Nur sehr mühsam kann er den arroganten Professor, der gegenüber seinen Untergebenen und dem einfachen Arzt Galén selbstherrlich und gegenüber dem Marschall subaltern auftritt, davon überzeugen, in der Klinik einen kontrollierten Versuch mit dem Medikament zu gestatten. Doch dieser gerät zu einem vollen Erfolg, der auch dem Marschall nicht verborgen bleibt, und Sigelius sonnt sich in dem Erfolg. Es gibt aber einen Haken. Dr. Galén hatte sich ausbedungen, die Kranken in der Klinik selbst zu behandeln, und er weigert sich, die Rezeptur des Heilmittels an den Professor oder sonst irgendwen zu verraten. Genauer gesagt, er knüpft es an eine Bedíngung: Erst wenn der Marschall und andere bedeutende Staatschefs dem Militarismus abschwören und eine allgemeine Friedensordnung ausrufen, wird er seine Formel der Öffentlichkeit übergeben. Bis dahin wird er neben der genau bemessenen Zahl der Versuchspatienten in der Klinik nur die Armen in seiner Praxis behandeln. Als Galén in der Klinik einer Abordnung von Journalisten von seiner Bedingung berichtet, wird er vom erbosten linientreuen Sigelius hinausgeworfen und zieht sich erst mal in seine Praxis zurück.

Dr. Galén
Parallel zu diesen Entwicklungen hat der Film auch die Geschichte eines Angestellten von Baron Krog verfolgt. Zunächst nur ein kleines Licht, rückt er zum Chefbuchhalter auf, weil gleich eine Reihe seiner Vorgänger in dieser Position der Weißen Krankheit erlegen sind. Der Mann ist ein reaktionärer Kleinbürger, ein Mitläufer par excellence, der auch die Kriegspläne des Herrschers voll und ganz unterstützt. Erst als er bemerkt, dass seine Frau einen jener weißen Flecken vor ihm verborgen hält, setzt langsam ein Umdenken bei ihm ein, und schließlich landet er mit seiner Frau in Galéns Praxis. Noch jemand findet sich dort ein, nämlich inkognito Baron Krog. Der hat nämlich auch einen weißen Fleck an sich entdeckt und will sich die rettende Behandlung erschleichen, indem er einen Armen mimt. Dr. Galén bestätigt die niederschmetternde Diagnose, aber er durchschaut Krogs Schwindel und weigert sich, ihn zu kurieren. Der bricht daraufhin regelrecht zusammen und fleht den Marschall an, seine Kriegspläne aufzugeben. Als der sich natürlich weigert, erschießt sich der Baron. Kurz darauf beginnt der Einmarsch in das Nachbarland, doch der Widerstand dort ist erheblich größer als erwartet und zumindest vorerst nicht erfolglos. Und dann bemerkt der Marschall, dass auch er gegen alle seine Erwartungen von der Weißen Krankheit befallen ist. Im Handumdrehen ist nun alles anders: Der Marschall ruft seine Truppen zurück, lässt eine Friedensvereinbarung aufsetzen und ruft Dr. Galén zu sich. Doch der läuft direkt vor dem Präsidentenpalast einem aufgebrachten Mob in die Hände, der die neue Situation noch nicht begriffen hat ...

