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Dienstag, 18. November 2014

Großstadt-Kammermusik

Großstadt-Kammermusik? Was ist das nun wieder? Dasselbe wie eine Großstadtsinfonie, nur in kleinerer Form. Das Genre der Großstadtsinfonie (oder, je nach Geschmack, Großstadtsymphonie, engl. city symphony) hat seinen Namen von Walther Ruttmanns BERLIN - DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927), von dem auch ungefähr ein halbes Dutzend anderer Schreibweisen existieren. Der Film zeichnet den Verlauf eines beliebigen Werktags in Berlin nach, ohne individuelle Charaktere - die Stadt selbst und ihre anonymen Bewohner sind die Hauptdarsteller, in fast vollständig dokumentarischen Aufnahmen, zu einem beträchtlichen Teil mit versteckter Kamera gedreht (zwei oder drei Szenen, darunter der Selbstmord einer Frau, wurden aber von Ruttmann inszeniert). Dazu die bewegungs- und schnittsynchrone Originalmusik von Edmund Meisel, die den Film erst zu einer "Sinfonie" machte. Das Prinzip, dem Lauf eines Tages vom Morgengrauen bis in die Abend- oder Nachtstunden hinein zu folgen, wurde auch von anderen Filmen dieses Genres verwendet, wobei Ruttmanns BERLIN nicht der erste Vertreter war. Schon 1921/22 entwickelte László Moholy-Nagy, damals in Berlin und wenig später für einige Jahre als Lehrer am Bauhaus, konkrete Pläne für einen solchen Film mit dem Titel DYNAMIK DER GROSS-STADT, unter Mitarbeit des mit ihm befreundeten Carl Koch (Ehemann und enger Mitarbeiter von Lotte Reiniger sowie Freund und Mitarbeiter von Jean Renoir, siehe dazu hier im letzten Absatz). Doch Moholy-Nagy und Koch bekamen das Geld dafür nicht zusammen. In seinem 1925 erschienenen Buch "MALEREI FOTOGRAFIE FILM" (das auch eine Art Storyboard des Films enthält) schreibt Moholy-Nagy:
Wir [er und Koch] sind leider bis heute nicht dazu gekommen; sein Film-Institut hatte kein Geld dafür. Größere Gesellschaften wie die UFA wagten damals das Risiko des bizarr Erscheinenden nicht; andere Filmleute haben "trotz der guten Idee die Handlung [Hervorhebung im Buch] darin nicht gefunden" und darum die Verfilmung abgelehnt. [...]

Der Film "Dynamik der Groß-Stadt" will weder lehren, noch moralisieren, noch erzählen; er möchte visuell, nur visuell wirken. Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander; trotzdem schließen sie sich durch ihre fotografisch-visuellen Relationen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein. [...]

Ziel des Filmes: Ausnutzung der Apparatur, eigene optische Aktion, optische Tempogliederung, - statt literarischer, theatralischer Handlung: Dynamik des Optischen. Viel Bewegung, mitunter bis zur Brutalität gesteigert. Die Verbindung der einzelnen, "logisch" nicht zusammengehörenden Teile erfolgt entweder optisch, z.B. mittels Durchdringung oder durch horizontale oder vertikale Streifung der Einzelbilder (um sie einander ähnlich zu machen ), durch Blende (indem man z.B. ein Bild mit einer Irisblende schließt und das nächste aus einer gleichen Irisblende hervortreten läßt) oder durch gemeinsame Bewegung sonst verschiedener Objekte, oder durch assoziative Bindungen.
Zumindest auf dem Papier sind hier schon Elemente der Großstadtsinfonien vorweggenommen, und in der 1927 erschienenen zweiten Auflage des Buchs merkt Moholy-Nagy an, dass Ruttmanns soeben herausgekommener BERLIN "ähnliche Bestrebungen" wie sein eigenes Projekt verfolge. - Als erste tatsächlich gedrehte Großstadtsinfonie wird meist RIEN QUE LES HEURES bezeichnet, den der vorwiegend in Frankreich und England arbeitende Brasilianer Alberto Cavalcanti 1926 in Paris drehte. 1928 bekam Paris mit ÉTUDES SUR PARIS von André Sauvage einen weiteren Film aus diesem Bereich spendiert, und schon im Jahr zuvor, ungefähr zeitgleich mit Ruttmann, inszenierte der Kameramann Michail Kaufman (der Bruder von Dsiga Wertow und Boris Kaufman) gemeinsam mit einem Ilja Kopalin MOSKAU. Weitere Filme, die man zumindest ansatzweise als Großstadtsinfonien bezeichnen kann, entstanden etwa in Sao Paolo und anderswo. Als zweiter und letzter Höhepunkt des Genres nach BERLIN gilt DER MANN MIT DER KAMERA, den Dsiga Wertow (mit Michail Kaufman an der Kamera) 1929 inszenierte. Allerdings ist dieser Film keiner bestimmten Stadt gewidmet, sondern er wurde in mindestens drei verschiedenen Städten gedreht. - In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war New York City zweifellos die Metropole schlechthin, aber ausgerechnet dort entstand merkwürdigerweise keine echte Großstadtsinfonie. Was es aber gab, war eine ganze Reihe von kleineren Filmen, die das eine oder andere charakteristische Element aufwiesen, die nicht individuelle Charaktere (seien sie real oder fiktiv) in den Mittelpunkt rückten, sondern die Architektur, die Verkehrsmittel, die Bevölkerung als anonyme Masse - eben keine Großstadtsinfonien, sondern Großstadt-Kammermusik. Mal stand der dokumentarische Blick im Vordergrund (ohne dass es sich um Dokumentarfilme im engeren Sinn handelte), mal eine lyrische Stimmung oder formale Experimente. Was nun folgt, ist eine natürlich unvollständige und subjektive Auswahl. Die ersten vier Beispiele entstanden als Stummfilme und sind hier mit modernen Soundtracks versehen.



MANHATTA (auch NEW YORK THE MAGNIFICENT)
USA 1921
Regie: Charles Sheeler und Paul Strand

Nein, da fehlt kein N - der Titel lautet wirklich so.



Charles Sheeler (1883-1965) war ein Maler (in einem "präzisionistischen" Stil) und Fotograf, Paul Strand (1890-1976) ein Fotograf und dokumentarischer Kameramann. Er arbeitete nicht nur für Wochenschauen, sondern er war auch Mitglied in den linken Filmkooperativen Nykino und Frontier Films, die aus der 1930 gegründeten Workers' Film and Photo League hervorgegangen waren. Für Sheeler dagegen war MANHATTA der einzige Ausflug zum Film. Die poetischen Texte der Zwischentitel stammen von Walt Whitman. MANHATTA wurde ungeachtet seiner Kürze gelegentlich als erste Großstadtsinfonie überhaupt bezeichnet. Egal wie man dazu steht - ein wichtiger Vorläufer war er in jedem Fall.



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND
USA 1927
Regie: Robert Flaherty



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND ist offensichtlich von MANHATTA beeinflusst - nicht nur einige Einstellungen, auch das ganze Konzept ist recht ähnlich. Robert J. Flaherty (1884-1951) wird oft als Vater des Dokumentarfilms bezeichnet. Zwar gab es auch schon vor ihm Dokumentarfilme, auch in seinem Spezialgebiet, dem Ethno-Dokumentarfilm (etwa IN THE LAND OF THE HEAD HUNTERS aka IN THE LAND OF THE WAR CANOES von Edward Sheriff Curtis, 1914), aber mit seinem Erstling NANOOK OF THE NORTH (1922) trug er maßgeblich dazu bei, den Dokumentarfilm als eigenständiges Genre zu etablieren. Obwohl er vor allem, wie gerade erwähnt, mit Ethno-Filmen assoziiert wird, filmte er auch die moderne industrielle Welt (nach TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND z.B. - in Zusammenarbeit mit John Grierson - INDUSTRIAL BRITAIN.



SKYSCRAPER SYMPHONY
USA 1929
Regie: Robert Florey



Hier also doch noch eine "Symphonie", zumindest dem Titel nach. Der Franzose Robert Florey (1900-1979) ging 1921 in die USA und landete bald in Hollywood. Nach Jahren als Regieassistent bei Studios wie Fox und MGM wurde er in den späten 20er Jahren zu einem Grenzgänger zwischen dem amerikanischen Independent- und Avantgardefilm einerseits und Hollywood andererseits. Auf der Independent-Seite inszenierte er - in Zusammenarbeit mit Leuten wie Slavko Vorkapich, Gregg Toland oder William Cameron Menzies - den grandiosen THE LIFE AND DEATH OF 9413, A HOLLYWOOD EXTRA, den komplett expressionistischen THE LOVE OF ZERO, den leider verschollenen JOHANN THE COFFINMAKER, und eben die SKYSCRAPER SYMPHONY. Auf der kommerziellem Seite drehte er (zusammen mit einem Joseph Santley) den Marx-Brothers-Film THE COCOANUTS. Danach war er an den Vorbereitungen zu FRANKENSTEIN beteiligt und sogar als Regisseur im Gespräch. Als James Whale den Zuschlag erhielt, durfte Florey zum Ausgleich mit Bela Lugosi die Poe-Verfilmung MURDERS IN THE RUE MORGUE machen. Dieser ebenfalls stark vom Expressionismus beeinflusste Film geriet im Gegensatz zu FRANKENSTEIN zu keinem überragenden Erfolg, und Florey blieb der große Durchbruch versagt. So schlug er schließlich eine Karriere als zuverlässiger B-Film-Regisseur und ab den 50er Jahren als Fernsehregisseur ein.



A BRONX MORNING
USA 1931
Regie: Jay Leyda



Hier nun ein "privaterer" Film, der sich auf ein Stadtviertel beschränkt und näher an den Menschen dran ist als die drei vorherigen Filme. Dass Leydas Blick auch vor dem Rinnstein und Mülltonnen nicht Halt macht, erinnert etwas an den 1930 entstandenen À RROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) von Jean Vigo (Regie) und Boris Kaufman (Kamera). Ob Leyda den kannte, weiß ich aber nicht. Jay Leyda (1910-1988) kam aus einem ähnlichen Umfeld wie Paul Strand: Er war ziemlich weit links und Mitglied der Workers' Film and Photo League und von Frontier Films. A BRONX MORNING war sein einziger Film in alleiniger Regie (1937 inszenierte er gemeinsam mit Elia Kazan, damals am Group Theatre, und zwei Kollegen von Frontier Films seinen zweiten und letzten Film). Nach A BRONX MORNING ging Leyda nach Moskau, um an der staatlichen Filmhochschule WGIK zu studieren, wo er sich mit Sergej Eisenstein befreundete. Leyda war an den Dreharbeiten zu Eisensteins DIE BESHIN-WIESE beteiligt, der aber von den stalinistischen Filmbürokraten abgebrochen wurde und unvollendet blieb. Leyda entwickelte sich zu einem profunden Kenner des sowjetischen und später auch des chinesischen Films und schrieb für den englischen Sprachraum bahnbrechende Bücher darüber. Nach längeren Aufenthalten in England, China und der DDR kehrte er um 1970 endgültig in die USA zurück, wo er als Dozent für Film an verschiedenen Hochschulen wirkte. Neben seinen filmhistorischen Aktivitäten publizierte er auch Bücher über Herman Melville, Emily Dickinson, Modest Mussorgski und Sergej Rachmaninow.



