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Sonntag, 6. Mai 2018

MIQUETTE - Henri-Georges Clouzot auf Abwegen

MIQUETTE ET SA MÈRE
Frankreich 1950
Regie: Henri-Georges Clouzot
Darsteller: Danièle Delorme (Miquette Grandier), Louis Jouvet (Monchablon), Saturnin Fabre (Marquis Aldebert de la Tour Mirande), Bourvil (Graf Urbain de la Tour Mirande), Mireille Perrey (Hermine Grandier), Pauline Carton (Perrine), Henri Niel (Prosper Lahirel), Madeleine Suffel (Noémie), Maurice Schutz (Larborissière), Raymond Dandy (Panouillard), Jean Témerson (de Saint-Giron)

"Le Cid" von Monchablon und Corneille
Henri-Georges Clouzot, ein Regisseur, dem profunde Humorlosigkeit nachgesagt wurde (was er selbst freimütig bestätigte), drehte im Herbst 1949 eine Komödie - die einzige seiner Laufbahn. MIQUETTE ET SA MÈRE, was "Miquette und ihre Mutter" bedeutet (es gibt aber keinen offiziellen deutschen Titel), hatte bei der Kritik ebenso wie beim Publikum wenig Erfolg, geriet ein wenig in Vergessenheit und gilt heute als einer der schwächsten Filme von Clouzot. Angesichts vorhergehender (LE CORBEAU, QUAI DES ORFÈVRES) und nachfolgender Großtaten (LE SALAIRE DE LA PEUR, LES DIABOLIQUES) könnte man MIQUETTE ET SA MÈRE tatsächlich als Durchhänger bezeichnen. Aber das würde ihm nicht gerecht, denn so schlecht ist der Film gar nicht.

Miquette und ihre Mutter im Theater
Es handelt sich um die Verfilmung eines schwankhaften Theaterstücks von Flers & Caillavet. Marie Joseph Louis Camille Robert de Pellevé de La Motte-Ango, marquis de Flers, und Mathurin Cyprien Auguste Gaston Arman de Caillavet, oder etwas griffiger Robert de Flers (1872-1927) und Gaston Arman de Caillavet (1870-1915), schrieben manchmal einzeln, aber oft gemeinsam Theaterkomödien, Opern- und Operettenlibretti. Ihr "Miquette et sa mère" erschien 1906, und es war anscheinend recht erfolgreich, denn Clouzots Version war schon die dritte Verfilmung. MIQUETTE ET SA MÈRE (1934) wurde von gleich drei Regisseuren inszeniert (wie es zu diesem Triumvirat kam, weiß ich nicht). Aus der Besetzung stechen zwei Namen hervor - Michel Simon spielt Monchablon (hier wäre der direkte Vergleich mit Jouvet interessant), und Roland Toutain (der Flieger André Jurieux in Renoirs LA RÈGLE DU JEU) gibt den Urbain. Auch MIQUETTE (1940) von Jean Boyer kann mit einem prominenten Namen aufwarten: Lilian Harvey spielt in ihrem letzten Film die Titelrolle.

Monchablon taucht im Tabakladen auf
Die Handlung spielt um 1900 herum in Frankreich, nacheinander an drei verschiedenen Orten, und entsprechend kann man den Film in drei Akte einteilen, wenn man mag. Es beginnt in einer Kleinstadt irgendwo in der Provinz. Dort gastiert gerade eine drittklassige reisende Schauspieltruppe, die geleitet wird von dem pompös-genialischen Schauspieler Monchablon, der auch abseits der Bühne theatralische Auftritte liebt und mit pathetischer Stimme großspuriges Zeug schwurbelt. Man spielt gerade "Le Cid" von Monchablon und Corneille. Nun ja, eigentlich "Le Cid" von Corneille, aber Monchablon hat das Stück "modernisiert", um auch seinen eigenen Namen als Autor daruntersetzen zu können - so macht er das öfters. Unter den Zuschauern sind die junge Miquette Grandier und ihre verwitwete Mutter Hermine, die zusammen einen Tabakladen in der Stadt betreiben. Miquette ist begeistert von dem Stück, von der Welt der Schauspielerei im Allgemeinen und von Monchablon (der zufällig im Tabakladen auftaucht) im Besonderen, dagegen ist Hermine etwas indigniert wegen unmoralischer Tendenzen, die sie in dem Stück ausgemacht hat. Miquette hat einen heimlichen Verehrer, den schüchternen und schusseligen Grafen Urbain de la Tour Mirande. Auch Miquette schwärmt für ihn, doch vorerst wissen beide nichts davon, dass ihre Liebe erwidert wird. Dieser Urbain, man muss es sagen, er ist schon ein ziemlicher Depp. Gewiss, er ist schüchern und nervös in der Gegenwart von Miquette, aber eben auch doof. Einmal steht er triefnass im prasselnden Regen, und als Miquette dazukommt, sagt er, dass er seinen Schirm vergessen habe - dabei hängt er zusammengeklappt an seinem Arm. Man mag sich fragen, was Miquette eigentlich an ihm findet, aber es ist halt ein Schwank, und da stellt man solche Fragen besser nicht.

Urbain klitschnass im Regen
Schließlich schaffen es die beiden doch noch auf recht umständliche Art, sich ihre Liebe zu erklären, und wollen heiraten. Doch da haben sie die Rechnung ohne Urbains Onkel gemacht, dem Marquis Aldebert de la Tour Mirande, auf dessen Schloss auch Urbain wohnt. Der durchsetzungsstarke alte Herr hat gerade die Ehe seines Neffen mit einer wenig ansehnlichen, aber reichen Dame arrangiert, und das Weichei Urbain lässt sich erst mal widerstandslos überfahren. Miquette fühlt sich nun von ihm hintergangen und will sich rächen, indem sie nach Paris geht und Schauspielerin wird. Klingt etwas dämlich, aber wir erinnern uns: Wir sind in einem Schwank. Auf jeden Fall spielt sie dem Marquis in die Karten, denn der verfolgt zur Abrundung seiner Pläne einen doppelten Zweck: Der alte Bock und Schürzenjäger hat nun selbst ein Auge auf Miquette geworfen. Deshalb bietet er ihr an, sie nach Paris in seine Stadtvilla mitzunehmen und ihr Kontakte zur Theaterwelt zu vermitteln. Gleichzeitig würde sie damit endgültig außer Reichweite für Urbain sein. Und Miquette geht tatsächlich darauf ein. Sie packt hastig ihre Koffer, schreibt nur einen Brief für ihre Mutter, in dem sie die Lage erklärt, und verduftet mit dem Marquis.

Urbain weint vor Liebesglück, doch das währt vorerst nicht lange
Zweiter Akt, ein paar Tage später. Es sind nun alle in Paris versammelt: Monchablon und seine Theatertruppe, Miquette und der Marquis, und schließlich auch noch Hermine, die ihrer Tochter sofort hinterhergefahren ist, um sie dem Sündenpfuhl Paris zu entreißen und sie in ihr braves Leben zurückzuholen. Miquette wird als Elevin in Monchablons Truppe aufgenommen, und als Hermine in der Stadtvilla auftaucht, um dem Hausherrn die Leviten zu lesen und Miquette zu "retten", wird sie vom Marquis in kürzester Zeit "umgedreht", entdeckt ihre lang verschüttete flamboyante Ader - und heuert stante pede ebenfalls als Schauspielerin bei Monchablon an. "Glaubwürdig" geht anders, aber wiederum gilt: In einem Schwank fragt man nicht danach. Die Pläne des Marquis gehen aber nicht ganz auf: Miquette verweigert "Aldebert" (wie er sich von ihr gerne nennen lassen möchte) das erhoffte Techtelmechtel und hält ihn auf Distanz. Und Urbain entwickelt ungeahnte Willensstärke und taucht ebenfalls in der Villa auf. Allerdings verhält er sich dabei so ungestüm und ungeschickt, dass der Graben zwischen ihm und Miquette eher noch größer wird.

Der Marquis macht sich an Miquette heran - oben im Laden, unten in Paris
Dritter Akt, ein halbes Jahr später. Miquette und Hermine sind Teil von Monchablons Truppe, und der Marquis ist sozusagen als Miquettes Privatbegleiter (aber immer noch nicht als ihr Liebhaber) mit von der Partie. Man ist wieder auf Tournee, in irgendeiner Kleinstadt im südlichen Frankreich, und gibt auf einer Freiluftbühne ein historisches Stück um die Belagerung von La Rochelle durch die Truppen Kardinal Richelieus. Dabei kommt es nun zu sich steigernden Turbulenzen, und die Geschehnisse auf und hinter der Bühne beginnen sich zu vermengen. Der schon etwas tattrige Larborissière, ältestes Mitglied der Schauspieltruppe und momentan Darsteller von Kardinal Richelieu, vermisst seinen (anzuklebenden) Ziegenbart, der nun mal zwingend zu Richelieu gehört. Hermine kommt zu spät zur Aufführung und gesteht zerknirscht den Grund: Sie war im Spielcasino und hat die gesamten bisherigen Tourneeeinnahmen, 40.000 Francs, verzockt. Und Urbain taucht auch wieder mal auf. Mal will er es wieder mit Miquette versuchen, aber sie will nicht, mal ist es umgekehrt. Aber nach allerhand Konfusion auf und hinter der Bühne fügt sich schließlich alles so, wie man es erwartet: Der Marquis lässt von Miquette ab und erobert nun schnell und ohne Probleme deren Mutter (womit auch die Frage von Hermines Schulden geklärt ist), und Miquette und Urbain finden endlich zueinander. Die Vorstellung (auf der Bühne ebenso wie im Film) ist zu Ende, alle verbeugen sich vor dem Publikum. Vorher hatte der Film noch in einer kleinen Wendung eine selbstbezügliche Meta-Ebene erklommen: Die jungen Theaterautoren Robert de Flers und Gaston Arman de Caillavet aus Paris tauchen auf, um die begabte Miquette für ihr Theater zu engagieren (was im Vergleich zu Monchablons chaotischer Truppe ein Karrieresprung für sie wäre). Miquette lehnt ab, weil sie ja jetzt auf den Hafen der Ehe zusteuert, aber als Ausgleich wollen die beiden Autoren ihre Geschichte zu einem Theaterstück mit dem Titel "Miquette et sa mère" verarbeiten.

