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Freitag, 15. Mai 2020

Bericht vom 6. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)

Editorische Notiz:
Viel Zeit ist vergangen zwischen dem 6. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione im Juli 2019 und heute. Der nachfolgende Text wurde so auch zwischen den Festivaltagen selbst und dem Tag der Veröffentlichung geschrieben, in kleinen Stücken, mit einem Fragment hier, einem Fragment dort, dazwischen immer wieder wochenlange Pausen. Das ist sicherlich nicht der ideale Weg, und eine zeitnähere Veröffentlichtung hätte der Qualität sicherlich besser getan. Aber es ist mir ein Herzanliegen, über diese besondere und besonders schöne Veranstaltung zu berichten.

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Es war einmal das italienische Kino...
Ein Cinemärchen in der Hölle des Sommers

Francoforte sul Meno
40°C
35mm


Donnerstag, 25. Juli 2019


18.00 Uhr

PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO (übersetzt in etwa: "Bete zu den Toten, töte die Lebenden", deutscher DVD-Titel: "Die Mörder des Klans")
Regie: Giuseppe Vari
Italien 1971
94 Minuten
Deutsche Kinopremiere
Eine Bande von Verbrechern wartet in einer isolierten Poststation darauf, dass die Ehefrau des Anführers Hogan (Klaus Kinski) eine Ladung mit kürzlich geraubtem Gold vorbeibringt. In der Poststation befindet sich – neben einer Handvoll von Postkutschen-Reisenden, die zufällig dort gestrandet sind – auch der mysteriöse Fremde John Webb (Paolo Casella). Dieser verspricht den Gangstern, sie bis an die mexikanische Grenze zu bringen. Die paranoiden Spannungen, die sich teilweise schon in der Station entladen haben, eskalieren auf dem Ritt durch die Wüste vollends...


Die Ruhe nach dem Sturm: Hogan mit einem seiner Opfer im Bildhintergrund

PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO lief beim Terza Visione zum ersten Mal in einem deutschen Kino. In Deutschland auf DVD zunächst im falschen Bildformat und nur auf Deutsch und Englisch veröffentlicht, erlebte der Film in der Reihe "Western Unchained" eine Edition in Scope und mit italienischem Ton. Die Reihe erschien anlässlich des Kinostarts von DJANGO UNCHAINED und wurde von einer Liste mit Quentin Tarantinos liebsten Italowesterns inspiriert. Jetzt ist mir auch klar, dass sein THE HATEFUL EIGHT nicht nur bei Carpenters THE THING, sondern auch bei der ersten Hälfte von Varis PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO abkupferte.
Der Film ist ganz klar in zwei Teile strukturiert: ein Kammerspiel in der Poststation in der ersten Hälfte, ein langer Ritt durch die Wüste in der zweiten (wobei dieser Ritt ein wenig an Monte Hellmans THE SHOOTING erinnert). Unsicherheit und Paranoia bilden den roten Faden des Ganzen: Der Handlungsraum wird zwar scheinbar geöffnet, aber der psychologische Spielraum der Figuren noch weiter eingeengt.
Es gibt in der ersten Hälfte sehr viele, scheinbare "Expositionsdialoge", die aber keinerlei Expositionsfunktion haben: die Figuren reden in den Codes ihres Gewerbes und im Wissen auf eine Weise, dass ihr Gegenüber (aber nicht unbedingt der Zuschauer) weiß, was gemeint ist. Sie reden für sich, nicht für das Publikum. Das war einerseits ziemlich verwirrend – aber andererseits auch sehr modern und erinnerte mich ein wenig an Hong-Konger Gangsterfilme ab den späten 1980er Jahren.
Die Verwirrung, die sich im Poststation-Kammerspiel beim Zuschauer (na ja: also zumindest bei mir) entwickelt hat, überträgt sich allerdings auch auf die Figuren selbst. Die Machtbeziehungen zwischen Hogan und seiner Bande, zwischen der Bande und Webb, zwischen Webb und den zufällig dort gestrandeten Reisenden (und natürlich alle Überkreuz-Beziehungen) sind völlig unklar: wer unbewaffnet bzw. entwaffnet ist, ist nicht unbedingt der Machtlose. Hogan wird von seinen misstrauischen Untergebenen entwaffnet und zunächst in einem Zimmer im ersten Stockwerk eingesperrt – doch irgendwann stürmt er wutentbrannt nach unten und beginnt, alle Anwesenden nur mit seiner Körperhaltung, seiner Mimik, kleinen Gesten und einigen latent androhenden Bemerkungen zu verunsichern. Das funktioniert sehr gut, weil Hogan eben von Klaus Kinski gespielt wird und natürlich ist PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO auch eine große Kinski-Show. Mehr als in den großen Ausbrüchen, die eher selten, dafür umso eruptiver kommen, verbleibt Kinski eher in einem Zustand des permanenten Brodelns – vor oder nach dem lauten Knall ist er immer am bedrohlichsten.
Zu den Bedrohungen Hogans gehört, dass er eine der anwesenden Damen zum Singen auffordert. So fängt sie dann auch an, "Jingle Bells" zu singen. Das dauert eine ganze Weile, während Hogan gespannt lauscht und sämtliche anderen Anwesenden zu Salzsäulen erstarrt sind. Und dann... tja... dauert es noch etwas länger. Bis Hogan zum Liedwechsel animiert und dann die Melodie von "An der schönen blauen Donau" geträllert wird. Was sich so, in Worte gefasst, etwas lächerlich anhört, ist der erste große Höhepunkt von PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO: ein sehr unangenehmer, beklemmender und extrem spannungsvoller Moment.
Sehr interessant ist die zunehmend immer weniger verschleierte Tatsache, dass Kinskis Hogan offensichtlich impotent ist. Nachdem er in der Poststation einen seiner aufmüpfigen Schergen solange erschießt, bis sein Revolver leer durchdreht, kommt ein harter Schnitt zum zweiten Teil des Films: ein Tableau in einer gebirgigen Wüstenlandschaft, mit dem ganzen Troß, der im Bild von rechts nach links reitet – rechts im Bild schießt eine Gesteinsformation in Phallusform empor. Das wirkt mit dem harten Schnitt wie ein ironischer Kommentar auf Hogans "ultramännliche" Tat. Später wird Hogan von einer der zwei mitgenommenen Damen dazu herausgefordert, sie zu nehmen – er lässt sie daraufhin stattdessen von zwei seiner Schergen "stellvertretend" vergewaltigen. Zu sehen ist dabei nur Hogans eiskalt-berechnendes Gesicht, während er sich auf den Wachposten niedergelassen hat, von dem er einen seiner Schergen zwecks der Vergewaltigung abgelöst hat. Ein Moment, bei dem es einem eiskalt den Rücken herunterläuft.
Wenige Minuten vorher hatte sich die Kamera noch lasziv zwischen Kinskis Beine gekuschelt, während er sich, zum Nachtlager entspannend, breitbeinig in den Sand hingefläzt hat. Die Kamera in PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO (Franco Villa, der auch Fernando Di Leos Polizeifilme fotografiert hat), sie ist sowieso fast ein eigener Protagonist in diesem Film: viele stark gekippte Perspektiven; Gesichter, die wie Felsen in den Vordergrund hineinragen; ruhig-elegische Tableaus und dynamische Handkameramomente. Gegen Ende finden Kinskis brodelnd-aufbrausendes Schauspiel und Villas grandiose Kamera zu einer absoluten Symbiose zusammen: in einem extremen Wutanfall schneidet Hogan die Kisten mit den Goldbarren von den Pferden, schlägt die Kisten auf, schrammt die Goldbarren mit seinem Messer an, läuft zum nächsten Pferd – alles gedreht in einer gerade auf der großen Leinwand atemberaubenden Handkamera, die ohne Schnitt von der Totalen bis hin zur Nahaufnahme reicht. (Das I-Tüpfelchen: ein Pferd weicht vor Hogan bzw. Kinski mehrmals weg, bis dieser sich mit gezücktem Messer heranpirscht und schließlich nach einigen Mühen doch die festgebundene Kiste abschneiden kann.)
Eines der markantesten Bilder im ganzen Film: nach einem guten Stück Gebirgsweg marschiert unsere Truppe durch eine richtige Sandwüste – man sieht dann in einer Nahaufnahme, wie ihre Füße im Sand Abdrücke hinterlassen, und diese Abdrücke sinken langsam durch rieselnden Sand wieder in sich zusammen. Was für ein wunderschönes Bild für die gesamte Situation: es ist nicht nur ein "vergänglicher" Sand, so vergänglich wie die Sicherheit der Protagonisten, sondern auch ein sehr "mühsamer" Sand, den zu durchschreiten allergrößte körperliche Energie abfordert.



