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Sonntag, 13. Mai 2018

Let's Twist Again in the Soviet Steppe: Bericht vom 18. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films (Teil 1)


Russland und die Sowjetunion – beides galt für die kalten Krieger dies- wie jenseits des Eisernen Vorhangs, für antikommunistische Hexenjäger und russisch-nationalistische Sowjet-Führer, als Synonym. Dass die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung nicht russisch war, wurde gerne unter den Teppich gekehrt.
Beim goEast wird nichts unter den Teppich gekehrt, sondern gerne der Blick auf Peripherien gelenkt. Dieses Jahr ging die filmische Reise bei der Symposiums-Retrospektive in die sogenannten baltischen Staaten: nach Litauen, Lettland und Estland. Der Schwerpunkt lag auf Filme der 1960er bis 1980er Jahre, mit wenigen Ausflügen in die postsowjetische Zeit. In verhältnismäßig wenigen Screenings entspannte sich ein Panorama wunderschöner, wahnsinniger, poetischer, mutiger, witziger und zorniger Filme.

Aber erst einmal Zwischenstationen in Polen und in Ungarn.


1. Festivaltag
Mittwoch, 18. April

21.30 Uhr, Caligari FilmBühne

TWARZ („Fratze“)
Regie: Małgorzata Szumowska
Polen 2018
91 Minuten, DCP
Der Metal-Fan Jacek arbeitet auf einer Baustelle zur Errichtung der weltgrößten Jesus-Figur. Eines Tages hat er einen Unfall, der ihn schwer entstellt zurücklässt. Nach einer Gesichtstransplantation kehrt er in sein Dorf zurück, wird von seiner Verlobten verlassen und von seiner Umgebung immer mehr als Außenseiter behandelt.
Das Arbeiten mit Unschärfen (die Teilblindheit des Protagonisten widerspiegelnd)
ist hier deutlich zu sehen.
© goEast Filmfestival
Etwas ist faul im Staate Polen... Wie bereits Agnieszka Hollands und Kasia Adamiks POKOT, der letztes Jahr beim goEast lief, zeichnet auch Małgorzata Szumowskas TWARZ ein trostloses Bild vom zeitgenössischen Polen, mit etwas subtileren, allerdings auch weniger spektakulären Mitteln. Im Kern ist TWARZ ein relativ ruhig erzähltes Sozialdrama, dessen märchenhafte Elemente (Spuren von Frankenstein, wenn man so will) eher unterschwellig als offenbar sind. Der Realismus wird dadurch gestört, dass die Cinemascope-Bilder von Anfang an viele Unschärfebereiche haben: nur etwa ein Drittel ist scharf zu sehen. Das sieht ziemlich interessant aus, und soll den Zuschauer wohl auch in das Sichtfeld des Protagonisten einfühlen lassen (beim Unfall wird auch eines seiner Augen schwer verletzt, und tränt fortan permanent). Das ergänzt sich mit den Einengungen, die die natürliche Umgebung des Schauplatzes physisch und vor allem geistig seinen Protagonisten auferlegt: Höhepunkte des sozialen Lebens sind die regelmäßigen Gottesdienste, Hauptarbeitgeber des Orts ist die katholische Kirche, die den Bau der riesigen Jesusstatue organisiert hat (aber nicht bezahlt – das wurde er durch Spenden), wenn dort irgendetwas schief läuft, werden die Roma dafür ausgeschimpft, ab und zu gibt es Familienfeste (bzw. -besäufnisse), wo die neuesten rassistischen Witze ausgetauscht werden, bisweilen gibt es eine triste Dorfdisco und wer davon spricht, vielleicht mal nach England zu gehen, wird angeschrieen, weil Polen ja ausschließlich nach Polen gehören. TWARZ ist vielleicht noch hoffnungsloser als POKOT, denn in letzterem wehrt sich jemand gegen den Status Quo.
TWARZ ist sicherlich kein schlechter Film, aber mich hat er trotzdem nicht vollends überzeugt oder wirklich mitgerissen.
Der polnische Originaltitel bedeutet übrigens ganz neutral „Gesicht“. Für den internationalen Markt wurden teils die pejorative Bezeichnungen („Mug“ oder eben „Fratze“) genommen. Hintergrund, so Hauptdarsteller Mateusz Kościukiewicz im anschließenden Q & A, war die unmittelbare Reaktion Jerzy Skolimowskis, der nach einer privaten Sichtung des fertigen Films spontan die polnische Entsprechung von Fratze als Titel vorschlug.


2. Festivaltag
Donnerstag, 19. April

10.15 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

AURORA BOREALIS
Regie: Mészáros Márta
Ungarn 2017
104 Minuten, DVD
Die Ungarin Olga lebt und arbeitet in Wien. Als ihre Mutter Maria in Ungarn in ein Koma fällt, reist sie mit ihrem Sohn an und entdeckt nach und nach verschüttete Familiengeheimnisse, die in den sowjetisch besetzten Sektor Wiens kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führen.
© goEast Filmfestival
Liebend gerne hätte ich AURORA BOREALIS im Kino gesehen, doch leider sollte er erst am Montag Abend, also nach meiner Rückfahrt, laufen. Mészáros Márta ist schließlich seit dem letzten goEast keine Unbekannte mehr für mich. Thematisch kommt der Film wohl dem „Tagebücher“-Zyklus sehr nahe, insofern hier wieder das Historische und Politische mit dem Privaten und dem Gegenwärtigen verknüpft wird.
AURORA BOREALIS beginnt mit einer anonymen Geburt: eine hochschwangere Frau schleppt sich durch einen Korridor, während im Hintergrund eine andere Frau ein Kind gebärt, kippt schließlich um und bereitet sich selbst, einsam, auf die Geburt vor... Diese dramatische Geburt oder Doppelgeburt und vor allem ihre Umstände prägt im weiteren Verlauf des Films drei Generationen von Ungarn und führt die Protagonisten von Budapest über Wien bis in das Gebiet Murmansk im russischen Norden. AURORA BOREALIS setzt sich in drei Zeitebenen, drei Orten und vielen Figuren, deren Namen und Identität teilweise unklar sind, nach und nach wie ein Puzzle der Erinnerungen zusammen.
Sehr bemerkenswert ist, wie kalt und grau der Film farblich wirkt: die zeitgenössischen und die historischen Wien-Szenen wirken trostlos, fast monochrom. Kontrapunktisch warm und sommerlich präsentieren sich hingegen die Szenen im stalinistischen Ungarn. Immer wieder kehrt der Film zu einer Rückblende zurück: Maria, die mit ihrem Verlobten Ákos, einem verfolgten Adeligen, in einem Teich Liebe macht. Momente, die in strahlenden Sonnenstrahlen getaucht sind.
Es geht in AURORA BOREALIS um den stalinistischen Terror der frühen 1950er Jahre in Ungarn, um Flucht aus der Diktatur, um Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten im besetzten Österreich, um den stalinistischen Terror der sowjetischen Besatzer in Wien, der sich gegen die eigenen Leute, aber auch deren (österreichische) Liebste richtete. Und natürlich geht es auch um Liebe, die nationale Grenzen überwindet, um Freundschaft, um die Schwierigkeiten, Familientraumata innerhalb der eigenen Familie zu bewältigen, um entfremdete Verwandtschaftsbeziehungen. Beide Seiten ihrer Geschichte verbindet Mészáros auf meisterliche Art, so dass niemals der Eindruck entsteht, ein politisch-historisches Thesenwerk oder ein einfaches Rührstück mit period-Einschlag zu sehen. Im Gegenteil: ein starker Film, der die Handschrift einer echten Altmeisterin trägt. Im Kino ist er bestimmt noch besser.


13.30 Uhr, Caligari FilmBühne

NIPERNAADI
Regie: Kaljo Kiisk
Sowjetunion (Estland) 1983
89 Minuten, DCP
Estland, Anfang des 20. Jahrhunderts: Toomas Nipernaadi treibt sich durch die Dörfer, spielt ahnungslosen Bauern üble Streiche, versucht, diverse Bauernmädchen zu verführen und landet schließlich in einem abgelegenen Strandhaus.
Irritierend künstliche Beleuchtung im natürlichen Setting
© goEast Filmfestival
NIPERNAADI ist ein schwieriger, sehr schwieriger Film. Zumindest mich hat er vollkommen ratlos und verwirrt zurückgelassen. Angekündigt wurde er als eine Art estnische Kreuzung aus Baron Münchhausen und Casanova, aber die Keckheit, Lebensfreude und Beschwingtheit, die man mit diesen Figuren vielleicht in Verbindung bringen könnte (Fellinis schaurig-morbide Interpretation des Casanova mal außen vor gelassen), findet man hier nicht.
Der Film arbeitet oft mit visuell sehr extremen Kontrasten zwischen der realistischen Landschaft (zweifelsohne wurden viele Szenen in der freien Natur gedreht) und einer merkwürdig künstlichen Beleuchtung: immer wieder werden die Gesichter der Protagonisten von der Seite leicht rötlich angestrahlt. Die Natürlichkeit der Bilder wird gestört, ohne in eine echte Künstlichkeit überzugehen (außer gegen Ende) und so entsteht etwas Undefinierbares, Einzigartiges, Verwirrendes. Das zieht sich durch den ganzen Film und charakterisiert ihn auch insgesamt.
Die Handlung kohärent wiederzugeben erscheint mir fast unmöglich. Der Film beginnt damit, dass Toomas Nipernaadi vom Tod einer alten Frau in einem Bauernhaus erfährt, dort hin radelt und die drei trauernden jungen Söhne davon überzeugt, ihm die Verwaltung des Guts zu überlassen. Nipernaadi inszeniert dann eine missverständliche Situation, die die drei Brüder dazu bringt, das Haus nieder zu brennen – dann geht Nipernaadi seines Wegs weiter. Die Episode wirkt wie eine Art absurder Witz ohne echte Pointe. Wer jetzt erwartet, dass der Film sich als eine Abfolge von kleinen Episoden entwickelt (und das habe ich ehrlich gesagt ein bisschen getan), wird vollkommen auf falschem Fuß erwischt werden. Die junge Frau, der er in der ersten Episode den Hof gemacht hat, lässt er offenbar links liegen, um im nächsten Dorf dann mit der Tochter der Gutsbesitzer anzubandeln – und schließlich doch mit dem etwas zersausten, pummeligen Dienstmädchen abzuhauen. Oder doch mit der Gutsbesitzertochter? Beide weibliche Figuren tauchen in keiner Szene gemeinsam auf, und beim Weiterziehen mit Nipernaadi scheinen beide zu einer Art „Synthese“ verschmolzen zu sein... Wurden sie etwa von der gleichen Darstellerin gespielt?
Irgendwann lässt Nipernaadi auch dieses Mädchen links liegen, freundet sich mit einem Holzfäller an und übernachtet schließlich in dessen Strandhütte. Und beide warten darauf, dass die Verlobte des Holzfällers zurückkommt. Als diese zurückkommt, geht der Holzfäller und Nipernaadi bleibt. Hier wandelt sich NIPERNAADI visuell. Nur noch wenig freie Natur, sondern ein Kammerspiel in einer leeren Hütte, irritierend überbelichtet, mit Schnitt-Gegenschnitt-Dialogen zwischen Nipernaadi und der Verlobten des Holzfällers, beide in die Kamera schauend. Draußen ist vielleicht die Apokalypse ausgebrochen, oder wir befinden uns doch im Jenseits: die karge Strandlandschaft mit dem weißen Sand wird dermaßen surreal überbelichtet gefilmt, dass wir uns kaum noch in der richtigen Welt wähnen...
Ich scheitere. Ich kapituliere. NIPERNAADI ist, obwohl er chronologisch erzählt wird, nicht weniger verwirrend als Alain Robbe-Grillets L'HOMME QUI MENT, den ich am nächsten Tag sah. Nein: verwirrender, denn bei Robbe-Grillet fand ich zumindest Ansatzpunkte von Interpretation, und visuell durchaus eine gewisse vertraute Tradition Neuer Wellen. NIPERNAADI erscheint mir völlig eigensinnig und einzigartig. Ich weiß nur, dass ich größtenteils sehr fasziniert war. Der einzige Orientierungspunkt, der darauf hinwies, dass ich möglicherweise eben ein verkapptes Meisterwerk gesehen hatte, kam knapp fünf Stunden später, als ich einen weiteren Film Kaljo Kiisks sah. Aber dazu weiter unten mehr...