Der Marschall und Baron Krog, Partner im Geschäft und in der Politik
BÍLÁ NEMOC entstand in den Prager Barrandov-Studios, in den 30er Jahren das Zentrum der florierenden tschechoslowakischen Filmindustrie. Der Film beruht auf dem gleichnamigen dreiaktigen Bühnenstück von Karel Čapek (der auch die Vorlage für KRAKATIT geliefert hatte), das im Januar 1937 in Prag Premiere hatte, fünf Monate lang aufgeführt wurde und auch erfolgreich im europäischen Ausland lief - aber natürlich nicht in Deutschland. Der deutsche Gesandte in Prag fühlte sich sogar zu einer Protestnote bemüßigt. Der im mährischen Brünn/Brno geborene Hugo Haas (1901-1968) war damals sowohl als Schauspieler wie auch als Regisseur beliebt und erfolgreich. Haas als Dr. Galén, Zdeněk Štěpánek als der Marschall und Bedřich Karen als Prof. Sigelius (und vielleicht noch weitere Darsteller) hatten ihre Rollen schon auf der Prager Bühne gespielt und wiederholten sie dann im Film, den Haas auch inszenierte (im Gegensatz zur Bühnenfassung, bei der Karel Dostal, der Propagandaminister im Film, Regie führte). Der Film hält sich weitgehend an die Vorlage und er kam im Dezember 1937 in die Kinos. Haas inszenierte ohne größere filmische Höhepunkte, aber auch ohne größere Schwächen, und allein schon als zeitgeschichtliches Dokument ist er allemal noch sehenswert. Nur eine gewisse Naivität oder grundlosen Optimismus könnte man im Rückblick bemängeln - wenn doch nur alle Kriegstreiber und Faschisten so schnell umfallen würden wie der Baron und der Marschall ... Bekanntlich entwickelten sich die Dinge in der echten Tschechoslowakei schlechter als in ihrem halb-fiktiven Filmgegenstück. Der aus einer jüdischen Familie stammende Hugo Haas floh in die USA (sein Vater und sein Bruder Pavel, ein Komponist, wurden von den Nazis ermordet) und kam in Hollywood unter, vorerst aber nur als Schauspieler. Erst 1951 hatte er so viel Geld angespart, dass er eine kleine Produktionsfirma gründete und wieder als unabhängiger Regisseur, Produzent und sein eigener Hauptdarsteller arbeiten konnte. Es handelte sich dabei durchweg um Billigproduktionen, die aber interessant gestaltet waren und heute einen guten Ruf genießen, auch wenn sie damals wenig beachtet wurden. Seinen Lebensabend verbrachte Hugo Haas dann in Österreich, er starb 1968 in Wien.

Der Marschall besucht die Klinik, und das Personal steht stramm
BÍLÁ NEMOC wurde 2016 in einer internationalen Zusammenarbeit vom Nationalen Filmarchiv Prag und vom Ungarischen Filmlabor in Budapest mit Geldmitteln aus weiteren Ländern digital restauriert. Diese Version ist in sehr guter Qualität und mit wahlweisen englischen Untertiteln auf einem YouTube-Kanal, der vom Nationalen Filmarchiv Prag gemeinsam mit weiteren Institutionen betrieben wird, ansehbar, wird dort aber unerquicklich oft von Werbung unterbrochen. Die restaurierte Fassung ist auch einzeln und zusammen mit KRAKATIT auf Blu-ray erhältlich, und es gibt auch ältere DVDs, ebenfalls einzeln und zusammen mit KRAKATIT.

Donnerstag, 28. Januar 2016

Krakatit - der gefährlichste Sprengstoff der Welt!

KRAKATIT
Tschechoslowakei 1948
Regie: Otakar Vávra
Darsteller: Karel Höger (Prokop), Jiří Plachý (d'Hémon), Florence Marly (Prinzessin Wilhelmina), Eduard Linkers (Carson), František Smolík (Dr. Tomeš), Nataša Tanská (Anči Tomeš), Miroslav Homola (Jiří Tomeš), Vlasta Fabianová (verschleierte Frau), Jaroslav Průcha (Kutscher)

Der Protagonist - er hat schon bessere Zeiten gesehen (rechts unten mit Jiří Tomeš)
Ironischerweise gilt Otakar Vávras KRAKATIT als einer seiner besten und das von ihm selbst inszenierte Remake TEMNÉ SLUNCE (DUNKLE SONNE, 1980, auf Video auch als NEUTRONENINFERNO) als einer seiner schlechtesten Filme. Doch der Reihe nach!