20.15 Uhr

LA MORTE SCENDE LEGGERA (übersetzt: "Sanft sinkt der Tod")
Regie: Leopoldo Savona
Italien 1972
86 Minuten
Deutschlandpremiere
Als der Gangster Darica (Stelio Candelli) eines Morgens nach Hause kommt, findet er seine Ehefrau ermordet wieder. Da er in der Nacht dubiose Gangstersachen gemacht hat, besitzt er kein Alibi und lässt sich, zusammen mit seiner Geliebten Liz (Patrizio Viotti) von befreundeten Juristen und Notabeln (die er aufgrund ihrer Verstrickungen im organisierten Verbrechen erpressen kann) in einem leerstehenden Hotel verstecken. Na ja... nicht ganz leerstehend.


Darica flüchtet vom Ort des Verbrechens weg – und geradewegs in sein Verderben rein

Der italienische Giallo ist ein Genre, von dem viele üblicherweise erwarten, dass schick gekleidete, hübsche Leute in bunten Pop-Art-Dekors aus eleganten Longdrink-Gläsern J&B trinken und sich dabei gepflegt ermorden. Nun, in LA MORTE SCENDE LEGGERA sind die Figuren eher dürftig gekleidet, von nur moderater Schönheit (der Hauptdarsteller sieht, besonders ohne Sonnenbrille, wie der kränkliche italienische Cousin des charismatischen, aber sicherlich nicht klassisch "schönen" Jack Palance aus), das Dekor des leerstehenden Hotels ist mit "trist" noch sehr nett umschrieben, und statt J&B gibt es irgendeine unbekannte Whiskymarke (wahrscheinlich gekauft in dem, was in Italien in den 1970er Jahren der "Discounter" war) und getrunken wird direkt aus der Flasche! Wenn man es genau nimmt: es geht um zwei Figuren, die in einem heruntergekommenen Haus eingesperrt sind, nicht rauskommen und langsam wahnsinnig werden. Ein echter "poverty-row"-Giallo – als solcher möglicherweise der vergessene italienische Neffe von Edgar Ulmers DETOUR: wie dieser ist LA MORTE SCENDE LEGGERA ein unglamouröser, von gallig-perversem Humor durchzogener und durch und durch billiger B-Film, der seine produktionsbedingten Einschränkungen nicht nur überwindet, sondern geradezu in einen cineastischen Triumph verwandelt.
Wer beim Lesen von Filmtexten gerne über aerodynamische Bestandteile von Autos denkt, soll das hiermit gerne tun. LA MORTE SCENDE LEGGERA beginnt nach einer kurzen Einleitung – und war daher ein idealer Folgefilm zu PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO – als ultratrockenes Kammerspiel mit nur zwei Personen zwischen einem schäbigen Hotelzimmer, einem leergefegten Treppenhaus und einem vollgemüllten Speisesaal und verwandelt sich nach und nach in einen surrealistischen Alptraum, in eine schaurige Odyssee durch versteckte Seelen(t)räume des Unterbewussten, in der eine Tür nach der anderen durchschritten wird. Das widerspiegelt den Seelenzustand des Protagonisten Darica: ein Mann, der nach eigener Aussage unschuldig am Mord an seiner Ehefrau ist (wie in DETOUR kann man seiner Selbstauskunft bezüglich seiner Unschuld glauben – oder auch nicht) aber unter extremem Druck steht, weil er natürlich als Hauptverdächtiger gilt. Was könnte beunruhigender auf ihn wirken, als im angeblich leerstehenden Hotel einen Mann zu treffen, der vor seinen Augen eine Frau ermordet und ihn dann auch noch bittet, bei der Beseitigung der Leiche Hilfe zu leisten... Wie die Psyche des Protagonisten bekommt auch der Film hier einen Sprung: Figuren tauchen ebenso unvermittelt wie bislang verborgene Hotelräume. Zu den Highlights gehört der Raum, den Darica selbst später als "absurder Raum" betitelt: groß und dunkel, mit einer isolierten Badewanne in der Mitte, darin eine badende Frau, am Rande des Raums im Hintergrund ein Bügelhalter, auf dem ein kleines Äffchen herumbalanciert und spielt. Darica wird mit immer mehr bizarren, surrealen Situationen in merkwürdigen Räumen konfrontiert – damit auch immer wieder auf seine eigene Schuld zurückgeworfen: vielleicht als Mörder seiner Frau, jedenfalls als Komplize beim Mord im Hotel. Gegen Ende entpuppt sich das ganze dann als eine Inszenierung: die Juristen und Notabeln, die Darica damit beauftragt hat, ihm ein Alibi zu bauen und ihn währenddessen zu verstecken, haben eine Filmcrew engagiert, um Daricas Hotel-Alptraum mithilfe von Schauspielern, selbstgebauten Dekoren und selbstgebauten Blutspritzeffekten zu inszenieren, ihn so an den Rand des Wahnsinns zu treiben und damit zu zwingen, ein Geständnis über die Ermordung seiner Ehefrau abzulegen. Die Inszenierung übertrifft die Realität, die ihr nachläuft. So wird LA MORTE SCENDE LEGGERA schließlich gar zu einem Film über das Filmemachen: ein Prozess, bei dem es unter anderem darum gehen kann, bestehende Ängste zu verstärken, zu kanalisieren, zu ästhetisieren – und aus Bauchgefühlen (manipulative) Bilder zu schaffen. Oder man ersetzt Ängste und Bauchgefühle durch Begehren und Lendengefühle: weil Darica und Liz im Hotel nichts zu tun haben, gucken sie sich zwischendurch einen Super-8-Porno an, geilen sich daran auf und haben Sex, während der Film weiter dreht und weiter rattert. Das sieht aus wie die "selbstzweckhafte" Sexszene, die jeder Giallo genreüblich eben haben muss, ist dann aber doch ein deutlicher Wink darauf, was gerade auf einer höheren Ebene in diesem Film läuft.
LA MORTE SCENDE LEGGERA geht es dabei sichtlich um mehr als um reine metareflexive Spielerei. Am Ende ist die Unschuld Daricas an der Ermordung seiner Ehefrau bewiesen, doch die Macht die er früher hatte, ist gebrochen: zu Beginn konnte er respektable Notabeln mit Wissen um ihre Verstrickung im organisierten Verbrechen noch erpressen. Am Ende wird er als elendes Häufchen und Nervenbündel aus dem Hotel weggebracht, während seine "legalen" Freunde die Oberhand gewonnen haben – mit Hilfe des Kinos bzw. des Filmemachens.

Wer noch mehr zu LA MORTE SCENDE LEGGERA lesen möchte, sei hier auf André Malbergs Text im Weird-Magazin verwiesen.



22.30 Uhr

SUSPIRIA
Regie: Dario Argento
Italien 1977
92 Minuten (deutsche Fassung)
Die US-Amerikanerin Suzy (Jessica Harper) reist nach Freiburg im Breisgau, um an einer Ballettschule zu studieren. Nach einem schrecklichen Mord geschehen weitere mysteriöse Dinge mit okkultem und magischem Hintergrund... 


Suzy in einem samtig tapezierten Korridor der unheimlichen Schule

SUSPIRIA gehört wahrscheinlich zu den meistbesprochenen italienischen Genrefilmen überhaupt und ich bezweifle, dass ich da besonders viel hinzuzufügen habe. Bei meiner mittlerweile fünften Sichtung gab es keine großen Offenbarungen, keine völlig neuen, bislang unentdeckten Blickwinkel – wenngleich sich fast jedes einzelne Bild immer wieder als verblüffend schön entpuppte. Vielleicht nur ein kleines Detail: SUSPIRIA ist zwar ein sehr lauter Film, aber zwischendurch arbeitet er auch mit totaler Stille: absolut muxmäuschenstill war es dann für mehrere Sekunden im Saal, jedes Geräusch scheinbar verschluckt.
Am ehesten fühlte ich so etwas wie ein (cineastisches) Heimatgefühl: die Verblüffung, wie toll der Film aussieht, ging einher mit dem Empfinden, das meiste doch so gut wie einen alten Freund zu kennen. Da gibt es keine großen Überraschungen, aber doch ein schönes Wohlsein...
Das Hauptereignis des Abends war allerdings die 35mm-Kopie selbst: eine originale Technicolor-Erstaufführungskopie. SUSPIRIA wurde, wie Andreas, einer der beiden Leiter des Festivals, in seiner schönen Einführung erklärte, auf Eastmancolor-Negativ gedreht, dann allerdings im Technicolor-Kopierwerk in Rom auf ein Technicolor-Positiv gezogen und zwar unter sehr präzisen Anweisungen Dario Argentos und seine Kameramanns Luciano Tovoli: Moderne Filter, die beim Ziehen des Positivs verhindern sollten, dass Farben auf der Kopie zu stark "ausbluten", an den Rändern verlaufen, zu grell, intensiv und leuchtend werden, sollten für diesen Film deaktiviert werden, um den ganz speziellen, im Kern expressionistischen Look zu erzeugen. SUSPIRIA ist also nicht nur in der Kamera und am Schneidetisch entstanden, sondern auch im Kopierwerk. Die Umwandlung des Negativs in das Positiv gehörte noch zum kreativen Entstehungsprozess. Restaurierungen des Films, die auf das Kamera-Negativ zurückgreifen (als angebliche "Ur-Quelle" des Films) – und das sind, wie ich dann einige Monate später erfuhr, alle – unterschlagen also den letzten, maßgeblichen Schritt in der Entstehung des Films.
Nun... von SUSPIRIA gibt es gefühlt ein Dutzend "Restaurationen" pro Jahr, aber tatsächlich dürfte diese nichtrestaurierte (es gab auch nichts zu "restaurieren": die Kopie war kristallklar, wohl fast ungespielt), originale 35mm-Aufführung nicht zu toppen sein.* Die Farben des Films wirkten irreal, und waren dabei doch so lebendig. Im Foyer des Filmmuseums wurde während des Festivals in Dauerschleife eine Anteaserung einer Sonderausstellung zur digitalen Revolution der Medien projiziert und darunter war auch ein Filmclip aus SUSPIRIA zu sehen: wie flach und leblos wirkte das digital totgefilterte Bild im Vergleich zur Kopie. Suzy läuft im Korridor mit den roten, samtbezogenen Wänden an der Haushälterin vorbei, die gerade einen spitzen, bedrohlich glänzenden Gegenstand aus Silber poliert. Die samtige Textur des roten Wandbezugs ist nur noch zu erahnen, während Suzy erschreckend wächsern aussieht, als könnte sie die Schwester der mechanischen Puppe aus Fellinis CASANOVA oder die potentielle Protagonistin eines "lacrima movie" mit einer seltenen Hautkrankheit sein. Meine DVD zuhause ist zum Glück nicht so "tot-ge-HD't" – dem Erlebnis einer originalen 35mm-Erstaufführungskopie reicht sie aber absolut nicht das Wasser. (Ein Erlebnis, das ich im Oktober bei "Terrore a Norimberga. Festival des italienischen Horrorfilms" wiederholen durfte: hier wurde diese Kopie, die im Besitz des KommKinos ist, noch einmal gezeigt).