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

NIEKAS NENORĖJO MIRTI („Niemand wollte sterben“)
Regie: Vytautas Žalakevičius
Sowjetunion (Litauen) 1966
107 Minuten, DCP
Litauen, 1947: offiziell ist das Land zwar schon „sowjetisiert“, tatsächlich aber sind auf dem flachen Land die Inseln sowjetischer Herrschaft sehr isoliert. Die sogenannten Waldbrüder kämpfen einen Guerillakrieg gegen die kommunistische Macht. In einem Dorf wird wieder einmal ein Vorsitzender des Dorfsowjets von den Partisanen ermordet. Dessen vier Söhne schwören Rache und sind wild dazu entschlossen, mit den Waldbrüdern in ihrer Region Schluss zu machen. Sie zwingen einen ehemaligen, amnestierten Waldbruder, das vakante und hochgefährliche Amt zu besetzen. Intrigen, Verrat, doppelte Spiele und Kämpfe folgen...
© goEast Filmfestival
Die Eingangsszene von NIEKAS NENORĖJO MIRTI ist ein großes Versprechen. Kontrastreiches Schwarzweiß, Cinemascope, karger Raum einer Bauernhütte mit einem Schreibtisch, an dem ein älterer Mann sitzt. Die Kamera nähert sich ganz langsam dem Schreibtisch, während sich der Mann eine Pfeife anzündet und zwischendurch kurz nach einer Pistole greift, deren Lauf er (glaube ich) kurz in die Flamme hält. Dann der erste Schnitt, jetzt sieht man ihn von hinten – und ein Schuss fällt. Der Mann fällt tot um. Einige Männer dringen in den Raum, schleifen den noch blutenden Leichnam vom Schreibtisch weg und verbrennen die Papiere, die sich darauf befinden. Toll. Beste Szene des Films!
Im Programmheft wurde NIEKAS NENORĖJO MIRTI als „roter baltischer Western“ bezeichnet. Olaf Möller bezeichnete das in seiner Einführung als Quatsch und nannte den Film einen „Nachkriegs-Actionfilm“. Gegen beides hätte ich nichts einzuwenden gehabt, aber letztlich hab ich von beidem recht wenig gefühlt.
Gerade die Actionsequenzen waren für einen „Actionfilm“ recht rar, denn von ihnen gab es im Grunde nur zwei: einen Hinterhalt in einer Mühle, bei dem sich viele einzelne Gegner gegenseitig ausschalten, aber ohne, dass wirklich ganze Gruppen aufeinandertreffen und der finale große Shootout im Dorf. Beide Szenen lesen sich hier ganz nett, aber sie schienen mir chaotisch, inkohärent, ohne Raumgefühl und Gespür für Timing inszeniert zu sein. Erschwerend kam noch hinzu, dass die Darsteller der vier Söhne, die sich für die Ermordung ihres Vaters rächen wollen, recht hölzern und charismafrei waren. Den hölzernsten von ihnen sah ich (leider) noch in zwei weiteren litauischen Filmen während des Festivals.
Ein gänzlich anderes Format war hingegen Donatas Banionis, der den unfreiwilligen Dorfsowjetvorsitzenden spielt. International bekannt ist er als Hauptdarsteller in Konrad Wolfs GOYA – ODER DER ARGE WEG DER ERKENNTNIS und Andrej Tarkovskijs SOLJARIS. Vor allem er hielt mein Interesse an NIEKAS NENORĖJO MIRTI aufrecht, denn sein Spiel war der komplexen Figur des amnestierten Waldbruders, unfreiwilligen Sowjetbeamten und Doppelagenten der Waldbrüder durchaus gewachsen.
Als Western oder Actionfilm scheint mir NIEKAS NENORĖJO MIRTI wenig zu taugen. Als komplexes Melodrama über Intrigen und Verrat scheint er mir interessanter. Die Waldbrüder werden keineswegs verteufelt, während die Sowjetmacht amorph wirkt und überhaupt nicht klar rüberkommt, warum sie die bessere Alternative sein sollte. Ideologie (ob sowjetischer Kommunismus oder litauischer Nationalismus) scheint jedenfalls kaum eine Rolle zu spielen, denn dafür sind sämtliche Charaktere zu stark von anderen Zwängen eingeengt: persönliche Loyalitäten, Eifersuchtsgefühle (drei Männer streiten sich um einen Love Interest), purer Rachedurst oder das verzweifelte Lavieren zwischen dem zeitgleichen Druck der Sowjetmacht und der Waldbrüder. Diese Zwänge spürbar zu machen, das macht NIEKAS NENORĖJO MIRTI doch recht gut.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

PURVA BRIDĒJS („Der Sumpfwater“)
Regie: Leonīds Leimanis
Sowjetunion (Lettland) 1966
85 Minuten, HD-File
Lettland, Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Stallbursche Edgar liebt das Dienstmädchen Kristina, doch ihr Liebesglück steht unter keinem guten Stern. Kristinas Mutter hegt eine starke Abneigung gegen Edgar, der gerne mal einen über den Durst trinkt, Karten spielt oder auch mal das Mobiliar der Dorfkneipe auseinander nimmt. Deswegen und auch wegen seiner Frechheit macht sich Edgar beim Gutsverwalter unbeliebt, der anfängt, Intrigen zu spinnen. Derweilen wirbt ein junger Emporkömmling um die Hand Kristinas, die durchaus für eine Vernunftsehe dieser Art offen ist.
Ein Running Gag im Film: die Tochter des deutschen Gutsherren möchte gerne in Ruhe
Klavier spielen und schließt immer wieder das Fenster, wenn draußen die Bauern zu viel
Krach machen
© goEast Filmfestival
Gegen period-Melodramen habe ich eigentlich nichts, aber PURVA BRIDĒJS war dann doch in vielerlei Hinsicht nicht so meins. Das Hauptproblem war ganz offensichtlich, dass mir die Hauptfigur, und das ist leider Edgar, gänzlich zuwider war. Was man etwas poetisch als rebellisches Aufbegehren bezeichnen könnte, ist im Grunde das Verhalten eines rüpelhaften Dorf-Prolls, dessen intellektuelle Fähigkeiten und emotionales Einfühlungsvermögen etwa so groß wie der Inhalt eines kleinen Schnapsglases sind. Wenn Edgar die Einrichtung der Dorfkneipe zerstört und Fenster einschlägt, weil ihm die zwei eben getrunkenen Biere zu Kopf gestiegen sind, dann wirkt das mitnichten heldenhaft und verwegen, sondern nur eben nur asozial. Dass er zwischendurch Katrin mal nach einer langen Verfolgung durch das Herrenhaus de facto vergewaltigt, verleiht ihm keine Sympathiepunkte: zwar könnte man irgendetwas wegen „Frauenbild“ in den 1960er Jahren oder gar über das Frauenbild der dargestellten Zeit was argumentieren – Edgar bleibt ein musterhaft schmieriges Arschloch. In einem Blog-Kommentar mit gänzlich anderem Kontext benutzte einmal jemand den Begriff der „Date-Rape-Fresse“: den muss ich mir jetzt für Edgar borgen. Und wenn der gute Edgar dann noch seiner Kristina ewige Liebe und sowie Enthaltsamkeit von Glücksspiel und Alkohol verspricht, nur um etwa zwei Filmminuten (und wahrscheinlich nicht einmal 60 Minuten „echter“ Zeit in seiner Welt) darauf seinen Wochenlohn beim Kartenspielen in der Kneipe zu versaufen und dabei die Kellnerin mit Hundeblicken und sich verselbständigenden Händen zu bedrängen, dann konnte ich wirklich nicht anders, als innerlich dem Gutsverwalter viel Glück bei seinen Intrigen gegen den Stallburschen zu wünschen.
Der bürgerliche Emporkömmling, der ein schönes Gut sein Eigen nennen kann, sollte sicherlich erst einmal eher als negative Figur wirken, aber letztendlich ist er ein gediegener, freundlicher, unaufdringlicher Mann, der in seinem Werben um Kristina stets sehr zurückhaltend wirkt. Die Idee, dass eine Frau ihn nicht nur des Geldes und des sozialen Aufstiegs wegen statt des Dorfrüpels heiraten möchte, scheint nicht völlig abwegig. Daher erschien es mir am Ende ganz besonders dämlich, dass sie in den letzten Schritten vor dem Hochzeitsaltar inne hält und doch zu Edgar geht. Der Film konzipierte das als einen überwältigend-emotionalen Höhepunkt, aber ich stellte mir schon vor, wie im imaginären Sequel Edgar seine Kristina in deren Hochzeitsnacht völlig betrunken zu Tode prügelt, und dann – sich ihres Tods nicht bewußt – in die Dorfkneipe zum Kartenspielen geht.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

