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Mittwoch, 23. Juli 2014

Ein Werwolf in der Pampa

NAZARENO CRUZ Y EL LOBO (NAZARENO CRUZ AND THE WOLF)
Argentinien 1975
Regie: Leonardo Favio
Darsteller: Juan José Camero (Nazareno Cruz), Marina Magali (Griselda), Alfredo Alcón (Teufel), Lautaro Murúa (Sebastian), Nora Cullen (Lechiguana), Juanita Lara (Fidelia), Elcira Olivera Garcés (Damiana), Yolanda Mayorani (Patentante des Teufels)


Während ein heftiges Gewitter tobt, stößt die alte Lechiguana, eine Art wohlwollende Hexe oder Schamanin, eine schreckliche Warnung aus: Jeremías, der schon sechs Söhne hat, müsse unbedingt eine erneute Schwangerschaft seiner Frau Damiana verhindern. Denn falls das siebte Kind auch wieder ein Sohn ist, wird er bei Vollmond unweigerlich zum Werwolf. Der Ausdruck, den sie für "Werwolf" benutzt, ist nicht hombre lobo oder licántropo, was man im europäischen Spanisch erwarten würde (der stilbildende THE WOLF MAN mit Lon Chaney Jr. von 1941 heißt auf Spanisch EL HOMBRE LOBO), sondern lobizón - die argentinische Schreibweise eines Wesens aus der Mythologie der indigenen Sprach- und Kulturgruppe Guaraní, das aus der Verschmelzung eines einheimischen Fabelwesens mit europäischen Werwolfmotiven hervorgegangen ist. So weist der Film schon nach wenigen Sekunden darauf hin, dass hier nicht einfach der Werwolfstoff mit seinen üblichen Zutaten (die zu einem beträchtlichen Teil gar nicht der europäischen Mythologie entstammen, sondern von Curt Siodmak, dem Drehbuchautor von THE WOLF MAN, erfunden wurden) von Hollywood nach Argentinien verpflanzt wurde, sondern dass auf einheimische volkstümliche Sagenstoffe zurückgegriffen wird. Weitere solche spezifisch argentinischen Elemente werden folgen.

Lechiguana (rechts unten ihr gar nicht toter Mann)
Lechiguanas Warnung verhallt ohne Wirkung - Damiana ist bereits schwanger. So hofft jeder, dass das Kind ein Mädchen wird, doch natürlich wird es ein Junge. Um das Schlimmste abzuwenden, wird Lechiguana die Patentante des Jungen, und er erhält besonders "heilige" Vornamen - Nazareno und Cruz (Nazarener = Synonym für Jesus, Cruz = Kreuz). Nazareno Cruz wird seinen Vater und seine sechs Brüder nie kennenlernen - beim Versuch, eine Rinderherde durch einen Fluss zu treiben, ertrinken alle noch vor Nazarenos Geburt in den Fluten. Zunächst scheint alles gutzugehen - Nazareno wächst ohne besondere Vorkommnisse zu einem allseits beliebten jungen Mann heran. Doch der Fluch seiner Geburt ist nicht aufgehoben - er tritt aber erst in Kraft, sobald sich Nazareno zum ersten Mal verliebt. Die Prophezeiung von einst ist in der Gemeinschaft nicht vergessen, aber Nazareno selbst weiß am wenigsten davon. Wenn in seiner Gegenwart Anspielungen oder Witze über Wölfe gemacht werden, weiß er nicht, was er damit anfangen soll.