*Mit allerdings der deutlichen Einschränkung, dass die deutsche Kinofassung von SUSPIRIA gekürzt war (einige Frames bei Gewaltszenen und einige Dialogszenen). Wirklich "original" wäre eigentlich eine ungekürzte, italienische Erstaufführungskopie




Freitag, 26. Juli 2019

12.30 Uhr

L'ULTIMO PARADISO (deutscher Titel: "Das letzte Paradies")
Regie: Folco Quilici
Italien 1955
88 Minuten (deutsche Fassung)
In mehreren kleinen Episoden erzählt L'ULTIMO PARADISO vom Leben (und Lieben) in Polynesien: die Männer eines Stamms beweisen ihren Mut beim Bunjee-Jumping; ein kleiner Junge, der wie sein Vater Perlentaucher werden soll, muss seine Ängste vor dem Wasser und den Haien überwinden; ein junger Mann, der einem prekären Dasein als Fischer entfliehen will, entdeckt das Leben als Minenarbeiter und erkundet die Stadt Papeete; ein junges Paar, gebürtig von zwei verschiedenen Inseln, bereitet sich zur Hochzeit vor...
L'ULTIMO PARADISO ist ein ethnografischer Dokumentarfilm mit mehreren, von lokalen Komparsen gespielten Szenen, allerdings ohne Dialog, sondern nur mit Off-Kommentar (soweit ich mich erinnere – und natürlich bezieht sich das auf die gezeigte deutsche Kinofassung). Das Programmheft des Festivals wies bereits darauf hin: L'ULTIMO PARADISO ist ein bisschen wie ein Missing Link in einer langen Reihe von Filmen mit (semi-/pseudo-)dokumentarischem Anspruch bzw. Hintergrund: Robert Flahertys ethnografische Dokumentarfilme – – Friedrich Wilhelm Murnaus TABU (an dem Flaherty auch beteiligt war) – – der italienische Neorealismus – – L'ULTIMO PARADISO – – der italienische Mondo-Film (und von letzterem aus schließlich zum Kannibalenfilm).
Wenngleich in dieser "Ahnenreihe" gleich der Mondo-Film folgt: L'ULTIMO PARADISO ist noch ein sehr "sanfter", "zahmer", man könnte sagen "familienfreundlicher" Film. Im zeitgenössischen Kontext, also in den 1950er Jahren, dürfte er ästhetisch wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt sein von Dokumentarfilmen aus der Disney-Schmiede (z. B. der "People & Places"-Serie, die ich selbst allerdings nicht kenne). Kindergerecht – für das geneigte erwachsene Publikum gab es dann trotzdem leicht bekleidete, junge Menschen (Frauen wie Männer) zu sehen und "goutieren".
Ich könnte nicht sagen, dass der Film mich völlig begeistert hat: viel eher hat er mich recht angenehm und sanft in den Tag eingeführt (zumal ein Tag mit zunehmend härteren Filmen). Besonders visuell war er natürlich eine Wonne: eine farbechte Ferraniacolor-Kopie (Agfacolor nachempfunden). Das Blau des Meeres war also genauso intensiv wie das Grün der Palmblätter und das dunkle Orange des Sonnenunterganges: viele gekonnt festgehaltene Postkarten-Motive in Scope – oft zum Dahinschmelzen.
L'ULTIMO PARADISO bediente natürlich westeuropäische Fantasien von der unberührten, zivilisationsfernen und freien Südsee und seinen schönen, leicht bekleideten Bewohnern. Und doch gelang ihm das auch paradoxerweise nicht vollkommen, denn die pathetische Einführung, die das eben geschriebene bestätigte, stieß sich im weiteren Verlauf immer wieder an den Bildern, an den Wegen der dargestellten Figuren und Komparsen. Die Fischer zum Beispiel: kein Traumjob, sondern ein knallharter Knochenjob, der zudem auch hochgradig gefährlich ist (Haiangriffe und die Gefahr, zu ertrinken), aber zugleich nur zum Allernötigsten reicht. Zumindest sind das die Bilder, die wir sehen, während der Off-Kommentator scheinbar nie merkt, dass hier keine Südseetraummänner spaßig tauchen gehen, sondern Arbeiter unter prekären Bedingungen schuften.
Genau dieser Armut will einer der jungen Männer entfliehen, und der Off-Kommentator wird nicht müde zu betonen, dass das eigentlich nicht geht, weil er doch dazu determiniert sei, auf seiner Insel bei seinen Leuten zu bleiben (ob da Reste von Blut-und-Boden-Gedankengut in die deutsche Filmfassung eingeflossen ist, sei dahin gestellt – da müsste man wohl schauen, wie die italienische Fassung das kommentiert). Als der junge Mann nach Tahiti umzieht und dort Arbeit in einem Steinbruch findet, ist der Off-Kommentator trotzdem erst einmal ganz begeistert: endlich habe der Mann eine Arbeit gefunden, die ihm gefällt. Die Bilder zeigen etwas anderes: nämlich eine Knochenarbeit in einem Steinbruch, bei dem Männer in der prallen Sonne schwere Steine herumschleppen. Dieser Paradox machte den Film sehr interessant: die Bilder zeigten sehr wohl Armut und prekäre Arbeitsverhältnisse, der Off-Kommentator thematisierte das aber überhaupt nicht.
Noch schöner wurde es, als der junge Mann durch ein Stadtfest in Papeete zum Nationalfeiertag (also: 14. Juli) begleitet wurde. Der junge Mann hat sich zurecht gemacht und geht durch die Tanzlokale auf der Suche nach einer Tanzpartnerin. Nach mehreren Abweisungen beschließt er, zu trinken. Und als das rauschende Fest vorbei ist, fährt er dann wieder auf seine Heimatinsel zurück. Der Off-Kommentar sieht das gleich als Bestätigung, dass der junge Mann nicht in die "große" Stadt, sondern nur auf "seiner" Insel glücklich werden kann. Als Zuschauer haben wir einen Arbeitsmigranten gehen, dessen Arbeit in der Stadt genau so prekär war wie in seinem Heimatdorf und der dann noch nicht einmal Sex mit einer Frau haben konnte und deshalb noch mal doppelt frustriert war...
Aber ganz ohne Sex geht es dann doch nicht. Die letzte Episode des Films zeigt das Anbahnen einer Hochzeit und schließlich die Hochzeitszeremonie. Da trifft sich die ganze Dorfgemeinschaft, es wird viel getanzt, und besonders ein älterer Herr (was für ein Charaktergesicht!) lächelt dabei immer etwas wissend. Das Paar geht dann in der Lagune baden und umschwimmt schließlich einen im Wasser aufgestellten Totem in Phallusform.

Eine der Gefahren von Sex (auch praktiziert in einer Pazifiklagune) ist die Geburt von Kindern... Also weiter mit Kindern!