HULLUMEELSUS („Wahnsinn“)
Regie: Kaljo Kiisk
Sowjetunion (Estland) 1968
79 Minuten, HD-File
Im Nazibesetzten Estland 1943: das Land ist für „judenfrei“ erklärt worden, und jetzt machen sich die Nazis dran, Geisteskranke zu ermorden. Eine Irrenanstalt wird besetzt, die Insassen sollen zu einem „Waldspaziergang“ hinausgeführt und getötet werden. Doch ein Gestapo-Offizier stoppt das ganze: er will einer anonymen Denunziation folgen, der zufolge sich ein britischer Spion unter den Patienten befindet. Zunächst als Arzt, später als Patient getarnt, will er den Spion entlarven – doch der Wahnsinn greift immer mehr um sich...
© goEast Filmfestival
Ein Film, so Samuel Fuller, sollte den Zuschauer vom ersten Bild an bei den Eiern packen und bis zum Ende nicht mehr loslassen. HULLUMEELSUS hat das auf jeden Fall bei mir geschafft. Fuller hier zu erwähnen, erscheint mir zumal sehr sinnvoll, da Kiisks Film möglicherweise eine gewisse Ähnlichkeit zu SHOCK CORRIDOR (den ich aber bisher leider noch nicht gesehen habe) aufweisen könnte: Schauplatz Irrenanstalt, ein „Normaler“ ermittelt Undercover unter den Patienten... Bloß, dass HULLUMEELSUS innerhalb einer Filmindustrie entstanden ist, die noch erheblich weniger Freiheit bot als Hollywood.
Ein idyllisches Fleckchen am Waldrand, mit einem großen Gebäude auf einer Anhöhe, doch die Idylle wird  durch ein Schild gestört, auf dem in großen Buchstaben „JUDENFREI“ prangt und natürlich durch eine Einheit deutscher Soldaten, die durch das Bild stiefelt und dann auch bald in die Irrenanstalt einmarschiert. Manche der Patienten beachten die Soldaten nicht, doch einer von ihnen heftet sich ihnen gleich an die Fersen und äfft in hysterisch-überdrehter Art die Bewegungen des voranschreitenden Offiziers nach. Irgendwann zwischendurch stolpert der Patient in einen Gartenteich, aber beim Stillgestanden steht er wassertriefend wieder neben dem befehlsgebenden Offizier und vermasselt ganz ordentlich das seriöse Bild, das die deutschen Soldaten von sich geben möchten. Ein unangenehmer und trotzdem fast zum Schreien komischer Moment. HULLUMEELSUS ist auch eine sehr schwarze Komödie.
Über 500 Patienten befinden sich in der Anstalt, und Windisch, der Gestapo-Offizier, der sich erst einmal als Arzt getarnt hat, geht deren Akten durch und beschränkt den Kreis seiner Verdächtigen auf etwa ein halbes Dutzend. Da ist ein deutscher Soldat, der innerhalb seiner Truppe Amok gelaufen ist und danach desertierte. Des weiteren verdächtigt Windisch auch einen Mann, der sich für einen römischen Cäsar hält: angezogen in einer selbst gefertigten Toga stolziert er arrogant durch die Anstalt, beschimpft jeden, der ihm nicht sofort zu Diensten ist und spricht sehr rasch Todesurteile aus – so auch gegen den in Weiß bekittelten Windisch, der von dieser Vorstellung paradoxerweise vollkommen schockiert ist (obwohl nach Ende seines Auftrags selbstverständlich alle Patienten ermordet werden sollen). Hinzu kommt noch ein Schriftsteller, der unter starken Halluzinationen und vor allem unter einer Schreibblockade leidet, und davon überzeugt ist, vom Teufel besessen zu sein. Windisch verdächtigt auch einen Mann mit schwerer Amnesie, der aus einem jüdischen Ghetto kommt, aus dem man ihn rausgeholt hat, weil er wohl nicht jüdisch ist (der aber vielleicht auch ein geretteter Jude ist). Die Verdächtigen-Riege wird von einer Frau abgerundet: eine schwer paranoide und nymphoman veranlagte Berufsdenunziantin, die fürchterliche Angst vor Spionen hat und Windisch immer wieder zu verführen versucht.
HULLUMEELSUS konzentriert die Handlung zwar größtenteils auf diese Personen, nebst dem Direktor der Anstalt, der im Gespräch mit Windisch immer wieder seine humanistischen Ansichten über die würdige Behandlung kranker Menschen durchklingen lässt. Die erste Hälfte des Films ist dann auch eine Art Abfolge von Befragungsszenen mit Windischs Hauptverdächtigen. Aber auch zwischendurch sieht man immer wieder eine ganze Riege von Charakteren. Einer, der im Garten endlos im Kreis um einen Springbrunnen läuft und dabei Mundharmonika spielt (dargestellt von Regisseur Kaljo Kiisk persönlich), inspiriert den Film gewissermaßen zu seinem bizarr-faszinierenden Soundtrack aus elektronisch verfremdeten Akkordeonklängen. Ein älterer Herr fragt den „neuen Arzt“ immer wieder beim Vorbeigehen, ob er ihn nicht bereits schon einmal gesehen habe. Abseits sitzt ein Mann auf einem Fußboden mit schwarzweißen Kacheln und spielt völlig selbstvergessen mit sich selbst Schach.
Nach den Einzelbefragungen, die nichts ergeben haben, weil die einen die Anspielungen auf eine Zusammenarbeit mit der englischen Regierung überhaupt nicht verstanden, die anderen hingegen viel zu bereitwillig alle möglichen abstrusen Beschuldigungen gedankenlos zugaben, bekommt Windisch eine neue Idee: er will alle Verdächtigen in einen Raum bringen und ihnen so lange Alkohol einflößen, bis der Schuldige sich im Rausch verplappert. Das ganze tarnt Windisch als feierlichen Umtrunk, und hier löst sich der Film für mehrere Minuten fast komplett auf. Die manische Überdrehtheit der Patienten erreicht ungeahnte Höhepunkte, während sich der Raum auch nach und nach ändert: der recht sterile, krankenhaustypische weiße Raum wird farblich dunkler, die Wände verwandeln sich in grobe Holzlatten und wir sehen, dass das ganze ein riesiger Käfig geworden ist, der draußen im Freien steht.
Nicht nur den Zuschauer zu überraschen, sondern ebenso visuelle Stilbrüche beherrschte Kaljo Kiisk auch schon fünfzehn Jahre vor NIPERNAADI sehr gut. Die eher klassische Inszenierung mit flüßigen, eleganten Kamerafahrten lässt HULLUMEELSUS zwischendurch unvermittelt fallen, um das Treiben in holprig-nervöser Handkamera festzuhalten und ruckartig in Gesichter reinzuzoomen. Ein Wechselbad aus elegischen Bildern und einem „dreckigen“, experimentellen Stil, der mich ein wenig an Brynych erinnert hat (besonders die Kombination aus Handkameraschwenks und Zooms).
HULLUMEELSUS ist stellenweise urkomisch, manchmal so grausig wie ein Horrorfilm, er ist kafkaesk und grotesk, dabei auch von großer Poesie. Er wird in keiner einzigen Sekunde banal. Mein persönlicher Festivalsliebling und schon jetzt einer der allerbesten Filme, die ich dieses Jahr gesehen habe. Unglaublich!


3. Festivaltag
Freitag, 20. April

16.00 Uhr, Apollo-Kino

O SLAVNOSTI A HOSTECH („Vom Fest und den Gästen“)
Regie: Jan Němec
ČSSR 1966
68 Minuten, DCP
Nach einem ausgelassenen Picknick im Wald werden einige Menschen von einer Bande festgehalten, die eigene Vorstellungen von Picknick und Feiern haben...
Die Ankündigung der Moderatorin war verunsichernd: irgendetwas mit Bild und Ton und Untertitel, die nicht synchron seien? Nun tatsächlich: das Bild der digitalen Kopie war super, der Ton war auch durchaus synchron mit den Bildern – allerdings waren die Untertitel zeitversetzt und wurden etwa zwei Minuten zu früh angezeigt (der Abstand wurde mit zunehmender Laufzeit immer größer). Das führte dazu, dass man als Zuschauer gewissermaßen alles „im Voraus“ denken musste, was, gelinde ausgedrückt, suboptimal war, zumal O SLAVNOSTI A HOSTECH ein extrem dialoglastiger Film ist. Totalausfälle bei Filmprojektionen: diese unschöne Tradition des goEast setzt sich fort!
Als ich schließlich den Kinosaal nach etwa 40 Minuten verließ, sah ich, dass doch erstaunlich viele Zuschauer weiter verharrten. Verstanden möglicherweise einige Tschechisch auch so? Vielleicht hätte ich länger durchgehalten, aber die extrem enge Zeittaktung mit dem nächsten Film gab den Ausschlag, rauszugehen und in gemütlichem Schritt (zumal bei einer unangenehmen, fast sommerlichen Hitze) zum Murnau-Kino zu gehen. Second Run hat O SLAVNOSTI A HOSTECH auf DVD veröffentlicht, er ist also nicht grundsätzlich für mich „verloren“. Und der nächste Film war in der Tat eine absolute Wucht!


17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

235 000 000
Regie: Uldis Brauns
Sowjetunion (Lettland) 1967
106 Minuten, 35mm
235 Millionen Menschen leben in der Sowjetunion. Der Film portraitiert sie beim Aufwachsen, Heiraten, Tanzen, Feiern, Arbeiten, Entspannen...
235 000 000 war eigentlich ein Auftragsfilm anlässlich des 50. Jahrestags der Oktoberrevolution, aber davon ist verhältnismäßig wenig zu sehen, oder zumindest nicht in einer Weise, die man erwarten würde. Auftragsfilm für ein Revolutionsjubiläum – das klingt erst einmal nach einem stocksteifen Dokumentarfilm, in dem ein Off-Kommentator dem Zuschauer langweilige Statistiken über das Wachstum der Schwerindustrie und Landwirtschaft reinprügelt, während Bilder von gestählten Arbeitern zu sehen sind, die mit geschmolzenem Metall irgendetwas Großartiges gießen. Tatsächlich ist 235 000 000 ein dialog- und kommentarloses Bildgedicht über die ominösen 235 Millionen Bewohner der UdSSR, und in erster Linie eine hymnische Feier der Menschen, des Lebens, der Freude am Leben. Wenn filmische Stadtsinfonien bestimmte Städte feiern, dann ist 235 000 000 wohl als Menschensinfonie zu bezeichnen.
Menschen bei Alltagshandlungen, Menschen beim Feiern, viele Gesichter, viele Augenpaare: das steht im Mittelpunkt des Films. Es gibt lange Montagesequenzen mit Menschen, die über die ganze Sowjetunion verteilt ähnlichen Tätigkeiten nachgehen, zum Beispiel, sich bei Hochzeitsfeiern zu amüsieren. Mehrere Dutzende Hochzeitsfeiern kommen hintereinander, und das Bild, das 235 000 000 von der UdSSR zeichnet, ist über weite Strecken nicht russisch. Zu sehen gibt es viele „exotisch“ aussehende Zeremonien aus der Peripherie: aus dem Kaukasus, aus Zentralasien, aus nordrussischen indigenen Regionen, wahrscheinlich auch aus Gebieten mit koreanischen Minderheiten. Ich schreibe „exotisch“ in Anführungszeichen, weil der Film radikaldemokratisch in seiner Annäherung an alle gezeigten Menschen ist: niemand wird exotisiert.
Wie der Film mit dem Verhältnis von Mensch und Staat umgeht, zeigt sich vielleicht in den Bildern eines hochoffiziellen Parteitags (oder einer ähnlichen Veranstaltung: mangels Off-Kommentar oder Zwischentitel konnte ich vieles nicht präzise einordnen – aber für das Verständnis des Films ist das auch unwichtig). Ja, 235 000 000 zeigt Bilder von der Sitzung selbst, mit formeller Begrüßung der Delegierten (Breschnew ist da auch kurz zu sehen), und den gefüllten Plenarsaal. Viel lieber und länger verweilt er danach im Vorraum bei der Pause und beobachtet die Delegierten und die Gäste bei informellen Gesprächen und beim Entspannen. Darunter findet sich auch ein älterer Herr, bei dem die Kamera länger verweilt: er hat es sich in einem Sessel gemütlich gemacht, ab und zu greift er in das Schälchen auf dem Beistelltisch und wirft sich genüsslich dann eine Erdnuss in den Mund. 235 000 000 ist keineswegs ein subversiver Film: vielmehr anerkennt er die Sowjetunion als eine Normalität – eine Normalität, die es Menschen erlaubt, sich richtig zu entspannen und es der Kamera ermöglicht, den Blick auch länger einfach mal schweifen zu lassen.
Der Blick auf die Menschen – und die Blicke der Menschen. Die Kamera beobachtet die Gesichter, oft in Nahaufnahme, und die Gefilmten blicken zurück. Vielleicht ist 235 000 000 einer der unvoyeuristischsten Filme überhaupt, weil er dazu einlädt, die Barriere zwischen den Beobachtern und den Beobachteten einfach aufzulösen.
Drei große Höhepunkte für mich... Ein Pferderennen in einer Steppenlandschaft zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann (Teil einer Hochzeitszeremonie?), wobei die Dame haushoch gewinnt. Zweifelsohne eine der dynamischsten reinen Actionszenen, die ich in letzter Zeit gesehen habe. Ein traditioneller Tanz, ebenfalls in einer nicht-russischen Region (Zentralasien oder vielleicht der hohe Norden?): die offensichtlich bestens gelaunten Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich zu einer Handtrommelmusik, doch der Film unterlegt die Szenen kontrapunktisch mit einem fetzig-jazzigen Bläserscore – ein kleiner Twist in der sowjetischen Steppe. Und schließlich die Kamera, gerichtet auf die Stirn einer jungen Frau mit einem zeremoniellen Kopftuch – mit einem langsamen Schwenk senkt sich die Kamera zu den Augen, die das ganze Cinemascope-Bild ausfüllen.
Im letzten Drittel gibt es eine Art Bruch in der Tonalität, weil eine längere Abfolge von Militärparaden, von Kampfflugzeugen, Panzern und Armeemanövern zu sehen ist. Musste hier ganz konzentriert der Auftrag des Films „abgearbeitet“ werden? Wer die Soldatenparade durchhält, wird danach wieder mit feiernden Sowjetbürgern in Zivil „belohnt“. Beziehungsweise mit feiernden Menschen, denn 235 000 000 zeigt in erster Linie Menschen, keine Sowjetbürger.
235 000 000 ist einer der berühmtesten Filme der „Rigaer Schule des poetischen Dokumentarfilms“, einer losen Filmbewegung, die Dokumentarfilme mit rein visuellen Mitteln zu produzieren versuchte (manchmal auch bezeichnet als „Baltische Neue Welle“). Der Hauptregisseur Uldis Brauns war eine Schlüsselfigur dieser Bewegung, ebenso wie der Drehbuchautor Herz Frank (bzw. Hercs Franks). Ābrams Kleckins wirkte ebenfalls an der Produktion des Films mit: er ist nach Wiesbaden zum Screening angereist und berichtete danach, dass 235 000 000 ein voll und ganz ein kollektiver Film sei und erst nach etwa der fünften Sichtung wirklich seine volle Wirkung entfalten würde. Als Co-Regisseurinnen erwähnt IMDb noch Biruta Veldre und Laima Žurgina. Meiner Meinung nach eine wohl genau so zentrale Rolle wie die Regisseure, Kameraleute und Autoren spielt der Komponist Raimonds Pauls. Der Film benutzt eher selten den natürlichen Ton, sondern ist fast durchgehend mit einem extrem abwechslungsreichen Score aus Orchester-Jazz, Piano-Jazz, klassischen Streichern (die ein zwischendurch wiederkehrendes Leitmotiv spielen), rockigen Nummern und elektronischen Ambiente-Sounds. Der Score interagiert wie in einem Paartanz mit den Bildern: manchmal geben die Bilder vor, wie sich die Musik entwickelt, manchmal ist es die Musik, die die Wegmarken für die Bilder setzt.
235 000 000 existiert bzw. existierte in drei verschiedenen Schnittfassungen. Es gibt eine Art Ur-Fassung von 130 Minuten, aber die ist höchstwahrscheinlich verschollen. Die Version mit 106 Minuten, die beim goEast lief und mit einer wunderschönen 35mm-Kopie zu den schönsten (und glücklicherweise pannenfreien) Projektionen dieses Jahr gehörte, war wohl eine Festival- bzw. Vorpremierenfassung. Im Kino wurde der Film schließlich in einer Länge von knapp unter 80 Minuten ausgewertet. Vielleicht waren zensurbedingte Schnitte enthalten, aber wahrscheinlicher ist es, dass der Film so besser „vermarktet“ werden konnte bzw. für publikumsfreundlicher gehalten wurde.