3rd AVE. EL
USA 1955
Regie: Carson Davidson



Die Third Avenue El von Manhattan in die Bronx war eine der New Yorker Hochbahnen, die in unzähligen Filmen und Fernsehsendungen zu sehen sind. 1955 stellte sie in Manhattan den Betrieb ein (in der Bronx erst 1973), und aus diesem Anlass wurde sie noch mehrfach im Film festgehalten - außer in 3rd AVE. EL beispielsweise auch in THE WONDER RING und GNIR REDNOW. Carson "Kit" Davidson ist ein vielfach ausgezeichneter, aber wenig bekannter Regisseur. Die Welt des Films hat er längst hinter sich gelassen, stattdessen arbeitet er seit vielen Jahren im Feld der Medizinpublizistik. Nachdem er sich in jungen Jahren als Neuankömmling in New York vom Tellerwäscher zum Mädchen für alles in einer Filmfirma gesteigert hatte (was man hier in seinen eigenen Worten nachlesen kann), drehte er 3rd AVE. EL mit einer geborgten Kamera in Eigeninitiative und versuchte zunächst vergeblich, einen Verleih dafür zu finden, bis ein "verrückter Russe", der ein Kino besaß, als letzter auf Davidsons Liste ein Einsehen hatte und den Film monatelang als Vorfilm zeigte. Es hat sich gelohnt, vor allem für Davidson, denn 3rd AVE. EL wurde für den Oscar nominiert und gewann diverse Preise. Die Musik stammt von Haydn, Solistin ist die polnisch-jüdische Cembalistin und Pianistin Wanda Landowska, die 1941 von Frankreich in die USA geflüchtet war. Sie mochte eigentlich überhaupt keine Filme, aber mit 200 Dollar konnte sie überzeugt werden, Davidson die Rechte zu überlassen. Neben der Fahrt mit der Hochbahn bilden die Versuche, eine verlorene Münze zu bergen, eine Klammer des Films. Damit stellte sich Davidson (vermutlich unbewusst) auch in die Tradition des deutschen "Querschnittfilms" der 20er Jahre, etwa DIE ABENTEUER EINES ZEHNMARKSCHEINES von Berthold Viertel, wodurch auch ein Anknüpfungspunkt zu Ruttmanns BERLIN besteht. - Carson Davidson war zwar hauptsächlich auf dem Gebiet des Dokumentar- und Industriefilms tätig, aber mit HELP, MY SNOWMAN'S BURNING DOWN gelang ihm auch ein witziger Ausflug in den Surrealismus. Auch dieser Film war für den Oscar nominiert, und er gewann über ein Dutzend Preise, darunter einen in Cannes. Weitere Filme von Davidson findet man bei archive.org und YouTube. - Die Bilder aus 3rd AVE. EL wurden für mindestens zwei Musikvideos verwendet, siehe hier und hier.



Den nächsten Film sehen wir gleich zweimal, mit zwei verschiedenen Soundtracks.

BRIDGES-GO-ROUND
USA 1958
Regie: Shirley Clarke



Shirley Clarke (1919-1997) ist vor allem für ihre in einem dokumentarischen Stil inszenierten Spielfilme THE CONNECTION und THE COOL WORLD bekannt, die vom Geist des Direct Cinema beeinflusst sind (Clarke hatte zuvor auch mit Richard Leacock und D.A. Pennebaker gearbeitet), ohne wirklich dokumentarisch zu sein (es ist alles penibel durchinszeniert), sowie für den Portraitfilm PORTRAIT OF JASON über einen exaltierten schwulen schwarzen New Yorker. Doch schon mit BRIDGES-GO-ROUND hat sie eine markante Duftmarke hinterlassen. Clarke konnte und wollte sich nicht zwischen den beiden Soundtracks entscheiden und erklärte kurzerhand beide für offiziell, und schon beim Erscheinen des Films wurde er meist mit beiden Tonspuren hintereinander zweimal gespielt. Teo Macero, von dem die jazzige Musik stammt, war ein Saxophonist, Komponist, Arrangeur und Plattenproduzent (lange Jahre bei Columbia Records). Louis und Bebe Barron, die den elektronischen Soundtrack beisteuerten, gehörten in den USA zu den Pionieren elektronischer Musik- und Geräuschproduktion. Die bekannteste Hervorbringung des Ehepaars war der Soundtrack zum SciFi-Klassiker FORBIDDEN PLANET (1956) von Fred M. Wilcox. Wegen kleinlicher Regularien durften sie seinerzeit nicht als "Komponisten" dieses Films bezeichnet werden, weshalb ihnen auch die sonst mögliche Nominierung für einen Oscar versagt blieb.



GO! GO! GO!
USA 1962-64
Regie: Marie Menken



New York, der Schauplatz urbaner Beschleunigung, im Zeitraffer - eigentlich eine naheliegende Idee, aber man muss sie auch erst einmal so ansprechend umsetzen wie Marie Menken (1909-1970). Da ich in nächster Zeit auf Menken zurückkommen will, soll es das erst einmal gewesen sein.

(Übrigens hat schon 1901 Frederick S. Armitage den Abriss eines New Yorker Theaters im Zeitraffer gefilmt. Er klebte eine rückwärts laufende Kopie und den vorwärts laufenden Film aneinander, so dass das Gebäude scheinbar emporwuchs und dann wieder verschwand, oder andersrum - die Kinobesitzer konnten sich das aussuchen.)

UPDATE:

Ich vergaß zu erwähnen, dass alle Filme außer 3rd AVE. EL auch auf DVD erhältlich sind (zumindest ist mir für letzteren keine DVD bekannt). Die ersten vier Filme meiner Auswahl (und außerdem der kurze Film von Frederick S. Armitage) befinden sich alle im 7-DVD-Set "Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941", das ich hier schon mit drei Beispielen vorgestellt hatte. MANHATTA findet man auch im 2-DVD-Set "Avant-Garde - Experimental Cinema of the 1920s & '30s" (inzwischen out of print und nur noch zu Spekulantenpreisen erhältlich), SKYSCRAPER SYMPHONY und A BRONX MORNING auch in der Box "More Treasures from American Film Archives, 1894-1931". BRIDGES-GO-ROUND und GO! GO! GO! finden sich im 2-DVD-Set "Treasures IV: American Avant-Garde Film, 1947-1986".

Samstag, 6. September 2014

Ein neuer Stummfilm von Orson Welles

TOO MUCH JOHNSON
USA 1938/2013
Regie: Orson Welles
Darsteller: Joseph Cotten (Augustus Billings), Edgar Barrier (Leon Dathis), Arlene Francis (Mrs. Dathis), Virginia Nicolson (Leonore Faddish), Ruth Ford (Mrs. Billings), Mary Wickes (Mrs. Upton Batterson), vielleicht Orson Welles (Keystone Kop)

Ein Keystone Kop - aber wahrscheinlich nicht Orson Welles
Ein neuer Film von Orson Welles? Natürlich nicht wirklich, schließlich ist der Meister schon seit 1985 tot. Aber ein Film, der unvollendet blieb und nicht aufgeführt wurde, der lange als verloren galt und 2008 wundersamerweise wieder auftauchte, der letztes Jahr zum ersten Mal öffentlich vorgeführt wurde, und der neuerdings allgemein zugänglich ist. Ein Stummfilm ist TOO MUCH JOHNSON in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde er ohne Tonspur aufgenommen, und zweitens imitiert er Hollywoods Slapstick-Komödien aus der Ära eines Mack Sennett. Schon in THE HEARTS OF AGE, seinem ersten Film (oder seinem zweiten, wenn man TWELFTH NIGHT von 1933 mitzählt, aber das ist nur eine mit völlig statischer Kamera abgefilmte Theaterprobe eines Stücks, das Welles inszeniert hatte), versuchte sich Welles auf ähnlichem Gebiet. Er inszenierte THE HEARTS OF AGE gemeinsam mit seinem Schulfreund William Vance 1934 anlässlich eines Schulfestes an der früheren Schule der beiden in Woodstock, Illinois (nicht zu verwechseln mit Woodstock, New York). Es handelt sich um eine kurze Parodie auf die surrealistischen Stummfilme von Buñuel/Dali und Jean Cocteau, mit Welles als einer Figur irgendwo zwischen Dr. Caligari und dem Joker. 1938 produzierte Welles das legendäre Hörspiel "The War of the Worlds" sowie eine ganze Reihe weiterer Hörspiele (die man alle hier herunterladen kann), und er wirkte als Regisseur, Schauspieler und in multipler sonstiger Funktion am Mercury Theatre, das er und John Houseman 1937 in New York gegründet hatten. Eines der Stücke, die 1938 auf dem Spielplan standen, war "Too Much Johnson", ein 1894 geschriebener Schwank von William Gillette (1853-1937), einem seinerzeit sehr bekannten und beliebten Schauspieler und Bühnenautor, der vor allem für seine Darstellung von Sherlock Holmes berühmt war. In "Too Much Johnson" wird Augustus Billings, ein New Yorker Playboy (der den falschen Namen Johnson benutzt), vom eifersüchtigen Ehemann seiner Geliebten bis nach Kuba (wo noch ein echter Johnson in die Handlung eingreift) verfolgt.

Joseph Cotten und Arlene Francis
Welles kam nun auf den Gedanken, die Aufführung mit einem dreiteiligen Film von ungefähr 40 Minuten Länge zu ergänzen: Die einzelnen Teile von 20, 10 und nochmal 10 Minuten sollten jeweils einen der drei Akte des Stücks einleiten. Die Idee war nicht neu - so entstand etwa René Clairs erster Film ENTR'ACTE (1924) als Pausenfüller für ein von Francis Picabia ausgestattetes Ballett, und 1923 drehte Sergej Eisenstein seinen ersten Kurzfilm GLUMOWS TAGEBUCH zur Anreicherung eines von ihm inszenierten Theaterstücks. Um die Aufführungen durch die Filmsequenzen nicht zu sehr aufzublähen, wurde im Gegenzug Gillettes Stück von Welles stark gekürzt (Welles schreckte auch nicht davor zurück, Shakespeare stark zu kürzen, da war das bei Gillette ein Klacks). Für den geplanten Film schrieb Paul Bowles eine Musik, die bei den Aufführungen live hätte gespielt werden sollen. Bowles ist zwar viel bekannter als Schriftsteller ("Himmel über der Wüste", verfilmt von Bertolucci), aber er war auch Komponist.

Slapstick auf den Dächern von New York
Die Darsteller in TOO MUCH JOHNSON kamen überwiegend vom Mercury Theatre und von Welles' Hörspiel-Truppe. Für etliche, darunter Joseph Cotten, war es der erste Filmauftritt, und einige, neben Cotten etwa Erskine Sanford, traten auch in späteren Welles-Filmen regelmäßig auf. Ebenfalls zur Besetzung gehörte Welles' erste Ehefrau Virginia Nicolson (manchmal auch "Nicholson" geschrieben), die auch schon in THE HEARTS OF AGE mitgespielt hatte. Welles selbst übernahm vielleicht die Rolle eines Keystone Kops (siehe Update). In zehn Tagen drehte Welles mit seinen Schauspielern ungefähr 7600 Meter Film (was über viereinhalb Stunden Laufzeit entspricht). Daraus schnitt er selbst in dem New Yorker Hotel, in dem er wohnte, mit einer Moviola eine Rohfassung von 66 Minuten Länge. Über diesen Zustand kam TOO MUCH JOHNSON jedoch nicht hinaus. Verschiedene Gründe könnten dazu beigetragen haben, dass er unvollendet blieb, aber über die Gewichtung herrscht Unklarheit. Nach einer Kurzversion von 1900 hatte 1919 Donald Crisp Gillettes Stück für Paramount verfilmt, und 1938 besaß Paramount die Filmrechte immer noch und ließ Welles angeblich über einen Anwalt ausrichten, dass er die Rechte nicht umsonst, sondern nur gegen eine beträchtliche Lizenzgebühr haben könne. Eine heuer durchgeführte ausgiebige Recherche in den Archiven von Paramount hat allerdings keine Belege für diese Version erbracht. Welles war damals anscheinend knapp bei Kasse, jedenfalls soll es Beschwerden von einigen der Schauspieler gegeben haben, dass sie ihre Gage unvollständig oder verspätet erhielten, und das Kopierwerk soll die bearbeiteten Filmrollen nur noch gegen Vorkasse herausgerückt haben. Die Inszenierung des Stücks hatte im August 1938 einen Probelauf in einem Theater in der Nähe von New Haven, Connecticut, und angeblich stellte sich heraus, dass dieses Theater überhaupt nicht für die Projektion von Filmen gerüstet war. Allerdings war das Theater ursprünglich ein Nickelodeon, was auch diese Version etwas zweifelhaft erscheinen lässt. Vielleicht lief Welles einfach nur die Zeit weg, weil er den Aufwand unterschätzt hatte, und weil er und ein Teil der Besetzung gleichzeitig noch mit der regelmäßigen Radio-Arbeit beschäftigt waren. Jedenfalls lief die Inszenierung in Connecticut ohne den Film (und damit auch ohne Bowles' Musik, die dieser etwas umarbeitete und 1939 separat veröffentlichte). Das ohne Film und in der gekürzten Form offenbar nur noch mäßig interessante Stück fiel bei Publikum und Kritik in Connecticut durch, und der eigentlich vorgesehene Lauf in New York wurde daraufhin abgesagt - und das war es dann mit TOO MUCH JOHNSON. Der erste Eintrag in der betrüblich langen Liste von Welles' unvollendeten Filmprojekten war geboren.