Schauspieler. Links oben Monchablon und Noémie, rechts oben Lily und Larborissière,
links unten de Saint-Giron, rechts unten in der Mitte Panouillard
Über Clouzots Leben und Werk habe ich in meinem Artikel über LE CORBEAU ausführlich berichtet. Wenn man glaubt, was zu lesen ist, dann wollte Clouzot MIQUETTE ET SA MÈRE gar nicht machen, war aber vertraglich dazu verpflichtet. In Anbetracht seiner schon erwähnten Humorlosigkeit ist der Film dann gar nicht schlecht gelungen. Zwar hat er schon einige Längen (die Dauer beträgt 102 Minuten), und Urbains Doofheit am Anfang ist schon ziemlich klamottig und könnte einem sogar auf die Nerven gehen. Aber der Film nimmt dann doch Fahrt auf, vor allem im letzten Drittel, wo Clouzots Regie Drive und Witz entfaltet. Auch vorher schon gibt es nette Regieeinfälle. Gelegentlich gibt es Zwischentitel wie in einem Stummfilm, oder einer der Darsteller durchbricht die "vierte Wand" und spricht einen Kommentar direkt in die Kamera. Wie schon in LE CORBEAU, genehmigt sich Clouzot im ersten Teil ein paar böse Kommentare zum französischen Kleinstadtleben, etwa darüber, wie schnell sich Gerüchte ausbreiten. Aber hier fehlt dann doch der Zynismus des früheren Films, letztlich ist alles ins Versöhnliche gewendet. Vor allem erweist sich der Marquis, der in einem Drama eine sehr negative Figur hätte sein können, hier letztlich als ein Sympathieträger, auch wenn es am Anfang nicht so aussah.

Urbain entwickelt Initiative und taucht in Paris auf
Clouzot, der immer viel Wert auf Schauspielerführung legte, konnte sich hier auf ausgezeichnete Darsteller stützen. Wie ich erst neulich schrieb, war Louis Jouvet eigentlich immer grandios, und das bestätigte er auch hier. Es war eine maßgeschneiderte Rolle: Der großspurige Monchablon, der sich nur einmal eingesteht, dass er eigentlich ein Schmierenkomödiant ist, bietet Jouvet viel Raum zur Entfaltung. Aber auch der Marquis bot eine dankbare Rolle, und der knorrige Saturnin Fabre spielt ihn mit Schalk im Nacken und wendet den durchaus fragwürdigen Charakter ins Positive. Bourvil als romantischer Liebhaber, noch dazu aus der Aristokratie, das ist erst mal gewöhnungsbedürftig, wenn man seine spätere Karriere kennt, wo er eher auf bäuerliche Typen abonniert war (auch wenn er mal einen harten Kommissar bei Melville oder eine James-Bond-Parodie spielen durfte). Aber er gibt den liebenswürdigen und etwas trotteligen Urbain durchaus überzeugend. Und Danièle Delorme schließlich spielt die Titelheldin lebhaft und sympathisch. Sie hatte kurz zuvor in GIGI (1949) ihren Durchbruch geschafft, einer Verfilmung der Novelle von Colette, die auch dem Musical mit Leslie Caron zugrunde liegt. In ihrer langen Karriere spielte sie in so unterschiedlichen Werken wie Jean Isidore Isous radikalem Avantgardefilm TRAITÉ DE BAVE ET D'ÉTERNITÉ (1951), in der Sartre-Verfilmung HUIS-CLOS (1954), in CASA RICORDI (1954), in VOICI LE TEMPS DES ASSASSINS... (DER ENGEL, DER EIN TEUFEL WAR, 1956) von Julien Duvivier an der Seite von Jean Gabin, in LES MISÉRABLES (1958) mit Gabin und Bernard Blier, im sehr bösen LA SEPTIÈME JURÉ (DER SIEBTE GESCHWORENE, 1962) von Georges Lautner, in LE VOYOU (1970) von Claude Lelouch an der Seite von Jean-Louis Trintignant, und in UN ÉLÉPHANT ÇA TROMPE ÉNORMÉMENT (EIN ELEFANT IRRT SICH GEWALTIG, 1976) von Yves Robert. Mit Letzterem war Danièle Delorme seit 1956 bis zu Roberts Tod 2002 verheiratet. Sie spielte auch in einigen weiteren Filmen von Robert, und gemeinsam mit ihm produzierte sie auch Filme anderer Regisseure. Sie starb 2015 kurz nach ihrem 89. Geburtstag.

Hochdramatisches vor La Rochelle
Nachdem MIQUETTE ET SA MÈRE auch in Frankreich für längere Zeit der relativen Obskurität anheimgefallen war, wurde er 2017 restauriert und als Blu-ray/DVD-Combo mit englischen Untertiteln veröffentlicht.

Freitag, 20. April 2018

MISTER FLOW - Robert Siodmak übt schon mal für Hollywood

MISTER FLOW
Frankreich 1936
Regie: Robert Siodmak
Darsteller: Fernand Gravey (Antonin Rose), Edwige Feuillère (Lady Helena Scarlett), Louis Jouvet (Achille Durin alias Mr. Flow), Vladimir Sokoloff (Merlow), Jean Périer (Sir Philipp Scarlett), Tsugundo Maki (Tsugundo Maki)

Maître Rose im seriösen Brille-und-Bart-Modus
Hitzewelle in Paris. Alles schwitzt und ächzt, auch der junge und erfolglose Rechtsanwalt Antonin Rose. Im letzten Jahr hat er gerade mal 875 Francs verdient, und jetzt ist er nicht nur verschwitzt, sondern auch pleite. Nicht einmal der Bart, den er sich wachsen ließ, um seriöser zu wirken, konnte daran etwas ändern. Da erscheint die vermeintliche Rettung in Person des hüftsteifen und undurchsichtigen Monsieur Merlow, der einen etwas seltsamen Auftrag für Maître Rose hat: Ein gewisser Achille Durin, Kammerdiener bei Sir Archibald Scarlett, Baronet, und dessen Frau Lady Helena, wurde dabei ertappt, eine wertvolle Krawattennadel aus dem Besitz des Baronets zu stehlen, und sitzt nun im Gefängnis. Merlow bittet nun Antonin im Auftrag des Baronets, Durin zu verteidigen und ihn unverzüglich im Gefängnis aufzusuchen. Der Baronet habe den irregeleiteten Durin im ersten Zorn angezeigt, was er aber nun bedaure, weil Durin eine zweite Chance verdient habe. Antonin nimmt den Auftrag sogleich an, und die 2000 Francs Vorschuss, die er an Ort und Stelle von Merlow ausgehändigt bekommt, heben seine Stimmung beträchtlich.

Der undurchsichtige Monsieur Merlow
Antonin begibt sich also in die Zelle zu Achille Durin. Dieser erweist sich als ein öliger, sich windender Zeitgenosse, der weinerlich eine recht hanebüchene Geschichte erzählt, und man weiß sofort, dass man einen Schmierenkomödianten vor sich hat. Wohlgemerkt, nicht der wie immer grandiose Louis Jouvet ist der Schmierenkomödiant, sondern Durin, und Jouvet spielt das mit Perfektion. Achille Durins Geschichte geht so: Er, Durin, war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung gerade dabei, einen sehr delikaten Auftrag Lady Helenas zu erfüllen. Er sollte bis spätestens übermorgen einen Koffer und einen verschlossenen Umschlag aus einer bestimmten Wohnung in Paris holen. Sollte der Auftrag nicht erfüllt werden, würde ein Skandal drohen, wohl wegen einer Affäre von Lady Helena. Sir Archibald würde vor Schreck und Gram wohl tot umfallen, Lady Helena sähe sich zum Selbstmord genötigt, und er, Durin, müsste sich dann auch umbringen. Rein zufällig hat er die Schlüssel zur fraglichen Wohnung bei sich, und so bleibt Antonin, der die Räuberpistole glaubt, nichts anderes übrig, als die Schlüssel zu übernehmen und den Auftrag selbst auszuführen. Und damit bringt er sich richtig in die Bredouille.

Achille Durin ...
Denn Durin ist der weltweit gesuchte Einbrecherkönig "Mister Flow", Lady Helena seine Geliebte und Komplizin, die sich vor Monaten an den Baronet herangemacht und ihn geheiratet hat, um den alten Geldsack auszunehmen, und Merlow ist der dritte Komplize im Bunde. Durch das Missgeschick seiner Verhaftung muss Mr. Flow jetzt etwas improvisieren. Er hat dafür gesorgt, dass es nach Antonins Besuch der konspirativen Wohnung eine genaue Beschreibung von ihm gibt und er von der Polizei für Mr. Flow gehalten wird. Auf diese Art zum Sündenbock aufgebaut, bleibt Antonin nur übrig, Mr. Flows Anweisungen zu befolgen. Mit weiteren 4000 Francs aus Merlows Kasse versehen, mit abrasiertem Bart, um nicht erkannt zu werden, und mit dem Koffer (der Mr. Flows Einbruchswerkzeuge enthält) und dem Umschlag macht er sich auf zu Lady Helena in ein Hotel nach Deauville, einem mondänen Badeort in der Normandie, um Koffer und Umschlag zu überbringen. Auf Mr. Flows Anweisung nennt er sich in Deauville "Mr. Prim".