19.45 Uhr, Murnau-Filmtheater

Kurzfilmprogramm „(Post-)sowjetischer Dokumentarfilm“

SENIS IR ŽEMĖ („The Old Man and the Land“)
Regie: Robertas Verba
Sowjetunion (Litauen) 1965
20 Minuten, DCP
Portrait eines über 80-jährigen Bauern, der von seinem Alltag und dem Lebensweg seiner Söhne erzählt.
Zweifelsohne ein schöner Film, aber mir ist nicht besonders viel Erwähnenswertes in Erinnerung geblieben.


KELIONĖ ŪKŲ LANKOMIS („A Trip Across Misty Meadows“)
Regie: Henrikas Šablevičius
Sowjetunion (Litauen) 1973
10 Minuten, DCP
Vom Alltag eines Stationsvorstehers auf dem Land.
Auch hier: ein schöner Film, aber keine großen Erinnerungen. Vielleicht, weil der nächste Film alle anderen des Blocks geradezu verblassen ließ?


VĖLIAVA IŠ PLYTŲ („The Brick Flag“)
Regie: Saulius Beržinis
Sowjetunion (Litauen) 1988
30 Minuten, DCP
Der litauische Rekrut Artūras Sakalauskas, der als Bewacher in einem Gefangenenkonvoi abkommandiert ist, tötet bei einem Amoklauf acht Menschen. VĖLIAVA IŠ PLYTŲ untersucht dieses schockierende Ereignis und enthüllt, dass Sakalauskas Opfer systematischer Misshandlungen durch seine Kameraden und Offiziere war.
© goEast Filmfestival
Zwei Jahre Perestroika und keine Hoffnung in Sicht...
Der Sachverhalt scheint erst einmal deutlich: ein Soldat läuft Amok. Ein Verrückter wohl – der dann nach der juristischen Untersuchung in die Psychiatrie eingewiesen wird. Doch der Film macht nach und nach deutlich, dass hier überhaupt nichts einfach ist, sondern dass der Amoklauf das Symptom eines heruntergekommenen Systems ist. Artūras Sakalauskas, soviel wird rasch klar, wurde von seinen Armeekameraden und seinen Vorgesetzten systematisch gequält, psychologisch bedrängt, physisch misshandelt, gar regelrecht gefoltert. Und er war keineswegs der einzige. Im Film werden Rekruten befragt, die relativ nonchalant von gängigen Foltermethoden in der Roten Armee berichten, inklusive ihren verniedlichenden Bezeichnungen. Ein weit verbreitetes Phänomen, geradezu eine Tradition: Ranghöhere quälen Rangniedere, dienstältere Rekruten quälen neu hinzugekommene Rekruten, nicht-russische Rekruten werden in der Regel wesentlich schneller zu Opfern.
Die Eltern der Rekruten, die Artūras erschossen hat, werden befragt, und plötzlich wähnt man sich nicht in der vermeintlich progressiven Perestroika-Ära, sondern in der tiefsten Stalin-Zeit: den Sakalauskas müsste man unverzüglich wie einen Hund erschießen und nicht in einer Psychiatrie verwöhnen (wie es in sowjetischen Psychiatrien aussah, möchte man sich eigentlich nicht ausmalen). Dass ihre Söhne in Misshandlungen verwickelt waren, seien Lügengeschichten. Und wahrscheinlich sei der Sakalauskas ein finnischer Spion, der den Zug in Richtung Finnland entführen wollte. (Heute würden diese Leute das nicht in die Kamera sagen, sondern wohl bei facebook posten.)
Auch Offiziere der Roten Armee werden interviewt. Ihrer Meinung nach hätte sich Artūras auf dem korrekten Dienstweg über die Misshandlungen beschweren müssen. Und der hätte beinhaltet, dass er sich an seinen direkten Vorgesetzten, also einem Offizier, der ihn selbst misshandelte, wandte. Stattdessen beschwerte sich Artūras in seiner Kaserne bei wesentlich höherrangigen Offizieren – die seine Klagen ignorierten. Ein gewisses Umdenken findet ansatzweise statt, insofern über eine „unabhängige“ Beschwerdestelle für Soldaten nachgedacht wird.
Eine Lösung findet der Film schließlich in diesem Gewühl nicht. VĖLIAVA IŠ PLYTŲ ist eine schonungslose Anklage, die den Zuschauer nach einer halben Stunde völlig verstört, entmutigt, niedergeschlagen und hoffnungslos entlässt. Während des Vorspanns liest der Off-Kommentator mit zorniger Stimme eine Liste aller litauischer Rekruten, die während ihres Armeedienstes getötet wurden oder zu Tode gequält wurden oder aus Verzweiflung Selbstmord begangen haben. Es sind gut zwei Dutzend Namen.
VĖLIAVA IŠ PLYTŲ erschien 1988, und ich vermute, dass ein solch heftig anklagender Film, der keinen Zweifel daran lässt, dass die präsentierten Probleme mit dem sowjetischen Regime an zu tun haben, nicht viel früher hätte erscheinen können. Saulius Beržinis blieb auch nach dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Litauens Dokumentarfilmregisseur, betätigte sich aber auch in einem anderen Feld, nämlich der intensiven Erforschung des Holocaust in Litauen. Er war Mitbegründer des Unabhängigen Litauischen Holocaust-Archivs, sammelt bis heute Dokumente und Zeugenaussagen und dreht Dokumentarfilme über dieses Thema. Da seine Arbeit beinhaltet, dass er unter anderem über litauische Nazi-Kollaborateure und Holocaust-Mittäter forscht (von denen manche nach der Unabhängigkeit offiziell zu Freiheitskämpfern erklärt wurden), macht er sich im zeitgenössischen Litauen nicht überall Freunde.


RUDENS SNIEGAS („Autumn Snow“)
Regie: Valdas Navasaitis
Litauen 1992
16 Minuten, DCP
Die gnadenlose Tristesse eines litauischen Dorfes im ersten Winterschnee...
In eisig kalten, gnadenlos statischen Tableaus wird der Schneeeinfall in einem Dorf festgehalten. Das ist kein ermutigender, schöner, erhebender Anblick, zumal alle Häuser völlig hoffnungslos verfallen sind. Das brutal kontrastierte Schwarzweiß des Films hebt die Stimmung auch nicht. Eine Anklage gegen den großen „Fortschritt“, den über vierzig Jahre Sowjetherrschaft brachten?


ANTIGRAVITACIJA („Antigravitation“)
Regie: Audrius Stonys
Litauen 1995
20 Minuten, DCP
Die gnadenlose Tristesse eines litauischen Dorfes... – zum Zweiten!
Durch die Reihenfolge der Filme wirkte ANTIGRAVITACIJA wie ein strukturelles Remake von RUDENS SNIEGAS, mit dem Unterschied, dass die Kamera sich oftmals bewegte und dass sie zwischendurch leicht exzentrische und ungewöhnliche Positionen einnahm (zu Beginn etwa schwebt sie etwa 10 bis 15 Meter über dem Boden, den Blick senkrecht darauf gerichtet).