Virginia Nicolson (links) und Ruth Ford
Was danach mit dem 66-minütigen "Workprint" geschah, ist nicht bekannt. Welles entdeckte das Material Ende der 60er Jahre in der Villa bei Madrid, die er damals bewohnte, aber er konnte sich seiner Aussage nach nicht erinnern, ob es sich immer in seinem Besitz befunden hatte. Der Zustand der Filmrollen war laut Welles damals ausgezeichnet. Eine nachträgliche Veröffentlichung zog er nicht in Betracht, weil sie ihm ohne das Theaterstück als sinnlos erschien, aber er hatte die Idee, eine fertig geschnittene Fassung Joseph Cotten als Geschenk zu überlassen. Doch dazu kam es nicht mehr. Als Welles 1970 zu Dreharbeiten abwesend war, brannte die Villa aus, und der leicht entflammbare Nitrofilm löste sich in Rauch auf (so die offizielle Version - mehr dazu unten im Update). Wie jedermann einschließlich Welles selbst (oder doch nicht?) glaubte, war TOO MUCH JOHNSON damit endgültig verloren. Doch 2008 tauchte völlig unverhofft in einem Lagerhaus in Pordenone in Friaul (wo regelmäßig das bekannte Stummfilmfestival stattfindet) eine intakte Kopie auf. Zunächst kümmerten sich die in Pordenone ansässige Einrichtung Cinemazero und die Cineteca del Friuli darum, dann das George Eastman House in Rochester, New York. In einer international koordinierten Anstrengung dieser Institutionen und eines spezialisierten Filmlabors, unterstützt durch eine Geldspritze der amerikanischen National Film Preservation Foundation (die u.a. durch die verdienstvolle DVD-Reihe Treasures From American Film Archives hervorgetreten ist), wurde TOO MUCH JOHNSON sorgfältig restauriert. Im Oktober 2013 hatte der wiederauferstandene Film unter großem Publikumsandrang (es mussten zusätzliche Aufführungen anberaumt werden) seine Premiere beim Stummfilmfestival in Pordenone - welchen besseren Ort hätte es dafür geben können? Und seit zwei Wochen kann man TOO MUCH JOHNSON auf der Website der National Film Preservation Foundation legal, kostenlos und in guter Qualität herunterladen oder als Stream ansehen, und zwar gleich in zwei Versionen: der komplette 66-minütige Workprint (ca. 1 GB) und eine daraus erstellte 34-minütige Version (ca. 560 MB), die mit einigen erklärenden Zwischentiteln ergänzt wurde, und die vielleicht dem nahekommt, was sich Welles seinerzeit vorgestellt hatte. Wobei betont wird, dass das nur ein Versuch ist, und dass andere Versuche möglich und wünschenswert sind. Beide Versionen wurden mit einer neuen stummfilmgemäßen Klavierbegleitung von Michael D. Mortilla versehen.

Nochmal Cotten und Francis
Man sollte kein CITIZEN KANE 0.9 von TOO MUCH JOHNSON erwarten - natürlich nicht. Selbst wenn Welles den Film vollendet hätte, würde da zuviel fehlen, vom kongenialen Kameramann Gregg Toland bis zu den materiellen Möglichkeiten eines großen Hollywood-Studios. Und durch den vorgesehenen Einsatzzweck geht im zweiten und dritten Teil die inhaltliche Kohärenz doch etwas verloren - schließlich hätte ein Teil der Geschichte auf der Bühne erzählt werden sollen, und das können die Zwischentitel nur teilweise kompensieren. Doch TOO MUCH JOHNSON ist trotzdem eine interessante und unterhaltsame Talentprobe mit witzigen Ideen und gelungenem Slapstick. Auch ohne den überlebensgroßen Namen "Orson Welles" wäre er durchaus einen Blick wert.

UPDATE (11. September): In IMDb, Wikipedia und anderswo ist zu lesen, dass Welles in TOO MUCH JOHNSON eine Rolle als einer der Keystone Kops übernommen hat, und ich hatte das zunächst so in den Artikel übernommen. Quelle für diese Behauptung scheint ein Interview zu sein, das Welles 1978 einem Frank Brady gab, und das in der Zeitschrift American Film erschien. Doch Welles ist bekannt dafür, dass man nicht alles glauben darf, was er in Interviews erzählte, und laut Auskunft der National Film Preservation Foundation glaubt Prof. Scott Simmon, der für die Foundation die 34-minütige Schnittfassung erstellte und die beiden Begleittexte auf den Download-Seiten schrieb, dass es sich dabei um ein falsches Gerücht handelt. Es könnte also sein, dass Welles gar nicht mitspielt.

In IMDb und Wikipedia wird Mrs. Billings' Mutter Mrs. Upton Battison geschrieben, in den Zwischentiteln dagegen Mrs. Upton Batterson. Letzteres ist richtig, wovon ich mich hier überzeugt habe.

ZWEITES UPDATE: Wie der Welles-Experte Joseph McBride in diesem Artikel berichtet, hat sein spanischer Kollege Esteve Riambau in diesem August etwas Licht in die Frage gebracht, wie TOO MUCH JOHNSON überlebt haben könnte. Laut einem spanischen Zeitungsartikel von 1970 und Auskunft von Juan Cobos, der Welles' Regieassistent beim in Spanien gedrehten FALSTAFF (1965) war, gab es zwar ein Feuer in der Villa (die während einer längeren Abwesenheit von Welles von dem Schauspieler-Paar Robert Shaw und Mary Ure gemietet war), aber das war schnell gelöscht und betraf nur einen Raum, während die Filmrollen sicher im Keller lagerten. In seinen späteren Erzählungen hat Welles das Ausmaß des Feuers also stark übertrieben. Es scheint nun, dass Welles selbst, der 1969/70 einige Zeit in Rom arbeitete, die Filmrollen dorthin mitgenommen haben könnte (von wo sie später über Vicenza nach Pordenone kamen), sei es, um den Film fertig zu schneiden (vielleicht, um ihn Cotten zu schenken), sei es, um ihn vor neugierigen Filmhistorikern zu verbergen, die an der von ihm selbst lange verbreiteten Legende rüttelten, CITIZEN KANE sei sein erster Film gewesen (Welles war auch gar nicht froh, als McBride 1970 den lange verschollenen THE HEARTS OF AGE in einem Archiv aufstöberte). Welles könnte die Filmrollen in Rom zurückgelassen haben, als er etwas überstürzt abreiste, nachdem seine Affäre mit Oja Kodar bekannt wurde und ihm die Sensationspresse auf den Fersen war. Jedenfalls scheint Welles auch schon über TOO MUCH JOHNSON (wie über diverse andere Aspekte seines Lebens und Schaffens) ein Gespinst aus Legenden gestülpt zu haben, in dem sich auch seriöse Institutionen wie das George Eastman House und die National Film Preservation Foundation verfingen und deshalb teilweise falsche oder widersprüchliche Informationen verbreiten. Nach Rücksprache mit dem italienischen Filmhistoriker Paolo Cherchi Usai vom George Eastman House, der auch mit Pordenone verbunden ist, verlegt McBride die eigentliche Entdeckung und Identifizierung der Filmrollen auf Ende 2012. Das ist auch plausibler als eine Entdeckung schon 2008 (wie sie in den meisten Berichten behauptet wird), denn in diesem Fall hätte die Restaurierung nicht nur fünf Jahre gedauert, sondern auch ebenso lange geheim gehalten werden müssen (die Presse berichtete erst 2013 über die Wiederentdeckung). Nur langsam lichten sich die Nebel um TOO MUCH JOHNSON, und manches wird wohl für immer ein Mysterium bleiben.

Liebhaber und gehörnter Ehemann am Ende auf seltsame Weise vereint

Montag, 18. August 2014

Was hat Woody Allen mit Henry Kissinger und Richard Nixon zu tun?

Ganz einfach: Ersterer hat die beiden letzteren in einer Mockumentary für das amerikanische Fernsehen veräppelt.

MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY
USA 1971
Regie: Woody Allen
Darsteller: Woody Allen (Harvey Wallinger), Louise Lasser (Wallingers frühere Geliebte), Diane Keaton (Renata Wallinger), Richard M. Dixon (Richard M. Nixon) u.a.
Mit Archivaufnahmen von Richard M. Nixon, Hubert H. Humphrey, George C. Wallace, J. Edgar Hoover, Spiro T. Agnew, Melvin Laird, John N. Mitchell, Martha Mitchell u.a.

Wir sehen eine 25-minütige Folge der (fiktiven) Fernsehserie MEN OF CRISIS, die Personen des Zeitgeschehens vorstellt. Diesmal im Focus: Harvey Wallinger, ein einflussreicher Strippenzieher in der amerikanischen Politik, die Schlüsselfigur in der Nixon-Administration - ein bis zur Kenntlichkeit verfremdetes Portrait von Henry Kissinger (der damals noch nicht Außenminister, sondern Nixons Sicherheitsberater war). Ein Sprecher im Off mit markiger Stimme führt durch die Sendung.


Dr. Harvey Wallinger ist ein brillanter Intellektueller und Harvard-Absolvent (auch wenn er von seinem Jahrgang mit 95 Absolventen als 96st-bester abschnitt). Als Kind deutsch-jüdischer Einwanderer geboren, bahnt er sich von der John-Dillinger-Highschool (!) über Harvard und eine Rechtsanwaltskanzlei seinen Weg in die Politik. Sein Idol ist zunächst Joseph McCarthy. Wir erleben mit, wie Wallinger als Vorsitzender eines Ausschusses gegen kommunistische Umtriebe durch geschickte Fragen einen Zeugen soweit in die Enge treibt, dass der seine Mitgliedschaft in der subversiven Organisation Boy Scouts of America zugibt und sogar weitere Mitglieder benennt. Durch diese beeindruckende Leistung gewinnt Wallinger die Aufmerksamkeit des ebenfalls aufstrebenden Richard Nixon. Dessen Aufstieg zur Macht wird schon am Anfang des Film skizziert - mit echten Archivaufnahmen von einigen Schlüsselfiguren der politischen Szene der 60er und 70er Jahre: Am ausgiebigsten Nixon selbst, der demokratische Senator und Präsidentschaftskanditat Hubert Humphrey, der ebenfalls demokratische (aber erzreaktionäre und rassistische) Gouverneur von Alabama und Präsidentschaftskanditat George C. Wallace, FBI-Chef J. Edgar Hoover, Nixons Vizepräsident Spiro T. Agnew (der noch vor Watergate über einen eigenen Bestechungs- und Steuerskandal stolperte, weshalb nach Nixons Rücktritt nicht er, sondern Gerald Ford Präsident wurde), Nixons Verteidigungsminister Melvin Laird - wie der Off-Kommentator erklärt, hat Laird einen Plan zur Beendigung des Vietnam-Kriegs, der so kompliziert ist, dass nur zwei Leute auf der Welt ihn verstehen. Laird ist keiner der beiden. Schließlich noch Nixons Justizminister John N. Mitchell und seine extravagante Frau Martha. Mitchell war damals bereits für illegale Abhöraktionen bekannt, die er angeordnet hatte, und später stellte sich heraus, dass er tief im Watergate-Sumpf steckte. Der Intellektuelle Wallinger passt gut in dieses Team, denn Nixon und Agnew sind ja ebenfalls Intellektuelle, wie er in einem Interview sagt: "They occasionally read, and both men can write, you know, and they know all the numbers in sequence. Almost all the numbers."