Bei Dr. Tomeš auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung - vorerst
Wie eine Einblendung am Anfang des Films ganz überflüssigerweise erklärt, handelt es sich bei der Geschichte um ein Fiebertraumgebilde. - In einem Krankenhaus schwebt ein Unbekannter, der ohne Papiere aufgefunden wurde, an schwerer Meningitis leidend und mit merkwürdigen Verletzungen und Verbrennungen an den Händen, zwischen Leben und Tod. Während sich ein Arzt und eine Krankenschwester um ihn kümmern, dringt die Kamera sozusagen in seinen Kopf ein, und wir erfahren - eben als seinen Fiebertraum - seine Geschichte. Somit bleibt unklar, zu welchen Anteilen die Geschichte eine "echte" Rückblende oder aber ein Wahngebilde ist, und dieser Erzählmodus erlaubt es Vávra, zwischen weitgehend realistischen Passagen immer wieder ohne Erklärungsnot ins Surreale zu gleiten. Der Protagonist ist ein Chemieingenieur namens Prokop, und seine Geschichte beginnt damit, dass er, gesundheitlich schon angeschlagen und halb im Delirium, in Prag auf der Straße umherirrend von seinem Studienkollegen Jiří Tomeš aufgegriffen wird. Dieser nimmt Prokop zu sich in seine Wohnung, steckt ihn ins Bett und erfährt aus Prokops wirren Erzählfetzen den Grund für seinen desolaten Zustand: Prokop hatte in seinem Labor einen gigantisch starken atomaren Sprengstoff namens Krakatit entwickelt, und eine winzige Menge war - aus zunächst völlig unbekanntem Grund - spontan detoniert und hatte Prokop verletzt und kontaminiert. (Der Name des Sprengstoffs leitet sich natürlich vom Krakatau ab, dessen Eruption 1883 einer der stärksten Vulkanausbrüche in historischer Zeit - und im Zeitalter des Telegrafen auch bereits ein weltweites Medienereignis - war.) Tomeš gelingt es, Prokop die Formel für Krakatit zu entlocken, dann packt er seine Sachen und lässt den Studienkollegen zurück, um, wie er auf einem Zettel hinterlässt, seinen Vater auf dem Land zu besuchen.

Noir-typische Gitter
Als Prokop am nächsten Morgen allein in Tomeš' Wohnung erwacht, erscheint dort eine verschleierte, sich mysteriös gebende Frau, die Prokop dringend bittet, Tomeš einen Brief von ihr zu überbringen. Ihren vagen Andeutungen entnimmt Prokop, dass Tomeš in Geldnöten steckt und sich deshalb das Leben nehmen könnte. Obwohl kaum gesünder als am Vortag, erklärt sich Prokop bereit, mit dem Brief in das Dorf zu fahren, wo Tomeš' Vater als Arzt praktiziert. Dort angekommen, erfährt Prokop, dass Tomeš überhaupt nicht hier ist, und kollabiert dann erst mal, wird aber von Dr. Tomeš und seiner Tochter, Jiřís Schwester Anči, wieder hochgepäppelt. Prokop, der sich kaum an die Ereignisse der letzten Wochen erinnern kann, bleibt auf Einladung von Dr. Tomeš erst einmal im Dorf. Der Doktor ist ein sympathischer Humanist, und Anči verliebt sich in Prokop, was der aber, in seine Gedanken versunken, kaum bemerkt. Diese Sequenz im Dorf ist die realistischste im ganzen Film, und die einzige, die keinem Albtraum entspricht. Doch bald ist es damit vorbei. Prokop liest in der Zeitung eine Notiz, in der ein gewisser Carson in Zusammenhang mit Krakatit erwähnt wird. Das Stichwort "Krakatit" bringt Prokops Erinnerung teilweise zurück, und er bricht sofort auf, um in sein Labor zurückzukehren, wo er dem mit einer Pistole bewaffneten Carson in die Arme läuft. Wie sich herausstellt, ist Carson ein Vertreter des ausländischen Kapitalismus. Der englische Name kommt also nicht von ungefähr, er benutzt auch gelegentlich Anglizismen. Derzeit vertritt Carson die Interessen der Balttin-Werke, eines Rüstungskonzerns im fiktiven europäischen Staat Balttin.