... windet sich ...
All das passierte in den ersten 18 Minuten. Nun also Szenenwechsel nach Deauville, wo der überwiegende Rest des Films spielt. Und Auftritt von Edwige Feuillère als Lady Helena, die nun im Mittelteil den Film dominiert, während der in Paris einsitzende Mr. Flow etwas in den Hintergrund tritt. Als Zuschauer weiß man, dass sie zur Bande gehört, weil Merlow zwischen ihr und Mr. Flow pendelt und Botschaften überbringt, doch Antonin hat vorerst keine Ahnung von ihrer Rolle, und so kann sie ihn ziemlich an der Nase herumführen. Er soll weiterhin, nun als Mr. Prim (eine der Rollen, die früher Mr. Flow selbst in Maske und Verkleidung ausgefüllt hatte), als potentieller Sündenbock dienen. Und Antonin fällt zunächst auf alle ihre Possen herein und verliebt sich obendrein in sie. Das gehörte auch zum Plan, denn Helena spielt ihm gegenüber auch die Verliebte. Nachdem sie mit Antonin zum Schein in eine Villa eingebrochen ist (die in Wirklichkeit ihre eigene ist), geht sie allein im Hotel auf echten Raubzug, erleichtert die anderen gut betuchten Gäste um ihre Wertsachen und hinterlässt dabei frech Visitenkarten von Mr. Flow. Doch Antonin kommt ihr nun endlich auf die Schliche und will nicht mehr das Opferlamm spielen. Und es kommt, wie es kommen musste: Helena hat sich inzwischen tatsächlich in ihn verliebt. Doch Mr. Flow, von Merlow auf dem Laufenden gehalten, beginnt Verdacht zu schöpfen ...

... und bricht in Tränen aus
Nach einigen weiteren Verwicklungen in Deauville, denen hier nicht weiter nachgegangen werden soll, kommt es im Schlussteil des Films, nun wieder in Paris, zum Prozess gegen Mr. Flow. Der ist nun wieder ganz der weinerliche und sich windende Achille Durin. Der Prozess nimmt eine jähe Wendung, als ein Zeuge auftaucht, der sich sozusagen selbst vorgeladen hat: Der aus London angereiste Sir Philipp Scarlett, der Bruder des Baronet Sir Archibald (der mittlerweile praktischerweise verstorben ist, so dass Helena frei für Antonin ist). Sir Philipp hat seiner Schwägerin und dem Hausdiener Achílle Durin (der seinerzeit von einem gewissen Mr. Prim empfohlen wurde) immer misstraut, und er ließ Helena durch den angeblich (aber nicht wirklich) taubstummen japanischen Diener Maki ausspionieren, freilich ohne Erfolg, weil Helena Maki frühzeitig ertappte und "umdrehte". Dennoch glaubt Philipp nun, vor Gericht beweisen zu können, dass Achille Durin Mr. Flow ist. Doch Antonin gelingt es, ihn lächerlich und unglaubwürdig zu machen. Trotzdem sitzt Antonin in der Zwickmühle. Wenn er Durin freibekommt, wird er als Mr. Flow sofort seinen Anspruch auf Helena erneuern, und Antonin wird keine Chance gegen den ausgebufften Profiverbrecher haben. Aber wenn er ihn in die Pfanne haut, so dass er im Gefängnis versauert, dann wäre das nicht nur gegen seine Berufsehre als Anwalt, sondern dann würde Mr. Flow auspacken und ihn selbst und Helena hinter Gitter bringen. Doch auch Mr. Flow hat viel zu verlieren, und so handelt der entschlossene Antonin mitten im Gerichtssaal einen Kompromiss mit seinem Klienten aus. Und einmal mehr zieht der Schmierenkomödiant Achille Durin eine ganz große Show ab ...

Mr. Flow zeigt sein wahres Gesicht - gar nicht weinerlich
Robert Siodmak gehörte bekanntlich zu der illustren Schar von Regisseuren und Drehbuchautoren, die Anfang 1930 mit dem gemeinsam hergestellten MENSCHEN AM SONNTAG debütierten, und bis 1933 arbeitete er weiterhin in Deutschland. In den 40er Jahren war der jüdische Emigrant mit Filmen wie PHANTOM LADY, THE DARK MIRROR, THE KILLERS, THE SPIRAL STAIRCASE oder CRISS CROSS einer der führenden Vertreter des Film Noir. Von der Neuen Sachlichkeit zum Film Noir, das ist ein weiter Weg. Doch da lagen ja nicht nur rund 15 Jahre dazwischen, sondern auch ein ungefähr sieben Jahre dauernder Aufenthalt in Frankreich. Zwischen 1933 und 1939 inszenierte Siodmak in Frankreich sieben Spielfilme (oder acht, wenn man die englische Fassung von LA VIE PARISIENNE getrennt zählt), und bei drei weiteren war er Co-Regisseur. Er war also in diesen Jahren nicht schlecht ausgelastet. Zu den deutschen und österreichischen (meist jüdischen) Emigranten in Paris, zu denen Siodmak damals in Kontakt stand, zählte auch sein Cousin Seymour Nebenza(h)l, der auch drei seiner französischen Filme produzierte (allerdings nicht MISTER FLOW). Seymour und dessen Vater Heinrich Nebenzahl waren auch schon die Produzenten von MENSCHEN AM SONNTAG.

Lady Helena ...
Siodmaks französische Filme sind hierzulande wenig bekannt, und die meisten sind auch schlecht zugänglich. Das galt bis vor einiger Zeit auch für MISTER FLOW, aber das hat sich erfreulicherweise geändert. Tatsächlich galt der Film sogar lange als verschollen, aber dann tauchte in der Cinémathèque suisse eine Kopie auf. MISTER FLOW lässt sich als Krimikomödie charakterisieren. Er ist aber kein Schenkelklopfer und auch keine völlig überdrehte Farce wie etwa DRÔLE DE DRAME, in dem Louis Jouvet ebenfalls brilliert. Es gibt durchaus dunkle Untertöne in der Handlung, und auch in der Kameraarbeit zeigt sich gelegentlich das Wechselspiel von Licht und Schatten - ein Film Noir ist MISTER FLOW freilich noch lange nicht. Als Meisterwerk sollte man ihn auch nicht bezeichnen. Es gibt doch ein paar kleinere Längen, und an die Logik der Geschichte sollte man natürlich keine strengen Maßstäbe ansetzen. Aber insgesamt ist Mr. Flow über seine eineinhalb Stunden hinweg doch ein recht unterhaltsamer Film. Das liegt vor allem an den Darstellern. Fernand Gravey als der unbedarfte Maître Rose macht seine Sache sehr gut, muss aber gelegentlich aufpassen, von der fulminanten, sehr spielfreudigen Edwige Feuillère nicht überrollt zu werden. Die Attraktion ist aber wieder mal Louis Jouvet, der alle Register ziehen darf. Ich kenne keinen Film mit ihm, in dem er mich nicht begeistert hätte. Aber auch Vladimir Sokoloff als der sinistre Merlow ist ohne viel Aufwand ausgezeichnet.

... bringt "Mr. Prim" unter ihre Kontrolle
Das Drehbuch von MISTER FLOW schrieb Henri Jeanson nach einer Vorlage von Gaston Leroux (1868-1927), dem Autor von "Das Phantom der Oper". Ähnlich wie Marcel Allain und Pierre Souvestre, die Schöpfer von Fantômas, war Leroux ein sehr produktiver Pulp-Autor, dessen Romane meist zunächst in Fortsetzungen in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen. "Mister Flow" erschien 1927, es war also offenbar eines seiner letzten Werke. - Vor dem Prozess am Schluss werden auf einer Tafel die bereits abgehakten und die noch ausstehenden Verhandlungen des Tages aufgeführt, wobei jeweils die beiden Prozessgegner genannt werden, und dabei erlaubt sich Siodmak einige Scherze, die ich hier als Abschluss aufzählen will. Da gibt es neben der Verhandlung Scarlett gegen Durin noch folgende Paarungen:

- LE BON gegen (Marc oder Yves) ALLEGRE(t)
Roger Le Bon war ein französischer Regisseur, der in den 30er Jahren bei einigen UFA-Filmen, die in einer deutschen und einer französischen Fassung entstanden, die franz. Version inszenierte (und bei zweien davon spielte Edwige Feuillère die Hauptrolle). Gut möglich, dass Siodmak ihn schon aus Deutschland persönlich kannte (auch von drei oder vier von Siodmaks UFA-Filmen gab es franz. Fassungen). Auf jeden Fall war Le Bon einer der beiden Produktionsleiter bei MISTER FLOW.

Ein Koffer mit Einbruchswerkzeug
- (Marcel) ACHARD gegen (Maurice) CHEVALI(er)
In dem von Marcel Achard inszenierten L'HOMME DES FOLIES BERGÈRE spielte Chevalier die Hauptrolle, und in Lubitschs THE MERRY WIDOW, ebenfalls mit Chevalier in der Hauptrolle, war Achard am Drehbuch beteiligt. Achard ist auch mit Marc Allégret verbunden, für den er etliche Drehbücher schrieb. - 1939 spielte Chevalier auch unter Siodmak eine Hauptrolle, nämlich in PIÈGES (ja, auf den ersten drei Seiten geht es um PHANTOM LADY, aber man sollte den gesamten Artikel im Zusammenhang lesen).