15.45 Uhr

QUESTO SI CHE È AMORE (übersetzt etwa: "Ja, das ist wirklich Liebe", Alternativtitel, von den Kuratoren in Anlehnung an den englischen Verleihtitel vorgeschlagen: "Am Tag, als der Weihnachtsmann weinte")
Regie: Filippo Ottoni
Italien 1978
102 Minuten
Deutschlandpremiere
Der Junge Tommy (Sven Valsecchi) leidet an einer seltenen Autoimmunerkrankung (Agammaglobulinämie): er kann keine Antikörper bilden und muss deshalb im Krankenhaus in einem aseptischen Glaskäfig leben. Essen bekommt er durch eine Sepsis-Schleuse, Besucher "anfassen" kann er nur über eine Gummihandschuh-Apparatur an der Außenwand seines Käfigs. Am meisten freut er sich auf den gelegentlichen Besuch seines besten Kumpels Larry (Mauro Curi) und dessen Hundes Peluche. Seine Eltern (Christopher George & Gay Hamilton) haben sich "draußen" voneinander entfremdet, stehen kurz vor der Scheidung und vernachlässigen darüber, ihren Sohn regelmäßig (und gemeinsam) im Krankenhaus zu besuchen. Dieser will seine Eltern wieder zusammenbringen – und dafür notfalls auch aus seinem Käfig in die lebens- und keimgesättigte Außenwelt ausbrechen.
Leukämie und Gehirntumore waren die üblicherweise die Krankheiten, an denen die Kinder in den sogenannten "lacrima movies" starben (zu diesem Subgenre des Melodramas und speziell L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA schrieb ich anlässlich des Terza 2018). QUESTO SI CHE È AMORE sollte dem Fass noch den Boden ausschlagen und das Konzept des Kindersterbe-Melodramas mit einer noch extremeren und exploitativeren Prämisse auf eine unerhörte Spitze treiben: ein Kind, das so krank ist, dass es in einem Glaskäfig leben muss! Zum Glück gehen solche Kalkulationen nicht immer auf: von den rührseligen Melodramen um sterbende Kinder, die ich bislang geschaut habe (insgesamt sieben Stück) war QUESTO SI CHE È AMORE für mich der subtilste, intelligenteste, warmherzigste, humorvollste und schönste!
Filippo Ottonis Filmografie ist relativ übersichtlich und dabei doch recht eklektisch: ein ländliches und offenbar zappendusteres Familien-Melodrama, eine Giallo-Komödie/-Parodie, eine von Cannon co-produzierte Klamauk-Komödie und ein wiederum von Cannon co-produzierter Film, der wie eine Mischung aus Musikfilm und Melodrama aussieht – und eben QUESTO SI CHE È AMORE. Außerdem war Ottoni einer von 9 Autoren, die an Mario Bavas Giallo/Proto-Slasher/schwarzer Kapitalismusgroteske REAZIONE A CATENA mitgeschrieben haben und Synchron-Regisseur für die italienischen Dialoge von Andrej Tarkovskijs NOSTALGHIA. Ein eher unbekannter Filmemacher also, aber für mich einer der Helden des Terza Visione 2019. Er hat auch das Drehbuch zu QUESTO SI CHE È AMORE geschrieben, zusammen mit Enrico Oldoini (in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur umtriebiger Autor, sondern auch Regisseur) und Sonia Molteni (die auch am Drehbuch von Luigi Cozzis großartigem "lacrima movie" DEDICATO A UNA STELLA mitgearbeitet hat).
Wenn die Grundidee von QUESTO SI CHE È AMORE wirklich nur darin bestand, die Krankheit des Kindes noch krasser zu machen, dann ist am Schluss doch ein extrem komplexer und intelligenter Film dabei heraus gekommen: ein Feuerwerk an Spiegelungen, Dualismen, Dialektik. Erwachsene & Kinder; "Realismus" & "Naivität"; Lüge & Wahrheit; draußen & drinnen; Mensch & Tier; Konvention & Rebellion; Stellvertreter-Kommunikation & direkter Dialog; Sein & Schein; Körperlichkeit & Imagination; Leben & Tod; geboren werden & sterben. Diese Gegensätze werden (manchmal plakativ, manchmal subtil) gegenübergestellt, durcheinander gewirbelt, teils vom Kopf auf die Füße gestellt, dass einem ganz schwindelig werden kann.
Die italienischen Kindersterbe-Melodramen sind meiner Meinung dann am besten, wenn sie ihre kindlichen Protagonisten ernst und als "volle" Figuren nehmen (die schwächeren Filme zeigen sie tatsächlich "nur" als klein und niedlich und süß und traurig – "Tristkinder", wie das Hofbauer-Kommando sie nennt). Von den "lacrima movies", die ich bislang gesehen habe, gibt es allerdings bislang keinen einzigen, der seine kindlichen Protagonisten derartig ernst genommen hat, wie QUESTO SI CHE È AMORE. Der Gegensatz zwischen Kindern und Erwachsenen wird im Prinzip auf den Kopf gestellt: die Kinder benehmen sich wie Erwachsene, während sich die Erwachsenen "kindisch" benehmen. Der kranke Tommy, das ist völlig klar, ist ein extrem intelligenter Junge, der – trotzdem er in einem Glaskäfig lebt (oder vielleicht genau deshalb) – sehr genau weiß, dass die Ehe seiner Eltern sich in Brüchen befindet – während die beiden draußen noch zaghaft überlegen, ob und wie sie es ihm beibringen sollen; der auf sehr geschickte Weise seinem Vater eine liebevolle und doch auch tadelnde Botschaft zukommen lässt, als dieser ihn einfach nicht mehr besuchen kommt, nämlich als Audiotape zu einem Singwettbewerb in der TV-Sendung seines Vaters – einer der großen emotionalen Momente des Films (die stets durch ein erstaunliches understatement charakterisiert sind – hier eine ungefähre Impression dieser Song-Szene); der wahrscheinlich bei vollem Bewusstsein, welchen Preis er dafür zahlen wird, aus seinem Käfig ausbricht, um einige Stunden in Freiheit zu leben, mit seinem Freund Larry zu verbringen und seine Eltern wieder zu sehen. Sein Vater währenddessen spielt in dieser ganzen Zeit mit Puppen: er ist TV-Moderator einer Kindersendung und spricht dabei mit einer Handpuppe (als Bauchredner). Diese Puppe nimmt er, als er seinen Sohn dann doch mal im Krankenhaus besucht, mit und benutzt sie dann auch als "Schutzschild": als Papa redet er bemüht abgebrüht und "männlich" mit seinem Sohn – nur über seine Stellvertreter-Puppe, also in einer "Rolle", traut er sich seinem Sohn zu sagen, wie sehr er ihn liebt. Eine völlig unglaubliche Szene, weil sie einerseits sehr emotional ist, und andererseits doch unfassbar hart, weil das kleine, kranke Kind tatsächlich offener spricht als der erwachsene Mann.
Wie der Film mit der Eingeschlossenheit des Protagonisten umgeht und es reflektiert, ist ebenfalls sehr faszinierend. Zu Beginn sehen wir Tommy vor dem Hintergrund eines Waldes Rollschuh fahren – erst nach und nach, während die Kamera zurückfährt, merkt man, dass der Wald eine Tapete ist. Und schließlich, dass der Protagonist des Films in einem hermetischen Glaskäfig lebt. Und dass das im Grunde niemals thematisiert wird, aber doch stets reflektiert. Wenn der Vater sich in der Wohnung seiner neuen Lebensgefährtin befindet, sieht er im Zieraquarium eigentlich nicht einen Fisch, sondern seinen eigenen Sohn. Nach seinem Ausbruch aus dem Krankenhaus, als Tommy mit Larry den Zoo besucht, erkennt er sich plötzlich selbst in einem Affen, der in einem zootypischen Glaskäfig sitzt. Hier wird das beachtliche schauspielerische Können Sven Valsecchis deutlich: die Selbsterkenntnis Tommys zeigt sich nur in seinem Blick – ganz ohne Worte.
Tommys Leben im Käfig ist extrem unsinnlich: das Essen schmeckt nach nichts, er sieht immer nur die gleiche Umgebung und er kann seine Besucher nicht berühren, oder zumindest nicht richtig, nämlich nur über eine Gummihandschuh-Apparatur an der Außenwand seines Käfigs. Seine Mutter greift in die Handschuhe und umarmt ihren Sohn Tommy "durch die Glaswand" hindurch: auch hier gehen die genreimmanente, rührselige Sentimentalität und die "harte", intellektuelle Reflexion des Films über die Ungeheuerlichkeit von Tommys Leben Hand in Hand. Tommy lebt eine Dystopie des "neuen Fleisches" (QUESTO SI CHE È AMORE gibt eine ungefähre Vorstellung davon, wie ein von David Cronenberg in den 1980er Jahren gedrehtes Melodrama über ein sterbendes Kind hätte aussehen können).
Und doch gibt es für Tommy (und auch für die Zuschauer) immer wieder Abwechslung, wenn zum Beispiel Kumpel Larry seinen Hund Peluche in das Krankenhaus schmuggelt, indem er ihn in einem Textil-Wäschekorb versteckt. Tommy macht ein ganz verwundertes Gesicht, als Larry einen Wäschekorb vor die Glaswand fährt – doch dann fließt aus einer Ecke des Korbs ein gelber Strahl und Tommy begreift, was Larry gemacht hat. Und dann geben sich nicht nur die beiden Jungs mit den Gummihandschuhen die Hand, sondern auch Peluche wird auf seine Hinterbeine gestellt, während seine Vorderbeine in die Gummihandschuhe gesteckt werden (worüber der Hund offenbar nur mäßig erfreut ist): damit können sich dann Tommy und Peluche gegenseitig befühlen – also indirekt zumindest. QUESTO SI CHE È AMORE ist auch ein wunderschöner Film über Freundschaft und nicht zuletzt auch ein großartiger Buddy-Movie, der auch über die Chemie zwischen den beiden Jungs so gut funktioniert. Nicht zu vernachlässigen ist, dass der rothaarig-lockige Mauro Curi mit seinem natürlichen Charisma wahrscheinlich der heimliche, eigentliche Star des Films ist (was danach beim Essen auch mehrere Co-Zuschauer bestätigt haben).
Im letzten Viertel schließlich entscheidet sich Tommy dazu, seinen Käfig zu verlassen und in die reale und sinnliche Welt zu tauchen. Sein (de facto) Gang in den Tod ist gleichzeitig seine Wiedergeburt und wird fast wortwörtlich so inszeniert: nachdem er sehr geschickt den Sicherheitsmechanismus der Essensschleuse K. O. gestellt hat, kriecht er durch diese wie durch den Geburtskanal. Sein Todesurteil (er wird mit Keimen in Kontakt kommen und in wenigen Stunden sterben) ist zugleich sein neues Leben. Tommy "muss" sterben, um für kurze Zeit "richtig" leben zu "können". Für einige Minuten wird QUESTO SI CHE È AMORE zu einem richtigen Knastausbruchfilm – inklusive Larry, der mit Peluche zur vereinbarten Zeit als Komplize draußen wartet, um den Ausbrecher abzuholen. Eine unglaubliche Explosion der Gefühle überrannt den geneigten Zuschauer, als Tommy und Larry sich endlich wirklich berühren und umarmen. Danach knuddelt Tommy noch kurz mit Peluche, und dann läuft das Trio zu seinen Tagesabenteuern los. Es war für mich wahrscheinlich der größte "kleine" Moment des Terza Visione 2019 und das Tolle ist, dass er ohne Sperenzchen und verblüffend nüchtern in einer Totalen gefilmt wird: auch an dieser Stelle vertraut der Film ganz dem Zuschauers, diesen Moment emotional und intellektuell zu "begreifen".
"Warum hast du mir nie erzählt, wie toll das ist" fragt Tommy seinen Freund Larry, als die beiden in einem Park im Gras herumtollen. Larry ist von der Frage überfordert, reagiert aber kurz darauf sehr spontan mit einem grenzenlosen Erschrecken, als Tommy kurzzeitig unsanft hinfällt: "Questo si che è amore" – das ist wirklich Liebe.
Der Film endet – wie viele seiner Genre-Genossen – mit dem Tod des Protagonisten. Tommy hat sich zusammen mit Larry den Weg zum Wochenendhäuschen seiner Eltern erkämpft. Wieder befindet er sich in einer Art Glaskäfig, doch nun sitzen seine Eltern wiedervereint (machen wir uns nichts vor: wahrscheinlich nur auf Zeit) mit ihm in diesem Käfig – an ihnen gebettet sinkt er in seinen allerletzten Schlaf. Larry schaut sich das von draußen durch das Fenster an: es beginnt zu schneien, es ist Weihnachten...