22.30 Uhr, Apollo-Kino

L'HOMME QUI MENT („Der Mann, der lügt“)
Regie: Alain Robbe-Grillet
Frankreich / ČSSR 1968
95 Minuten, DCP
Boris Varissa (Jean-Louis Trintignant) wird während des Zweiten Weltkriegs offenbar in einem Wald erschossen – oder auch nicht. Er kehrt in ein Dorf ein und beginnt, widersprüchliche Geschichten über seine Tätigkeiten und die des lokalen Widerständlers Jean Robin zu erzählen. Oder ist er selbst Jean Robin?
© goEast Filmfestival
L'HOMME QUI MENT lief in der Filmreihe zum 50. Jahrestag des Prager Frühlings. Er war, so die Ankündigung, die erste französisch-tschechoslowakische Koproduktion. Gedreht wurde er in der Slowakei, und gezeigt wurde eine slowakischsprachige Kopie (die meisten Angaben, die ich im Netz finde, weisen Französisch als Originalsprache aus). Die französische nouvelle vague besucht also die Tschechoslowakei während des Prager Frühlings...
Ich habe von Robbe-Grillet bisher nur L'ÉDEN ET APRÈS (ebenfalls tschechoslowakisch koproduziert) gesehen und weiß über die strukturelle Komplexität von Alain Resnais' L'ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (dessen Drehbuch Robbe-Grillet verfasste, den ich allerdings immer noch nicht gesehen habe) bescheid. Nun, L'HOMME QUI MENT ist auch ein Film, in dem Realität, Traum, Fantasien und Obsessionen ohne jegliche Vorwarnung ineinander übergehen, in dem die puzzle-hafte Form vollkommen überhand nimmt über jegliche klassische Erzählkonvention, indem Regisseur und Cutter zu eigenen Protagonisten mit einem undurchdringlichen Eigensinn werden. Das ist gleichermaßen „anstrengend“ wie auch absolut faszinierend.
Die Bedeutung des Films zu entschlüsseln, erscheint wahrscheinlich nicht nur mir als schwierig, gar fast unmöglich. Dennoch, einige Zeichen gibt es. Intuitiv würde ich allerdings sagen, dass L'HOMME QUI MENT wohl doch mehr ein französischer Film ist denn ein echtes Dokument des Prager Frühlings, und er vielleicht vom Umgang mit der Résistance in Frankreich handelt, darüber, wie ein Mythos der Résistance aufgebaut wurde, gemäß dem der Widerstand gegen die Nazibesatzung und das Vichy-Regime ein Massenphänomen war – und sich kritisch dagegen positioniert. Vielleicht wäre es interessant, L'HOMME QUI MENT zusammen mit Jean-Pierre Melvilles L'ARMÉE DES OMBRES zu sehen, einem Film, der wahrscheinlich noch „schwieriger“ ist, weil viel weniger spielerisch und der ebenso davon handelt, wie die Résistance eine auf sich zurückgeworfene Parallelwelt bildete. Um den Bogen noch mal ein Stück weiter zu spannen, mit Paul Verhoevens ZWARTBOEK (hier natürlich nicht für Frankreich, sondern für die Niederlande) könnte man L'HOMME QUI MENT auch im Doppelpack mal sehen: auch in Verhoevens Film geht es um uneindeutige Identitäten im Anti-Nazi-Widerstand.
L'HOMME QUI MENT ist tatsächlich ein sehr spielerischer Film, der sich von seiner eigenen, zersplitterten Form mitreissen lässt, und zwischendurch wird er fast slapstickhaft: Der Protagonist erzählt einmal eine völlig wahnwitzige Geschichte darüber, wie er Jean Robin mithilfe eines Heuwagens aus einer Festungshaft gerettet hat, aber das ganze wird vom Protagonisten (bzw. Trintignant) für einige Minuten fast mit einem Lachen im Gesicht gespielt, das Bild scheint (in meiner Erinnerung zumindest) einen Tick zu schnell zu laufen, in großen comichaften Gesten wird der deutsche Wachmann K. O. geschlagen.
Ja, L'HOMME QUI MENT ist vielleicht doch „einfacher“ als NIPERNAADI. Ein sehr guter Film ist er auf jeden Fall. Die letzte halbe Stunde war leider für mich angesichts der fortgeschrittenen Zeit und vor allem des fortschreitenden Verfalls meiner Tagesform geradezu quälend. Als 18- oder 20-Uhr-Film wäre er vielleicht besser geeignet gewesen.


Im bald folgenden zweiten Teil meines Berichts zum diesjährigen goEast-Festival geht es dann unter anderem um estnische Walddämonen, Rigaer Punks, brünstige Nägel, liebreizende frühneuzeitliche Adelsdamen im Barbarella-Outfit und zynische Budapester Hobby-Detektive...

Sonntag, 14. Mai 2017

Weiblich und visionär auf dem 17. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films – Teil 2

was bisher geschah... (Teil 1 des Festivalberichts)

Samstag, 29. April

ab 13.00 Uhr, Caligari FilmBühne

NAPLÓ GYERMEKEIMNEK („Tagebuch für meine Kinder“)
Regie: Mészáros Márta
Ungarn 1984
107 Minuten, 35mm
Ende der 1940er Jahre wird die ungarische Teenagerin Juli aus dem sowjetischen Kasachstan nach Ungarn zurückgeholt. Ihre Eltern, geflohene ungarische Kommunisten, waren dort gelandet, fielen aber Stalins Terror zum Opfer. Juli wächst nun bei einer neuen Ziehtante auf, einer Freundin ihrer Eltern: eine glühende und fanatische Stalinistin, ihres Zeichens seit kurzem Gefängnisdirektorin. Julia rebelliert zunehmend gegen ihre Adoptivmutter, findet Trost bei einem Gleichaltrigen, bei Filmen und bei einigen freundlicheren Bekannten ihrer Eltern. Der Terror greift aber immer mehr um sich.
© Stekovics Gáspár Photography
Vier „Tagebücher“ drehte Mészáros Márta zwischen 1984 und 1999 („für meine Kinder“ 1984 – „für meine Lieben“ 1987 – „für meinen Vater und meine Mutter“ 1990 – „das letzte Tagebuch“ 1999): in der Tetralogie führt die Protagonistin Juli den Zuschauer durch die stalinistische Ära in Ungarn, die noch erheblich repressiver ausfiel als in anderen ostmitteleuropäischen Ländern sowie durch die Wirren der Revolution von 1956. Das „letzte Tagebuch“ wie auch Teile des ersten Tagebuchs spielen in Kasachstan in den 1930er und 1940er Jahren. Die Filme waren autobiografisch: Mészáros selbst war die Tochter ungarischer Kommunisten, die in der Sowjetunion der 1930er Jahre dem Terror zum Opfer fielen. Mehrere ihrer Filme handeln von elternlosen jungen Frauen, die in kaputten, schwierigen, repressiven Verhältnissen aufwachsen.
NAPLÓ GYERMEKEIMNEK ist im Kern also ein weibliches Coming-of-Age-Drama im stalinistischen Ungarn. Die mit ruhiger Hand erzählte Geschichte einer Teenagerin, die eigentlich die gleichen banalen Probleme wie alle Teenager auf der Welt haben könnte, wenn sie nicht in so ungewöhnlichen Umständen geboren wäre. Sie ist die einzige, die sich an ihre Eltern erinnert und auch erinnern will, während alle Personen ihrer Umgebung ein Mantel des Schweigens über die „Gesäuberten“ legen. Ihr Heranwachsen besteht darin, immer heftiger gegen ihre Ersatzmutter zu rebellieren und dabei auf einsamer Front zu stehen, weil ihr ganzes Umfeld vor der mächtigen Parteibeamtin und Gefängnisdirektorin Angst hat, und der Film gewinnt in diesem Konflikt auch zunehmend an Intensität.
Ungarn war seit der großen innenpolitischen Liberalisierung ab den frühen 1960er Jahren das realsozialistische Land, in dem man am ehesten eine solche filmische Abrechnung mit den stalinistischen Jahren erwarten konnte. Mészáros ist in ihrer Darstellung der Ära sehr minutiös und schonungslos: Julis Eltern wurden in der Sowjetunion repressiert, doch die Regisseurin lässt keinen Zweifel daran, dass der ungarische Stalinismus auch tatsächlich ungarisch war und siedelt ihn konsequenterweise auf der denkbar persönlichsten Ebene an, nämlich dem Familienkreis.
Auch wenn mich NAPLÓ GYERMEKEIMNEK nicht zu Begeisterungsstürmen animiert, dürften weitere Sichtungen lohnenswert sein. Das ist problemlos möglich, denn der Film ist auf einer britischen DVD-Edition von Second Run erhältlich.
Vorführstörungen: kaum zu glauben, aber keine! Schöne Kopie, knackig-scharf eingestellt, richtig kadriert, nahtlose Rollenwechsel. Sachen gibt‘s...


ab 16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

A LÖRINCI FONÓBAN („In der Lörinc-Spinnerei“)
Regie: Mészáros Márta
Ungarn 1971
17 Minuten, 35mm
Einige Blicke in den Arbeits- und Freizeitalltag von Textilarbeiterinnen.
Mészáros nutzt in NAPLÓ GYERMEKEIMNEK zwischendurch immer wieder Archivmaterialien, zum Beispiel Wochenschauen. Ihr Inszenierungsstil ist eher nüchtern-realistisch als expressiv, so dass man auf die Idee kommen könnte, dass ihre Erfahrungen als Dokumentarregisseurin sich auf ihre Spielfilme auswirken. Interessanterweise ist gerade A LÖRINCI FONÓBAN, obwohl Dokumentarfilm, ein bisschen wie ein Spielfilm inszeniert. Der einleitende Kameraschwenk durch das Glas eines Buswartehäuschens in Nähe des Fabrikgeländes (der gleiche Schwenk in umgekehrte Richtung beendet den Film) lässt fast Episches erwarten. Etwa in der Mitte des Films bereitet sich eine junge Arbeiterin für einen Samstagbendball in der Stadt vor: sie zieht sich an, macht sich die Haare, schminkt sich. Dazu läuft ein fetziges Poplied, das von einem Mädchen handelt, das sich für den großen Ball vorbereitet. Das könnte ein billiger Effekt sein – aber irgendwie funktioniert es und macht diesen „alltäglichen“ dokumentarischen Moment sehr emotional.

ÖRÖKBEFOGADÁS („Adoption“)
Regie: Mészáros Márta
Ungarn 1975
89 Minuten, 35mm
Die Fabrikarbeiterin Kata, Anfang 40, ist ledig, hat aber eine Affäre mit einem verheirateten Mann und wünscht sich von ihm ein Kind. Sie lernt die 17-jährige Anna kennen, die in einem Waiseninternat zur Schule geht. Die beiden freunden sich an und Kata setzt sich dafür ein, dass Anna dem Internat entkommt und ihren Freund heiraten kann.
© Stekovics Gáspár Photography
„Female buddy movie“ wäre sicherlich der falsche Begriff für ÖRÖKBEFOGADÁS, weil mit der Bezeichnung dann doch zu viel Leichtigkeit und Lustiges transportiert wird. Doch auf jeden Fall ist Mészáros ein sehr bewegender und intensiver Film über eine außergewöhnliche Frauenfreundschaft gelungen, eine Frauenfreundschaft, die auch eine Beziehung zweier Aussenseiter ist: die eigenbrötlerische ledige Arbeiterin und die rebellische Waise.
In vielen Momenten ist ÖRÖKBEFOGADÁS ein Film von close-ups auf Gesichter und teils auf Körper, die oft aussehen, als wären sie mit einem Teleobjektiv gefilmt, ohne Kamerabewegung, aber mit kleinen Schenks und Zooms. Wo NAPLÓ GYERMEKEIMNEK manchmal etwas distanziert erscheint, wirkt ÖRÖKBEFOGADÁS umso intimer und auch emotional wesentlich intensiver. Dieser Stil mündet in die großartige Hochzeitsszene gegen Ende. Anna hat nun dank Katas Intervention ihren Freund geheiratet und sitzt mit ihm, Kata und einigen Gästen beim Bankett. Mit großer Freude sondiert die Kamera eine ganze Tischreihe von Gästen: eine regelrechte Parade der Gesichter, der ausgetauschten Blicke, des Lachens, aber auch einiger Trauerminen. Schließlich geht es ans Tanzen, und bald folgt der erste Streit (oder zumindest der erste im Film sichtbare Streit) des Paares, der dazu führt, dass der Bräutigam weggeht und die Braut einsam in einer Ecke zurückbleibt. Das ganze ist in der oben beschriebenen Manier gefilmt: Teleobjektiv, mit vielen Gesichtern und unscharfen Vorder- und Hintergründen, zu hören sind keine nachvollziehbaren Dialoge, sondern nur die Ambientegeräusche vieler verschiedener Gespräche und die penetrant fröhliche Musik der Tanzband. Ein großartiger Moment puren visuellen Erzählens und sicher der inszenatorische Höhepunkt des Films.
Eine weiterer schöner Moment: Kata und Anna gehen zusammen in ein Restaurant, um Cognac zu trinken und Spaß zu haben. Sie sind die einzigen Frauen im Lokal, und alle Männer glotzen sie regelrecht an. Ein junger Mann steht schließlich auf, tritt an den Tisch der beiden Frauen und will sich setzen, oder Anna zum Tanz einladen. Anna weist ihn lachend ab. Ein gesetzter, etwas älterer Herr weiß, dass der grüne Junge selbstverständlich keine Chance hat und die beiden Frauen eigentlich einen so unwiderstehlichen Gentleman wie ihn brauchen. Er wiederholt das Prozedere und wird dann genauso lachend abgewiesen. Nein, kein schmieriger, selbstverliebter Typ wird diesen beiden Frauen den Umtrunk verderben. Dieser beginnt zwar mit einigen Sätzen zwischen den beiden, doch der Rest wird wie die spätere Hochzeit nur noch mit den Ambientegeräuschen des Lokals und mit kaum vernehmbaren Dialoge gefilmt.
ÖRÖKBEFOGADÁS war der dritte und letzte Mészáros-Film, den ich beim Festival sah, und für mich der beste. Abgesehen von diesen zwei „großen Momenten“ fällt es mir schwer zu sagen, was genau an dem Film so faszinierend war.
Vorführstörungen: der Bildstand war über weite Strecken des Films extrem zittrig – die englischen Untertitel der Kopie waren verdächtig weit oben im Bild und irgendwie schien die Kadrierung etwas merkwürdig. Ist es also möglich, dass der Film „open matte“ projiziert wurde und so stark aufgezoomt wurde, dass das leichte Bildzittern, das der 35mm-Vorführung in geringem Maße inhärent ist, sich krass verstärkte?