Licht und Schatten wie in einem Film Noir ...
- MISTINGUETT gegen SHIRLEY T(emple)

- BOROTRA gegen VON KRAM - gemeint sind der französische "Tennis-Musketier" Jean Borotra und der deutsche "Tennis-Baron" Gottfried von Cramm

... aber nur sporadisch
- (Ewald André) DUPONT gegen PRUNIER
Bei "Prunier" bin ich nicht sicher, wer oder was das sein soll. Es gibt in Paris ein Restaurant mit diesem Namen in der Avenue Victor Hugo, in dem in den frühen 30er Jahren mal Joe May gespeist hatte, wie aus einem Telegramm hervorging, das er 1933 aus den USA an Billy Wilder nach Paris schickte - Wilder sollte May 120 Flaschen Anjou-Wein aus dem Restaurant mitbringen, als er sich selbst zum Sprung über den großen Teich anschickte. Vielleicht kannte Siodmak die Geschichte, oder er frequentierte das Lokal selbst. Aber vielleicht ist mit "Prunier" auch etwas anderes gemeint.

Vor Gericht ...
- THUVIES gegen VANLAC (oder VAN LAC) - und hier bin ich nun völlig ratlos, was damit gemeint ist.

Die in der Schweiz aufgefundene Kopie von MISTER FLOW wurde 2016 digital in 2K abgetastet. Von dieser Vorlage erschien der Film in Frankreich auf einer Blu-ray/DVD-Combo mit engl. Untertiteln (auch das Bonusmaterial ist mit Untertiteln versehen, doch das gibt in Bezug auf Siodmak oder MISTER FLOW nichts her). Bei Interesse kann man ruhig zugreifen, denn bis der Film in Deutschland erscheint, kann man wohl lange warten.

... zieht "Achille Durin" eine große Show ab
Happy End

Montag, 5. August 2013

Revolution, eine Hymne, Crowdfunding, und Goethe im Abgang

LA MARSEILLAISE
Frankreich 1938
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Andrex (Honoré Arnaud), Edmond Ardisson (Bomier), Pierre Renoir (Ludwig XVI.), Lise Delamare (Marie-Antoinette), Louis Jouvet (Roederer), Aimé Clariond (de Saint-Laurent), Nadia Sibirskaïa (Louison), Jenny Hélia (Louise Vauclair), Édouard Delmont (Cabri), Paul Dullac (Javel), Julien Carette und Gaston Modot (zwei Freiwillige)

Der König erhält eine Nachricht, deren Tragweite er nicht begreift
Versailles, 14. Juli 1789: König Ludwig XVI. liegt von der Jagd ermattet im Bett, als man ihm die Nachricht vom Sturm auf die Bastille überbringt. "Eine Revolte?" fragt er erstaunt und nur mäßig interessiert. "Nein, eine Revolution", wird er belehrt.

Arnaud, Bomier und Cabri (v.l.n.r.) in den Bergen
Szenenwechsel: Juni 1790, in den Bergen im Hinterland von Marseille. In dieser Abgeschiedenheit verbergen sich zwei junge Anhänger der Revolution, der Zöllner Arnaud und der Maurer Bomier. Zu ihnen stößt der alte Bauer Roux, genannt "Cabri" (Zicklein), dem wegen Wilderei Jahre als Galeerensträfling drohen - er hat gerade mal eine Taube erlegt, die sein Feld plünderte, und wurde dabei erwischt, konnte aber fliehen. Für das einfache Volk hat sich seit dem Beginn der Revolution nicht viel verbessert - die faktische Macht liegt immer noch bei den Großgrundbesitzern und Aristokraten, und letztere üben die Gerichtsbarkeit aus. Zusammen räsonieren die drei Flüchtlinge darüber, was sich alles ändern müsste. Einige Zeit später gibt es Fortschritte: Von ihrem Bergsitz sehen sie Adelspaläste brennen, und Arnaud und Bomier beschließen, dass es an der Zeit ist, nach Marseille zurückzukehren.

Ardisson (links) und Javel vor der Eroberung des Forts
Marseille, Oktober 1790: Arnaud dient als Offizier und Bomier als Soldat in einer republikanisch gesinnten Einheit der Nationalgarde, zu der auch ihre Freunde Moissan, Ardisson und der etwas großtuerische Maler Javel gehören. In einem unblutigen Coup, bei dem ein riesiges Weinfass als trojanisches Pferd dient, erobern sie ein von royalistischen Truppen gehaltene Hafenfort, das auch als Gefängnis dient. Unter den 22 befreiten Gefangenen ist auch Cugulière, ein alter Freund von Bomier und Arnaud. Marquis de Saint-Laurent, der Kommandant der Festung, nimmt den Vorgang gefasst und mit tadellosen Umgangsformen, aber einem gewissen Unverständnis zur Kenntnis. Als ihm Arnaud in einer Unterredung die Bedeutung der Begriffe "Nation" und "Volk" nahebringen will, weiß de Saint-Laurent nicht viel damit anzufangen - für ihn zählt nur die Treue zum König. Später wird er ins Exil nach Deutschland abgeschoben.

Der Marquis de Saint-Laurent (links) und Arnaud
Koblenz, April 1792: Hier hat sich eine Kolonie aristokratischer Exilanten etabliert, darunter der Marquis de Saint-Laurent und seine Frau. Man unterhält sich über die baldige Beendigung der revolutionären Umtriebe durch die preußischen und österreichischen Truppen, die zur Wiederherstellung der alten Ordnung heranrücken - das wird nur ein Spaziergang, der in drei Wochen erledigt ist, glauben sie. Dann wendet man sich einem viel wichtigeren Thema zu, nämlich einer Schrittfolge der Gavotte, eines höfischen Tanzes, die man hier im Exil doch tatsächlich vergessen hat. Das hat gewiss etwas Lächerliches, aber Renoir präsentiert diese Adeligen nicht als Witzfiguren, sondern eher als tragische Gestalten, deren Denkmuster unrettbar in der Vergangenheit verhaftet sind. Nur de Saint-Laurent hebt sich etwas davon ab. Er teilt den naiven Optimismus seiner Kollegen nicht, und er ist durch Arnauds Ausführungen über Volk und Nation doch etwas ins Grübeln geraten, freilich ohne deshalb die Seiten zu wechseln. - Die Hoffnungen der Aristokraten scheinen nicht ganz unberechtigt zu sein: Zwei Freiwillige der Revolutionsarmee, die auf einem Feldposten bei Valenciennes ganz im Norden Frankreichs stationiert sind, sehen sich mit Flüchtlingen und Deserteuren konfrontiert und machen sich ihre Gedanken über die Ursachen der schlechten Lage, die sie in unzuverlässigen und mit dem Feind sympathisierenden Offizieren sehen.

Bürgerin Vauclair hält eine Rede
Ungefähr zur selben Zeit im Jakobinerclub von Marseille: Bürgerin Louise Vauclair, eine Fischhändlerin, hält eine flammende Ansprache über die schlechte Lage der Nation. Sie prangert die Nationalversammlung an, die von Großbürgern und liberalen Aristokraten dominiert wird, die nur auf ihre eigenen Pfründe achten, statt die Lage des Volkes zu verbessern. Und der König, der - jetzt im konstitutionellen Rahmen - nach wie vor über politische Macht verfügt, verhindert mit seinem regelmäßigen Veto ohnehin jede progressive Gesetzgebung, weshalb Louise ihn und die Königin als Monsieur und Madame Veto verhöhnt. Die Rede erhält begeisterte Zustimmung, und es wird die Aufstellung eines Freiwilligenbataillons von 500 Mann beschlossen, das nach Paris marschieren soll, um die Sache der Revolution voranzubringen, und sich erst dann den ausländischen Feinden entgegenzustellen. Arnaud, Bomier und die anderen Marseiller, die schon bei der Einnahme des Forts dabei waren, sind alle mit von der Partie. Bei der Einschreibung für das Bataillon singt jemand eine Hymne, die kürzlich in Strasbourg für die französische Rheinarmee geschrieben wurde. Bomier ist wenig begeistert: Das Lied werde in zwei Wochen wieder vergessen sein, meint er. Doch er täuscht sich: Beim Abmarsch des Bataillons, der zu einem großen Volksfest gerät, singt schon halb Marseille mit. Der Marsch nach Paris verläuft ohne Zwischenfälle, aber überall, wo man durchkommt, singt das Bataillon sein neues Lied, das so nach und nach von der Hymne der Rheinarmee zur Hymne der Marseiller und schließlich kurz La Marseillaise wird. In Paris, wo schon ähnliche Bataillone aus dem ganzen Land versammelt sind, werden die Marseiller begeistert empfangen. Bomier lernt die Pariserin Louison kennen und verliebt sich in sie.

Marsch nach Paris
Juli 1792: Jetzt, nach 80 Minuten, kehrt der Film zum ersten Mal seit dem Prolog an den Hof zurück, der sich nicht mehr in Versailles, sondern seit Herbst 1789 auf Druck der Revolutionäre in den Tuilerien in Paris befindet. Am 25. Juli hat der Herzog von Braunschweig, der Oberbefehlshaber der österreichischen und preußischen Koalitionstruppen, ein Ultimatum an die Pariser Bevölkerung unterzeichnet (der eigentliche Verfasser war ein französischer Adeliger aus der Koblenzer Kolonie), das die sofortige und bedingungslose Unterwerfung unter den König fordert, andernfalls wird die Eroberung und Verwüstung von Paris angedroht. Vorerst liegt nun aber eine Kopie dieses Manifests auf dem Tisch des Königs, der entscheiden soll, ob es tatsächlich veröffentlicht wird. Die Hardliner unter seinen Ministern und Beratern sind dafür, ebenso Marie-Antoinette, die es nicht erwarten kann, dass ihre österreichischen Verwandten und die preußischen Verbündeten sie wieder in ihren alten Stand einsetzen. Doch Ludwig XVI. zögert: der aggressive Ton des Dokuments ist ihm zuwider, und er fürchtet zu Recht, dass die Veröffentlichung seine eigene Popularität im Volk weiter untergraben würde. Doch er ist nur halb bei der Sache - nebenbei streitet er sich mit der Königin über die neumodische Erfindung des Zähneputzens mittels Zahnbürste und über die Treffsicherheit des österreichischen Kaisers bei der Jagd. Schließlich wickelt ihn Marie-Antoinette um den Finger, und das Manifest des Herzogs von Braunschweig wird an die Nationalversammlung weitergeleitet und am 1. August veröffentlicht.