Noch zwei Bemerkungen:
Erstens: Ich habe QUESTO SI CHE È AMORE im Sommer 2019 gesehen und einen großen Teil des Textes im Januar/Februar 2020 beendet. Die aktuelle Corona-Situation könnte manchen dazu einladen, tagesaktuelle Betrachtungen in die Besprechung eines Films über einen sich aufgrund einer gefährlichen Krankheit in Dauerquarantäne befindlichen Kleinkindes einfließen zu lassen – ich fände das persönlich eher uninteressant. Deshalb belasse ich es bei diesem Hinweis.

Zweitens: wer mehr zu QUESTO SI CHE È AMORE lesen möchte, sei auf André Malbergs Text im Weird-Magazin verwiesen. Besonders interessant darin der Satz: "Schnörkellos in der Aussprache gesteht Ottoni einem Kind im Grundschulalter die emotionale Reife zu, einen selbstbestimmten Tod zu sterben." Und sehr interessant auch die Qualifizierung als "italienischer Ozu-Film".


Nach dem Abendessen in einer "klimatisierten" Pizzeria (entweder war das mit der Klimaanlage ein Marketing-Gag, oder wir sollten heilfroh sein, dass sie "klimatisiert" war, sonst wären wir wahrscheinlich in Flammen aufgegangen) folgten zwei Filme, die auf den ersten Blick extrem gegensätzlich erscheinen: eine Musik-Komödie ("musicarello") und ein berüchtigter Nazi-Exploitation-Schocker. Doch bei näherem Hinsehen war das schon sehr genial und passend kuratiert: man könnte sagen...

...das inoffizielle thematische Double-Feature "Die junge Frau und der Faschist"



20.00 Uhr

IO NON PROTESTO, IO AMO ("Ich protestiere nicht, ich liebe")
Regie: Ferdinando Baldi
Italien 1967
97 Minuten
Deutschlandpremiere
Caterina (Caterina Caselli) unterrichtet die Grundschulklasse eines kleinen Fischerdorfes mit außergewöhnlichen Methoden – nämlich singend. Dem Baron (Livio Lorenzon), der seine politischen Einstellungen aus der Zeit zwischen 1922 und 1944 weiter pflegt, passt das gar nicht: er intrigiert gegen Caterina, um sie aus dem Dorf zu vertreiben. Als ein Cousin aus den USA, der mit Plattenverkäufen steinreich geworden ist, zu Besuch kommt, eröffnen sich dem Baron ganz neue Möglichkeiten, die störrische Lehrerin "einzuhegen"...


