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Montag, 28. Juni 2010

Zorniger junger Taugenichts


Samstagnacht bis Sonntagmorgen
(Saturday Night and Sunday Morning, Grossbritannien 1960)
Regie: Karel Reisz
Darsteller: Albert Finney, Shirley Ann Field, Rachel Roberts, Norman Hossington, Hylda Baker u.a.

Im Gegensatz zur noch immer heiss diskutierten und umstrittenen französischen "Nouvelle Vague" samt Ausläufern (François Truffaut scheint als Frühverstorbener wohl der einzige Regisseur dieser Stilrichtung zu sein, der allgemeine Anerkennung geniesst) ist das etwa zeitgleich entstandene britische "Free Cinema" ziemlich in Vergessenheit geraten - zu Unrecht, wie ich meine. Die Filme, die in den späten 50er und frühen 60er Jahren von jungen Regisseuren gedreht wurden, sind kaum mehr im Fernsehen zu sehen; nicht einmal Programmkinos kämen auf die Idee, eine Retrospektive auf die Beine zu stellen.

Man muss vielleicht zuerst betonen, dass das "Free Cinema" (dummerweise auch "New Wave" genannt) so gut wie nichts mit der "Nouvelle Vague" gemeinsam hat: Während sich die Franzosen gegen eine eingefahrene Bildsprache und einen vorhersehbaren Erzählfluss wandten, stattdessen dem Individualismus des schöpferischen Filmemachers huldigten, ging es den Briten um eine beinahe dokumentarische Nachzeichnung des Alltags (vor allem der Arbeiterklasse in Nordengland), welche  schon   die Literatur, die den Filmen oft zugrunde lag, vorweggenommen hatte. - Die englische Literatur der 50er Jahre hatte sich bewusst gegen einen internationalen Modernismus gewandt, der etwa mit dem späten Joyce und Pound an einem Endpunkt angelangt war. Sie tat dies durch Rückbesinnung auf traditionelle Formen, die die kleinen Menschen mit ihren aufbegehrenden Plänen und ihrem oft unausweichlichen Scheitern schildern sollten. Die Regisseure des "Free Cinema" erkannten in diesen Vorlagen eine Gelegenheit, sich endlich mit einem eigenen Profil gegen die biederen Ealing-Comedies und das übermächtige Hollywood zu behaupten, das es den Engländern schon wegen der fehlenden Sprachbarriere immer schwer gemacht hatte, ein eigenständiges Kino zu entwickeln. So entstanden in einem Zeitraum von wenigen Jahren meist in Schwarzweiss gedrehte Meisterwerke über das Banale, die Schilderung der sozialen Realität letztlich gestrandeter Existenzen, die an Originalschauplätzen gedreht wurden und sich durch ihre Umgangsprache auszeichneten. Es waren etwa Verfilmungen der Werke von Kingsley Amis, John Osborne oder Keith Waterhouse: "Lucky Jim" (John Boulding, 1957), "Look Back in Anger" (Tony Richardson, 1959), "Billy Liar" (John Schlesinger, 1963) - und vor allem "The Loneliness of the Long Distance Runner" (Tony Richardson, 1962) nach einer Erzählung des am 25. April dieses Jahres verstorbenen Alan Sillitoe.