Nazareno und Griselda, als für sie die Welt noch in Ordnung ist
Eines Tages trifft er bei einem Fest die schöne blonde Griselda. Bei beiden ist es Liebe auf den ersten Blick - und damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Schon bei ihrem ersten Tanz werden sie von einem Fremden in nobler Gaucho-Kleidung düster angestarrt. Und kurz darauf - am Tag vor Vollmond - begegnet Nazareno dem Fremden scheinbar zufällig auf freiem Feld. Dieser eröffnet Nazareno, dass seine Verwandlung in einen Werwolf unmittelbar bevorsteht. Nazareno lacht darüber, doch der Fremde macht klar, dass er es ernst meint. Und er macht ein Angebot: Wenn Nazareno der Liebe für immer abschwört, wird er seinem Schicksal entkommen, und als Bonus verspricht ihm der Fremde unermessliche Reichtümer. Doch Nazareno entscheidet sich für seine Liebe. Als Zuschauer hat man längst begriffen, dass der Fremde nur der Teufel persönlich sein kann, aber der etwas schlichte Nazareno braucht deutlich länger, bis er darauf kommt. Hier zeigt sich ein weiteres einheimisches Element: Der Teufel wird mandinga genannt, eine in Argentinien und Chile verbreitete Bezeichnung für den Teufel in Menschengestalt, der sich so unerkannt unter die Menschen mischen kann, um seine bösen Werke leichter zu verrichten. Doch wie sich im weiteren Verlauf des Films zeigt, ist dieser Teufel gar nicht so böse - mehr darüber gleich.

Der Teufel und seine Patentante
Die Vollmondnacht bricht an, und es kommt, wie es kommen muss. Nazareno in der Gestalt eines Wolfs nähert sich einer Schafherde. Vielleicht hätte er nur ein paar Schafe gerissen und die Hirtenhunde getötet, doch ein Schäfer stellt sich ihm in den Weg und muss dran glauben. Weil die alte Prophezeiung noch präsent ist, ist der Schuldige von vornherein bekannt, und so macht sich ein Mob auf die Suche nach Nazareno, um ihn zu töten. Die Führung übernimmt ausgerechnet Griseldas Vater Sebastian (in IMDb und Wikipedia wird er aus unerfindlichen Gründen Julián genannt, er heißt aber wirklich Sebastian). Sowohl Damiana als auch Griselda versuchen vergeblich, ihn zurückzuhalten. Es kommt zu einer nächtlichen Treibjagd, doch die scheitert zunächst, weil Kugeln aus Blei verwendet werden, und ein Werwolf nur mit solchen aus Silber verwundet werden kann (eine von Siodmaks Erfindungen, die hier übernommen wurde).

Sebastian und Damiana
Als Nazareno, wieder in Menschengestalt, am nächsten Morgen irgendwo in der Pampa aufwacht, springt ihn ein Huhn frontal an, wodurch er rücklings in ein Erdloch stürzt, das sich zu einer Höhle und dann zu einer labyrinthischen Unterwelt weitet. Das Huhn verwandelt sich in eine Greisin: die Patentante des Teufels - eine ähnliche Figur wie "des Teufels Großmutter" in einigen europäischen Märchen, und eine ebenso schrille Erscheinung wie Lechiguana. In schneller Folge nimmt sie verschiedene Tiergestalten an, und Nazareno weiß nicht, wie ihm geschieht. Der Ort ist eine Art Vorhölle, in der Anhänger des Teufels und solche, die es werden wollen, ausgebildet und geprüft werden. Der Name für solche Orte ist salamanca - vielleicht nach der spanischen Stadt, an deren alter Universität der Teufel persönlich Vorlesungen gehalten haben soll (andere Version hier). Mandinga selbst tritt auf und führt Nazareno durch dieses unterirdische Reich, das wirkt wie von Hieronymus Bosch erdacht. Mit seiner Patentante spricht der Teufel in Quechua (eine im Andenraum weit verbreitete Sprachfamilie).