Die junge Frau und der Faschist I:
Der Baron und Caterina und seinem Fiebertraum

Nach Domenico Modugnos Wahnsinnsfilm TUTTO È MUSICA 2018 nun erneut ein eher untypischer "Musicarello" aus der Spätphase des Genres beim Terza. IO NON PROTESTO, IO AMO kann bei oberflächlicher Betrachtung durchaus auch als eskapistische Unterhaltung genossen werden, aber wenn man genau darüber nachdenkt, ist es ein unglaublich finsterer Film, der bereits ein Jahr vorher den Kater der 68er-Bewegung vorwegzunehmen scheint. Dann sieht man nicht einen Film, in dem eine singende Lehrerin sich mit dem stockkonservativen Dorf-Notabeln streitet, sondern eine pessimistische Bestandsaufnahme von Italiens "Bewältigung" des Faschismus, mit einer Gegenwart, in der politische Gegner nicht mehr deportiert, gefoltert, vergewaltigt und ermordet, sondern gekauft oder besser gesagt verkauft werden. Im Laufe des Films verwandelt sich dann Caterina auch von einer freigeistigen Lehrerin nach und nach in einen nichtssagenden Popstar, bevor sie dann ihre eigentliche Bestimmung als Hausmutti findet und nicht nur auf Popstarruhm, sondern auch auf eine "Karriere" als Lehrerin verzichtet, vor einem wunderschönen Sonnenuntergang mit ihrem künftigen Ehemann stehend (ein Mann, der sich anfänglich als geradezu putzig- schüchterner Dorfarzt präsentiert, um im Laufe des Films immer mehr seine dunklen Seiten als machistisches und latent gewaltbereites Arschloch und potentieller "wife beater" herauszukehren – eine interessante und ambivalente frühe Rolle für Mario Girotti alias Terence Hill).
Die Erzählstrategie von IO NON PROTESTO, IO AMO scheint mir zumindest teilweise jene von Paul Verhoevens SHOWGIRLS vorwegzunehmen: eine junge idealistische Frau mit großen Träumen, die der Film angesichts eines übermächtigen Systems (in beiden Fällen die Unterhaltungsindustrie, bei Verhoeven mit einem Schuss Hollywood-Metapher, bei Baldi mit Italiens faschistischer Vergangenheit im Hinterkopf) völlig auflaufen lässt. Caterina Caselli ist meiner Meinung nach keine besonders gute, charismatische Schauspielerin, aber dieses "Defizit" passt ausgezeichnet zum Film, wenn man ihn "gegen den Strich" schaut. IO NON PROTESTO, IO AMO ist ziemlich klar zweigeteilt: in der ersten Hälfte kämpft die freigeistige Lehrerin Caterina gegen den "Baron", dem sie ein Dorn im Auge ist. Die zweite Hälfte, nach der Traum-Offenbarung des Baron (dazu gleich mehr), zeigt Caterinas langsamen, vom Baron in die Wege geleiteten Aufstieg zum Popstar. Dadurch, dass Caselli eben recht "farblos" spielt, wirkt ihr Fall (also dass sie auf den Baron und seine Pläne, sie zu "vermarkten", reinfällt) umso überzeugender.
Die zweite Hälfte war für mich teilweise eine Geduldsprobe – aber ich bin davon überzeugt, dass das zum Konzept des Films gehört (ein "normalerer" Film hätte den Kampf Caterinas gegen den Baron wahrscheinlich abendfüllend gezeigt, und nicht nach der Hälfte abgebrochen). Die opening credits zeigen Caterina Caselli, wie sie am Strand eine Singstunde abhält (mit dem Lied "Il sole non tramonterà") und die wunderschöne Kamera Enzo Barbonis (später Regisseur zahlreicher Filme mit Terence Hill und Bud Spencer) fängt ihre Unterrichtsstunde in sehr erlesenen Bildern mit langsamen, eleganten Schwenks und Fahrten ein (siehe hier). Ihr Ausbruch der Liebe nach einem Treffen mit ihrem Verehrer, dem Dorfarzt Gabriele, wirkt etwas zu viel des Guten, wenn sie "Cento giorni" singt, ist aber immer noch recht elegant gefilmt. Aber die Rock'n'Roll-Nummer, die sie dann – als "bad girl" in schwarzem Leder gekleidet – zum Besten gibt, wirkt im Vergleich dazu steif, verkrampft, gestellt, ohne Schwung und ist dazu noch verblüffend statisch gefilmt. Als der Baron sich vom Gegner der singenden Lehrerin zum Manager des aufsteigenden Popsternchens, kommt der ganze Film fast zum Stillstand, hangelt sich von einem scheinbar gelangweilten Nebenplot zur nächsten hüftsteifen Nummer: es zieht sich alles wie ein Kaugummi, dass es fast grausam ist – und ich denke, genau das will der Film auch sein. Hinzu kommt noch, dass viele weitere Sachen "madig" werden: Gabriele, der schüchterne Dorfarzt, entpuppt sich immer mehr als latent aggressiver Macho, der Caterina verbal immer nachdrücklicher bedrängt und offensichtlich eine Frau braucht, der er seinen Willen aufdrängen kann (und diese bekommt er am Ende).
Es gehört wohl zu den Grausamkeiten des Films, dass die irrsinnigste und spaßigste Nummer nicht Caterina, sondern dem Baron bzw. seinem Fiebertraum gehört (nachdem er auf die Idee gekommen ist, sie nicht aus dem Dorf zu vertreiben, sondern sie zu verkaufen): Er sitzt in einem mit knallbunten Luftballons gefüllten Raum auf einem Thron, lässt sich von seinem Hausdiener Sandwiches in Geldbündelform bringen, die er genüsslich verspeist, während die zwei hübschen Sekretärinnen seines Cousins und Caterina um ihn herum tanzen. Wie gesagt: ein Fiebertraum – deshalb wohl der irrsinnigste Moment des Films und wahrscheinlich der farbigste (hier zu sehen). Die Kopie von IO NON PROTESTO, IO AMO war leider stark rotstichig, doch die Farben haben im Fiebertraum des Barons dem Rotstich ein wenig getrotzt.
Gegen Ende, nach der letzten Nummer von Caterina als Star (auch diese zieht sich qualvoll in die Länge), erklärt sich auch der Titel des Films, der von ihr Caterina als Erklärung zu ihrem Rücktritt wortwörtlich ausgesprochen wird: "Ich protestiere nicht, ich liebe" – das ist nicht eine kämpferisch 68er-Aussage über die subversive Kraft der Liebe, sondern eine Kapitulationserklärung. Der Film filmt ihren Rücktritt als kleinen Sieg über den geldgierigen Baron, der jetzt kein Geld mehr mit ihr machen kann – aber dieses scheinbare Happy gehört zu den perfidesten, die man sich nur denken kann. Die Zeile "Ed invece la corsa della vita per me si è già fermata negli occhi tuoi" aus dem Lied "Cento giorni" (Und stattdessen hat der Lauf meines Lebens in deinen Augen geendet) bekommt retrospektiv einen ganz besonders bitteren Geschmack.

...ideal, um in den nächsten Film zu starten, trotz des scheinbar riesigen Grabens, der zwischen einer Musikkomödie und einem Sadiconazista-Schocker liegt.



22.45 Uhr

L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH ("Die letzte Orgie des Dritten Reiches")
Regie: Cesare Canevari
Italien 1977
95 Minuten
Deutschlandpremiere
Lise Cohen (Daniela Poggi), eine ehemalige Insassin eines Nazi-Konzentrationslagers, und Konrad von Starker (Adriano Micantoni), ehemaliger Kommandant dieses Lagers, treffen sich wenige Jahre nach dem Krieg wieder am Ort der Verbrechen, haben Sex und erinnern sich an ihre gemeinsame Vergangenheit: Nachdem Konrad mit zunehmend perfiden Folterungen vergeblich versucht hatte, Lises Geist zu brechen, verliebte er sich in sie und machte sie zu seiner Geliebten.