Harvey Wallinger legt den Amtseid ab
Wir erfahren auch etwas über Wallingers Privatleben - eine frühere Geliebte, eine Nonne (!) und Wallingers geschiedene Frau geben Auskunft. Und Wallinger selbst bekennt im Interview, dass er Sex mag, aber nur amerikanischen Sex, keinesfalls unamerikanischen Sex. Und was ist amerikanischer Sex? "If you are ashamed of it, it's American sex. You know, it's important, if you feel guilt and shame, you know, otherwise I think sex without guilt is bad because it almost becomes pleasurable." Eines von Allens Lieblingsthemen ist hier also bereits vorhanden. - Die Archivaufnahmen sind sorgfältig ausgewählt und aus dem Zusammenhang gerissen, mit passenden anderen Aufnahmen gegengeschnitten (etwa eine Rede von Wallace mit einem Publikum, das komplett aus Mitgliedern des Ku-Klux-Klans besteht) und mit Kommentaren des Sprechers versehen, so dass der komplette Politikbetrieb ins Lächerliche gezogen wird. Die Bandbreite reicht dabei von scharfer Satire bis zu Kalauern. Doch manches muss von Allen gar nicht manipuliert werden, weil es sich ohnehin am Rand der Realsatire bewegt. Die Spielszenen sind geschickt mit dem Archivmaterial verschränkt - Allen übt hier schon ein bisschen für ZELIG. Neben den Allen-Regulars Louise Lasser und Diane Keaton ist Dan Frazer ein weiteres bekanntes Gesicht: Wenig später wird er als Theo Kojaks Chef McNeil auf den Bildschirmen zu sehen sein. Er hatte auch schon in Allens TAKE THE MONEY AND RUN und BANANAS mitgespielt, in MEN OF CRISIS ist er aber nur einige Sekunden zu sehen. Ebenfalls zu sehen ist der seinerzeit vielbeschäftigte Nixon-Lookalike Richard M. Dixon (natürlich hieß er nicht wirklich so).

Harvey Wallinger und sein Chef
MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY wurde Ende 1971 in kurzer Zeit geschrieben und gedreht, als Allen zwischen PLAY IT AGAIN, SAM und EVERYTHING YOU ALWAYS WANTED TO KNOW ABOUT SEX einige Wochen Zeit hatte. Er hätte im Februar 1972 im Sendernetzwerk PBS ausgestrahlt werden sollen, doch kurz vor dem Sendetermin bekamen die Verantwortlichen kalte Füße, und die Ausstrahlung wurde abgesetzt. Auch später wurde die HARVEY WALLINGER STORY nie gesendet, und Allens Entschluss, nur noch für das Kino zu arbeiten, wurde dadurch stark befördert. Nachdem der Film lange im Verborgenen schlummerte, tauchte 1997 eine etwas lädierte Kopie aus Privatbesitz auf und wurde an die beiden Häuser des Museum of Television & Radio in New York und Los Angeles übereignet, wo man den Film seitdem ansehen kann. MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY taucht gelegentlich auf YouTube auf - derzeit ist er gerade hier (mit italienischen Untertiteln) zu finden.

Dienstag, 1. Juli 2014

Iranische Neue Welle mit Lepra, gefundenem Baby und Nachspiel in München

Forugh Farrokhzad und Ebrahim Golestan - ein iranisches Dreamteam

KHANEH SIAH AST (DAS HAUS IST SCHWARZ)
Iran 1962
Regie: Forugh Farrokhzad
22 Minuten

KHESHT VA AYENEH (BRICK AND MIRROR, auch THE BRICK AND THE MIRROR)
Iran 1965
Regie: Ebrahim Golestan
Darsteller: Zakaria Hashemi (Hashemi), Taji Ahmadi (Taji), Mehri Mehrinia (Frau in der Ruine) u.a.
124 Minuten

MOND SONNE BLUME SPIEL
Deutschland 2008
Regie: Claus Strigel und Julia Furch
Mit: Forugh Farrokhzad (Archivaufnahmen), Hossein Mansouri, Ebrahim Golestan, Mehrdad Farrokhzad, Farzaneh Milani
90 Minuten

Forugh Farrokhzad
In den 50er und 60er Jahren gab es bekanntlich nicht nur die Nouvelle Vague, sondern "neue Wellen" auch von Großbritannien, Deutschland und der Tschechoslowakei bis Japan, Brasilien und anderswo. Und auch die Filme, die Regisseure wie Dariush Mehrjui oder Sohrab Shahid Saless in der zweiten Hälfte der 60er und in den 70er Jahren im Iran drehten, wurden zumindest rückwirkend als "Iranische Neue Welle" bezeichnet - manchmal auch als "Erste Iranische Neue Welle", um sie von den Filmen abzusetzen, mit denen die Regisseure um Abbas Kiarostami und Mohsen Makhmalbaf erst nach der islamischen Revolution 1979 im Ausland Erfolge feierten. Die beiden iranischen Filme, um die es hier zunächst geht, werden je nach Sichtweise als Vorläufer oder als frühe Vertreter jener ersten neuen Welle gehandelt.

Der mittlerweile 91-jährige Ebrahim Golestan, 1922 in Schiras geboren, ist ein Schriftsteller und Übersetzer (er übertrug u.a. Mark Twain, Faulkner, Hemingway und Eugene O'Neill ins Persische), und von den 50er bis in die 70er Jahre war er auch unabhängiger Filmregisseur und -produzent. Der aus einer wohlhabenden Familie stammende, aber in seinen jungen Jahren sozialistisch gesinnte Golestan drehte ab Anfang der 50er Jahre Reportagen für amerikanische Fernsehsender, etwas später für die BBC, und 1956 machte er sich selbständig und gründete sein eigenes Studio, Golestan Films. Dort kreuzten sich 1958 seine Wege mit denen von Forugh Farrokhzad (1935-67).

A FIRE
Forugh oder Forough Farrokhzad (auch "Farrochsad" und weitere Schreibweisen, siehe Wikipedia), ist "die bedeutendste Poetin der modernen persischen Literatur" (Kindlers Literaturlexikon). Forugh Farrokhzads Nachruhm wurde durch ihren vorzeitigen Tod (sie starb mit 32 bei einem Autounfall) nicht behindert - im Gegenteil, sie wurde zu einem Mythos. Für die liberalen Teile der iranischen Gesellschaft ist sie bis heute eine Ikone aus einer vergangenen Zeit. Zu ihren Lebzeiten war sie im Iran heftig umstritten. In ihren fünf Gedichtbänden, die seit 1955 veröffentlicht wurden (der letzte posthum), behandelte sie aus autobiografischer Sicht u.a. Themen wie Sex und die Geschlechterrollen, womit sie beim konservativen Teil der Gesellschaft (und insbesondere beim Klerus) aneckte. Auch ihr Privatleben verursachte Skandale. Forugh (wie sie von vielen Iranern einfach genannt wird, was ich im folgenden auch tue) hatte schon mit 16 einen 15 Jahre älteren Satiriker geheiratet, der ein entfernter Verwandter von ihr war. Es war zwar keine arrangierte, sondern eine Liebesheirat, aber nach drei Jahren war die Ehe am Ende, es folgte die Scheidung, und das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn Kamyar bekam der Vater, ohne Besuchsrecht für Forugh, was sie schwer bedrückte. 1955 hatte sie einen Nervenzusammenbruch, und ihr erster Gedichtband, der im selben Jahr erschien, trug übersetzt den Titel "Der (oder die) Gefangene", was darauf hinweist, wie eingeengt sie sich gefühlt hatte. Die weiteren zu Lebzeiten veröffentlichten Bände hießen "Die Wand", "Rebellion" und "Neugeburt", was widerspiegelt, dass sie sich mit der Zeit emanzipierte und ihr Leben in den Griff bekam. Forughs Biografin Farzaneh Milani bezeichnete die Gesamtheit ihrer Gedichte in ihrer zeitlichen Entwicklung als "Bildungsroman" (sie benutzt das deutsche Wort in ihrem englischsprachigen Buch Veils and Words). Auch nach ihrem überstandenen Zusammenbruch litt sie unter Depressionen und Sinnkrisen (1960 unternahm sie sogar einen Selbstmordversuch), und Hossein Mansouri deutet in MOND SONNE BLUME SPIEL an, dass das Schreiben der Lyrik auch dazu diente, ihre Krisen zu bewältigen. Nach einer langen Reise nach Italien und Deutschland (ein Teil der Gedichte des dritten Bands entstand in Rom und München) nahm sie zu ihrer finanziellen Absicherung, und weil sie sich für Film interessierte, eine Stelle bei Golestan Films an.

A FIRE
Zunächst bekam sie nur einen Bürojob, doch das änderte sich schnell. Sie bekam eine Ausbildung in den Grundlagen des Filmhandwerks (die sie später bei einem Aufenthalt in England vervollständigte), und sie und Ebrahim Golestan verliebten sich ineinander. Der verheiratete Golestan ließ sich scheiden, und die beiden wurden bis zu ihrem Tod ein Paar ohne Trauschein, was weiteren Stoff für die Skandalpresse und Forughs konservative Gegner lieferte. - Golestan hatte sich zunächst auf kurze Industrie- und Dokumentarfilme spezialisiert. YEK ATASH (A FIRE), 1958 gedreht und 1961 erschienen, ist ein in Bild und Ton eindrucksvoller Film über eine in Brand geratene Ölquelle, die vom amerikanischen Spezialisten Myron Kinley und seinem Team nach wochenlangen aufwändigen Vorbereitungsarbeiten gelöscht wurde, und zwar mit einer gezielten Sprengung, die den Flammen den Sauerstoff raubte. Den Schnitt von YEK ATASH besorgte Forugh, und hier konnte sie schon mal zeigen, was sie gelernt hatte. Die anderen Kurzfilme von Golestan (die ich im Gegensatz zu YEK ATASH nicht gesehen habe) sind: MOJ, MARJAN, KHARA (THE WAVE, CORAL AND ROCK) von 1962 über den Bau eines Piers mit Ölverladestation auf der Insel Kharg im Persischen Golf; TAPPE-HAYE MARLIK (THE HILLS OF MARLIK) von 1963 über eine archäologische Ausgrabung; GANJINE-HAYE GOHAR (oder nach einer anderen Quelle JAVAHERAT-E SALTANATI; THE CROWN JEWELS OF IRAN) über eben jene Kronjuwelen. Dieser Film von 1965 wurde von der Zentralbank, wo die Juwelen aufbewahrt wurden, in Auftrag gegeben (nach einer anderen Quelle vom Kultusministerium, aber ersteres erscheint mir plausibler), dann aber wegen seiner implizit enthaltenen kritischen Tendenz zensiert (dabei war Golestan sogar mit dem Schah persönlich bekannt). Diese vier Filme wurden wegen ihrer formalen Eigenständigkeit und handwerklichen Qualität mit jenen von Alain Resnais aus den 50er Jahren verglichen. Ich bin nicht sicher, ob diese Filmografie der Kurzfilme, wie man sie in IMDb und Wikipedia findet, wirklich vollständig ist. Auf jeden Fall hat Golestan noch ein Segment zum kanadischen Film COURTSHIP von 1961 beigetragen, in dem es um Heiratsbräuche in verschiedenen Teilen der Welt geht.

DAS HAUS IST SCHWARZ

DAS HAUS IST SCHWARZ


1962 nahm Golestan einen ersten Spielfilm in Angriff, und Forugh, die auch Ambitionen als Schauspielerin hatte, sollte die Hauptrolle spielen. Doch als sich einer der Mitwirkenden als Drogensüchtiger und Dealer erwies, der die anderen Teammitglieder in seine Geschäfte hineinziehen wollte, brach Golestan die Dreharbeiten ab. Als Kompensation für die entgangene Hauptrolle bot er Forugh ein Projekt an, das ihm der Direktor der iranischen Leprahilfe vorgeschlagen hatte: Einen Film über eine Leprakolonie in der Nähe von Täbris im Nordwesten des Iran. Im Sommer 1962 fuhr Forugh zu einer kurzen Erkundungsmission nach Bababaghi, wie das Dorf heißt, und im Herbst kam sie mit Kameramann, Tontechniker und zwei oder drei Assistenten wieder. Golestan, der als Produzent fungierte, ließ ihr freie Hand. Die ersten der insgesamt zwölf Tage ihrer Anwesenheit dienten dazu, die Bewohner kennenzulernen und ihr Vertrauen zu gewinnen, dann wurde gedreht. Auch wenn manches im Film aus heutiger Sicht etwas archaisch anmutet - nach damaligen Maßstäben war Bababaghi eine durchaus moderne und humane Leprasiedlung, in der die Bewohner zeitgemäße medizinische Versorgung und Physiotherapie erhielten und ansonsten ein weitgehend normales Leben führten. Genau das ist - bei einer gekonnten und abwechlungsreichen visuellen und akustischen Gestaltung - das hervorstechende Merkmal von DAS HAUS IST SCHWARZ: Die Betonung der Normalität. Kinder beim Ballspiel und in der Schule, Männer in der Moschee, Frauen bei der gemeinsamen Essensausgabe, die Gemeinschaft bei einem Fest (einer Hochzeit?). Die Normalität ist auch der Schlüssel dafür, den Bewohnern ihre Würde zu lassen, obwohl die körperlichen Entstellungen deutlich gezeigt werden (Jonathan Rosenbaum hat den Film in dieser Hinsicht mit Tod Brownings FREAKS verglichen).