Festlicher Empfang in Paris
Doch das erweist sich als schwerer Fehler. Statt wie erhofft die Bevölkerung einzuschüchtern, ruft das Ultimatum nur allgemeinen Zorn hervor. Vor allem die Sansculotten, die Pariser Arbeiter und Kleinbürger, radikalisieren und bewaffnen sich jetzt. Unter Umgehung der offiziellen Pariser Stadtregierung bilden die revolutionären Pariser Sektionen eine erste Kommune (commune insurrectionelle), die ein Gegenultimatum an die Nationalversammlung stellt: Absetzung des Königs bis zum 9. August. Bomier und seine Freundin Louison und die anderen Marseiller nutzen die freie Zeit bis zum Ablauf der Frist, um das Schattentheater von François Dominique Séraphin zu besuchen, das dieser seit 1770 zuerst in Versailles und dann in Paris führte - in gewissem Sinn das zeitgenössische Pendant zum Kino. Gegeben wird unter anderem ein kurzes aktuelles Stück: Le Pont Cassé (Die zerstörte Brücke). "Madame La France" als Personifizierung der französischen Nation steht auf einer Seite eines Grabens, der König auf der anderen Seite. Eine Brücke, die den Graben überspannte, ist zusammengestürzt. Der König will La France umarmen, aber er kann nicht hinüber. Als Grund für den Graben, der beide jetzt trennt, nennt sie das Manifest des Herzogs von Braunschweig. Madame geht von dannen, und der König fällt vor Schreck fast um.

Pariser Volk (vorne Nadia Sibirskaïa und Sévérine Lerczinska)
Das Ultimatum der Revolutionäre verstreicht, und so kommt es am 10. August 1792 zum Sturm auf die Tuilerien, und die Marseiller Einheit ist an vorderster Front dabei. Das Schloss wird von der Leibgarde des Königs, die aus Schweizern besteht, sowie Einheiten der Nationalgarde mit zweifelhafter Loyalität verteidigt. Ludwig XVI. und sein Gefolge sind vor dem Kampf guter Dinge, aber als bei der Parade im Hof ein Teil der Truppen Vive la Nation statt Vive le Roi ruft, ist der König für einen Moment fassungslos. Kurz danach erscheint Pierre Louis Roederer, der procureur général syndic des Pariser Départments, also ein hoher Beamter der Stadtregierung, der zwischen dem König, der Nationalversammlung und den radikalen Revolutionären laviert. Angesichts der gewaltigen zahlenmäßigen Übermacht der Revolutionäre rät er dem König dringend, sich in den Schutz der Nationalversammlung zu begeben und mit seiner Familie unverzüglich von den Tuilerien in das nahegelegene Parlamentsgebäude überzusiedeln, und Ludwig XVI. stimmt resigniert zu. Beim kurzen Fußmarsch auf einer Allee spielt der siebenjährige Dauphin mit Laub, und der König merkt an, dass die Blätter dieses Jahr früh gefallen sind - ein Menetekel angesichts der bald fallenden Köpfe. Und dann beginnen die Kämpfe. Arnaud kann die Nationalgardisten unter den Verteidigern überreden, die Seiten zu wechseln, aber die Schweizergarde bleibt standhaft und eröffnet das Feuer. Anfangs gehen die Royalisten in die Offensive, aber in wilden Scharmützeln in den Straßen und Gassen von Paris werden sie niedergerungen, in den Palast zurückgedrängt und vollständig besiegt. Die Überlebenden werden reihenweise füsiliert. Aber auch einer der Marseiller, denen wir von Anfang an gefolgt sind, muss an diesem Tag sein Leben lassen. Um das Gemetzel an den Verlierern etwas einzuschränken, interveniert Roederer und opfert das Königspaar: Er erklärt im Namen der Nationalversammlung die vorläufige Absetzung und Anklage des Königs, die dann bekanntlich im Januar 1793 zur Enthauptung führte.

Marie-Antoinette
Aber der Film endet schon am 20. September 1792: Das Marseiller Bataillon rückt bei Valmy als Teil der Revolutionsarmee gegen das preußische Kontingent der Koalitionsarmee vor. Hier kommt es zu einem mehr oder weniger unentschieden verlaufenden Artillerieduell, an dessen Ende sich die Preußen zurückziehen. Renoir erspart sich neuerliches Schlachtengetümmel und lässt den Film schon vor dem eigentlichen Schlachtfeld enden. - Am preußischen Feldzug nahm auf Wunsch des Herzogs von Weimar auch Johann Wolfgang von Goethe als Beobachter teil. Nach der "Kanonade von Valmy" will er folgendes zu preußischen Offizieren gesagt haben: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Das steht so allerdings nur in einem Text, den Goethe 1822, also 30 Jahre nach dem Ereignis, veröffentlichte, und die Echtheit des Ausspruchs wird denn auch von der Forschung bestritten. Aber Renoir, ein Freund und Kenner deutscher Hochkultur, nutzte das Zitat (unter Weglassung des zweiten Halbsatzes) für ein optimistisches und patriotisches Schlusswort, indem er nach dem FIN noch einen Lauftext einblendet:
Bei Valmy widerstanden die Franzosen allen Attacken der berühmten preußischen Infanterie. Der große deutsche Dichter Goethe war Zeuge ihres Sieges. Sein Kommentar wird den Schlusspunkt dieser Geschichte bilden.

"Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus."

Der König erörtert das Manifest des Herzogs von Braunschweig - und ist not amused
LA MARSEILLAISE ist laut seinem Untertitel eine "Chronik gewisser Ereignisse, die zum Sturz der Monarchie beitrugen". Das ursprüngliche Konzept des mit 135 Minuten nicht gerade kurzen Films war noch weit ambitionierter: Wie sich anhand der ersten beiden Drehbuchfassungen herausfinden ließ, sollte es ein mehrstündiges Epos werden, gespickt mit Stars wie Jean Gabin, Maurice Chevalier und Erich von Stroheim. Louis Jouvet sollte eigentlich Robespierre spielen. Der Film sollte den Zeitraum von 1787 bis Valmy abdecken, und der episodische Charakter von LA MARSEILLAISE war darin schon angelegt, aber mit viel mehr Episoden, die nach Renoirs Vorstellung an Wochenschauberichte erinnern sollten. Aber auch im tatsächlich gedrehten Film erkannte mancher Kritiker (darunter Truffaut) eine Ähnlichkeit zu Wochenschauen. Der zweite Drehbuchentwurf stammt von Ende Juni 1937, doch dann wurde innerhalb kürzester Frist alles über den Haufen geworfen: Bei den Dreharbeiten im Sommer und Herbst 1937 blieb von der ursprünglich vorgesehenen Handlung so gut wie nichts übrig. Insbesondere wurden die Vordenker der Revolution wie Robespierre, Danton und Marat komplett aus der Handlung entfernt. Neben zu vermutenden finanziellen Gründen lag das auch daran, dass nicht die "Stars" der Revolution, sondern das Volk selbst der Held des Films werden sollte. Weil aber eine abstrakte Größe wie das Volk für das Filmpublikum schlecht zur Identifikation taugt, übernahmen die fiktiven Charaktere aus Marseille (und hier der volkstümliche Bomier mehr als der eher intellektuelle Arnaud) die Rolle der Identifikationsfiguren.

Schattentheater
Renoir lässt an seiner Sympathie für die Revolutionäre nie Zweifel aufkommen, aber er lässt auch der Gegenseite Gerechtigkeit angedeihen. Das Königspaar und die Aristokraten werden weder dämonisiert noch lächerlich gemacht, sondern, wie schon angedeutet, als Gefangene ihrer Denkstrukturen gezeichnet, die subjektiv aufrichtig und ehrenhaft handeln. Einzige negative Ausnahme ist der Adelige, der Cabri anfangs auf die Galeeren schicken will, aber auch der glaubt, damit die göttlich gegebene Ordnung zu verteidigen. Renoir hat dieses Konzept im August 1937 so umrissen: "Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich sei unparteiisch im Kampf dieser widerstreitenden Ideen. Ich drehe LA MARSEILLAISE mit einer sehr festen Überzeugung: ich möchte einen parteiischen, aber zugleich aufrichtigen Film machen." Diese Herangehensweise kulminiert in der Figur des Königs. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen (etwa dem nur einige Monate später gedrehten MARIE ANTOINETTE von W.S. van Dyke) ist Ludwig XVI. hier kein Blutsauger, auch kein Hampelmann oder eitler Geck, sondern ein sehr menschlicher, im Grunde gutmütiger und sympathischer König, dem allerdings jegliches Gespür für die Ursachen der Revolution und für die politischen Notwendigkeiten abgeht, der deshalb von den Ereignissen überrollt und zu einer tragischen Figur wird. Der Film stützt sich dabei auf die überragende Schauspielkunst von Pierre Renoir, der den König mit Leben und subtilen Nuancen erfüllt. Nach LA NUIT DU CARREFOUR, wo er Kommissar Maigret spielt, und nach seinem Charles Bovary in MADAME BOVARY hat Pierre Renoir hier seine dritte und letzte größere Rolle in einem Film seines jüngeren Bruders. Neben ihm glänzt auch Louis Jouvet in seinem kurzen, aber prägnanten Auftritt als Roederer, und auch alle anderen Rollen sind vorzüglich besetzt. Beim Casting achtete Renoir auf authentische Sprache: Für die Aristokraten mit ihrer kultivierten Ausdrucksweise verwendete er vorwiegend ausgebildete Theaterschauspieler, darunter einige von der Comédie-Française, für das Pariser Volk dagegen volkstümlichere Darsteller, und für die Marseiller solche aus Südfrankreich (von denen einige schon in TONI mitgespielt hatten).