In der Unterwelt
In dieser Unterwelt kommen sich die beiden unterschiedlichen Protagonisten auf unerwartete Weise näher. Schon bei einer früheren Begegnung hatte Nazarenos Frage, wie es ist, einen Sohn zu haben, den Teufel etwas aus der Fassung gebracht. Nun greift er selbst das Thema wieder auf: Er konnte die Frage nicht beantworten, weil er keinen Sohn haben kann, weil er aber auch selbst nie Sohn gewesen ist. Er wurde von "ihm" (gemeint ist Gott) sozusagen durch Willensakt in die Welt gesetzt, um seine Aufgabe als Unheilsbringer zu erfüllen, und es wird deutlich, dass Mandinga unter dieser einsamen Position leidet. Wie er Nazareno jetzt erklärt, war das Angebot, die Liebe gegen Reichtum einzutauschen, eine Prüfung, die Nazareno glänzend bestanden hat. Zwar sei sein baldiger Tod unausweichlich, aber dann werde er nicht in der Hölle, sondern bei "ihm" landen. Und dann äußert der Teufel eine erstaunliche Bitte: Weil er selbst nie zu "ihm" vordringen kann, soll Nazareno dort ein gutes Wort für ihn einlegen. Ähnlich wie Fritz Langs "müder Tod" ist er nämlich des Unheils und der Boshaftigkeit überdrüssig. Er sehnt sich nach Erlösung, um auf die "gute Seite" zu wechseln. Mandinga erweist sich hier als unerwartet komplexer und tragischer Charakter, der Nazareno jetzt auf Augenhöhe gegenübersteht.

Feuer ...
Mit Nazareno wieder in die Oberwelt entlassen, strebt die Geschichte ihrem Ende entgegen. Inzwischen wurden Kugeln aus Silber gegossen, und in der nächsten Nacht kommt es wieder zur Treibjagd. Nazareno hält sich versteckt, und Griselda ist bei ihm, aber man spürt sie auf. Sowohl Griselda, die sich schützend vor ihn stellt, als auch Nazareno werden von den Kugeln getroffen, und am Ende liegen beide im Gras und sehen aus wie Adam und Eva, schlafend im Paradies. Und Mandingas Stimme ruft Nazareno hinterher, er solle nicht vergessen, für ihn zu sprechen.

... und Wasser
NAZARENO CRUZ Y EL LOBO weicht nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch von den meisten Werwolffilmen ab. Während Leonardo Favio bei CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO Abstand von Sentimentalität und Dramatik hielt, drückt er hier ganz im Gegenteil voll auf die Tube. Vor allem die beiden nächtlichen Treibjagden sind ganz große Oper. Auch in musikalischer Hinsicht: Hier kommt Verdis "Rigoletto" zum Einsatz. Wirklich aus dem Rahmen fällt das aber nicht - im Gegensatz zu einigen ausgedehnten gemeinsamen Szenen von Nazareno und Griselda. Bei ihrer ersten Begegnung und ihrem ersten Tanz werden sie stark stilisiert in Szene gesetzt: Extreme Großaufnahmen, teilweise in Zeitlupe mit im Wind wehenden Haaren, und Überlagerung mit den Flammen eines Feuers durch Mehrfachbelichtung. Musikalisch unterlegt ist das mit dem Instrumental (präziser: Chor-Vokalise) "Soleado" des italienischen Daniel Sentacruz Ensemble, veröffentlicht 1974. Der ungemein populäre Titel zog viele Coverversionen nach sich, beispielsweise "Tränen lügen nicht" von Michael Holm (mit der Parodie "Dänen lügen nicht" von Otto Waalkes) und als Weihnachtslied "When a Child Is Born" (u.a. Johnny Mathis, Bing Crosby, Boney M). Direkt im Anschluss daran wird "Soleado" gleich nochmal gespielt, und Nazareno und Griselda lieben sich dazu an und in einem Fluss, einschließlich Unterwasser-Aufnahme. In einer weiteren Szene liegen die beiden wild knutschend in einem flachen Flussbett, untermalt von einem Instrumental, das immerhin nicht ganz so dick aufträgt wie "Soleado" - aber immer noch dick genug (da dieses Stück im Gegensatz zu "Rigoletto" und "Soleado" nicht im Vorspann erwähnt wird, dürfte es sich um eine Eigenkomposition von Favios Tonsetzer Juan José García Caffi handeln). Ganz am Schluss, als Nazareno mit Griselda in den Armen getroffen niedersinkt, kommt "Soleado" noch einmal zum Einsatz (und auch hier beginnt die Kamera zu delirieren). Diese Sequenzen und insbesondere die fast schon exzessive Verwendung des Schmachtfetzens "Soleado" entwickeln einen gewissen Kitsch- und Sleaze-Faktor, der an italienische Genrefilme der 60er und 70er Jahre denken lässt.