DAS HAUS IST SCHWARZ
Es wird ausgiebig Direktton verwendet, zusätzlich gibt es aber auch einen mehrstimmigen Off-Kommentar: Von Forugh vorgetragene poetische Texte aus dem Alten Testament, dem Koran und aus ihren Gedichten, und sachliche Informationen über Lepra (es wird vor allem Wert darauf gelegt, dass Lepra heilbar ist), gelesen von Golestan. - DAS HAUS IST SCHWARZ erregte bei seinem Erscheinen große Aufmerksamkeit im In- und Ausland und gewann einige Festivalpreise, vor allem den Preis für den besten Dokumentarfilm bei den Oberhausener Kurzfilmtagen 1964 (nach einigen Quellen 1963, aber hier steht 1964). Später verschwand der Film etwas in der Versenkung, aber spätestens 1997, als er beim New York Film Festival gezeigt wurde, tauchte er wieder auf. 2006 lief er erneut in Oberhausen, im Rahmen einer Reihe, die dem Nahen Osten gewidmet war.

DAS HAUS IST SCHWARZ

BRICK AND MIRROR


1965 drehte Ebrahim Golestan den Film, der nun tatsächlich sein erster Spielfilm wurde: KHESHT VA AYENEH, in Ermangelung eines deutschen Titels im folgenden BRICK AND MIRROR. Der Titel leitet sich von einer Zeile des mittelalterlichen persischen Dichters und Mystikers Fariduddin Attar ab: Was ein alter Mann in einem Lehmziegel sieht, sieht ein junger in einem Spiegel. - Hashemi ist Taxifahrer in Teheran. Eines Tages steigt spät abends eine schwarz verschleierte Frau (Forugh in einem Cameo) in sein Taxi und lässt sich zu einer heruntergekommenen Gegend irgendwo in den Außenbezirken fahren. Nachdem sie dort ausgestiegen und in der Dunkelheit verschwunden ist, stellt er fest, dass sie ein Baby im Taxi zurückgelassen hat, das zuvor unter ihrem Tschador verborgen war. Die Hintergründe bleiben im Dunkeln - die Frau taucht nicht wieder im Film auf. Was sich daraus entwickelt, ist ein existenzialistisches Drama, und zugleich eine kritische Bestandsaufnahme der Teheraner Gesellschaft Mitte der 60er Jahre. Formal gestaltet Golestan das als eine Abfolge weniger, sehr langer Sequenzen, in denen - bis auf die zwei wichtigsten - neben Hashemi und seiner Freundin Taji auch jeweils ein oder zwei Nebenfiguren in den Vordergrund rücken und in ausführlichen Mono- oder Dialogen zu Wort kommen, und die sich innerhalb eines einzigen Tages abspielen. Zunächst sucht Hashemi in der Dunkelheit nach der Frau und gerät dabei in die Ruine einer unfertigen Baustelle. In dieser unwirklichen nächtlichen Szenerie trifft er auf eine augenscheinlich nicht mehr ganz normale ältere Frau, die seine Fragen nach der anderen Frau ignoriert und in einen Klagemonolog verfällt. Später in der Nacht trifft sich Hashemi mit Freunden in einem modernen Nachtclub in der Innenstadt, und er erzählt die Geschichte vom gefundenen Baby, das er bei sich trägt. Doch seine Freunde sind wenig hilfreich - der eine glaubt seine Geschichte nicht und gibt entsprechend sarkastische Kommentare ab, der nächste verfällt in pseudointellektuelle Phrasen, etc. Immerhin erhält Hashemi den Rat, zur Polizei zu gehen, was er auch tut. Doch dort zeigt man sich wenig interessiert. Nachdem der Offizier auf dem Revier ausgiebig mit einem Arzt, der überfallen und verprügelt wurde, diskutiert und diesen schließlich abgewimmelt hat, erhält Hashemi nur die Auskunft, dass man nichts für ihn tun könne und dass ein nächtliches Polizeirevier kein Ort für ein Baby sei. Er solle es erst mal nach Hause mitnehmen und am nächsten Morgen beim Waisenhaus abliefern.

DAS HAUS IST SCHWARZ
Vor dem Revier wartet Taji auf ihn, die in einer offenbar nur lockeren Beziehung mit ihm lebt, die aber mehr will. Gemeinsam gehen sie in Hashemis winzige Wohnung, wo sie den Rest der Nacht miteinander verbringen. Taji versorgt das Baby, wozu Hashemi wenig beiträgt. Er ist überfordert und von der Situation genervt, vor allem aber hat er geradezu panische Angst davor, dass die Nachbarn etwas von der Anwesenheit Tajis und des Babys bemerken und falsche Schlüsse daraus ziehen (man kann das als Allegorie auf eine in Angst erstarrte Gesellschaft verstehen). So fährt er Taji ständig an, leise zu sein, und als das Baby zu schreien beginnt, reagiert er nicht gerade rational. Taji agiert vernünftiger, aber nicht ganz uneigennützig. Wie sich nach und nach erweist, erhofft sie sich, dass das Baby als Werkzeug dient, um Hashemi fest an sich zu binden. Ihr zunächst zaghaft geäußerter Vorschlag, das Kind zu behalten, wird von Hashemi brüsk abgewiesen. Trotz der angespannten Atmosphäre schlafen die beiden noch miteinander, aber wirklich näher kommen sie sich dadurch nicht - am nächsten Morgen ist die Stimmung eher noch trostloser als in der Nacht. Hashemi bringt jetzt das Kind ins Waisenhaus, wird aber erst mal abgewiesen, weil man nur Kinder aufnehmen könne, zu denen die nötigen Dokumente vom Gericht vorliegen. Während seiner Wartezeit im Waisenhaus bekommt er die tragisch-groteske Geschichte von der Frau mit, die unbedingt ein Baby adoptieren will, aber keines bekommt, weil sie ja schwanger sei - auch wenn ihre bisherigen Schwangerschaften alle in Fehlgeburten geendet haben. Am Ende enthüllt die verzweifelte Frau zum Entsetzen aller Anwesenden, dass sie die bisherigen Schwangerschaften nur mit unter die Kleider gestopften Lumpen vorgetäuscht und dann die Fehlgeburten erfunden hatte, um dem öffentlichen Makel der Unfruchtbarkeit zu entgehen. Um dem Kreislauf zu entfliehen, müsse sie nun endlich ein Baby vom Waisenhaus bekommen - doch sie bekommt keines.

DAS HAUS IST SCHWARZ
Im Gericht, einem imposanten, geradezu imperialen Gebäude, verläuft sich Hashemi fast und steht dann wieder hilflos in der riesigen Eingangshalle. Erst als er einen Beamten anspricht und ihm einige Zigaretten spendiert, erhält er die nötigen Dokumente. Seine zaghafte Frage nach einer möglichen Adoption redet ihm der Mann mit zynischen Kommentaren dazu aus. So liefert er also das Baby beim Waisenhaus ab. Wieder zurück bei Taji, ist diese bitter enttäuscht, dass er ohne das Baby gekommen ist, und sie macht ihm schwere Vorwürfe. Hashemi wird ebenso wie dem Zuschauer klar, dass die Beziehung am Abgrund steht, und so lenkt er etwas ein und fährt mit ihr zum Waisenhaus. Er bleibt aber draußen, während sie hineingeht, um "ihr" Baby zu suchen. In den kahlen, kalt wirkenden Räumen (es wurde in einem echten Waisenhaus gedreht) begegnet sie vielen Babys und Kleinkindern, die hier auf sich allein gestellt wirken, und nur wenigen Pflegerinnen, die keine Notiz von ihr nehmen, aber "das" Baby findet sie nicht. Am Ende ergreift stille Verzweiflung Besitz von ihr. Während sie bewegungslos an eine nackte Wand gelehnt ist, fährt die Kamera in einer langen Fahrt von ihr zurück und überlässt sie ihrer Einsamkeit. Diese minutenlang völlig wortlose Sequenz im Waisenhaus ist für mich der Höhepunkt des Films, und sie hat mich etwas an Antonioni erinnert. In der letzten Szene des Films steht Hashemi vor einem Schaufenster mit laufenden Fernsehern, in denen ein distinguierter Herr erbauliche Phrasen über den richtigen Umgang der Menschen miteinander absondert. Dann steigt er in sein Taxi, sinniert eine Weile, und fährt schließlich in die Abenddämmerung, einer neuen Spätschicht entgegen.

BRICK AND MIRROR - Taji
Wenn man sich erst an den langsamen Rhythmus gewöhnt hat, ist BRICK AND MIRROR ein wunderbarer Film - ein würdiger Beginn (oder meinetwegen Vorläufer) eine neuen Welle. Doch Golestans erster Spielfilm war zugleich sein vorletzter. 1967 ging er, der dem Schah-Regime zunehmend feindselig gegenüberstand, zum ersten Mal ins Exil nach England. 1972 kehrte er zurück, um seinen letzten Film ASRAR GANJ DAREHEYE JENNI (THE SECRET OF THE TREASURE OF THE JINN VALLEY, auch THE GHOST VALLEY'S TREASURE MYSTERIES) zu drehen. Ein armer Bauer findet durch Zufall eine Höhle mit einem Schatz und wird dadurch zu einem neureichen Dorftyrannen. Es handelt sich um eine allegorische Attacke gegen das Regime, viel grimmiger als die eher subtile Kritik in THE CROWN JEWELS OF IRAN und BRICK AND MIRROR. Wie man liest, ist THE SECRET OF THE TREASURE OF THE JINN VALLEY ein bitterer Film voller unsympathischer Charaktere. 1978 ging Golestan zum zweiten Mal und diesmal endgültig nach England. In der Nähe von London bewohnt er ein äußerst imposantes Herrenhaus. Die Filmerei hat er im Exil vollständig aufgegeben, seine Zeit verbrachte er hauptsächlich mit dem Schreiben von Romanen auf Persisch (es gibt nur wenig von ihm auf Englisch zu lesen).