Die junge Frau und der Faschist II:
Konrad und Lise in der Hölle des Nazi-Lagers

Die Vorstellung von L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH begann mit einer Erklärung von Andreas, einem der beiden Leiter und Kuratoren des Terza Visione: der Sinn des Festivals bestehe darin, das italienische Kino in all seinen Facetten, seinen Subgenres, seinen Atmosphären zu zeigen, und dazu gehöre auch Nazi-Exploitation. Nach dieser ausdrücklichen Verteidigung der Entscheidung, L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH zu zeigen, erwiesen sich Roberts einleitende Worte als besonders wertvoll, um den Film, wenn nicht zu verstehen, so sich doch ihm zumindest anzunähern. Besonders der allgemeine Hinweis auf Bourdieus These, dass das Perfide von Herrschaft darin besteht, dass die Ausgeschlossenen bzw. die Opfer in den Selbsthass getrieben werden. Auch ein Schlüssel (wobei Indiz vielleicht das bessere Wort ist) zum Verständnis des Films war ein Missverständnis meinerseits: ich dachte, Robert hätte in seinen Ausführungen zu Regisseur Cesare Canevari gesagt, dass die Figuren in seinen Filmen meistens wie Geister erscheinen (Robert meinte allerdings explizit den Western MATALO!). Zumindest erschien es mir dann, dass Lise die ganze Zeit wie ein Geist durch L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH wandle.
L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH ist ohne Zweifel ein scheusslicher, bestialischer und zutiefst verstörender Film und genau das wollte er höchstwahrscheinlich auch sein. Robert hat in seinen einführenden Worten richtig gesagt: es macht keinen Spaß, diesen Film zu sehen. Das Subgenre der "Nazi-Exploitation" gilt gemeinhin als Bodensatz des Exploitation-Kinos (gleichwohl seine Wurzeln u. a. mit Viscontis LA CADUTA DEGLI DEI im "respektablen" Autoren- und Kunstkino liegen), aber in vielerlei Hinsicht erscheint mir L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH als Anti-Exploitation-Film, unter seiner wilden und rauen Oberfläche als sehr intelligenter Film über die Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Film lässt seine Protagonistin Lise durch die Hölle gehen. Er verlangt auch seinen Zuschauern alles ab. Und er macht sich selbst auch nichts einfach.
Zu den großen Stärken (je nach Blickwinkel auch: Perfidien) von L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH gehört, dass er gleichermaßen Täter- und Opferperspektive einnimmt und keiner der beiden Seiten irgendetwas "schenkt". Lises Figur ist besonders "schwierig": sie lässt sich nicht zum hilflosen Opfer machen, weil sie die ganze Zeit unnahbar, kalt, abwesend erscheint. Daniela Poggi spielt sie – ja, wie ein Geist, eine Untote, die während des ganzen Films (abgesehen vielleicht des letzten Drittels) geradezu apathisch wirkt. "Diese arme Lise"... "Das hat sie aber toll gemacht"... "Lise ist ein Vorbild"... Nein, so etwas kann man über Lise nicht sagen und das ist vielleicht das intellektuell Anregendste an dem Film: L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH fordert von den Zuschauern eine intellektuelle Draufsicht, weil er mit dieser sperrigen Figur, mit diesem wandelnden Geist, keine Möglichkeit von Identifikation bietet. Der Film will auch nicht "Betroffenheit" auslösen (Betroffenheit, die man dann auch wieder ablegen kann, wenn es vorbei ist, um zum "normalen Tagesgeschäft" überzugehen). Opfer des Nationalsozialismus sind nicht per se gute Menschen: das erscheint extrem kalt; aber da der Film aber auch keinerlei Relativierung betreibt, ist es vielleicht nicht weniger als konsequent und letztendlich wohl weniger exploitativ als SCHINDLER'S LIST, der kleine süße Mädchen in roten Mänteln auffährt, um die Emotionen der Zuschauer zu erwecken.
Umgekehrt gilt es ebenso: "Das ist ja ein scheusslicher Mensch"... so etwas kann man über Konrad nicht sagen. Es geht in L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH nicht um Konrad, sondern um den wahnsinnigen Terror des Nationalsozialismus, in dem er auch nur ein Rädchen ist. Um erneut den Vergleich zu SCHINDLER'S LIST zu eröffnen: Konrad ist keine Nazi-Karikatur wie Amon Göth mit der leicht grotesken Darstellung Ralph Fiennes', er ist ein (um Christopher Browning zu paraphrasieren) ganz normaler Mann, der die Handlungsspielräume innerhalb des nationalsozialistischen Systems nutzt.
Autor-Regisseur-Produzent Cesare Canevari war ein großer Stilist, denn allen inhaltlichen Abscheulichkeiten zum Trotz sieht L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH atemberaubend aus. Man siehe schon nur die Anfangsszenen, in denen sich Lise und Konrad auf dem Gelände des ehemaligen Lagers wieder treffen und ihre stürmischen Umarmungen mit Erinnerungsfetzen aus ihren Erlebnissen während des Nationalsozialismus in einer assoziativen Montage kollidieren. Von vielen Bildern des Schreckens abgesehen dringt auch immer wieder eine surreale, verträumte Poesie durch den Film. Unvergesslich der Moment, wenn Lise, mittlerweile die Geliebte Konrads, in einem eleganten Pelzmantel gekleidet auf einem Boot einen See durchquert, während die Kamera um das Boot herumkreist: sinnlich schön, und zugleich hoffnungsvoll, weil Lisa der Hölle der Folterungen (für einen ganz kurzen Moment) entkommen ist und doch niederschmetternd, weil das wie eine symbolische Flussüberquerung in den Tod wirkt. Dass der Film so dermaßen kontrolliert gut aussieht, wirkt fast wie eine "konzeptionelle" Schwäche, aber es demonstriert auch immer, dass L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH nicht ein gedankenlos heruntergekurbeltes Machwerk, sondern ein schwieriges Kunstwerk ist.
Christoph, einer der beiden Leiter des Festivals, betonte in einem Gespräch nach dem Film, dass die verbal geäußerten Gewaltfantasien noch wesentlich schlimmer seien als das, was der Film rein visuell zeige (nicht, dass letzteres besonders zurückgenommen wäre). Das erschien mir im Nachhinein als sehr erhellender und interessanter Punkt: der Film lässt oft durch die Äußerungen der Folterer, die ihre Opfer mit noch entsetzlicheren Qualen drohen, noch entsetzlichere Bilder im Kopf des Zuschauers entstehen, als die auf der Leinwand zu sehen sind. Im Grunde keine besonders "originelle" filmische Technik, aber hier besonders effektiv angewandt. L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH handelt nicht nur von der Macht der Bilder, sondern auch von der Macht der Worte. Exemplarisch ist das lange Bankett-Dîner mit den Leitern des Lagers: einer von ihnen äußert die Fantasie äußert, ermordete Juden auch nach ihrem Tod zu "verwerten" und lässt anschließend ein Ragout aus einem ermordeten Häftling servieren. Im Nachhinein scheint mir seine lange, lange, lange Rede, in der er umständlich seine Idee präsentiert, als der schrecklichste Moment im ganzen Film.
L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH fordert von seinen Zuschauern Mündigkeit, Reife, Reflexionsvermögen: heutzutage, nachdem eben unter anderem SCHINDLER'S LIST auf gewisse Weise einen internationalen "Standard" des Umgangs mit dem Holocaust im "respektablen" Kino gesetzt hat, ist er vielleicht sogar noch überfordernder als zu seiner Zeit. Im Gegensatz zu SCHINDLER'S LIST verweigert L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH seinen Zuschauern, eine schöne Zeit im Kino zu verbringen und dann mit einem guten und erhabenen Gefühl wieder den Saal zu verlassen. Canevari bietet keinen Trost, keine Erhebung, keine "Moral der Geschichte", keine "Lektion, die wir lernen können", keine Beruhigung, dass das alles Geschichte ist, keine Gewissheit, dass das "Böse" besiegt wurde.
Am Ende läuft Liese weg, nachdem sie Konrad bei der letzten Vereinigung erschossen und anschließend in ein brennendes Feuer geworfen hat. Während des Films sieht man sie oft mit einem lethargischen Gesichtsausdruck und leeren Augen. Doch in diesem Schlussbild scheinen ihre Augen leerer denn je zu sein. Das ist emotional noch viel niederdrückender als der Gedanke, dass sie (wie in einigen Schnittfassungen des Films*) in tödlicher Umarmung mit Konrad stürbe.
L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH war sicherlich der schwierigste Film des Terza 2019 – ich merke es daran, dass ich doch große Mühe hatte, die Eindrücke des Films in Worte zu fassen – aber ohne jegliche Zweifel ein Höhepunkt. Ich bin Andreas und Christoph sehr dankbar dafür, dass sie ihn ins Programm aufgenommen haben.

* in einigen Schnittfassungen des Films sind am Ende "alle tot", wie Robert in seiner Einführung erläuterte. Die gezeigte italienische Kinofassung aus der Cineteca Nazionale in Rom war gekürzt: viele Nacktbilder (mit Penissen, wie Robert versprochen hatte) aus einer frühen Szene mit einer Soldateninspektion fehlten wohl, die Ermordung und anschließende Verbrennung einer Gefangenen nach dem infamen, kannibalistischen Bankett wurde auch gekürzt (diese eine Kürzung wurde glaube ich auch angekündigt) und einer längeren Montage, in der Häftlinge gefoltert werden, fehlten weniger sichtbar als vielmehr hörbar zahlreiche Frames (weil hier die Tonspur ganz offensichtlich durcheinander kam).

Mehr zu L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH findet sich in Roberts Sehtagebuch bei Eskalierende Träume. Da hat Robert natürlich nicht nur zu Canevaris Film, sondern auch zu allen anderen von ihm gesehenen Filmen des Festivals geschrieben und das ist auch sehr lesenswert!

Auch Frank Castenholz hat in seinem Text zum Terza Visione im Weird-Magazine ein paar Worte zu L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH geschrieben, durchaus mit einigen kritischen Tönen. Ebenfalls sehr lesenswert (auch durch die Ausführungen zu vielen anderen Filmen und zum Terza-Visione-Festival im Allgemeinen).

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Der zweite Teil meines Berichts zum Terza Visione Festival folgt... Wann genau, weiß ich noch nicht. Sicher ist, dass ich solch unglaubliche Filme wie Renato Polsellis MANIA, Mario Bavas QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE und Alberto Cavallones SPELL (DOLCE MATTATOIO) nicht unbesprochen lassen möchte!

Sonntag, 25. März 2012

Jesus Kinski Superstar

JESUS CHRISTUS ERLÖSER
Deutschland 1971/2008
Regie: Peter Geyer
Text und Vortrag: Klaus Kinski

Ich spreche nicht von dem Jesus mit der gelben leberkranken Haut, den eine irrsinnige menschliche Gesellschaft zur größten Hure aller Zeiten macht. Dessen Kadaver sie pervers mit sich herumschleppt an infamen Kreuzen. Ich spreche von dem Abenteurer, dem furchtlosesten, modernsten aller Menschen, der sich lieber massakrieren lässt, als lebendig mit den anderen zu verfaulen.

Dieses Gesindel
[Störenfriede im Publikum] ist noch beschissener als die Pharisäer. Die haben Jesus wenigstens ausreden lassen, bevor sie ihn angenagelt haben.

(Klaus Kinski)


In der Frühphase seiner Karriere von 1952 bis 1962 gehörten Rezitationen auf der Bühne zu Klaus Kinskis Hauptbetätigungen, dann verzichtete er zugunsten seiner Filmkarriere darauf. Doch 1971 wollte er es noch einmal wissen. Er schrieb einen 30-seitigen Text über Jesus, wie er ihn sah (tatsächlich wollte Kinski schon Anfang der 60er Jahre ein ähnliches Projekt verwirklichen, konnte damals jedoch keinen Veranstalter davon überzeugen). Er beginnt mit einem Fahndungsaufruf: "Gesucht wird Jesus Christus!" Nach einer Charakterisierung des Gesuchten schlüpft Kinski selbst in die Rolle von Jesus und bedient sich dabei ausgiebig in Texten des neuen Testaments, verändert und angereichert durch aktuelle Bezüge. Es ist ein kämpferischer, ein revolutionärer Jesus, den Kinski da entwirft: "Seine Umgebung sind Gotteslästerer, Staatenlose, Zigeuner, Prostituierte, Waisenkinder, Kriminelle, Revolutionäre, Asoziale, Obdachlose, Arbeitslose, verurteilte Gefangene, Geflohene, Gejagte, Mißhandelte, Zornige, Kriegsverweigerer, Verzweifelte, schreiende Mütter in Vietnam, Hippies, Gammler, Fixer, Ausgestoßene, zum Tode Verurteilte." Kinskis Jesus bekämpft das Establishment - das vor 2000 Jahren, aber mehr noch das vor 40 Jahren, das wirtschaftliche, politische und kirchliche Establishment (und bei letzterem insbesondere den Papst). Parallelen zur "Befreiungstheologie", wie sie seinerzeit vor allem in Lateinamerika betrieben wurde, sind unübersehbar, und der Wiener Theologe Adolf Holl hat mit seinem Buch "Jesus in schlechter Gesellschaft" von 1971 einen direkten Einfluss auf Kinski ausgeübt. Natürlich entspringt die Stoßrichtung des Textes auch dem allgemeinen Zeitgeist und Kinskis künstlerischen und politischen Überzeugungen.