Ein gewisser Sleaze-Faktor
Ein weiteres auffälliges Merkmal von NAZARENO CRUZ Y EL LOBO sind Tiere, die immer wieder ohne offensichtlichen Bezug zur Handlung in Großaufnahme gezeigt werden. Hier eine Kröte, da eine Eidechse, dort eine Schlange, dazu die Geräuschkulisse der Pampa mit zirpenden Grillen etc. Und immer wieder in Zeitlupe aufstiebende Vögel. Aber sind es wirklich nur Tiere, die da zu sehen sind? Es könnten auch des Teufels Patentante oder der Teufel selbst sein ... Es wurde bisweilen vorgebracht, NAZARENO CRUZ Y EL LOBO sei stilistisch uneinheitlich, insbesondere die erwähnten Szenen mit Nazareno und Griselda würden nicht zum sehr schön und solide gefilmten Rest des Films passen. Ich sehe das aber nicht so. Wenn man von diesem Film so etwas wie Realität erwartet (in dem Sinn, dass der Horror aus dem Einbruch des Irrealen in die Realität erwächst), dann wirken diese Szenen in der Tat befremdlich. Doch an NAZARENO CRUZ Y EL LOBO ist eigentlich von vornherein nichts real - obwohl (oder gerade weil) ein Erzähler aus dem Off am Anfang behauptet, dies sei die "wahrste Geschichte der Welt", die der Teufel dem Großvater des Erzählers und dieser ihm selbst erzählt habe, und die er nun uns, den Zuschauern, erzählen wird. Das alles ist von Anfang an ein irreales Trugbild, eine Phantasmagorie. Das zeigt sich etwa an Lechiguana und den Personen in ihrem Umfeld. In ihrer bizarren Behausung (eine Art Wohnhöhle) liegt ihr Mann seit 40 Jahren im Bett und ist drapiert wie ein aufgebahrter Toter, obwohl ihm eigentlich nichts fehlt (wie sie zumindest behauptet). Noch rätselhafter ist Lechiguanas Enkelin Fidelia. Als Lechiguana am Anfang ihre Warnung ausstößt, sagt Fidelia dazu einen morbiden Kinderreim auf, der als Omen für das kommende Unheil dienen kann. Und dann, rund 20 Jahre nach dem Prolog, sagt sie den Reim immer noch auf, und sie ist nicht älter (oder zumindest nicht größer) geworden. Eine vollkommen mysteriöse Figur. Das alles wirkt wie ein Fiebertraumgebilde, und da passen stilistische Exzesse bestens hinein. Puristische Horrorfans mögen das aber anders sehen und die eine oder andere Szene nicht goutieren.

Fidelia
Das Drehbuch zu NAZARENO CRUZ Y EL LOBO schrieben Favio und sein Bruder Zuhair Jury nach der Vorlage eines Radio-Hörspiels von einem Juan Carlos Chiappe. Als der Film 1975 herauskam, brach er alle Kassenrekorde für einheimische Filme, und er ist mit 3,4 Mio. Zusehern immer noch der erfolgreichste argentinische Film aller bisherigen Zeiten (Favios Gaucho-Drama JUAN MOREIRA liegt mit 2,4 Mio. auch noch gut im Rennen). Er gewann auch drei Preise bei einem Festival in Panama, war in Moskau im Wettbewerb und wurde als argentinischer Beitrag zum Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert (allerdings nicht für die Endrunde akzeptiert). - Nora González Pozzi, Gründerin und Leiterin des Estudio de Comedias Musicales in der argentinischen Großstadt Rosario sowie Präsidentin der Fundación Rosario Arte & Cultura, schrieb vor einigen Jahren eine Musical-Version von NAZARENO CRUZ Y EL LOBO, die erfolgreich im dortigen Teatro El Círculo aufgeführt wurde (hier die offizielle Website). Als besonderer Clou wurde Film-Nazareno Juan José Camero für das Ensemble verpflichtet. - NAZARENO CRUZ Y EL LOBO ist auf einer argentinischen DVD ohne fremdsprachige Untertitel erschienen. Englische Untertitel gibt es auf einschlägigen Websites zum Download.