BRICK AND MIRROR - Hashemi in seiner Wohnung

MOND SONNE BLUME SPIEL


Die letzte Szene von DAS HAUS IST SCHWARZ gab gleich zwei Filmen ihren Titel. In der Schule fordert der Lehrer einen Schüler auf, einen Satz mit "Haus" an die Tafel zu schreiben, und nach einigem Überlegen schreibt er "Das Haus ist schwarz". Ein anderer Schüler soll schöne Dinge aufsagen, und er antwortet "Mond, Sonne, Blume, Spiel". Dieser zweite, damals sechsjährige Junge namens Hossein Mansouri war von der fremden Frau aus Teheran sofort fasziniert, als sie in Bababaghi auftauchte. Obwohl eigentlich ein aufgeweckter und redseliger Junge, brachte er ihr gegenüber kein Wort heraus. Hossein lebte als gesunder Sohn (mit drei ebenfalls gesunden Schwestern) zweier leprakranker Eltern im Dorf (bei seiner Mutter wurde die Krankheit aber frühzeitig mit Antibiotika behandelt, und sie wurde vollständig geheilt). Es war Zufall, dass Hossein mit seiner Familie in Bababaghi war - bei Forughs erstem Besuch im Sommer waren sie noch abwesend. Damals lebten sie noch in einer anderen Leprakolonie bei Maschhad im Nordosten des Iran, vielleicht 1000 km oder mehr von Täbris entfernt. Doch Hosseins Vater war dort mit einem leitenden Arzt aneinandergeraten und hatte ihn sogar tätlich angegriffen, deshalb wurde die ganze Familie nach Bababaghi "strafversetzt". Nicht nur Hossein war von Forugh fasziniert, sie fand auch sofort Gefallen an ihm. Und gegen Ende der Dreharbeiten fasste sie den Entschluss, Hossein zu adoptieren. Die Eltern waren schnell einverstanden, hauptsächlich, um die Gefahr einer Ansteckung mit Lepra für Hossein dauerhaft zu bannen. Und so kam der kleine Hossein, der nicht wusste, wie ihm geschah, in eine ihm fremde Welt nach Teheran. Die Liebe, die Forugh ihrem leiblichen Sohn Kamyar nicht geben konnte, weil er ihr entzogen war, schenkte sie nun Hossein, und auch von Forughs sechs Geschwistern und ihrer Mutter wurde der Neuankömmling herzlich als neues Familienmitglied aufgenommen. Einige Zeit später besuchte Hosseins Vater ihn in Teheran, aber da prallten bereits zwei Welten aufeinander. Hossein fürchtete, nach Bababaghi zurück zu müssen, und die Begegnung endete in gegenseitiger Sprachlosigkeit. Es war das letzte Mal, dass Hossein seinen Vater sah. Er starb, als Hossein 14 war. Im Februar 1967, als Hossein 10 war, prallte Forugh beim Versuch, einem anderen Fahrzeug auszuweichen, mit ihrem Auto gegen eine Wand. Sie wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und starb an ihren Kopfverletzungen. Hosseins weitere Erziehung übernahm nun Forughs Mutter (wie es schon der Fall gewesen war, wenn Forugh auf Reisen war).

BRICK AND MIRROR - im Waisenhaus
Als junger Mann ging Hossein nach England, um zu studieren. Er bewohnte dort zeitweise eine gemeinsame Wohnung mit Kamyar - die Verbindung zur Familie von Forughs Ex-Mann war also offenbar nicht ganz abgerissen. Doch nach knapp zwei Jahren zog es Hossein nach Deutschland und speziell nach München, wo schon Forugh einige Wochen oder Monate verbracht hatte, und wo drei seiner "Adoptivonkel" studiert und gelebt hatten. Hossein Mansouri lebt seit fast 40 Jahren in München, wo er sich heimisch und pudelwohl fühlt, wie er sagt. Hier wurde er ein Dichter und Übersetzer, Musiker ist er auch, und zum Broterwerb hat er seit 30 Jahren eine Anstellung als Archivar in einer Patentanwaltskanzlei. DAS HAUS IST SCHWARZ sah er zum ersten Mal, als er schon über 30 war und in einer Identitätskrise steckte. Er bat Oberhausen um eine Kopie des Films und bekam tatsächlich eine geschickt. Doch die Geschichte seiner Herkunft behielt er sehr lange für sich. Nicht einmal gute Freunde wussten, dass er der Adoptivsohn einer berühmten Dichterin ist. Für die Literaturgeschichte war die Adoption von 1962 nur eine Fußnote, und außerhalb Forughs Familie wusste niemand, was aus dem Jungen von einst geworden war.

BRICK AND MIRROR - im Gericht
Erst der Münchner Regisseur Claus Strigel brachte es ans Tageslicht, in seinem Film MOND SONNE BLUME SPIEL, der 2008 bei den Hofer Filmtagen seine Premiere feierte. Strigel hatte 1976 gemeinsam mit Bertram Verhaag die Produktionsfirma DENKmal-Filmgesellschaft gegründet (Walter Harrich war anfangs auch dabei, aber der gründete bald mit seiner Frau Danuta eine eigene Firma). Meist gemeinsam mit Verhaag drehte Strigel sowohl fürs Fernsehen als auch für die Kinoleinwand viele Dokumentarfilme (am bekanntesten vielleicht der Wackersdorf-Film SPALTPROZESSE), aber gelegentlich auch Spielfilme. Seit 2012 besitzen Strigel und Verhaag getrennte Firmen (ob sie sich auch persönlich verkracht haben, ist mir nicht bekannt). Julia Furch, bei MOND SONNE BLUME SPIEL erstmals Strigels Co-Regisseurin, war mir bisher unbekannt. Der Film begleitet Hossein Mansouri, meist in seinem gewohnten Lebensumfeld im Münchner Westend, und lässt ihn erzählen, von seiner erstaunlichen Kindheit, aber auch von seinem jetzigen Leben. Einen Off-Kommentar gibt es nicht (wie man in diesem einstündigen Radio-Interview im Deutschlandfunk erfährt, gibt es den bei Strigel nie). Er erzählt, dass er eine Mission hat, die sozusagen sein Lebenszweck ist und ihm über Identitätskrisen hinweghilft. Worin diese Mission besteht, sagt er nicht explizit, aber es kristallisiert sich heraus, dass er Forughs Vermächtnis erhalten und weiterverbreiten will. Man erlebt ihn bei einer Lesung von Forughs Gedichten, die er selbst übersetzt hat, in Kombination mit einer Vorführung von DAS HAUS IST SCHWARZ. Der Film macht auch Abstecher nach England und in den Iran. Gemeinsam mit Strigel besucht Mansouri seinen "Adoptivvater" (auch wenn er nicht mit Forugh verheiratet war) in seinem imposanten Landsitz. Das Verhältnis zu Golestan erscheint im Film freundschaftlich, aber auch von einer gewissen respektvollen Distanz geprägt - Mansouri nennt ihn immer "Herr Golestan", statt beim Vornamen. Strigel geht auch in Teheran auf Spurensuche, mit Mehrdad Farrokhzad als Hossein Mansouris Stellvertreter - Mansouri kann mit seinem Asylantenpass überallhin reisen, nur nicht in den Iran. Mehrdad ist einer der jüngeren Brüder von Forugh, die in Deutschland studiert hatten, er spricht immer noch Deutsch, und er hat ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Mansouri - er bot sich für diese Mission also an.

DAS HAUS IST SCHWARZ - der sechsjährige Hossein Mansouri
Emotionale Höhepunkte von MOND SONNE BLUME SPIEL sind die beiden Szenen, in denen Mansouri von seiner Adoption sowie vom späteren Besuch seines Vaters in Teheran erzählt. Mansouri ist hier sichtlich aufgewühlt und ringt um Fassung. Bei diesen Momenten begann ich mich zu fragen, ob die Adoption nicht eine fragwürdige Angelegenheit war, bei der Hossein und seine Eltern von Forugh überrumpelt wurden. Doch sein aufgewühlter Zustand lag wohl hauptsächlich daran, dass er hier diese entscheidenden Momente zum ersten Mal erzählte. In diesem Radio-Interview vom Mai 2014 (in derselben Sendereihe wie das mit Strigel) trägt Mansouri seine Geschichte viel entspannter vor als im Film, und er lässt keinen Zweifel daran, dass die Adoption der große Glücksfall seines Lebens war. - Was ich mir vom Film noch gewünscht hätte, wäre eine etwas tiefere zeitgeschichtliche und biografische Einordnung von Forughs Leben und Schaffen gewesen, doch man erfährt darüber wenig (was ich hier darüber berichte, stammt hauptsächlich aus englischsprachigen Quellen im Web). Die passende Ansprechpartnerin dafür wäre Farzaneh Milani gewesen. Die in den USA lebende iranische Professorin für persische Literatur und für Frauenstudien hatte schon ihre Dissertation über Forugh verfasst, weitere Texte über sie veröffentlicht (etwa 1982 einen mit dem Titel Love and Sexuality in the Poetry of Forugh Farrokhzad: A Reconsideration und im schon erwähnten Buch Veils and Words: The Emerging Voices of Iranian Women Writers von 1992), und eine in langjähriger Arbeit erstellte Biografie mit dem Titel An Iranian Icarus: The Life and Poetry of Forugh Farrokhzad soll wohl in naher Zukunft erscheinen. Aber von ihrem sicher profundem Wissen gibt sie in MOND SONNE BLUME SPIEL, wo sie mit Hossein Mansouri (der auch an einem Buch über Forugh arbeitet) zusammentrifft, wenig preis, was über Allgemeinplätze hinausgeht. So bleibt Forugh für den Zuschauer des Films letztlich ein Mysterium. Wahrscheinlich wäre es gar nicht möglich (und vielleicht auch nicht wünschenswert), das Mysterium vollständig zu lüften, aber ein bisschen mehr Kontext und harte Fakten hätte ich mir schon gewünscht.

MOND SONNE BLUME SPIEL - Hossein Mansouri
Nichtsdestotrotz ist MOND SONNE BLUME SPIEL ein faszinierender Film, der seine spannende Geschichte unterhaltsam aufbereitet. Strigel schreckt vor optischen Spielereien nicht zurück - so gibt es ziemlich am Anfang einen Kameraschwenk, der in Teheran beginnt und ohne erkennbaren Schnitt in München endet. Überhand nehmen solche Tricks nicht, aber die Kamera ist stets beweglich und erzeugt meist große Nähe zu Mansouri und den anderen Protagonisten, gelegentlich aber auch Distanz. Alles in allem ein sehr ansprechender Film! - Forughs jüngerer Bruder Fereydoun Farrokhzad war ein Sänger, Schauspieler, Poet und Politikwissenschaftler. Er hatte in Deutschland und Österreich studiert und dann einige Jahre in München gelebt, wo er u.a. Radioprogramme gestaltete. 1967 ging er zurück in den Iran, wo er als Sänger und TV-Entertainer ein Superstar wurde. Nach der islamischen Revolution ging er ins Exil, zunächst in die USA und dann wieder nach Deutschland. 1992 wurde Fereydoun Farrokhzad in Bonn auf blutrünstige Weise ermordet, sehr wahrscheinlich von Agenten des Mullah-Regimes, das er öffentlich scharf kritisiert hatte. Offiziell geklärt wurde der Fall nie. Claus Strigel plant einen Film über Fereydoun Farrokhzad (hier ein Teaser).

MOND SONNE BLUME SPIEL - Ebrahim Golestan
Es existieren weitere Filme über Forugh. 1963, als sie mit DAS HAUS IST SCHWARZ auch international bekannt wurde, produzierte die UNO ein kurzes Portrait von ihr, und im selben Jahr drehte auch Bernardo Bertolucci einen 15-minütigen Film mit ihr. In Bertoluccis Filmografien in IMDb und Wikipedia findet man keine Spur davon, und ich weiß nicht, ob dieser Film jemals regulär veröffentlicht wurde, aber gedreht wurde er jedenfalls. Ein Nasser Saffarian drehte eine zweieinhalbstündige dreiteilige Doku, die unter dem engl. Titel THE MIRROR OF THE SOUL: THE FOROUGH FARROKHZAD TRILOGY in den USA auf DVD zu haben ist (darin sollen auch Ausschnitte aus Bertoluccis Film zu sehen sein). - In Frankreich erschien einige Jahre lang das Filmmagazin Cinéma halbjährlich in Buchform, und Ausgabe 07 vom Frühjahr 2004, die noch zu erschwinglichen Preisen bei den üblichen Quellen zu haben ist, enthielt auf einer beigelegten DVD DAS HAUS IST SCHWARZ (mit fest eingebrannten franz. Untertiteln) sowie Golestans A FIRE (in einer englischsprachigen Fassung). DAS HAUS IST SCHWARZ ist auch in den USA auf DVD erschienen, sowohl auf einer Einzel-DVD (mit zwei frühen Kurzfilmen von Mohsen Makhmalbaf als Bonus), als auch im Paket mit THE MIRROR OF THE SOUL. Von BRICK AND MIRROR konnte ich keine DVD ausfindig machen (und musste auf eine Datei von zweifelhafter Herkunft und mit sehr schlechter Bildqualität zurückgreifen). MOND SONNE BLUME SPIEL ist auf einer DVD erschienen, die man direkt bei Strigel (Javascript erforderlich) bestellen kann. Dort gibt es den Film auch für 10 € als DRM-freien Download (was bei mir unkompliziert geklappt hat).