Bomier und Louison
Sehr ungewöhnlich war die Finanzierung des Films: Sie beruhte teilweise auf dem, was heute Crowdfunding heißt. Diese Vorgehensweise war ausdrücklich politisch, nicht wirtschaftlich motiviert: "Denn dieser Film soll nicht der Film eines Mannes oder einer Produktionsfirma sein, es soll der Film der Arbeiterklasse sein", schrieb Renoir damals in einem Artikel. Renoir sympathisierte immer noch mit den Zielen der Volksfrontregierung, die nach wie vor im Amt war, auch wenn der Glanz und Elan der ersten Monate gewichen war. Interessenten konnten "Anteilscheine" zum Preis von 2 Francs erwerben, die dann später zum kostenlosen Besuch des Films berechtigten. In der kommunistischen Parteizeitung L'Humanité und in weiteren linken Zeitungen und Zeitschriften wurde das Konzept seit März 1937 vorgestellt, der eigentliche Startschuss erfolgte dann Ende Juli. Die kommunistische Gewerkschaft CGT leistete beim Verkauf der Anteilscheine organisatorische Hilfe und stellte auch Techniker und Arbeiter für die Dreharbeiten. Die Aktion erregte soviel Aufmerksamkeit, dass im Juli auch eine Zeitschrift in London unter dem Titel "Citizens of Paris Make a Film" darüber berichtete. Doch letztlich kam durch Subskription doch nicht genug Geld zusammen, um den gegenüber dem ursprünglichen Konzept zwar zusammengestutzten, aber immer noch sehr aufwendigen Film zu finanzieren, so dass schließlich auch auf konventionellere Geldquellen zurückgegriffen werden musste.

Deep focus: Im Hof der Tuilerien inspiziert der König die Garde
Das aufgeheizte politische Klima jener Jahre schlug sich nicht nur in der Entstehung, sondern auch in der Rezeption des Film nieder. Weder beim Publikum noch bei den Kritikern war LA MARSEILLAISE ein großer Erfolg, und bei letzteren vorwiegend aus politischen Gründen. Zwar gab es auch sehr positive Rezensionen, etwa von Louis Aragon, der eine ausführliche Lobeshymne verfasste, aber auch wüste Verrisse, vor allem aus dem rechten Lager. LA MARSEILLAISE war ein Plädoyer für die Einigung des französischen Volkes unter progressivem Vorzeichen, und zwar im Angesicht eines äußeren Feindes, der von der anderen Seite des Rheins kam. Das passte perfekt zur Situation von 1938. Spätestens seit im März 1936 die Wehrmacht ins seit dem Versailler Vertrag entmilitarisierte Rheinland einrückte, bedrohte Hitler unmittelbar die französische Flanke, und LA MARSEILLAISE konnte somit als ein Aufruf zur Wachsamkeit und Entschlossenheit verstanden werden. Solche Interpretationen mussten nicht erst von außen an den Film herangetragen werden, sie waren auch in Renoirs Sinn. Im Vorwort zur ersten Drehbuchfassung vom März 1937 heißt es: "[Der Schluss des Films] symbolisiert den Sieg der Volkstruppen über jene Kräfte, die wir heute faschistisch nennen." Aber politische Kontroversen über LA MARSEILLAISE waren nicht auf die 30er Jahre beschränkt. Der Schluss mit Valmy bot Renoir nicht nur die Möglichkeit, den Film mit Goethe enden zu lassen, er enthob ihn auch der Notwendigket, sich mit dem Terror der Massenhinrichtungen auseinanderzusetzen, die erst Monate später begannen. Doch gerade das wurde ihm von einigen späteren Kritikern vorgeworfen. 1962 widmete die Zeitschrift Premier Plan drei Ausgaben Renoir und ging darin kritisch mit ihm und mit LA MARSEILLAISE um, auch als Reaktion darauf, dass er inzwischen von den Cahiers du cinéma zum heiligen Übervater des französischen Films ernannt worden war. Und 1989, zum 200. Jahrestag des Beginns der Revolution, gab es abermals politisch motivierte Debatten um LA MARSEILLAISE. Bei all den politischen Auseinandersetzungen kam die Würdigung der filmischen Qualitäten des Werks lange zu kurz, und zwar sehr zu Unrecht. Renoir zelebriert einmal mehr seine üblichen Stilmittel wie lange flüssige Kamerafahrten und ausgiebigen Einsatz von deep focus (oft durch Fenster, Türen oder Torbögen hindurch) mit gewohnter Souveränität. Vor allem aber ist LA MARSEILLAISE über seine ganze Länge hinweg ein äußerst unterhaltsamer und schon allein deshalb sehr sehenswerter Film. 1967 wurde der nur in beschädigten oder gekürzten Kopien erhaltene Film restauriert und wieder in die französischen Kinos gebracht, zwar wiederum nur mit mäßigem Erfolg beim Publikum, aber mit einer sachlicheren Aufnahme bei den Kritikern. Cahiers du cinéma und das heftig damit konkurrierende Blatt Positif befassten sich Ende 1967 bzw. Anfang 1968 ausführlich damit.

Roederer
Einen nennenswerten Beitrag zu LA MARSEILLAISE leistete das Ehepaar Carl Koch und Lotte Reiniger, die durch Reinigers Scherenschnittfilme wie DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (an denen auch Koch großen Anteil hatte) in die Filmgeschichte eingegangen sind. Als 1926 DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED auch in Paris erfolgreich lief, gab es dort einen Presseempfang für Reiniger und Koch. Renoir und seine erste Frau Catherine Hessling, damals auch seine regelmäßige Hauptdarstellerin, waren auch da, und die vier schlossen sofort Freundschaft und arbeiteten dann gelegentlich zusammen, so 1929 in Berlin bei DIE JAGD NACH DEM GLÜCK, den Reiniger, Koch und Rochus Gliese gemeinsam inszenierten, und in dem Hessling und Renoir Hauptrollen spielten. Der Linksintellektuelle Koch und Reiniger (beide waren auch eng mit Brecht befreundet) übersiedelten 1935 nach London, wo Reiniger fortan ihre Filme herstellte, aber Koch verbrachte 1937-39 überwiegend in Paris, um für Renoir zu arbeiten, und zwar als technischer Berater und Mitautor der Drehbücher von LA GRANDE ILLUSION, LA MARSEILLAISE und LA RÈGLE DU JEU. Bei LA GRANDE ILLUSION war Koch auch Renoirs Deutschland-Experte, und die sehr schwierige Kommunikation mit Erich von Stroheim delegierte Renoir auch teilweise an Koch (jeder der drei hatte damals mindestens eine Nervenkrise). 1939 begann Renoir in Italien mit der Arbeit an LA TOSCA, Koch und Visconti waren Regieassistenten. Aber Anfang 1940 gab Renoir den Film auf, um in die USA zu emigrieren, und Koch übernahm die Regie. - Lotte Reiniger arbeitete nicht so oft mit Renoir zusammen, aber für LA MARSEILLAISE drehte sie in ihrer Scherenschnitttechnik die Schattentheater-Sequenz bei Séraphin, wofür sie im November 1937 von London nach Paris kam. Das gewählte Stück, Le Pont Cassé, wurde keineswegs für den Film geschrieben, sondern war ganz im Gegenteil ein Klassiker, der zur Revolutionszeit oft gespielt wurde, nicht nur bei Séraphin, sondern auch in anderen Schattentheatern. Reiniger schrieb in einem Text, der 1981, dem Jahr ihres Todes, veröffentlicht wurde: "Séraphins bekanntestes Stück war Le Pont Cassé, das nach ihm von vielen Schattentheatern nachgespielt wurde. Ich kann mich an kein gelehrtes Buch übers Schattenspiel erinnern, in dem nicht die abgebrochene Brücke als ehrenwerter Ahnherr europäischen Schattenspiels erwähnt würde."

10. August 1792: Kampf in den Straßen von Paris
LA MARSEILLAISE ist in den USA in einer Renoir-Box mit drei DVDs erschienen, die noch vier weitere Spielfilme sowie zwei Kurzfilme enthält. In England gibt es LA MARSEILLAISE auf einer Einzel-DVD, in Frankreich auf mindestens zwei verschiedenen DVDs.