Große Oper und das Ende

Donnerstag, 17. Juli 2014

Argentinische Chronik einer Kindheit

CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO (engl. CHRONICLE OF A BOY ALONE, auch CHRONICLE OF A LONELY CHILD)
Argentininen 1965
Regie: Leonardo Favio
Darsteller: Diego Puente (Polín), Victoriano Moreira (Fiori), Leonardo Favio (Fabián), Beto Gianola (Polizist), Tino Pascali (Justizbeamter)

Polín mit alter und neuer Frisur
Der elfjährige Celedón Rosas, von allen nur "Polín" genannt, ist Insasse eines Erziehungsheims für Jungen irgendwo im Großraum Buenos Aires. Der Ort gleicht mehr einer Kadettenanstalt als einer Schule, die Erwachsenen sind eher Wärter als Erzieher, etwa der knochentrockene Fiori, der mit den Jungen hauptsächlich per Trillerpfeife kommuniziert. Polín und die anderen träumen von Flucht, untereinander herrscht teilweise Solidarität, teilweise Rivalität - so kommt es zu einer Prügelei zwischen dem für sein Alter schon ziemlich abgebrühten Polín und einem anderen Jungen um die soziale Hackordnung, ohne große Begeisterung von beiden, aber die Spielregeln lassen keinen Rückzieher zu. Dummerweise werden sie von Fiori überrascht, was demütigende Strafmaßnahmen nach sich zieht. Als Fiori eines Tages wieder einmal Polín aus geringfügigem Anlass schlägt, kann sich dieser nicht mehr beherrschen und schlägt zurück. Das hätte er besser nicht getan, denn jetzt landet er zunächst auf dem Polizeirevier und dann in einer Arrestzelle. Doch mit Hilfe seines Gürtels und einer akrobatischen Einlage gelingt ihm die Flucht.

Im Heim
Zu Fuß und mit dem Bus macht sich Polín auf den Weg nach Hause, in eine Slumsiedlung (in Argentinien villa miseria genannt) in den Außenbezirken von Buenos Aires. Im Bus zeigt sich, wie abgebrüht Polín schon ist: Er klaut einem anderen Fahrgast ein Geldbündel aus der Tasche, und es ist offensichtlich, dass er das nicht zum ersten Mal macht. Zuhause nehmen Políns Eltern seine unerwartete Rückkehr mit gelinder Überraschung und wenig Begeisterung zur Kenntnis. Weil ein Nachbar auf etwas unklare Weise zu Tode gestürzt ist, herrscht in der Siedlung gerade erhöhte Polizeipräsenz, was Polín nervös macht. Deshalb macht er sich mit einem befreundeten Jungen erst mal davon, um einige Stunden beim Baden an einem nahen Fluss zu verbringen. Doch auch dort herrscht bald dicke Luft: Drei andere Jungen machen sich über Políns fast kahl geschorenen Schädel, den er im Gefängnis erhalten hat, lustig, und sie vergreifen sich an seinem Freund, mit dem sie noch eine Rechnung offen haben, während Polín aus sicherer Entfernung tatenlos zusehen muss. Zurück in der Siedlung, begegnet Polín dem jungen Zuhälter Fabián (von Favio selbst gespielt). Der will seine Kutsche, die von einer alten Schindmähre gezogen wird, demnächst gegen einen Ford eintauschen, deshalb macht er Polín das Angebot, ihm den Gaul zu verkaufen. Im Grunde ein illusorischer Vorschlag, aber Polín gerät darüber ins Träumen. Nach Einbruch der Dunkelheit schleicht sich Polín zu Fabiáns schäbigem Slum-Puff und beobachtet das Treiben der Schlange stehenden Freier, dann schnappt er sich das Pferd und macht damit einen nächtlichen Spaziergang. Doch er läuft geradewegs einem Polizisten in die Arme, der aufgrund Políns Gefängnisfrisur den Braten riecht und ihn mitnimmt. Políns Freiheit hat gerade mal einen Tag gedauert.