Die Exzellenzen von Balttin - in Agonie erstarrt
Wie Carson nun ausführt, hatte sich Tomeš an die Balttin-Werke gewandt, um das Krakatit, das er in Prokops Labor in jener Nacht entwendet hatte, mitsamt der Formel zu verkaufen. Die Versuche damit verliefen erfolgreich, doch die Formel allein genügte nicht, weil es den Chemikern von Balttin nicht gelang, den Sprengstoff selbst herzustellen. Deshalb braucht man nun Prokop, damit er die Details des Herstellungsprozesses herausrückt, und die Zeitungsanzeige diente nur dazu, ihn aus der Reserve zu locken. Carson erzählt auch, dass regelmäßig zweimal pro Woche ein vorerst unbekannter starker Störsender in Aktion tritt, um alle Radiostationen in Europa vorübergehend lahmzulegen, und dass dieser Sender als Nebeneffekt jegliches Krakatit in seiner Reichweite, das nicht in Bleibehältern sicher verwahrt ist, zur Detonation bringt. Das war auch der Grund für die scheinbar spontane Explosion in Prokops Labor, und dafür, dass nur eine kleine Menge, die auf dem Labortisch herumlag, detonierte. Wäre die sicher verstaute Hauptmenge (die später Tomeš mitgehen ließ) betroffen gewesen, wäre nicht nur das Labor, sondern ganz Prag in die Luft geflogen. - Carson macht nun also das Angebot, Prokop 20 Millionen Kronen zu bezahlen, wenn er sein Wissen preisgibt. Doch der lehnt entschieden ab, weil er nicht am zu erwartenden Massenmord eines neuen Krieges mitschuldig werden will. Deshalb entführt Carson ihn kurzerhand nach Balttin.

Prinzessin Wilhelmina
Und nun wird der Film für einige Minuten wieder ziemlich surreal. Balttin ist ein Fürstentum, und der gefangene Prokop wird nun im Palast der Fürstenfamilie vorgestellt. Dabei handelt es sich um lauter ältere bis sehr alte Herrschaften, die alle regungslos auf ihren Stühlen sitzen. Nur die unvermeidlichen ganz minimalen Bewegungen zeigen an, dass es sich überhaupt um Menschen und nicht um Wachsfiguren handelt. Doch die Botschaft ist eindeutig: Es handelt sich um eine in Agonie erstarrte Kaste, die unvermeidlich ihrem endgültigen Aussterben entgegendämmert. Die einzige Ausnahme ist die junge und schöne Prinzessin Wilhelmina, die noch sehr lebendig ist - doch sie ist auch kalt, arrogant, standesbewusst, und sie setzt ihre Reize nicht nur ein, um Prokop zu ihrem persönlichen Vergnügen um den Finger zu wickeln, sondern auch, um ihm aus Gründen der Staatsraison das Geheimnis des Krakatits zu entlocken. Nachdem ihr Prokop kurzzeitig verfallen ist, durchschaut er sie bald, woraufhin sie vor seinen Augen zu einer Statue erstarrt - auch das ein sehr surrealer Moment.

Prokops Bewacher in Balttin - Assoziationen an Wehrmacht und Gestapo
Prokop hält auch in Balttin dem Druck stand und gibt seine Geheimnisse nicht preis. Zwar demonstriert er seine Fähigkeiten, indem er eine Puderdose der Prinzessin in Sprengstoff verwandelt, der jedoch nicht an Krakatit heranreicht. Ansonsten aber wartet er nur auf eine Gelegenheit zur Flucht. Auf dem Gelände der Balttin-Werke ist er von elektrisch gesichertem Stacheldraht eingeschlossen, und er wird von einer ganzen Kompanie Soldaten bewacht, deren Uniformen und Helme stark an die der Wehrmacht erinnern, was gerade mal drei Jahre nach Kriegsende schwerlich irgendwem im Publikum entgangen sein kann. Auch einige deutsche Wortfetzen sind von den Soldaten zu hören, und dass Prokops persönlicher Bewacher in den Balttin-Werken mit seinem schwarzen Ledermantel wie ein Gestapo-Mann aussieht, ist sicher auch kein Zufall. Zusammengenommen präsentiert Vávra hier also eine aristokratisch-kapitalistisch-faschistische Achse des Bösen - eine Tendenz, die den neuen Machthabern im Land wohl nicht schlecht gefallen hat (die Kommunisten hatten im Februar 1948 die vollständige Kontrolle in der Tschechoslowakei übernommen).