Auch Karel Reisz’s “Saturday Night and Sunday Morning”, ein Film, der als eines der Schlüsselwerke des “Free Cinema” gilt, beruht auf einer Vorlage von Alan Sillitoe. Erzählt wird die Geschichte des jungen Arthur Seaton, der die Woche über in der Industriestadt Nottingham als Akkordarbeiter in einer Fahrradfabrik malocht und nur für das Wochenende lebt, das ihm Gelegenheit bietet, sein hart verdientes Geld im Pub zu versaufen oder für weibliche Eroberungen auszugeben. Arthur, der sich damit brüstet, im Gegensatz zu seinen Kollegen nicht vor den Vorgesetzten zu kuschen, hat ein Verhältnis mit Brenda, der Frau eines älteren Arbeiters. Gleichzeitig lernt er die ungebundene Doreen kennen, die sich jedoch nicht mit gelegentlichem Sex begnügt, sondern von Heirat und einem bürgerlichen Leben im Einfamilienhaus träumt. - Als Brenda von Arthur schwanger wird, will er sie zu einer Abtreibung überreden und schleppt sie sogar zu einer Tante, deren “Anweisungen” (eine halbe Flasche Gin in der mit warmem Wasser gefüllten Badewanne) allerdings auch nicht helfen.  Brendas Mann erfährt, was hinter seinem Rücken getrieben wird und lässt  Arthur von zwei Soldaten heftig verprügeln. Am Ende erleben wir den jungen Mann, der sich während eines Sonntagsspaziergangs mit Doreen über eine gemeinsame Zukunft unterhält. Ob man ihm eine echte Veränderung seiner Vorstellungen von der Zukunft abnehmen kann, bleibt ungewiss: Er selber reagiert auf die Bitte seiner Freundin, nicht mit Steinen auf ein Plakat zu werfen, mit einem “It won’t be the last one I throw”.

Der Film mag dem heutigen Zuschauer auf den ersten Blick “veraltet” vorkommen, da man alle diese Geschichten über Figuren aus der Arbeiterklasse mittlerweile zur Genüge kennt. Seinerzeit war er (er gilt  als eines der ersten “Kitchen-Sink”-Dramas)  eine ganz neue Erfahrung für die Kinogänger, beinahe ein Schock - und er rief wegen seiner angeblichen Freizügigkeit sogar die Zensurbehörden auf den Plan. Man war zwar diesen aufbegehrenden jungen Männern in Hollywood-Filmen der 50er Jahre schon begegnet (“The Wild One”, 1953, “Rebel Without a Cause”, 1955); ihre Darstellung war damals jedoch eher etwas sensationalistisch und fernab von der Realität angelegt gewesen.  Arthur Seaton  hingegen benahm sich alles andere als sensationalistisch: er schien vielmehr dem Leben direkt entsprungen zu sein, wirkte bisweilen vulgär, war ein unsympathischer Kerl mit grossen Sprüchen (“Don’t let the bastards grind you down!”, “All I want is a good time. The rest is propaganda”), der es, dies verriet Albert Finney mit jeder seinen Charakter entlarvenden Bewegung, seiner primitiven Gier, einem Überlegenheitsgehabe und dem Ausweichen, wenn es wirklich darauf ankam (etwa im Gespräch mit Brenda über ihre Schwangerschaft), nie weiterbringen würde als seine Eltern, von denen er behauptete: “They have a TV set and a packet of fags, but they’re both dead from the neck up.” - Also ein Mann, mit dem man sich kaum identifizieren wollte.




Was ist schuld an Arthur’s Situation? - Er selber führt sich zwar - etwa beim Angeln mit seinem besten Kumpel - als “Angry Young Man” auf und wälzt alles auf die Umgebung, die soziale Situation ab. Und tatsächlich: Wer die engen “terrace houses” sieht, in denen die Leute aufeinander wohnen, wer die Verhältnisse in der Fabrik (etwa den tyrannischen Vorgesetzten, der immer erzählt, früher sei alles viel schlimmer gewesen) miterlebt und darüber staunt, wie sich andere den tristen Umständen der Arbeiterklasse resigniert angepasst haben, wird schon ein gewisses Verständnis für den sich an allem Reibenden aufbringen. Was aber tut Arthur selber, um zu einem besseren Leben zu gelangen? - Er lässt sich vollaufen, bis er die Treppe hinunterstürzt, legt einer Arbeiterin eine tote Ratte vor die Nase - und verpasst mit seinem Luftgewehr einer fetten Tratschtante aus der Nachbarschaft eine Erinnerung in den Allerwertesten. Dies sind alles keine Heldentaten, auf die ein “Rebell” stolz sein kann - und der Prolet mit seinen kindischen Racheakten erweist sich sogar als vollendeter Feigling, als er auf einem Jahrmarkt die Flucht ergreift, nachdem Brendas Mann dem Verhältnis auf die Spur gekommen ist und seine Frau schlägt.