Donnerstag, 20. Juni 2013

Nachtasyl - der Dieb, der Baron und die Schnecke

LES BAS-FONDS (NACHTASYL)
Frankreich 1936
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Jean Gabin (Pepel), Louis Jouvet (Baron), Junie Astor (Natacha), Suzy Prim (Vassilissa), Vladimir Sokoloff (Kostylev), Robert Le Vigan (der Schauspieler), Jany Holt (Nastia), Gabriello (Inspektor), René Génin (Luka)

Ein Baron mit Schnecke
Am Anfang kreuzen sich die Wege von zwei Männern, die bisher nichts gemein hatten, abgesehen davon, dass sie beide Diebe sind. Der Baron (seinen Namen erfährt man nicht, ebenso wie jenen des Schauspielers) ist Angehöriger der Aristokratie und ein hoher Beamter, doch seine Spielsucht hat ihn ruiniert. Er hat nicht nur enorme Schulden, sondern er hat auch in eine geheime Kasse seiner Behörde gegriffen, was nicht unbemerkt blieb. Zunächst sah man darüber hinweg, doch nun fordert ihn sein Vorgesetzter in diplomatisch gedrechselten Worten auf, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Ein letzter Versuch, im Spielcasino alles zurückzugewinnen, scheitert komplett, und er ist nun endgültig bankrott und wird von seinen Ämtern suspendiert. Für den nächsten Tag haben sich die Gläubiger mit dem Gerichtsvollzieher angesagt, um den geräumigen Stadtpalast des Barons leerzuräumen. Als er nächtens mit Selbstmordgedanken vom Casino dorthin zurückkehrt, trifft er einen unerwarteten Gast. - Pepel ist ein kleiner Dieb, der nichts anderes gelernt hat, weil schon sein Vater ein Dieb und Dauergast im Gefängnis war. Er haust in einem Nachtasyl, einem trostlosen Ort voller gescheiterter Existenzen, der im Wesentlichen aus einem einzigen großen Raum im Souterrain besteht, der auch tagsüber im Halbdunkel liegt. Dessen Besitzer, der windige Kostylev, ist zugleich Pepels Hehler, und Kostylevs Frau Vassilissa ist seine Geliebte. Er ist ihrer inzwischen überdrüssig, doch sie hängt an ihm wie eine Klette. Aber Pepel hat inzwischen ein Auge auf Vassilissas jüngere Schwester Natacha geworfen. Diese fühlt sich einerseits zu Pepel hingezogen, doch andererseits verachtet sie seine verbrecherische Lebensweise. Unter den Insassen des Asyls nimmt Pepel eine Sonderstellung ein: Er ist der einzige, der über Selbstachtung und Tatkraft verfügt, und der einer halbwegs einträglichen Arbeit nachgeht - und wenn es auch nur Einbruch und Diebstahl ist. Im Palast des Barons findet er aber in jener Nacht nicht die erhofften Reichtümer, und dann wird er auch noch vom Baron überrascht.

Der Baron noch in Amt und Würden; Pepel; Natacha; der Schauspieler
Die Begegnung verläuft anders, als man es unter solchen Umständen erwarten könnte. Der Baron erkennt in Pepel gewissermaßen einen Kollegen - Diebe unter sich -, und weil ihm in seinem Haus ohnehin nichts mehr wirklich gehört, lädt er Pepel kurzerhand ein. Der ist zunächst verblüfft und etwas misstrauisch, aber dann lässt er sich darauf ein. Und so gibt es ein improvisiertes Abendessen, und dann wird Karten gespielt bis zum Morgengrauen. Am Ende haben die beiden eigentlich sehr ungleichen Männer Freundschaft geschlossen, und der Baron hat aus der Unterhaltung mit Pepel die Erkenntnis gewonnen, dass auch ein Leben ohne Geld und Status lebenswert sein könnte. Zum Abschied schenkt er Pepel eine Bronzestatuette von zwei Pferden. Der wird damit von der Polizei aufgegriffen und ironischerweise für einen Dieb gehalten, doch der verständigte Baron, dessen Abstieg sich noch nicht herumgesprochen hat, eilt ins Polizeirevier und bekommt Pepel problemlos frei. Beim erneuten Abschied verspricht er, dass man sich wohl bald wiedersehen werde, ohne zu konkretisieren, was er damit meint. Doch das erweist sich bald: Er taucht in abgetragener Kleidung im Nachtasyl auf. Nachdem er buchstäblich alles bis auf die Kleider am Leib verloren hat, wird er jetzt selbst im Asyl wohnen. Dort hat sich unterdessen einiges getan. Pepel hat Vassilissa endgültig den Laufpass gegeben, aber die reagiert auf ihre eigene Art: Sie schlägt Pepel unverblümt vor, er solle Kostylev umbringen, dann könnten die beiden verschwinden und gemeinsam von dem Geld leben, das Kostylev durch seine Hehlerei angehäuft hat. Pepel lehnt nur angewidert ab. Kostylev droht Ungemach durch eine angekündigte Untersuchung der Polizei, aber ein korrupter jovialer Inspektor, der seine schützende Hand über seine krummen Geschäfte hält, bietet einen Ausweg: Er hat ebenso wie Pepel ein Auge auf Natacha geworfen, und so wird diese von Kostylev und Vassilissa genötigt, einen Sonntagsausflug mit dem Inspektor in ein Restaurant zu machen. Doch Pepel erwischt die beiden, was mit einem blauen Auge für den Inspektor endet und Pepel und Natacha dazu führt, sich gegenseitig ihre Liebe zu erklären. Pepel, der das Leben im Asyl schon lange satt hat, verspricht, das Stehlen aufzugeben und stattdessen seinen Unterhalt als ehrlicher Handwerker zu verdienen.

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft
Aber zunächst kommt es anders. Nachdem sich der Inspektor bei Kostylev über den Vorfall im Restaurant beschwert hat, verprügeln dieser und seine Frau Natacha. Pepel schreitet ein und will nun seinerseits Kostylev verprügeln oder gar umbringen. Die anderen Bewohner des Asyls kommen hinzu, und im allgemeinen Tumult wird Kostylev umgestoßen, er fällt mit dem Kopf auf einen Amboss und stirbt. Das nutzt Vassilissa zur Rache: Sie behauptet gegenüber der Polizei, Pepel habe ihren Mann ermordet. Obwohl die anderen Asylbewohner für ihn aussagen, wird er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Vassilissa, die Kostylev jetzt los ist, packt ihre Koffer, um mit seinem Geld aus der Stadt (und aus dem Film) zu verschwinden, ohne juristisch oder vom Schicksal bestraft zu werden. Natacha dagegen bleibt und wartet auf Pepel. Am Tag seiner Freilassung holt sie ihn am Gefängnis ab, und nachdem sich die beiden im Asyl vom Baron verabschiedet haben, wandern sie auf einer Landstraße in eine gemeinsame Zukunft, die von ehrlicher Arbeit geprägt sein wird.

Auf baldiges Wiedersehen
LES BAS-FONDS beruht auf dem gleichnamigen Bühnenstück von Maxim Gorki (das nacheinander zwei Titel trug - das deutsche "Nachtasyl" ist eine Übersetzung des ersten Titels, das franz. "Les Bas-fonds" und das engl. "The Lower Depths" des zweiten Titels, den das Stück bekam, nachdem es sich Gorki anders überlegt hatte). Doch Kenner von Gorki werden sich inzwischen wundern: Ziemlich wenig von dem, was ich bisher beschrieben habe, kommt in dem Stück vor, und jede Menge von dem, was bei Gorki passiert, habe ich noch nicht erwähnt. Renoir verstand Literaturverfilmungen immer so, nicht einfach eine Vorlage von einem Medium in ein anderes zu transportieren, sondern sich von einer Vorlage zu einer eigenständigen Schöpfung inspirieren zu lassen, und diese Einstellung rechtfertigt per se Abweichungen vom Original. Doch bei LES BAS-FONDS überstiegen diese Abweichungen das sonst bei ihm übliche Ausmaß. Gorkis Stück spielt komplett im Asyl, während im Film nicht einmal die Hälfte der Zeit dort verbracht wird. Etliche von Gorkis Figuren wurden von Renoir und seinem Co-Autor Charles Spaak in ihrer Bedeutung stark reduziert, bis hin zu Statisten ohne Dialoge, oder sie verschwanden ganz. Dagegen wurden die Rollen von Pepel und dem Baron stark ausgebaut und auch viel positiver gestaltet als im Stück. Nur wenige der ursprünglichen Charaktere bleiben im Film erwähnenswert. Da ist einmal der alte Vagabund Luka, der aus Mitleid und christlicher Nächstenliebe heraus den anderen im Asyl Trost spendet, was sich jedoch als zwiespältig entpuppt. Einerseits erleichtert er der sterbenskranken Anna mit seinen Tröstungen den unausweichlichen Tod (sie stirbt dann auch direkt nach ihrer einzigen Szene im Film), andererseits macht er dem Schauspieler Hoffnungen, die sich nicht erfüllen lassen. Dieser Schauspieler, der, wie oben schon erwähnt, namenlos bleibt, ist starker Alkoholiker und musste deshalb seinen Beruf schon vor Jahren aufgeben, doch Luka erweckt in ihm die Hoffnung, er könne in einer Klinik mit etwas Willensstärke von seiner Sucht geheilt werden und dann auf die Bühne zurückkehren. Doch am Ende des Films, während gleichzeitig Pepel aus dem Gefängnis entlassen wird, und Luka inzwischen weitergezogen ist, macht der Baron dem Schauspieler klar, dass das nur Illusionen sind. Aller Hoffnungen beraubt, und schon halb im Delirium, erhängt sich der Schauspieler (was den Schluss des Stücks bildet, während im Film noch der Aufbruch von Natacha und Pepel folgt). Die letzte nennenswerte Figur ist Nastia, eine Prostituierte, die den anderen ständig von ihrem Liebhaber erzählt, der sie eines Tages aus der Hölle des Asyls holen wird. Doch der Liebhaber existiert nicht, es handelt sich um ein Wolkenkuckucksheim, das sie sich aus Kitschromanen zusammenliest; alle wissen es, und alle (außer Luka) machen sich darüber lustig.