Oben die geheimnisvolle verschleierte Frau, unten nochmals die Prinzessin
Noch jemanden hat Prokop im Fürstenpalais kennengelernt, nämlich den sinistren Baron d'Hémon, der nicht zur Fürstenfamilie und zu den Balttin-Werken gehört, sondern der sein eigenes Süppchen kocht. Der verhilft nun Prokop zur Flucht, indem er mit seiner schweren Limousine, Prokop auf dem Beifahrersitz, die Wachsoldaten einfach über den Haufen fährt. Nachdem man Balttin hinter sich gelassen hat, gerät der Film nun in seinen finalen surrealen Taumel. Zunächst erweist sich, dass der Name des Barons Programm ist: d'Hémon = Dämon. Er solle ihn nun "Kamerad Dämon" nennen, meint der Baron zu Prokop, den er seinerseits "Kamerad Krakatit" nennt. Zusammen besuchen sie nun eine wilde, frenetische Versammlung von abgesetzten, vertriebenen, entmachteten Potentaten, Kapitalisten, Raffkes aller Art, die einen neuen großen Krieg fordern, um mit dessen Hilfe wieder an ihre alten Macht- und Vermögenspositionen zu gelangen, und der dämonische Baron stellt Prokop gegen dessen Willen als den Mann vor, der ihnen mit Hilfe des Krakatits dazu verhelfen werde. Doch das ist noch nicht das eigentliche Ziel der Reise. Auf diese Leute sei kein Verlass, meint der Baron, und er gibt sie der Vernichtung preis, indem er einen Restposten Krakatit unter ihnen verteilt.

Carson (links oben) und der dämonische Baron
Und nun zeigt sich die ganze Tragweite seiner Pläne: Mit Prokop fährt er weiter zu einer geheimen Sendestation - kein anderer als der Baron selbst betreibt jenen geheimen Sender, der Krakatit zur Detonation bringen kann. Mit Hilfe des zunächst ahnungslosen Prokop nimmt der Baron den Sender in Betrieb, und in der Raffke-Versammlung, in Balttin, in einer weiteren Fabrik, wo Jiří Tomeš inzwischen auf eigene Faust am Krakatit forscht, sowie an weiteren Orten, wo Flugzeuge im Auftrag des Barons Krakatit abgeworfen haben, detonieren alle noch verbliebenen Reste des Sprengstoffs und lösen ein (wenngleich immer noch begrenztes) atomares Inferno aus. Wenn Prokop nun neues Krakatit produzieren werde, erläutert der Baron, hat dieser mit Sender und Krakatit in einer Hand unbegrenzte Machtmittel zur Verfügung. Mit anderen Worten, der Baron bietet nichts Geringeres als die Weltherrschaft. Prokop, der das alles überhaupt nicht will, versucht, den Baron zu erwürgen, doch der löst sich vor seinen Augen in Luft auf. Nunmehr allein in desolater Landschaft, torkelt Prokop, dem Delirium nahe, ziellos umher, bis er von einem Kutscher aufgegriffen wird - demselben, der ihn noch vor kurzer Zeit ins Dorf zu Dr. Tomeš gebracht hatte. Doch handelt es sich mittlerweile um einen Fuhrmann des Todes, oder wird er ihn zurück ins Leben bringen?

Das atomare Inferno wird in Gang gesetzt
KRAKATIT ist eine wüste und faszinierende Mischung mehrerer Genres und Stile, mit SciFi mit leichtem Horror-Einschlag und Film Noir als Hauptbestandteilen - und nebenbei gibt es auch noch die politische und pazifistische Botschaft. Otakar Vávra kann mit Hilfe seines Kameramannes Václav Hanuš vor allem im Visuellen punkten. Nicht selten fühlt man sich optisch an klassische Hollywood-Werke erinnert, etwa von Murnau, oder auch von John Ford in den 30er und 40er Jahren. So erinnert etwa die Sequenz am Schluss, als Prokop bei Dunkelheit und Nebel durch die Landschaft irrt, stark an eine Szene in SUNRISE. Die Prinzessin wiederum wird mit ihrem Geschmeide funkelnd und schillernd in Szene gesetzt, wie es einst Sternberg mit Marlene Dietrich gemacht hatte. Und dann gibt es wieder Bilder, wie man sie von Siodmak und anderen Noir-Spezialisten kannte. - Technisch gesehen ist das, was man über Krakatit erfährt, meilenweit von dem entfernt, was 1948 schon in der allgemeinen Öffentlichkeit über Atomwaffen bekannt war. Aber erstens ist das ganze ja, wie schon mehrfach erwähnt, ein Fiebertraum. Und zweitens beruht der Film auf dem gleichnamigem Roman, den Karel Čapek 1922 geschrieben und 1924 veröffentlicht hatte, und natürlich kann man nicht verlangen, dass Čapek damals schon der Realität späterer Atombomben nahe kam (auch wenn Eric Ambler genau das in seinem Debütroman The Dark Frontier von 1936 erstaunlich gut gelang). Čapek war ein durchaus vielseitiger Schriftsteller, aber heute kennt man ihn vor allem als einen Vertreter der Fantastik und Science Fiction (bekanntlich prägte er in einem seiner Werke den Begriff "Roboter").