ab 18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

Polnischer Dokumentar-Kurzfilmblock „Die werktätige Frau“

DZIEWCZĘTA Z „NAWOJKI“ („Die Mädchen aus „Nawojka““)
Regie: Maria Kwiatkowska
Polen 1963
14 Minuten, 35mm
Eindrücke aus einem Wohnheim für weibliche Studenten in Krakau.
Da wir uns in Polen befinden, gibt es als Begleitmusik Jazz, ohne, dass da irgendetwas Anrüchiges suggeriert wird. Einige kurze Momente, in denen wir mehrere junge Frauen in einem Raum sehen – eine schläft, zwei lesen/lernen, eine isst, eine bügelt – gewähren einen Einblick in die beengten Wohnverhältnisse.

24 GODZINY JADWIGI L. („24 Stunden der Jadwiga L.“)
Regie: Krystyna Gryczełowska
Polen 1967
15 Minuten, 35mm
Ein Tag im Leben der Metallarbeiterin Jadwiga zwischen Nachtschicht und häuslich-familiären Pflichten.
Gänzlich ohne Kommentare sehen wir den Alltag einer Arbeiterin, die nebenbei auch noch Ehefrau und Mutter ist. Aufstehen, arbeiten, einkaufen, kochen, waschen, Kinder bespaßen, schlafen, aufstehen, arbeiten... Zwischendurch hängt der Mann vor der Glotze. Was RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE schon implizit machte, ist hier ganz explizit: die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt in einer patriarchalischen Kultur wirkt wie eine doppelte Belastung, solange es keine andere Kultur gibt bezüglich der Haushaltspflichten.

RODZINA („Familie“)
Regie: Danuta Halladin
Polen 1971
15 Minuten, 35mm
Ein älteres Ehepaar hat über ein Dutzend „schwieriger“ Waisenkinder adoptiert und zieht diese groß.
Staatssozialistische Systeme haben also inoffiziell genau das gemacht, was auch marktwirtschaftliche Systeme machen: nämlich staatliche Kernaufgaben aufgegeben und „privatisiert“. So landen die „kaputten“ Waisenkinder, die nicht einmal mehr der Staat haben möchte, bei dem Ehepaar Hellak. Mutti Hellak und Papa Hellak (beide wohl in ihren späten 50ern) erscheinen aber auch als die wesentlich besseren Eltern als Volkspolen. Beide sind vollkommen unsentimentale, pragmatische und bodenständige Gestalten, die ihre Tätigkeit als liebevolle Ersatzeltern als tagtägliche Selbstverständlichkeit wahrnehmen, als eine Sache, die sich für christliche Humanisten gehört und für die sie weder Lob noch Dank haben möchten – das macht Halladins Portrait dieser utopischen Familie umso anrührender.

ROBOTNICE („Arbeiterinnen“)
Regie: Irena Kamieńska
Polen 1980
16 Minuten, 35mm
Vom Alltag einiger Textilarbeiterinnen, die sich bei der Mittagspause über schlechte Arbeitsbedingungen und suboptimalen Arbeitsschutz beklagen.
In diesem Film erinnert die industrielle „Moderne“ im volkssozialistischen Polen eher an das 19. Jahrhundert: wenn ein dichter Wasserdampf durch die Textilwerkstatt wabert, fühlt sich das eher nach Dickens als nach strahlender sozialistischer Moderne an. Wenn die Arbeiterinnen nicht Polnisch sprächen, sondern sagen wir mal Englisch, hätte ROBOTNICE in jedem staatssozialistischen Land als treffendes Portrait kapitalistischer Ausbeutung durchgehen können: Arbeiterinnen, die in lausiger Arbeitskleidung in drückender Hitze und Feuchtigkeit schuften müssen, und das auch am Samstag, wenn die Busse nicht mehr regelmäßig zur Fabrik fahren (zwei Stunden vor Schichtbeginn da sein und verplempern, oder eine Stunde zu spät kommen und dafür Strafe zahlen – die Arbeiterinnen dürfen „frei“ wählen). Was die Arbeiterinnen nach der Arbeit noch zuhause an Hausarbeit erledigen müssen, brauchen wir uns nicht vorzustellen: wir haben es ja in 24 GODZINY JADWIGI L. gesehen.

JESTEM MĘŻCZYNĄ („Ich bin ein Mann“)
Regie: Maria Zmarz-Koczanowicz
Polen 1985
16 Minuten, 35mm
In einem kleinen Dorf besetzt ein einziger Mann sämtliche Ämter des öffentlichen Lebens (darunter auch den Vorsitz der örtlichen Frauen-Liga) und berichtet von den wunderbaren Erfolgen, die die Dorfverwaltung (das heißt: er selbst) in allen möglichen Bereichen auf dem Weg zur nationalen Wiedergeburt Polens zu verzeichnen hat.
War das jetzt eine „echte“ Doku oder ein Mockumentary? Das ist die Frage, die ich mir bis heute stelle. Vollkommen nüchtern wird hier eine kleine persönliche Lokaldiktatur portraitiert, bei dem der Lokaldiktator höchstpersönlich durch sein Dorf führt. Völlig ungerührt, als wäre es das natürlichste auf der Welt, erzählt dieser umtriebige dörfliche Potentat stolz von seinen ganzen Erfolgen. Wie er ein deutsches Denkmal hat entfernen lassen. Wie er eine lokale Kneipe hat schließen lassen, weil es sich für echte Polen nicht ziemt, Zeit mit Ausschweifungen dort zu verplempern. Wie zuversichtlich er ist, dass die weibliche Seilziehmannschaft des Dorfes bestimmt die beste überhaupt in der Gegend ist, weil er sie ja höchstpersönlich selbst trainiert hat. Zwischendurch gibt es immer wieder Gesangseinlagen eines Frauenchors: die Sängerinnen tragen Folklore-Kleider und besingen die Größe Polens und die ehrwürdige Tradition der Piasten (eine polnische Herrscherdynastie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, auf die sich polnische Nationalisten gerne beziehen).
1985 in einem kleinen Dorf im sozialistischen Polen: doch von Sozialismus findet sich hier keine Spur. Das ist ein tiefer Moloch voll von krudem Nationalismus, geführt von einem Fantasten, der die ganze Zeit wirres Zeug über die polnische nationale Wiedergeburt faselt. Die Frage, ob das eine echte Doku oder ein Mockumentary ist, mag vielleicht doch nicht ganz so wichtig sein. In ersterem Fall: eine deprimierende Bestandsaufnahme. In letzterem Fall eine Zuspitzung ultranationalistischer Tendenzen, die bereits viele Jahre vor der Wende deutlich waren und die das Regime selbst pflegte und hegte... Verstörend.

POCZĄTEK („Anfang“)
Regie: Dorota Kędzierzawska
Polen 1985
5 Minuten, 35mm
Kurzes Bild-Tongedicht, das teilweise in einer Fabrik spielt.
Eine schöne Ton-Film-Standbild-Montage, die ebenso schnell vorbei ist, wie sie angefangen hat.

DZIEŃ ZA DNIEM („Tag für Tag“)
Regie: Irena Kamieńska
Polen 1988
16 Minuten, 35mm
Wir folgen zwei Zwillingsschwestern bei ihrem monotonen Arbeitsalltag: Ziegel auf den Lastwagen aufladen, am Ankunftsort abladen. Ein Job, den sie schon ihr ganzes Leben lang machen.
In dem satirischen Roman „Die geheimen Pariser Hefte des Oberst Popow“ von Jean Burnat erzählt der Titelheld, der sich auf geheimer Mission in Frankreich befindet, dass Frauen in der UdSSR nicht nur arbeiten, sondern auch noch besonders geehrt werden: man gäbe ihnen schließlich die dreckigsten und mühsamsten Arbeiten. Was bei Burnat schwarzhumorig wirkt, verwandelt Kamieńska in einen kafkaesken Alptraum, ja fast in die postapokalyptische Dystopie eines sklavenähnlichen Lebens: verschneit-vermatschte Straßen, ein Lastwagen, und immer wieder diese Berge an Ziegeln, die die beiden Schwestern auf die oder von der LKW-Ladefläche hieven müssen. Am Ende fahren die Frauen durch die matschige Straße, und zwischendurch werden Straßenplakate eingeblendet, die großkotzig zukunftsoptimistische Parolen verkünden und dann... Aber dann war vorzeitig Schluss.

Vorführstörungen: DZIEŃ ZA DNIEM wird tatsächlich kommentarlos kurz vor Schluss einfach abgebrochen, und nicht einmal eine Sekunde später wird das Saallicht auf 200 % Helligkeit aufgeblendet. Möglicherweise hat der Vorführer Kamieńskas „hardcore-Realismus“ (so eine Bezeichnung im Programmheft) nicht ertragen. Die Kuratorin der „reluctant feminists“-Retrospektive äußerte jedenfalls vor dem verwunderten Publikum ihren Unmut darüber. Sie fügte hinzu, dass die Filme auch nicht in der vorher eigentlich eindeutig vereinbarten Reihenfolge abgespielt wurden und sprach dann von „Kommunikationsproblemen“. So kann man das natürlich auch nennen.


ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

DEVOČKI („Mädchen)
Regie: Valerija Gaj Germanika
Russland 2005
47 Minuten, DCP
Ein paar asoziale Gören trinken, rauchen, kreischen sich gegenseitig an, schaffen es nicht, sich ein DIY-Bauchnabel-Piercing zu stechen und gehen ihrer Umwelt und dem Zuschauer tierisch auf die Nerven.
... und damit ist meinerseits zu dem Film auch alles gesagt. Mögen bitte andere Leute Ausuferndes dazu schreiben.