Fiori mit seinem bevorzugten Kommunikationsmittel
Leonardo Favios erster Spielfilm über ein Kind an der fließenden Grenze zwischen Rebellion und Kriminalität muss sich hinter Klassikern des Genres wie Buñuels LOS OLVIDADOS nicht verstecken - im Gegenteil, er ist selbst ein Klassiker des argentinischen Films. Favio hält sich von Sentimentalität und übertriebener Dramatik fern und betätigt sich als nüchterner Chronist der Zustände - das CRÓNICA im Titel hat durchaus seine Berechtigung. Neben Dialogpassagen gibt es immer wieder längere wortlose Sequenzen, teilweise als ausgetüftelte Plansequenzen gestaltet. Musik wird sehr sparsam eingesetzt, nur drei oder vier Passagen sind mit klassischer Musik unterlegt. Diese Szenen haben mich etwas an Bresson erinnert, speziell an EIN ZUM TODE VERURTEILTER IST ENTFLOHEN. Die eine oder andere Anleihe bei der Nouvelle Vague gibt es auch, und im Gestus steht der Film auch dem Neorealismus nicht fern, vor allem die zweite Hälfte in der villa miseria. Man kann gelegentlich lesen, CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO sei nicht nur eine Anklage gegen die Zustände in den staatlichen Besserungsanstalten und Waisenhäusern, sondern auch gegen das "faschistische Regime" in Argentinien im Allgemeinen. Allerdings war von 1963 bis 1966 eine zivile Regierung unter einem demokratisch gewählten Präsidenten an der Macht - im Argentinien der 50er und 60er Jahre nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Und der Präsident wurde denn auch 1966 durch einen Militärputsch gestürzt, und es regierten wieder Generäle. Dieses Regime war zwar weit weniger schlimm als die Militärjunta, die nach dem Putsch von 1976 Zehntausende foltern und ermorden ließ, aber alles andere als liberal war es dennoch. CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO gewann Preise auf den Festivals von Mar del Plata in Argentinien und Acapulco in Mexiko, und er erhielt den argentinischen Filmpreis Cóndor de Plata (Silberner Kondor) für den besten Film - und dann wurde er verboten. Das Verbot überdauerte auch die Wiederherstellung der Demokratie in den 80er Jahren. Erst 1996, nach drei Jahrzehnten, wurde CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO wieder aus dem Giftschrank geholt. Und noch heute ist er in Argentinien erst ab 18 freigegeben (was vielleicht daran liegt, dass Polín und zwei der anderen Jungen bei der langen Sequenz am Fluss keine Badehosen tragen).

In der Zelle
Leonardo Favio (1938-2012), als Fuad Jorge Jury in der argentinischen Provinz Mendoza geboren, entstammte einer Familie syrisch-libanesischer Herkunft. Favio hatte eine schwierige Kindheit und Jugend - er wuchs in einem Armenviertel auf, der Vater verließ die Familie früh, die Mutter strampelte sich ab, um die Kinder durchzubringen, und der halbwüchsige Leonardo kam mit dem Gesetz in Konflikt und sah auch das Gefängnis von innen. CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO trägt also autobiografische Züge - das Drehbuch schrieb Favio gemeinsam mit seinem Bruder Jorge Zuhair Jury, der regelmäßig als Co-Autor für Favio arbeitete und auch selbst einige Filme inszenierte. Nach Verirrungen als Priesterseminarist und bei der Marine wurde Favio als junger Mann schließlich Schauspieler und fand damit seinen Weg. Von 1957 bis 1971 spielte Favio in gut 20 Filmen, insbesondere in sechs Filmen von Leopoldo Torre Nilsson, der ihn förderte, und mit dem sich Favio befreundete. In einer Texttafel am Anfang von CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO widmet Favio den Film seinem Mentor Torre Nilsson. Seine frühen Auftritte, etwa in Torre Nilssons EL SECUESTRADOR und LA MANO EN LA TRAMPA verschafften dem gutaussehenden Favio den Ruf eines argentinischen James Dean. Doch bald zog es ihn auch hinter die Kamera. Nach zwei Kurzfilmen, einer davon unvollendet, war CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO wie erwähnt Favios erster Spielfilm, dem bis 2008 sieben weitere folgen sollten. Und seit den 60er Jahren verfolgte Favio noch eine dritte Karriere, nämlich als Sänger und Songschreiber von Balladen, mit denen er nicht nur in Argentinien, sondern auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ungemein populär war.