Mit diesem Text ging Kinski auf eine Tournee mit dem Titel "Jesus Christus Erlöser", die ihn eigentlich durch viele Großstädte führen sollte. Es kam jedoch nur zu zwei Vorstellungen. Die Auftaktveranstaltung fand am 20. November 1971 vor 3000-5000 Zuschauern in der Berliner Deutschlandhalle statt. Ein Aufnahmeteam filmte auf Kinskis Veranlassung das Ereignis auf 16mm mit - die Grundlage des hier besprochenen Films. Kinskis Vortrag ist intensiv und stellenweise exaltiert, wie man es von ihm kannte und erwartete. Er allein auf abgedunkelter Bühne vor dem Mikrofon stehend. Doch von Anfang an gab es störende Zwischenrufe. Ein Teil des Publikums nahm es ihm übel, dass er nicht der brotlosen Kunst frönte, sondern mit vielen Filmen (von oft zweifelhafter Qualität) gutes Geld verdient hatte, während sein Jesus nun den Mammon verdammte. So wurde er denn als Heuchler und ähnliches beschimpft. Natürlich gab es auch Christen im Publikum, die ihren Jesus durch Kinski verunglimpft oder zumindest falsch dargestellt glaubten. Zu dieser Kategorie gehörte einer, den Kinski nach wenigen Minuten auf die Bühne zitierte: "Komm Du jetzt hierher, der so ein großes Maul hat!". Nachdem der Mann kundtat, dass er an einen duldsameren Jesus als Kinski glaubt, widersprach Kinski heftig und verabschiedete ihn mit einem herzhaften "Du dumme Sau" von der Bühne. Und weiter: "Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder die, die nicht zu dem Gesindel gehören, schmeißen die anderen raus, oder sie haben ihr Geld umsonst bezahlt!" Dann verließ er die Bühne - nicht zum letzten Mal an diesem Abend. Jede dieser Pausen wird im Film durch kurze Einblendungen aus Kinskis Autobiographie "Ich brauche Liebe" von 1991 überbrückt, die sich auf jenen Abend beziehen (daraus sind auch die beiden eingangs angeführten Zitate entnommen).


Nachdem er sich beruhigt hatte und auf die Bühne zurückkehrte, begann er mit dem Text nochmal von vorn. Doch die Störungen gingen weiter, mal mehr, mal weniger lautstark. Mehrfach legte Kinski kurze Pausen ein, um dann seinen Text leicht abzuwandeln und ersichtlich auch gegen die Störer im Publikum zu richten. Etwa eine halbe Stunde nach dem Neubeginn erklomm einer die Bühne, diesmal ohne Einladung, wurde von Kinski am Sprechen gehindert und von einem Ordner von der Bühne gedrängt. Danach eskalierte die Stimmung, wurde fast tumultuös. Kinski verließ wieder die Bühne und kündigte an, er werde erst wiederkommen, wenn "das Scheißgesindel" weggegangen sei. Während seiner Abwesenheit wurde nun auf der Bühne diskutiert. Einer der Redner aus dem Publikum verlangte, Kinski solle sich bei dem von der Bühne Gedrängten entschuldigen, und er bezeichnete Kinski wegen des Vorfalls als "Faschist und Psychopath". Schließlich kam Kinski zurück und setzte seinen Text fort, doch die Stimmung beruhigte sich nicht wirklich, immer wieder gab es Zwischenrufe, und Kinski rang sichtlich um seine Konzentration. Nach 70 Minuten im Film (im Saal war schon deutlich mehr Zeit vergangen) war es wiederum soweit: Kinski verließ die Bühne, einer aus dem Publikum bemächtigte sich des Mikrofons, schließlich machte der Veranstalter von seinem Hausrecht Gebrauch und verwies einige Störer des Saals, Polizei war zu sehen. Kinski erklomm nur noch kurz die Bühne, erklärte die Veranstaltung für beendet und ging wieder.


Damit schien die Sache gelaufen, und der größte Teil des Publikums verließ den Saal. Aber ein Häuflein von vielleicht 100 Leuten versammelte sich auf dem Boden vor der Bühne und harrte aus. Und tatsächlich, gegen Mitternacht erschien Kinski und begann erneut, seinen Text zu sprechen - nicht auf der Bühne, sondern mitten unter den Leuten. Unruhe im Restpublikum ließ ihn erneut abbrechen, er wies die Leute zurecht, fing nochmal an, und diesmal trug er den Text bis zum Ende vor. Gegen 2:00 Uhr war die Veranstaltung zu Ende. Nur wenige Minuten vom Anfang und vom Ende der nächtlichen Zweitvorstellung sind im Film zu sehen, als Epilog nach den Endcredits. Es war schlicht nicht genug Filmmaterial vorhanden, um alles aufzuzeichnen - man hatte schließlich mit einer Veranstaltung von vielleicht zwei Stunden gerechnet, nicht mit einer, die einschließlich der Unterbrechungen sechs Stunden dauerte. Insgesamt wurden von vier Kameras 135 Minuten auf Film gebannt.


Die Veranstaltung wurde seinerzeit von der Presse skandalisiert, Kinski mit Häme übergossen. Wer aber von dem Film spektakuläre Exzesse erwartet, wird enttäuscht werden. Zwar belegt Kinski die Störer mit deftigen Kraftausdrücken, wirft auch mal zornig das Mikro um, aber maßlose Wutausbrüche, wie man sie etwa in Werner Herzogs MEIN LIEBSTER FEIND zu sehen bekommt, gibt es hier nicht. Wenn man bedenkt, dass Kinski von Anfang an provoziert, in seiner Konzentration gestört und letztlich am Vortrag gehindert wurde, dann war seine Reaktion sogar noch moderat - jedenfalls für Kinski-Verhältnisse. Er selbst hat den Abend als Erfolg bewertet und sogar als seinen wichtigsten Auftritt bezeichnet. Doch für den Tournee-Veranstalter war es ein Debakel. Er bat Kinski, den Vertrag einvernehmlich zu lösen. Eine Woche nach Berlin trug Kinski den Text in Düsseldorf vor, diesmal ohne Störungen. Es war dies Kinskis letzter Bühnenauftritt, und er absolvierte ihn ohne Honorar. Dann meldete der Veranstalter Insolvenz an, und der Rest der Tournee fiel ins Wasser.


Die Film- und Tonaufzeichnungen von Berlin blieben in Kinskis Besitz. 1999 nahm Peter Geyer Kontakt mit Kinskis Erben, seiner dritten Frau Minhoi Loanic und dem gemeinsamen Sohn Nikolai, auf, die in Kalifornien lebten. Anscheined war Geyer der Erste, der vernünftige Vorschläge zur Verwertung von Kinskis Nachlass machte. Er erhielt die Filme und Bänder von Berlin und weiteres Material und fungiert seitdem als Kinskis Nachlassverwalter. Er veröffentlichte 2006 eine Biographie Kinskis, den Originaltext "Jesus Christus Erlöser" (der, wie erwähnt, etwas von der Berliner Fassung abweicht) zusammen mit Gedichten Kinskis, eine Hörfassung des Berliner Abends auf einer Doppel-CD, und schließlich 2008 den 83-minütigen Film, der denselben Titel trägt wie der Text. Dass bei dem nicht gerade üppigen Ausgangsmaterial von 135 Minuten und der fragmentierten Natur des Abends der Film nicht wie Stückwerk wirkt, sondern in sich geschlossen ist, ist keine geringe Leistung. Aber der eigentliche Wert des Films besteht doch in seiner Eigenschaft als historisches Dokument. Quellen zum damaligen Zeitgeist gibt es genug, aber in Bezug auf Kinski liefert der Film einen echten Mehrwert. Man trifft auf einen Künstler, der, wenn er sich mit einem Projekt identifiziert, nicht auf Show aus ist, sondern der um seine Kunst ringt - wenn es sein muss, auch gegen einen Teil des Publikums. Der aber auch denjenigen Teil des Publikums, der ihm zu folgen gewillt ist, durchaus respektiert, der also nicht nur für sein eigenes Ego spielt. Dem Bild von Kinskis Persönlichkeit, wie man es aus seinen erratischen Interviews und aus Herzogs MEIN LIEBSTER FEIND kennt (oder zu kennen glaubt), wird damit eine interessante Facette hinzugefügt. Und nicht zuletzt ist der Berliner Abend Kinskis einzige Bühnenvorstellung, von der überhaupt eine längere Aufzeichnung existiert. - Nicht lange nach den Ereignisen von Berlin begann für Kinski ein neuer Abschnitt: Er brach mit Werner Herzog nach Südamerika auf, um mit AGUIRRE, DER ZORN GOTTES den ersten ihrer gemeinsamen Filme zu drehen.


JESUS CHRISTUS ERLÖSER ist auf DVD erhältlich. Man kann den Film auch komplett bei YouTube ansehen (ob legal, sei dahingestellt).