KRYL‘JA („Flügel“)
Regie: Larisa Šepit‘ko
UdSSR 1966
86 Minuten (reine Filmdauer – Pause nicht eingerechnet), 35mm
Die ehemalige Kampffliegerin Nadežda Petruchina ist heute Direktorin einer Schule. Sie lebt völlig entfremdet von ihrer Umwelt, kommt mit der neuen Generation der 1960er Jahre nicht klar und wird erst in ihren Kriegserinnerungen oder auf dem Flugfeld eins mit sich selbst.
© goEast Filmfestival
Manfred schrieb über KRYL‘JA bereits vor über sechs Jahren auf diesem Blog, als der Film noch wesentlich unbekannter war als heute.
Ich selbst hatte viel Mühe, was zu großen Teilen nicht mit dem Film selbst zu tun hatte und kann mich nur an einige Splitter erinnern, die ich nicht kohärent zusammensetzen kann. Da ist das schweißbedeckte Gesicht Nadeždas, als sie aus dem kühlen Theater auf den heißen Vorplatz hinaustritt. Dieser eine und einzige Moment, in dem sie jegliche Hemmungen fallen lässt und mit der Wirtin Bier trinkt und sogar Walzer tanzt. Die aufgesetzt-überdrehte Fröhlichkeit beim Besuch der Tochter, die offensichtlich einer tiefsitzenden Unsicherheit im Umgang mit Menschen entspringt, die nicht in irgendeinem Dienstverhältnis zu ihr stehen. Und natürlich dieser fantastische und unglaublich vieldeutige Schluss, als sie einfach wegfliegt: ist sie befreit? Wird sie ein neuer Mensch? Oder ist das Wegfliegen das Eingeständnis, dass sie nie mit den neuen Zeiten klar kommen wird? KRYL‘JA zeigt „banale“ äußerliche Ereignisse, handelt aber vor allem von einem Geisteszustand...
...und mein Geisteszustand konnte sich leider nicht auf diesen Film einstellen, denn...
Vorführstörungen: KRYL‘JA war von allen Filmen, die ich im Murnau sah, der mit dem vollsten Zuschauerraum. Ob die relative Berühmtheit Šepit‘kos dafür verantwortlich war oder an einem Samstagabend um 20.00 Uhr im Murnau-Filmtheater einfach immer etwas mehr Besucher anwesend sind, weil eben Samstagabend ist, kann ich nicht sagen (ich halte letzteres für wahrscheinlicher). Auf jeden Fall gab es viele Zeugen für die größte Panne, die ich beim diesjährigen goEast-Festival erlebte: nach dem Ende der ersten Filmrolle sollte die zweite Rolle folgen, doch das tat sie nicht. Die Leinwand blieb einfach weiß. Irgendwann wurde dann der Projektor aus- und das Saallicht angeschaltet. Offenbar war die zweite Filmrolle kurzzeitig verschollen, oder passte nicht in den Projektor oder was auch immer. Die Zuschauer wurden von einem der Einlass-Mitarbeiter zur Geduld aufgerufen. Nach etwa fünf bis zehn Minuten gingen die Lichter wieder aus – aber das war nur ein falscher Alarm: Licht wieder an und dann noch einmal mehrere Minuten warten. Schließlich ging es dann, nach bestimmt etwa 15 Minuten Pause, doch mit der zweiten Filmrolle weiter. Ob KRYL‘JA irgendeinen besonderen, subtilen Erzählrhythmus hat, könnte ich also beim besten Willen nicht sagen, weil es doch schwierig war, unter solchen Umständen in den Film einzutauchen.
Die mittlerweile fest zum „Inventar“ der Vorführungen gehörende russische Regisseurin brabbelte weiterhin die ganze Zeit vor sich hin (hier hatte ich zwischendurch das Gefühl, dass sie manchmal einfach Dialogfetzen nachsprach). Sie wurde dabei auch immer lauter. Diesmal waren einige Leute in ihrer Nähe, die sie immer wieder – dies gezwungenermaßen in ordentlicher Lautstärke – zur Ruhe gemahnten. Nach weiteren zehn bis fünfzehn Minuten wurden mindestens zwei der Zuschauer in ihrer Nähe richtig sauer: es kam fast zu einem kleinen Tumult, bei dem Stanukinas fast angebrüllt wurde. Danach war sie tatsächlich (wohlgemerkt: bei diesem Film) erst einmal ruhig.
Der Vorfall führte allerdings nicht zu mehr Ruhe im ganzen Kinosaal, sondern leider zu einer Art allgemeinen Enthemmung: das Samstagabend-Publikum auf den hinteren Reihen begann, über den ganzen Saal einen derartig penetranten Flüsterteppich zu verbreiten, dass man irgendwann die starrköpfige russische Dame geradezu bereuen musste.
Das ist unfair: KRYL‘JA ist wahrscheinlich der Film, von dem ich am meisten erwartete. Geblieben sind in meinem Kopf diffuse Ahnungen von etwas Großem, das nicht in jeder Sekunde des Films zu sehen ist, sondern sich erst in der Summe und mit der verstreichenden Zeit entwickelt. Da ist auf jeden Fall eine Neusichtung vonnöten.


kurz vor 23.00 Uhr, Moritz Kebap Haus, Moritzstraße 11
Spätes Abendessen
Mit Lutz, dem Kollegen, den ich Freitagabend am Bahnhof abgeholt habe, ehemaliger Chefredakteur des multimania-Magazins, für das ich dieses Jahr presse-akkreditiert war, ging ich dann ziemlich gerädert in Richtung Innenstadt. Beim Moritz Kebap Haus in der Moritzstraße, etwa 50 Meter vom Apollo-Kinocenter entfernt, stillten wir den Hunger, der entsteht, wenn man stundenlang Filme schaut, ohne ans Essen zu denken zu können. Der „Moritz“ ist für mich auch eine kleine gastronomische Tradition beim goEast-Festival. Erstens ist er in praktischer Nähe der Spielstätte Apollo. Zweitens hat er im Gegensatz zu „Gabriel“ spät Abends und auch am Sonntag offen. Und drittens ist das Essen dort nicht nur lecker, sondern wird auch immer mit einer kleinen leckeren Nachtisch-Beigabe serviert. Ein Mini-Döner-Sandwich war genau das richtige, um mich wieder auf Vordermann zu bringen, zumal das Fleisch exzellent war – weit über dem durchschnittlichen Imbiss-Niveau!


ab 23.00 Uhr, Festival-Zentrum (Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
Erstes informelles Filmgespräch mit „Bildstörung“
Das goEast-Festival bietet nicht nur Filme, sondern auch zahllose Vortrags- und Filmgesprächsveranstaltungen: Diskussionen mit Filmwissenschaftlern, Kuratoren und auch Filmemachern selbst gibt es jeden Tag im Festival-Zentrum. Ich meide diese Veranstaltungen nicht aus böser Absicht oder weil ich denke, dass das grundsätzlich langweilig und unergiebig ist, sondern weil ich zwischen einem Vortrag und einer Filmvorführung, die parallel laufen, im Zweifelsfall immer die Filmvorführung wählen werde.
Lutz kennt in seiner Funktion als ehemaliger multimania-Chefredakteur die zwei Macher des kleinen und sehr feinen Labels „Bildstörung“ über Mailkontakt und fädelte mit den beiden ein kleines Treffen zum Biertrinken ein. Carsten und Alexander sind im Grunde nicht weniger als zwei kleine Helden der Filmkultur in Deutschland, die unter anderem Andrzej Żuławskis aufwühlenden POSSESSION, Narciso Ibáñez Serradors provokanten ¿QUIEN PUEDE MATAR A UN NIÑO? und Věra Chytilovás anarchischen SEDMIKRÁSKY in Deutschland auf DVD herausgebracht haben, die den besten deutschen Film des Jahres 2016, DER BUNKER, veröffentlicht haben und in Kürze einen der drei großen deutschen Filme Zbyněk Brynychs (DIE WEIBCHEN) herausgeben werden. Die beiden waren zum zweiten Mal beim goEast-Festival als geladene Gäste anwesend. Wir trafen sie vor dem Eingang des Casinogebäudes, tranken Bier und sprachen – sprachen über Steven Spielberg, seinen JAWS und seine Columbo-Folge, Eloy de la Iglesia, Jess Franco, Joe D‘Amato, das Geschäft des Filmverleihs in Deutschland, Stanley Kubrick, die Parallelen zwischen 2001 und A TOUCH OF ZEN, die Vor- und Nachteile von 35mm vs. DCP, Köln, Hannover, Jena, Magdeburg, Halle, Weimar, Gentrifizierung in Weimar, Christopher Nolan und INTERSTELLAR, Menahem Golan und ESCAPE TO THE SUN, DEMOLITION MAN, CONAN, John Milius, Zbyněk Brynych, seine WEIBCHEN und seine ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN, Dominik Graf, Bollywood-Kino und die emotionalen Zusammenbrüche, die es hervorrufen kann, Mediabooks, 84-Entertainment-Mediabook-Sammler, bfi-Dual-Editions – und über einiges mehr.
In meinem Hotelzimmer versank ich kurz vor vier Uhr morgens ins Bett.


Sonntag, 30. April

ab 11.00 Uhr, Caligari FilmBühne

POKOT („Fährte“)
Regie: Agnieszka Holland, Kasia Adamik
Polen / Deutschland / Tschechische Republik / Schweden / Slowakei 2017
128 Minuten, DCP
In einer kleinen polnischen Bergstadt im Dreiländereck Polen-Tschechien-Slowakei gibt ein arroganter Kleinmafioso im Verbund mit der Polizei den Ton an. Der Männerbund trifft sich regelmäßig zu illegalen Jagden. Dagegen protestiert die örtliche Englischlehrerin und bekennende Tierliebhaberin Duszejko vehement. Dann ereilt eine Mordserie die Herren der Stadt – und Duszejko ermittelt auf eigene Faust...
© goEast Filmfestival
Als „feministisch-ökologischer Thriller“ wurde POKOT angekündigt. In meiner Vorstellung wuchs er ein wenig zu einer Art „Slasherfilm im schlesischen Hinterland“ an. Ersteres stimmt auf jeden Fall mehr, trifft es aber auch nicht richtig. POKOT ist ein Film, der ein wenig auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen möchte und es auch tut. Zweifelsohne ist er das ätzende Portrait einer viel zu mächtigen Männerbund-Clique – auch wenn dafür eigentlich von der Clique recht wenig zu sehen ist. Er ist auch ein Serienmörder-Thriller – auch, wenn er sich selbst eigentlich zu gut „aufbaut“, nur, um dann im zweiten Drittel andere Sachen zu tun, die teils interessanter, teils auch weniger interessant sind. Er ist auch ein weibliches Aussenseiterportrait, und Duszejko (sie heißt mit Vornamen Janina, mag aber nur mit ihrem Nachnamen angesprochen werden) ist sicherlich eine faszinierende Figur, äußerst mitreißend gespielt von Agnieszka Mandat: hier ist ein exzentrischer Charakter, liebenswürdig wie Miss Marple, zornig gegen Ungerechtigkeiten, dass einem das Herz aufgeht und doch lauern da Abgründe – auch wenn diese Abgründe bisweilen etwas zu sehr offensichtlich werden. Zwischendurch zieht sich POKOT ganz in den Wald und in das Waldhäuschen Duszejkos zurück, und deutet für kurze Zeit eine Screwball-Komödie und eine zarte Ménage-à-trois-Romanze an. Wo sich der Film allerdings abseits seiner Hauptfigur begibt und zusätzliche Charaktere einfügt, stolpert er und fällt um wie der epileptische IT-Fachmann der örtlichen Polizei: gerade dieser wirkt so offensichtlich wie ein reines Comic-Relief-Element, dass es fast schon weh tut. Ich bin unschlüssig. Agnieszka Holland selbst sagte im Q & A nach dem Film, dass POKOT als Multi-Genre-Film angelegt ist – und dass sicherlich einige Kritiker nicht bereit sein werden, die verschiedenen Elemente „zusammenzukleben“ (sie sagte tatsächlich irgendetwas von „glue“). Und tatsächlich: ich sehe viele positive Elemente, ich sehe auch Schwächen. Vielleicht wird mir irgendwann eine Neusichtung einen kleinen Topf voller Kleber in die Hand geben...
Agnieszka Holland hat aber zweifelsohne das großartigste Q & A gegeben, das ich auf dem Festival sah. Obwohl von eher kleiner Statur, ist sie eine äußerst charismatische Persönlichkeit: sehr selbstsicher, unverblümt, extrem eloquent und dabei immer mit einem scharfen Humor ausgestattet. Auf eine Frage aus dem Publikum, was sie von erstarkenden „rechtspopulistischen“ Tendenzen in Europa halte, antwortete sie resolut und ohne auch nur eine halbe Sekunde zu zögern: „Fuck them!“. In Zeiten, in denen Rassismus, Hassparolen, chauvinistische Gewaltphantasien und allerlei sonstige Niederträchtigkeiten mit putzigen Parolen wie „berechtigte Sorgen“, „wir sollten die Leute da abholen, wo sie stehen“ (ich dachte, dass dafür eigentlich Taxis zuständig seien) und „Ängste, die wir ernst nehmen müssen“ verniedlicht werden, tut so eine Antwort wirklich gut. Holland erklärte dann, wie sehr sie die Schnauze voll davon hat, dass im Polen der PiS und der wieder erstarkten katholischen Kirche alles, was nicht weiß, polnisch und männlich ist, als Lebewesen zweiter Wahl gelte. In diesem Kontext erzählte Holland dann eine Begebenheit: vor einigen Jahren flog sie in die USA (wahrscheinlich von Paris aus). Kurz vor dem Abflug stand in der Warteschlange direkt vor ihr Jean-Marie Le Pen, Begründer und langjähriger Vorsitzender des rechtsradikalen Front National. Für einen kurzen Moment schoss ihr durch den Kopf, dass sie eigentlich die Möglichkeit hätte, ihn zu töten, ihn mit irgendeinem spitzen, scharfen oder auch schweren stumpfen Gegenstand anzugreifen.
Nun... Jean-Marie Le Pen lebt noch und Agnieszka Holland sitzt nicht im Knast wegen Mord. Sie hat stattdessen einen Film gedreht. Einen Film, in dem die schmierigen, faschistischen, chauvinistischen, menschenverachtenden und sadistischen Dreckssäcke allesamt zur Hölle geschickt werden. Dass diese Fantasie selbst natürlich auch einen fiesen, bitteren Beigeschmack hat, daraus machte Holland weder als Regisseurin von POKOT, noch als Gesprächspartnerin beim Q & A einen Hehl.
Ja, doch... vielleicht sollte ich mir POKOT irgendwann nochmal anschauen, mit genau diesem Bild im Hinterkopf: in einer Warteschlange steht eine kleine polnische Frau hinter einem bulligen französischen Mann.