Albert Finney, der in “Saturday Night and Sunday Morning” seine erste Hauptrolle spielte und über Nacht zum Star wurde, verleiht seinem Arthur Seaton all jene trotzigen Züge, die die Figur zu einem lebensechten Antihelden machen, über den man sich oft regelrecht ärgert, weil er die Schuld an allem immer bei den anderen sucht und - dieser primitiv-“arrogante” Wesenszug ist ihm eigen - nicht den geringsten Versuch unternimmt, wirklich etwas zur Verbesserung seiner Situation beizutragen, weil sich die Situation seiner Meinung nach von selber ändern müsste. - Finney’s Darstellung allein (der Schauspieler sollte ja 1962 mit dem hierzulande zu Unrecht etwas in Vergessenheit geratenen Meisterwerk “Tom Jones” Weltruhm erlangen und zu einer grossen, bis heute andauernden Karriere ansetzen), die den “Angry Young Man” auf einen - freilich durch die “Umstände” geprägten -  leeren Phrasendrescher gegen das Establishment reduziert,  macht den Film noch heute zu einem aussergewöhnlichen Erlebnis. Hinzu kommen der bemerkenswerte Jazz Score von John Dankworth, der für das britische Kino neu gewesen sein dürfte und  jene die Geschichte durchziehende Zwiespältigkeit (soziale Situation / fehlender Wille, sich zu verbessern) unterstreicht. Dies alles wird ergänzt durch  die ungeschönten Aufnahmen von der Realität einer einstigen Industriestadt in den Midlands. - Mag vielleicht “Saturday Night and Sunday Morning” aus heutiger Sicht auch nicht ganz an Filme wie “The Loneliness of the Long Distance Runner” heranreichen: er ist mit  Sicherheit ein sensibles Alltagsprotokoll der 60er Jahre und prägte eine wichtige Figur des “Free Cinema” - jenen zornigen jungen Taugenichts, in dessen eigenen Händen es liegt, seine Zukunft zu gestalten.

Der gebürtige Tscheche Karel Reisz, dem nicht die Karriere eines John Schlesinger oder eines Tony Richardson vergönnt sein sollte, widmete sich auch in späteren Filmen, die von der Kritik gelobt wurden, aber an den Kinokassen scheiterten (“Morgan: A Suitable Case for Treatment”, 1967, “Isadora”, 1968, oder “The Gambler”, 1974), der Darstellung eines exzentrischen Individualismus. Mit der Verfilmung von John Fowles’ Roman “The French Lieutenant’s Woman” (1981) gelang ihm sein grösster Wurf. - Und ich komme als Fan der Country-Sängerin Patsy Cline natürlich nicht umhin, auf das von ihm gedrehte Biopic “Sweet Dreams” (1985) hinzuweisen...

Leider war das "Free Cinema" eine Sache, die Mitte der 60er Jahre recht schnell durch Grossproduktionen abgelöst wurde. Die Bewegung hatte jedoch einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf  Filme, wie sie seit den 80ern von Ken Loach oder Mike Leigh hervorgebracht werden. Man könnte - diesen Hinweis verdanke ich meinem Blogger-Freund "tschill" (Ockhams Axt)  - vielleicht behaupten, das mangelnde Interesse am "Free Cinema" ausserhalb Englands habe damit zu tun, dass die von ihm geprägten Formen erfolgreich tradiert wurden, während über die Vertreter der "Nouvelle Vague" zum Teil  Kübel der Häme ausgegossen werden. - Trotzdem wird jeder, der sich mit der Geschichte des englischen Films beschäftigt, auf kleine Perlen stossen, wenn er sich den vergessenen Vorläufern der heute aus Grossbritannien kommenden sozialrealistischen Filmen zuwendet.