Nastia geht ihrer Arbeit als Prostituierte nach
Dass Pepel und der Baron den Film dominieren, liegt nicht nur am Drehbuch, sondern auch an der grandiosen Besetzung. Louis Jouvet war zwar als Darsteller und Regisseur hauptsächlich ein Theaterstar, aber seit den 30er Jahren brillierte er auch regelmäßig auf der Leinwand, und seinem Baron verleiht er die nötigen Nuancen, um ihn zu einer ungemein interessanten Figur zu machen. Beispielhaft ist etwa eine Szene, in der Pepel und der Baron im Gras am Ufer eines russischen Flusses liegen (der für Eingeweihte wie die Marne aussieht, weil es die Marne ist) und sich von ihren Zukunftsplänen erzählen, wobei der Baron nicht Pepel ansieht, sondern fasziniert eine Schnecke betrachtet, die ihm auf die Hand gekrochen ist (die Schnecke stand übrigens nicht im Drehbuch, sondern wurde von Renoir improvisiert, nachdem die Szene für seinen Geschmack zunächst nicht richtig funktionierte). Jean Gabin war Mitte 1936 noch kein großer Star, aber LES BAS-FONDS beförderte ihn ein großes Stück in diese Richtung, und innerhalb weniger Jahre war er mit Filmen wie Renoirs LA GRANDE ILLUSION und LA BÊTE HUMAINE und Marcel Carnés LE QUAI DES BRUMES und LE JOUR SE LÈVE dort angekommen. Sein bodenständiger, im Grunde gutmütiger, aber bisweilen aggressiver Pepel gibt schon die Richtung dieser späteren Rollen vor, aber zu Gabins geradezu archetypischer Leinwand-Persona aus den letztgenannten drei Filmen fehlt noch der tragisch-fatalistische Zug zum Tod. Das dritte darstellerische Schwergewicht in LES BAS-FONDS ist Robert Le Vigans Schauspieler. Es ist eine pathetische, theatralische Figur, voller Selbstmitleid, gelegentlich Shakespeare-Verse deklamierend, und Le Vigan spielt das voll aus. Man kann das übertrieben finden, aber der Charakter ist jedenfalls in sich schlüssig. Es ist ein Jammer, dass dieser interessante Darsteller Le Vigan nach der Besetzung Frankreichs offen mit den Nazis sympathisierte und über das Radio antisemitische Botschaften verbreitete. Nach dem Krieg bekam er die Quittung präsentiert: Er wurde zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt. Nach drei Jahren wurde er auf Bewährung entlassen, was er nutzte, um sich zunächst nach Spanien und dann nach Argentinien abzusetzen. Leider gibt es in LES BAS-FONDS auch einen eklatanten schauspielerischen Schwachpunkt, und der heißt Junie Astor. Sie war eine Freundin von Produzent Kamenka (oder vielleicht auch seine Geliebte), der sie Renoir aufnötigte, und dieser äußerte sich später sehr unverblümt über ihr mangelndes Talent und ihr ausdruckloses Gesicht. Es ist zwar nicht in allen Szenen so schlimm, aber gerade in ihren gemeinsamen Auftritten mit Gabin, die ja eigentlich ein emotionales Zentrum des Films bilden sollten, wirkt sie schon sehr blass. So bleibt die Freundschaft zwischen Pepel und dem Baron eine weitaus interessantere Beziehung als die Liebe zwischen Pepel und Natacha.

Pepel, Vassilissa und Kostylev
Für die Aufwertung des Barons und Pepels gibt es außer der Absicht, Jouvet und Gabin Gelegenheit zur Entfaltung zu verschaffen, noch einen weiteren und tieferen Grund. Gorkis Nachtasyl ist eine in sich abgeschlossene Welt - nicht nur räumlich (wie gesagt spielt das ganze Stück im Asyl), sondern auch in Bezug auf die (nicht vorhandene) soziale Mobilität: Es gibt keinen Ausweg außer dem Tod. Das aber widerspricht Renoirs Ansichten fundamental. In seinen Filmen gibt es immer Möglichkeiten zur Veränderung, zum Besseren wie zum Schlechteren, Gelegenheiten für die Protagonisten, ihre eigene Zukunft zu beeinflussen. Und genau das wird in LES BAS-FONDS von den gegenläufigen Handlungssträngen der beiden Freunde widergespiegelt: Pepels bescheidener (aber aus seiner Sicht essentieller) Aufstieg vom Verbrecher zum Handwerker und der Abstieg des Barons aus der Aristokratie ins Proletariat. Dabei repräsentiert Pepels Entwicklung auch den optimistischen Geist der damals noch intakten Volksfront. Wenn man mag, kann man in der Freundschaft der beiden auch eine Metapher für die mögliche Aussöhnung der gesellschaftlichen Klassen sehen, aber ich finde, dass man das nicht überstrapazieren sollte. Niemand weiß, wie die Begegnung der beiden verlaufen wäre, wenn der Baron in jener Nacht nicht alles verloren, sondern alles gewonnen und somit seinen Status gewahrt hätte. Der Abstieg des Barons ist zwar nicht zu leugnen, aber er hat nicht nur tragische Aspekte, sondern er ist auch eine Befreiung von den sozialen Konventionen seines Standes. Nachdem der Baron erst einmal erkannt hat, dass man nicht nur in einem Federbett, sondern auch im Gras bequem schlafen kann, und dass ein Kartenspiel um ein paar Kopeken ebenso spannend sein kann wie eines um 1000 Rubel, kann er unbeschwert in den Tag hinein leben und sich weiter dem Glücksspiel widmen. Deshalb bleibt er am Ende auch freiwillig im Asyl, statt Pepel zu begleiten. Natacha, Vassilissa und Kostylev dienen dazu, um die Geschichte vom sozialen Auf- und Abstieg herum eine melodramatische Handlungsebene um Liebe, Eifersucht und Tod zu konstruieren, aber die anderen Bewohner des Asyls sind dazu nicht notwendig. Sie liefern nur den atmosphärischen Hintergrund des Films und werden von Renoir in ihrer Bedeutung entsprechend reduziert. Übrigens hat Renoir sein Drehbuch an Gorki geschickt, und der hat zu allen Änderungen am Stück seine Zustimmung erklärt und das sogar öffentlich kundgetan. Zumindest erzählt Renoir das so in einer sechsminütigen Einführung in LES BAS-FONDS, die er wohl für das französische Fernsehen aufnahm (das Zeitfenster für diese Korrespondenz war etwas eng, denn Gorki starb im Juni 1936).

Neuankömmling im Asyl
Die Idee zu LES BAS-FONDS hatte Produzent Alexandre (ursprünglich Alexander) Kamenka, der sie an Renoir herantrug. Der Exilrusse Kamenka hatte einen gewissen Anteil daran, dass Renoir überhaupt Regisseur geworden war. Als junger Mann ging Renoir in den frühen 20er Jahren sehr häufig ins Kino, aber er sah fast nur Hollywoodfilme, denn die französischen Filme dieser Zeit fand er langweilig und prätentiös. Unter diesen Umständen schien ihm eine eigene Karriere im Film aussichtslos. Doch 1923 produzierte Kamenka mit einer gemischten Crew aus Russen und Franzosen LA BRASIER ARDENT (Regie und Hauptrolle Ivan Mosjoukine), der offenbar ein unterhaltsames Spektakel war. Renoir war begeistert, und er war jetzt überzeugt, dass man auch in Frankreich solche Filme drehen konnte, wie sie ihm vorschwebten. 1924 nahm er seinen ersten Film in Angriff. - Obwohl die Dreharbeiten zu LES BAS-FONDS wegen der Verzögerungen bei PARTIE DE CAMPAGNE mit zwei Wochen Verspätung begannen, lief die Produktion völlig reibungslos. Der Film war an der Kasse ein enormer Erfolg (bei Renoir in den 30er Jahren eher die Ausnahme als die Regel). Die Aufnahme bei den Kritikern war gemischt, aber es gab einen Prix Louis-Delluc (den ersten, der überhaupt vergeben wurde). Eine Eigenheit von LES BAS-FONDS habe ich oben schon mit der Erwähnung der Marne angedeutet: Der Film spielt ja eigentlich in Russland, die Charaktere haben russische Namen, die Polizisten tragen russische (oder irgendwie russisch aussehende) Uniformen. Und doch ist das alles erkennbar nicht Russland, sondern Frankreich. Das liegt nicht nur an den Schauplätzen, sondern vor allem an der Besetzung. Um den Effekt zu vermeiden, hätte Renoir wohl mit Exilrussen als Darstellern arbeiten müssen. Die gab es in Frankreich reichlich, und Kamenka hatte auch die nötigen Kontakte. So hätte wohl Mosjoukine auch einen guten Baron abgeben können. Doch Renoir beschränkte sich auf Vladimir Sokoloff (und Jany Holt war eine gebürtige Rumänin). Ironischerweise beschwerten sich einige Kritiker, dass Sokoloff unter all den Franzosen "zu russisch" wirke. In der oben erwähnten Einführung erzählt Renoir, er habe von vornherein beabsichtigt, den Film nicht russisch, sondern französisch aussehen zu lassen. Ob das nun stimmt oder nicht - russisches Flair darf man von LES BAS-FONDS jedenfalls nicht erwarten. Die Stärken (und leider auch Schwächen) liegen bei den Schauspielern, und die Kameraarbeit (wie zu erwarten wieder mit reichlich deep focus) erfüllt die von Renoirs früheren Filmen gesetzten Standards, mit einigen interessanten Plansequenzen und stimmungsvoll-schummrigen Aufnahmen aus dem Asyl mit seiner verwinkelten Holz-Architektur.

Im Asyl (r.o. Luka mit dem Schauspieler)
1957 drehte Akira Kurosawa mit DONZOKO seine eigene, äußerst sehenswerte Version der Geschichte (dt. ebenfalls NACHTASYL). Kurosawa verlegte die Handlung ins Tokyo des 19. Jahrhunderts, ansonsten hielt er sich aber viel enger an die Vorlage als Renoir. Und obwohl Toshirō Mifune den Dieb spielt, ist DONZOKO ein astreiner Ensemblefilm, und kein Starfilm wie LES BAS-FONDS. Renoir, der DONZOKO in den 70er Jahren sah, bezeichnete ihn als "viel wichtiger" als seinen eigenen Film. Diese beiden bekanntesten Verfilmungen des Stoffs (es gibt noch weitere) sind zusammen in einem 2-DVD-Set von Criterion in den USA erschienen (als THE LOWER DEPTHS). Wer keine Probleme mit Regionalcode 1 hat, kann beherzt zu dieser Version greifen. Ansonsten ist LES BAS-FONDS auch in Frankreich auf DVD erhältlich.

Am Flussufer