MOND SONNE BLUME SPIEL - vor Golestans Wohnsitz und in seinem Garten

Montag, 23. Dezember 2013

Fellatio, Bildgewitter in Super 8, und Sexualerziehung mit Außerirdischen in Kantabrien

Drei spanische Underground- und Avantgardefilme

ICE CREAM
Spanien 1970
Regie: Antoni Padrós
Darsteller: Rosa Morata, Hiriam Abid

Do you suck?



Antoni Padrós (geb. 1940) war ursprünglich ein katalanischer Maler, der, nachdem er eine Filmschule in Barcelona besucht hatte, "achteinhalb" (wie er selbst in Anspielung auf Fellini sagt) Filme drehte (in Wirklichkeit sind es wohl 13 oder 14), meist in Schwarzweiß auf 16mm, wie auch ICE CREAM. Ausgangspunkt war ein erotisches Gedicht, das Padrós selbst geschrieben hatte, und wie unschwer zu erkennen ist, geht es in diesem Film nicht wirklich um eine kalte Süßspeise, sondern um Oralsex. Wenn man Spanisch (oder ist das Katalanisch?) kann bzw. die auf der DVD (siehe unten) vorhandenen englischen Untertitel liest, wird das noch deutlicher, aber es ist auch so schon offensichtlich genug. Rosa Morata spielte in allen Filmen von Padrós Hauptrollen, und in einem Text wird sie als "seine persönliche Diva" bezeichnet. Später verlegte sie sich auf konventionellere Rollen, meist im Fernsehen. Padrós' Filme scheinen in Deutschland selten bis nie gelaufen zu sein, dem Lexikon des internationalen Films ist nur SHIRLEY TEMPLE STORY von 1976 bekannt. - Andy Warhol war mit BLOW JOB von 1963 sieben Jahre früher dran als Padrós, man sollte aber nicht vergessen, dass 1970 das Fossil Franco noch für weitere fünf Jahre am Leben und an der Macht war, und dass die katholische Kirche damals in Spanien über großen Einfluss verfügte. Ein Film wie ICE CREAM dürfte damals durchaus gewagt gewesen sein, und das Label "Undergroundfilm", das oft etwas leichtfertig vergeben wird, ist hier sicher passend.



A MAL GAM A
Spanien 1976
Regie: Iván Zulueta
Darsteller: Iván Zulueta (als "Jim Self")



Der Rest des Films: Teil 2, Teil 3, Teil 4. Leider wird Teil 2 in Deutschland von der GEMA blockiert, wer ihn dennoch sehen will, muss also einen passenden Proxy benutzen. Wer meint, dass ihm eine gute halbe Stunde bei einem solchen Film zu lang ist, der sollte wenigstens die furiosen letzten drei Minuten ansehen, die mit dem Beatles'schen A Day in the Life unterlegt sind.

Der aus dem baskischen San Sebastian stammende Iván Zulueta (1943-2009) lebte Anfang der 60er Jahre kurze Zeit in New York, wo er Pop (damals in Spanien weitgehend abwesend) und Underground kennenlernte, was seinen weiteren künstlerischen Weg prägte. Der auf Super 8 gedrehte A MAL GAM A ist eine Art Selbstportrait: Der junge Mann mit Bart und Wuschelhaar ist Zulueta selbst, gedreht wurde hauptsächlich in Zuluetas Elternhaus in San Sebastian und in seiner Madrider Wohnung, und zwar mit einem Minimum an personellem Aufwand, weil Zulueta den Arbeitsmodus von Malern, ganz auf sich allein gestellt ein Kunstwerk zu erschaffen, auch im eigentlich auf Teamarbeit basierenden Film realisieren wollte. 1981 hat er dazu folgendes geschrieben:
"Ich stelle mir vor, dass alle Filmemacher gelegentlich die Maler, Zeichner, Grafiker beneiden, die nicht mehr als sich selbst (abgesehen von einigen Werkzeugen natürlich) für ihre Arbeit benötigen. [...] A MAL GAM A ist, mehr als irgendetwas sonst, ein Versuch, Kino so wie jemand zu machen, der ein Portrait malt und sich entscheidet, das ohne ein Modell zu tun [...] Der Maler würde einen Spiegel vor sich aufstellen, und man würde das ein Selbstbildnis nennen, und es wäre mehr oder weniger masturbatorisch. Der Filmemacher, in diesem Fall ich, denkt sich Einstellungen mit fixierter Kamera aus, kauft sich einen langen Auslöse-Draht, setzt das Vakuum ins Bild und taucht dann selbst in diesen unsichtbar gerahmten Raum ein, im Vertrauen darauf, dass er nicht den Focus oder den Bildausschnitt verliert [...] Ein guter Wichs (Verzeihung!), in dem, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, mein Bruder aushelfen musste (jemand musste drehen, wenn sich Jim Self bewegte), für die Momente, wenn die Kamera nicht fixiert werden konnte [...]
Mit seiner vage autobiografischen Ausrichtung und den Assoziationsketten erinnert mich A MAL GAM A etwas an Stan Brakhage, während die Handhabung des Soundtracks und die Integration von Fremdmaterial (teilweise vom laufenden Fernseher abgefilmt) vielleicht an Kenneth Anger denken lässt. Möglicherweise sind solche Vergleiche mit angelsächsischen Regisseuren nicht sehr sinnvoll, aber das ist für mich eben vertrauteres Terrain. Zuluetas opus magnum, der wüste und selbstreflexive ARREBATO von 1980 (Zuluetas alter ego in diesem Film, diesmal nicht von ihm selbst gespielt, ist ein Regisseur im Spannungsfeld von Sex, Drogen und (experimentellem) Film), war gleichzeitig Höhe- und (fast) Endpunkt seiner Karriere. Durch seine langjährige Heroinabhängigkeit und Finanzierungsprobleme konnte er keine weiteren Filme mehr drehen, abgesehen von zwei Folgen zweier Fernsehserien. Die Heroinsucht beeinträchtigte nicht nur sein Berufs-, sondern auch sein Sozialleben schwer: In den 90er Jahren hat er laut eigener Aussage die Familienvilla in San Sebastian acht Jahre lang nicht verlassen. Zulueta war nicht nur Regisseur, sondern auch Grafiker, und er gestaltete viele Poster und Filmplakate, darunter auch aus der Frühphase von Pedro Almodóvar. Wer mehr über Zulueta wissen will, dem sei dieser Artikel auf Senses of Cinema empfohlen.



DER MILCHSHORF: LA COSTRA LÁCTEA (alternativ auch nur LA COSTRA LÁCTEA)
Spanien 2002
Regie: Velasco Broca



César Velasco Broca (geb. 1978), wie Zulueta aus dem Baskenland stammend, drehte DER MILCHSHORF [sic!] in und um Laredo in der nordspanischen Küstenregion Kantabrien, und es geht um eine Invasion Außerirdischer in ebendieser Gegend. Zusammen mit dem zuvor entstandenen (aber anscheinend erst 2004 herausgekommenen) KINKY HOODOO VOODOO und AVANT PÉTALOS GRILLADOS von 2006 bildet er die Trilogie ECHO DER BUCHRÜCKEN (deutsch im Original). Er beruht auf einem Text eines Elier Ansgar Wilpert, der auch an anderen Broca-Filmen beteiligt war (in KINKY HOODOO VOODOO spielt er einen Außerirdischen). LA COSTRA LÁCTEA gewann diverse Festivalpreise im In- und Ausland und machte Broca zu einem Shooting Star des spanischen Experimentalfilms. Der kanadische Filmkritiker Todd Brown hat die Trilogie als "eine Mischung der Arbeiten von Ed Wood und Guy Maddin" bezeichnet, mir würde vielleicht noch SINS OF THE FLESHAPOIDS von den Kuchar-Brüdern einfallen. Kurios ist die (behauptete) Entstehungsgeschichte von LA COSTRA LÁCTEA. Im Presseheft des Films heißt es folgendermaßen:
Der kurze Film ist das Resultat eines Auftrags einer feministischen Vereinigung, deren Intention es war, ein Video zur Sexualerziehung von Heranwachsenden zu produzieren. Nach einer großen Zahl an Sitzungen mit den Direktorinnen der Vereinigung schaffte es Velasco Broca, sie von folgendem zu überzeugen: Das Betrachten des kurzen Films würde Jugendliche in eine Art von hypnotischer Trance versetzen, die sie viel aufnahmefähiger für die sexuellen Informationen machen würde, die die Lehrer(innen) übermitteln wollten. Unglücklicherweise konnte das nie demonstriert werden, weil der Film nie in einer schulischen Umgebung lief.
Das klingt so hanebüchen, dass ich mich frage, ob Broca hier nicht die Presse auf den Arm nehmen wollte. Wie dem auch sein mag - weniger spektakulär ist die Information aus dem Presseheft, dass der auf 16mm gedrehte Film ungefähr 6600 Euro gekostet hat.



Die vorgestellten drei Filme sind zusammen mit ca. 25 weiteren in einer spanischen 2-DVD-Box mit dem Titel "Del Éxtasis Al Arrebato" (was ungefähr "Von der Extase zur Verzückung" bedeutet) erschienen. Menüs und Booklet sind zweisprachig (Spanisch/Englisch), und die Filme haben engl. Untertitel, wo nötig. Die Box beruht auf einem gleichnamigen Filmprogramm, das 2009-2011 durch diverse Länder tourte, um den spanischen Experimentalfilm der Obskurität zu entreissen. Ungefähr die Hälfte der enthaltenen Filme entstand bis 1975, die andere Hälfte danach, und man staunt, was zu Francos Lebzeiten schon alles gemacht wurde. Geografische Schwerpunkte liegen auf Katalonien und dem Baskenland, aber andere spanische Regionen sind auch vertreten. Ich hätte gern noch ein oder zwei weitere Filme daraus vorgestellt, etwa den ziemlich grandiosen MISERERE (1979) von Antoni Miralda und Benet Rossell, der das Kunststück zuwegebringt, Allegorien mit Stilmitteln des Cinéma vérité zu vereinen, und der damit zu einer Verhöhnung des Militarismus gelangt, oder SÚPER 8 (1997) von David Domingo, eine wilde Collage auf (man ahnt es schon) Super 8 in der Tradition von Zulueta (auf die Frage, wer ihn beeinflusste, antwortete Domingo in einem Interview "die Kuchar-Brüder, Kenneth Anger, Martha Colburn, und natürlich Zulueta") - aber die habe ich alle nicht online gefunden. - Es gibt auch eine Box mit 4 DVDs, die (vermutlich alle) Filme von Antoni Padrós enthält, ebenfalls zweisprachig in Spanisch/Englisch. Sehr lobenswert, das alles! - Zwei Meister, die ebenfalls auf "Del Éxtasis Al Arrebato" vertreten sind, nämlich José Val del Omar und José Antonio Sistiaga, habe ich hier absichtlich weggelassen, denn ich werde ihnen eigene Artikel spendieren.