Der Baron ist zufrieden mit seinem Werk; unten ein etwas merkwürdiger Kutscher
Otakar Vávra (1911-2011) konnte am Ende seines langen Lebens auf rund 50 Filme und zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen zurückblicken. Er hatte auch einige Jahrzehnte als Dozent an der Prager Filmhochschule FAMU gewirkt, die er selbst mitgegründet hatte. Unumstritten war er indes nicht: Man warf ihm gelegentlich vor, er habe sein Fähnlein in den Wind gehängt, um sich mit den jeweiligen Machthabern zu arrangieren. Wenn man sich sein Œuvre ansieht, dann fallen über die Systeme hinweg (Tschechoslowakische Republik der 30er Jahre, Nazi-Okkupation, kommunistische Tschechoslowakei vor und nach dem Prager Frühling) zumindest zahlenmäßig keine Brüche auf. Ob er aber wirklich ein Opportunist war oder nur Selbstschutz in einem legitimen Ausmaß betrieb, das kann und will ich von hier aus nicht beurteilen.


Es gibt KRAKATIT auf zwei verschiedenen tschechischen DVDs. Die eine hat noch einen zweiten Film (von einem anderen Regisseur, aber ebenfalls mit Karel Höger in der Hauptrolle) sowie engl. Untertitel an Bord. Die andere enthält nur KRAKATIT und keine Untertitel (man findet aber engl. Untertitel im Internet zum Download). - Verwirrende Angaben herrschen bezüglich der Laufzeit des Films. Laut engl. Wikipedia und IMDb sollen es 110 Minuten sein, laut tschechischer Wikipedia dagegen nur 106 Minuten. Das Lexikon des internationalen Films nennt eine Laufzeit von 98 Minuten, was sich offenbar auf eine deutsche Fassung bezieht, die erstmals 1974 im DDR-Fernsehen lief. Falls die 98 Minuten die Fernseh-Laufzeit sind, entspricht das im Kino 102 Minuten. Auf meiner DVD wiederum (die zweite der oben erwähnten) dauert der Film nur 96:30 Minuten, was im Kino 100:30 entspricht. Und für die erstgenannte der beiden DVDs habe ich jetzt auf die Schnelle sowohl eine Angabe von 97 Minuten (was natürlich auch aufgerundete 96:30 sein können, womit die beiden Versionen identisch wären) als auch 106 Minuten gefunden. Da soll einer schlau draus werden ...

UPDATE: Mittlerweile ist KRAKATIT in Deutschland beim Label ostalgica auf DVD und Blu-ray erschienen. Eine leicht gekürzte und angepasste Version dieses Artikels findet sich im Bonusmaterial. Schon einige Monate zuvor ist auch eine tschechische Blu-ray erschienen. Beide Editionen beruhen auf einer Restaurierung des Tschechischen Nationalen Filmarchivs. Bei den Blu-rays beträgt die Laufzeit ca. 100:40 min, was ziemlich exakt der umgerechneten Laufzeit meiner alten tschechischen DVD (100:30 min, siehe oben) entspricht, die somit vom Inhalt her identisch ist, und was vermutlich auch die Originallänge des Films ist. Die 106 und 110 min sind wohl irgendjemandes Fantasie entsprungen.

Bilder wie bei Murnau oder Ford