Villa miseria
Favio war ein langjähriger und prominenter Anhänger von Juan Perón und seiner Politik. Als Perón 1972 von Spanien zu einem kurzen Besuch nach Argentinien flog, um das mögliche Ende seines Exils zu erkunden, war Favio auf Peróns Einladung mit an Bord der Maschine, und als es bei Peróns offizieller Rückkehr aus dem Exil 1973 beim Flughafen von Buenos Aires zum "Massaker von Ezeiza" (ein Anschlag des rechten Flügels der Peronisten auf den linken Flügel) kam, befand sich Favio mitten im Getümmel und versuchte vergeblich, die Schießerei zu beenden. 1975 drehte er mit NAZARENO CRUZ Y EL LOBO seinen kommerziell erfolgreichsten Film, 1976 folgte noch ein Film (in dem Argentiniens tragischer Box-Heroe Carlos Monzón eine Hauptrolle spielt), aber dann war Favios Regiekarriere schon fast vorbei. Als die peronistische Regierung unter Isabel Perón (Juan Perón war mittlerweile verstorben) 1976 vom Militär gestürzt wurde und der "schmutzige Krieg" gegen Oppositionelle (und solche, die man dafür hielt) begann, ging Favio ins Exil, das er größtenteils in Kolumbien verbrachte, und das für ihn bis 1987 dauerte. Filme drehte er in den Jahren des Exils nicht, aber seine Musikkarriere konnte er mit Plattenveröffentlichungen und ausgedehnten Tourneen durch halb Lateinamerika nahtlos fortsetzen.

Auszeit am Fluss
Nach seiner Rückkehr inszenierte er 1993 und 2008 noch zwei Spielfilme, wobei er insbesondere mit seinem letzten Film ANICETO (ein Remake seines zweiten Spielfilms EL ROMANCE DEL ANICETO Y LA FRANCISCA von 1967) wieder an alte Erfolge anknüpfen konnte. Dazwischen hatte er 1999 die fast sechsstündige Dokumentation PERÓN, SINFONÍA DEL SENTIMIENTO über sein politisches Idol (und damit über ein paar Jahrzehnte argentinischer Geschichte) veröffentlicht, die, wie nicht anders zu erwarten, von Anhängern und Gegnern des Peronismus sehr unterschiedlich beurteilt wurde. In den letzten 15 oder 20 Jahren von Favios Leben hatte bereits seine Kanonisierung eingesetzt. 1998 ließ das argentinische Magazin Tres Puntos in einer Umfrage unter 100 Filmschaffenden den besten argentinischen Regisseur und die besten fünf argentinischen Filme aller Zeiten ermitteln, und dabei landeten Favio und seine erste ANICETO-Version jeweils auf dem ersten Platz, und als zwei Jahre später das Museo Nacional de Cine Argentino in einer weiteren Umfrage unter 100 Kritikern und Filmhistorikern nach den 100 besten argentinischen Tonfilmen suchte, kam CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO mit mehr als 75% der Stimmen auf den ersten Platz. Neben weiteren Ehrungen wurde Favio 2010 von der Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner zum Kulturbotschafter des Landes ernannt.

Leonardo Favio als Zuhälter mit nicht standesgemäßem Fortbewegungsmittel
CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO ist in Argentinien auf einer DVD mit englischen Untertiteln erschienen. - Mehr von Leonardo Favio demnächst in diesem Theater: Ein Werwolf in der Pampa.