Freitag, 1. November 2013

Der Untergang eines Hauses, Furien in New York und ein Frettchen als Gott

Drei kurze Horror-Extravaganzen aus dem älteren amerikanischen Independent- und Avantgardesektor

THE FALL OF THE HOUSE OF USHER
USA 1928
Regie: J.S. Watson, Jr. und Melville Webber
Darsteller: Herbert Stern (Roderick Usher), Hildegarde Watson (Madeline Usher), Melville Webber (der Besucher)



THE FALL OF THE HOUSE OF USHER ist eine von gleich zwei ungewöhnlichen Verfilmungen von Edgar Allan Poes bekannter Erzählung, die 1928 erschienen (die andere ist LA CHUTE DE LA MAISON USHER von Jean Epstein). Während Epstein den Stoff in einer guten Stunde ausbreitet, ist die Handlung bei Watson und Webber fast bis zur Abstraktion reduziert und stilisiert, eine gewisse Grundkenntnis der Geschichte wird also beim Zuschauer vorausgesetzt. Dr. James Sibley Watson, Jr. (1894-1982) und Melville Folsom Webber (1896-1947) studierten gleichzeitig (1913-16 bzw. 1917) in Harvard, aber sie lernten sich erst kennen, als sie sich 1926 in Watsons Heimatstadt Rochester im Staat New York über den Weg liefen. Watson entstammte einer alteingesessenen Familie in Rochester, und er war der Erbe eines üppigen Vermögens, das sich aus der Telegraphen- und Finanzdienstleistungsfirma Western Union speiste. Er studierte Medizin, aber praktizierte nicht als Arzt (und hatte das wohl auch von vornherein nicht vor). 1919, während er noch in New York sein Medizinstudium abschloss, kaufte er zusammen mit einem anderen gut betuchten Harvard-Absolventen das damals schon altehrwürdige Literaturmagazin The Dial, das Ralph Waldo Emerson mit einigen Mitstreitern 1840 gegründet hatte, und er fungierte bis zur Einstellung des Magazins 1929 als Verleger und schrieb gelegentlich auch Beiträge darin. Webber war Kunsthistoriker und Archäologe, und er betätigte sich auch als Maler und Poet. Nach seinem freiwilligen Wehrdienst im 1. Weltkrieg verbrachte er mit Hilfe eines Stipendiums einige Zeit in Frankreich und Italien, wo er mittelalterliche Fresken studierte. Neben dem unübersehbaren Einfluss des deutschen Expressionismus gibt es noch eine weniger offensichtliche Quelle für die Bildsprache von USHER (und LOT IN SODOM), nämlich die Fresken von Tavant in Frankreich, die Webber untersucht und über die er 1925 eine Abhandlung veröffentlicht hatte. Als er Watson traf, war Webber Assistenzprofessor für Kunstgeschichte an der Universität Rochester und Mitarbeiter eines dortigen Kunstmuseums. Watson begann sich Mitte der 20er Jahre für Film zu interessieren, und er kaufte sich eine professionelle 35mm-Studiokamera. Zunächst drehte er in Zusammenarbeit mit einem Chirurgen einige medizinische Lehrfilme von Operationen, dann machte Webber 1926 den Vorschlag, gemeinsam Poes Text zu verfilmen. Aufgrund der anderweitigen Verpflichtungen von Watson und Webber dauerte die Arbeit an THE FALL OF THE HOUSE OF USHER fast zwei Jahre. Als improvisiertes Studio diente ein leerstehender Stall. Zwischenzeitlich nahm Watson 1927 an einer ethnologischen Expedition zu Indianern an der kanadischen Westküste teil, um einen Film darüber zu drehen. In einem Brief von 1973, in dem er seine Filme rekapitulierte, beschrieb Watson die Arbeitsteilung zwischen ihm und Webber folgendermaßen: "Camera: Watson; Scenario, costumes, and backgrounds: Webber. Direction, mainly Webber, but occasionally Watson." Darstellerin Hildegarde L. Watson war J.S. Watsons erste Frau, Herbert Stern ein befreundeter Architekt. THE FALL OF THE HOUSE OF USHER wurde als Stummfilm gedreht, erst in den 50er Jahren schrieb der mit Watson befreundete Komponist Alec Wilder, der ebenfalls aus Rochester stammte, einen Soundtrack, zu dem sich in den letzten Jahren weitere gesellten (wie der oben verwendete - den von Wilder habe ich online nicht gefunden).

In den USA gab es schon in den 20er und 30er Jahren eine sehr rege Amateurfilmbewegung mit Organisationen wie der Amateur Cinema League und dem New York City Amateur Motion Picture Club und Zeitschriften wie Amateur Movie Makers bzw. (ab 1929) Movie Makers, und in diesen Kreisen wurde THE FALL OF THE HOUSE OF USHER als herausragende Errungenschft gewürdigt. Watson schrieb einige Artikel über die Entstehung des Films, darunter einen mit dem unbescheidenen Titel The Amateur Takes Leadership, in dem er sich bewusst von Hollywood absetzt, während Webber durch die Lande reiste und die Vorführung des Films bei Wettbewerben, Festivals etc. beförderte. 1930 inszenierte Watson nach einem Script von Alec Wilder TOMATOS ANOTHER DAY, eine schräge Persiflage auf die Gestelztheit der Dialoge in manchen frühen Tonfilmen, und um 1930 herum drehte Watson dann auch einige Industriefilme, einen davon gemeinsam mit Webber. Von 1930 bis 1932 arbeiteten die beiden an ihrem zweiten Hauptwerk LOT IN SODOM, einer Interpretation der biblischen Geschichte von Sodom und Gomorrha. Watson fertigte in den 40er und 50er Jahren in Zusammenarbeit mit der Universität von Rochester zu medizinischen Lehrzwecken Röntgenfilme am lebenden Objekt, die viele Jahre lang im Einsatz waren, ansonsten ließ er die Filmerei sein und widmete sich literarischen, philanthropischen und sonstigen Interessen. Webber beteiligte sich 1934 noch an einem abstrakten Film von Mary Ellen Bute und Ted Nemeth. Schon Ende der 20er Jahre hatten sich bei ihm psychische Probleme gezeigt, und in den 30er Jahren ging es mit seiner geistigen Gesundheit bergab. Irgendwann zwischen 1937 und 1940 erlitt er einen schweren Nervenzusammenbruch, von dem er sich nicht mehr erholte. Die Jahre von 1940 bis zu seinem Tod 1947 verbrachte er in einer Heilanstalt. Watson berichtete später, dass er Webber dort mehrmals besuchte, aber von ihm nicht mehr erkannt wurde.



THE FURIES (inoffizieller Titel)
USA 1934
Regie: Slavko Vorkapich



Der aus Serbien stammende Slavko Vorkapich (eigentlich Slavoljub Vorkapić, 1894-1976) ging 1920 in die USA und fand bald Arbeit in Hollywood. 1928 drehte er mit dem aus Frankreich emigrierten Robert Florey und mit den beiden Kameramännern Paul Ivano und Gregg Toland den sarkastischen THE LIFE AND DEATH OF 9413, A HOLLYWOOD EXTRA, ebenso wie THE FALL OF THE HOUSE OF USHER ein herausragendes Beispiel des Independentfilms jener Jahre. Nach diesem Werk, das angeblich genau 97 Dollar gekostet hat, drehte er allein oder in Zusammenarbeit mit einem John Hoffman weitere avantgardistische Kurzfilme, und später betätigte er sich als Theoretiker und Lehrer in Filmklassen an kalifornischen und jugoslawischen Hochschulen. Am bekanntesten (innerhalb der Filmindustrie - beim breiten Publikum kannte ihn niemand) wurde er jedoch als Großmeister der Montagezunft. Bei alten Hollywoodfilmen wurden zur gerafften Überbrückung längerer Zeiträume sowie für Vorspänne, Trailer etc. oft Montagesequenzen eingesetzt, in denen mit schnellen Schnittfolgen, mehrfachen Überblendungen, Prismeneffekten, eingeblendeten Zeitungsschlagzeilen usw. ohne Dialoge gearbeitet wurde. Diese Sequenzen wurden üblicherweise nicht von den Regisseuren der Filme inszeniert, sondern von spezialisierten Montageabteilungen, die es bei allen größeren Studios gab. Nur selten gelang diesen Spezialisten der Schritt in die erste Reihe - das bekannteste Beispiel war sicher Don Siegel, der in den 30er und frühen 40er Jahren der Leiter der Montageabteilung bei Warner Brothers war. Und Vorkapich war nun, wie schon angedeutet, zu seiner Zeit der unbestrittene Meister dieses Metiers - so sehr, dass "Vorkapich" zeitweise als Synonym für solche Montagesequenzen benutzt wurde. Bei den Sequenzen, die er für rund 25 Filme von Paramount, RKO und MGM anfertigte, besaß er große kreative Freiheit, doch wurden die Szenen, die dann tatsächlich in den Film eingefügt wurden, von den Studios oft noch erheblich zusammengestutzt. Aber zum Glück bewahrte Vorkapich Kopien seiner eigenen Versionen in seinem Privatarchiv auf. Die knapp drei Minuten Film, die heute unter dem Titel THE FURIES firmieren, entstanden 1934 als Teil des Vorspanns von CRIME WITHOUT PASSION, den Ben Hecht und Charles MacArthur (sowie ungenannt der Kameramann Lee Garmes) für Paramount inszenierten.



SREDNI VASHTAR BY SAKI
USA 1940/1959
Regie: David Bradley
Darsteller: Reny Kidd (Conradin), Mrs. Herbert Hyde (Mrs. de Ropp), Lester Luther (Dr. Luther), Lucielle Powell (Matilda), David Bradley (Sprecher)



"Saki" war der pen name des schottischen Journalisten und Schriftstellers Hector Hugh Munro (1870-1916), und die böse Moritat vom kränklichen Conradin, seiner verhassten erwachsenen Cousine Mrs. de Ropp und dem zum Gott erhobenen Frettchen "Sredni Vashtar" erschien 1911 in der Kurzgeschichtensammlung The Chronicles of Clovis. Bradleys gesprochener Text hält sich weitgehend, aber nicht vollständig, an die Vorlage - hier kann man Sakis kompletten Text anhören und gleichzeitig mitlesen. David Shedd Bradley (1920-1997) aus Illinois drehte schon als Jugendlicher seit Mitte der 30er Jahre diverse Amateurfilme. Die Darsteller in SREDNI VASHTAR BY SAKI kamen von der Theater-Abteilung des Art Institute of Chicago, wo Bradley damals ein Jahr verbrachte. Reny Kidd hatte zuvor schon in Bradleys MARLEY'S GHOST (1939) und OLIVER TWIST (1940) mitgespielt. Zunächst als Stummfilm gedreht, ging Bradley erst 1959 an die Vertonung von SREDNI VASHTAR, wobei er alle Rollen selbst sprach, was einen eigentümlichen Reiz besitzt, auch wenn es nicht immer wirklich überzeugend klingt. Wenn die IMDb Recht hat, dann war Bradleys Film die erste Umsetzung von Sakis Geschichte, der dann im Lauf der Jahre noch etliche weitere folgten.

Bradleys nächstes Projekt war noch deutlich ambitionierter: Eine Verfilmung in Spielfilmlänge von Henrik Ibsens "Peer Gynt", zur gleichnamigen Musik von Edvard Grieg, wieder mit Amateur- und semiprofessionellen Schauspielern. Die Titelrolle spielte ein 17-jähriger Jüngling namens Charlton Heston. Nach seinem Wehrdienst und nach Abschluss seines Studiums an der Northwestern University in Evanston bei Chicago drehte Bradley 1950 JULIUS CAESAR nach dem Stück von Shakespeare, und Heston, jetzt in seiner zweiten Filmrolle, war auch wieder dabei. Sowohl für Bradley als auch für Heston war JULIUS CAESAR die Eintrittskarte für Hollywood, allerdings hatte letzterer dort ungleich mehr Erfolg. Bradley bekam einen Vertrag bei MGM, konnte dort aber nur einen Film mit dem Titel TALK ABOUT A STRANGER realisieren. Danach folgten noch drei Low-Budget-Filme für kleinere Studios. Der letzte davon, THE MADMEN OF MANDORAS von 1963, wurde Jahre später ohne Bradleys Zutun durch neu gedrehte Szenen ergänzt und dadurch zum Trash-Klassiker THEY SAVED HITLER'S BRAIN ausgebaut. Bradley war ein begeisterter Sammler von seltenen und obskuren Filmen. Neben und nach seiner Laufbahn als Regisseur hielt er Filmvorlesungen in Los Angeles und Santa Monica. Auch wenn er damit sein Auskommen fand, muss man ihn wohl als vergeudetes Talent bezeichnen.


Alle drei hier vorgestellten Filme gibt es auch auf DVDs, teilweise auf mehreren. Insbesondere sind alle im 7-DVD-Set "Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941" enthalten (ebenso wie LOT IN SODOM, TOMATOS ANOTHER DAY, THE LIFE AND DEATH OF 9413, weitere Vorkapich-Montagen und ein Ausschnitt aus PEER GYNT) - für Liebhaber des amerikanischen Independent- und Avantgardefilms eine unverzichtbare Box, auch wenn beileibe nicht alles darauf wirklich als Avantgarde zu bezeichnen ist.