ab 16.00 Uhr, Apollo-Kinocenter
REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. („Requiem für Frau J.“)
Regie: Bojan Vuletić
Serbien / Bulgarien / Mazedonien / Russland / Frankreich 2017
94 Minuten, DCP
Montag... Eine ältere Frau, früher eine renommierte Journalistin, heute arbeitslos, möchte Selbstmord begehen, und zwar am besten am Freitag. Da gibt es noch allerlei zu planen. Doch Selbstmord ist gar nicht so einfach...

© goEast Filmfestival
Suicide is arduous
it brings on many hitches
and I can take it or leave it if they please
(aus dem Titelsong von M.A.S.H. – leicht modifiziert)

Am Abend des 21. Aprils 2012, wahrscheinlich schon nach halb 11, in einem Saal des Apollo-Kinocenters, verliebte ich mich bei meinem ersten Besuch definitiv in das goEast-Festival: PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (im deutschen DVD-Titel kürzer und viel weniger poetisch: „Rendezvous in Belgrad“) lief hier und wurde zu einem meiner großen Filmerlebnisse des Jahres 2012. Ich glaube, dass nur selten irgendeine persönliche Erwartungsmesslatte so hoch war wie für den Folgefilm des Serben Bojan Vuletić, ganze fünf Jahre später. Nun... übersprungen wurde sie nicht, aber auf jeden Fall berührt.
REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. beginnt ganz unten, da wo andere Filme bereits zum Schluss kommen: eine Frau sitzt in ihrer Küche und baut eine Pistole zusammen. Etwas schlimmes wird passieren und die Tatsache, dass die Kamera absolut fix ist und alles mit großer Gnadenlosigkeit in Gänze festhält, bekräftigt das fatalistische Grundgefühl.
Nach und nach kommt heraus, dass die Dame offenbar Selbstmord begehen möchte und sich nun langsam darauf vorbereitet. Die Pistole hat sie schon. Die Grabstelle neben ihrem Mann hat sie auch – sie muss nur noch eine passende Grabinschrift für sich selbst bestellen. Das letzte Bier und die letzte Zigarette (mit einem letzten Streichholz) sind auch schon vorbereitet. Als sie jedoch eine Kugel für ihre Pistole bei einem ehemaligen Kartenspielkollegen ihres Mannes kaufen möchte, wird das ganze komplizierter: durch Andeutungen gibt ihr der etwas schmierige aber doch verständnisvolle Typ zu verstehen, dass er begreift, was sie vorhat – aber ob sie zum Wohl ihrer Töchter nicht eine etwas weniger „dreckige“ Methode wählen möchte, zum Beispiel Beruhigungstabletten mit hochprozentigem Alkohol? Das leuchtet der niedergeschlagenen, fürchterlich welt- und lebensmüden, aber doch ganz vernünftigen Dame ein. Sie braucht nur zu ihrem Arzt zu gehen und sich etwas verschreiben zu lassen. Doch da fangen die Probleme an: als Arbeitslose braucht sie beim Arzt eine bestimmte Bescheinigung des Arbeitsamtes – die sie nur bekommt, wenn ihre ehemalige Arbeitsstelle ihr eine Arbeitsbescheinigung ausstellt – was sich wiederum als schwierig herausstellt, weil die Arbeitsstelle nicht mehr wirklich existiert, und die letzten Mitarbeiter dort dann auch noch ihren Namen auf den Unterlagen falsch geschrieben hat... Und dann wird auch noch ihre ältere Tochter schwanger...
An ausformulierter (Vulgär-)Psychologisierung ist REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. vollkommen desinteressiert. Er ist ein absolut reiner Aktionsfilm, insofern wir bis kurz vor dem Schluss tatsächlich nur das Äußere der Selbstmörderin sehen. Eine Erklärung für den Todeswunsch der Frau liefert der Film nicht. Ihr Ehemann ist tot, und möglicherweise hat sie dessen Tod nicht überwunden – sie will sich auf jeden Fall an dessen ersten Todestag (dem Freitag) töten. Vielleicht kann sie nicht damit umgehen, arbeitslos zu sein – immer wird angedeutet, dass sie einst eine engagierte und begeisterte Journalistin war. Oder es kann auch sein, dass sie ihre beiden Töchter nicht mehr aushält, die echte Nervensägen sind und sich gegenseitig die ganze Zeit anpflaumen. Vielleicht ist es auch nichts von all dem.
Oft ist, wenn es um weibliche Filme geht, ist von „starken“ Frauen die Rede. Irgendwo muss da ein Missverständnis in der Perspektive oder in der Wahrnehmung dessen liegen, was Film ist oder kann, denn REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. ist ein ganz starker Film über eine extrem „schwache“ Frau. Die Titelfigur, absolut fantastisch gespielt von Mirjana Karanović (die auch für Jasmila Žbanić, die Regisseurin des im ersten Teil besprochenen FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES gearbeitet hat), ist völlig leer, energielos, ohne Antrieb – und schließlich stellt sich heraus, dass die Hürden, die sich vor ihr auf dem Weg zum Selbstmord aufbauen, ihr kleines Rest an Energie völlig überfordern. Frau J. ist dermaßen schwach, dass sie noch nicht einmal Selbstmord begehen kann...
...unter anderem auch, weil sich ihr eine alptraumhafte Bürokratie in den Weg legt. Hier liegt auch der banalste Interpretationsansatz zu dem Film: REKVIJEM ZA GOSPOĐU J., liest man an mehreren Stellen, sei ein Film über das Schicksal von Wende-Verlierern in Post-Jugoslawien (Frau „J.“), über auswuchernde und korrupte Bürokratie, die den Menschen ihre Würde nehmen. Das ist an sich nicht falsch, aber ich denke doch, dass der Film weit darüber hinaus reicht. Mehr noch als PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM ist REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. ein „un-serbischer“, weil im Kern universeller Film.
„Frau J.“ hat übrigens Vornamen und Nachnamen, die nicht mit J anfangen, allerdings einen mittleren Namen (ob zweiter Vorname oder Vatersnamen – gibt es das in Serbien? – weiß ich nicht), der mit „J“ beginnt. Ihre frühere Arbeitsstelle hat jedoch einen Fehler gemacht bei der Ausstellung einer Arbeitsbestätigung und aus Versehen „K.“ statt „J.“ hingeschrieben. Tatsächlich ist REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. weniger ein Wende-Verlierer-Film über Serbien als etwas, das den alptraumhaften Welten Franz Kafkas viel näher ist. Etwa ab der Mitte des Films häufen sich die Andeutungen, dass wir uns die ganze Zeit gar nicht in einer serbischen Stadt, sondern eigentlich schon im Jenseits, oder im Fegefeuer, oder gar bereits in der Hölle befinden. Als die Protagonistin ihre alte Arbeitsstelle für die Bescheinigung aufsucht, findet sie nur eine riesige, verfallene Druckerhalle vor und gespenstisch leere Redaktionsräume – ein Ort, der tatsächlich auch als „jenseitig“ gefilmt wird. Dass die Selbstmörderin plötzlich ein Büro findet, in dem zwei ehemalige Arbeitskollegen arbeiten, macht das ganze nicht beruhigender. Ob diese Szenen nicht möglicherweise eine Vision der Selbstmörderin sind? Immer wieder erklingen die Töne eines Gongs. Ohne mich mit der Materie auszukennen: aber diese Klänge hören sich an wie eine fernöstliche (vielleicht buddhistische) Todeszeremonie. Auf jeden Fall Klänge des Todes aus der geografischen Ferne. Dem trockenen Realismus der starren Kamera zum Trotz: mit zunehmender Laufzeit wird Vuletić‘ Film zunehmend von einem mystischen Hauch beseelt.
REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. will am Ende nicht weniger als den Tod mit den Mitteln des Films zu überwinden. Hier fällt mir die Sage von Orpheus und Eurydike ein und vielleicht kann man den Film auch als eine Variation sehen: ohne Orpheus, nur mit Eurydike, die auf sich alleine gestellt selbst einen Ausgang aus der Hölle finden muss und schließlich auch findet.
Es gibt drei Filme, die mich bei diesem Festival an den Rand der Tränen geführt haben, weil sie so unfassbar schön, oder unfassbar berührend, oder gar unfassbar unfassbar waren: STARCI NA CHMELU, POSLEDNATA DUMA (weiter unten mehr dazu) und dieser. REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. hat mich vielleicht gar an den Rand des emotionalen Kollapses geführt, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass ich am Sonntag nach zweieinhalb Festivaltagen mit vollem Programm und starkem Schlafmangel langsam in einen Zustand starker Erschöpfung geriet, in einen Mix aus Müdigkeit, leichter Depression und nervlicher Überreizung.


ab 18.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ... („Mein Lieber, Teurer, Geliebter, Einziger...“)
Regie: Dinara Asanova
UdSSR 1985
70 Minuten, 35mm
Ein Mann, der nachts private Taxidienste anbietet, nimmt eine sehr junge Frau mit einem Baby auf, die Schutz vor einem prügelnden Ehemann sucht. Der Fahrer will sie eigentlich rasch wieder loswerden, doch sie hängt sich äußerst hartnäckig an ihn. Gemeinsam fahren sie durch die verschneite Leningrader Nacht.
MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ... ist der letzte Film der kirgisisch-sowjetischen Filmemacherin Dinara Asanova, die nicht einmal zwei Monate nach der Kinopremiere mit nur 42 Jahren unerwartet starb (Herzstillstand). Asanova war an Larisa Šepit‘kos ersten Langfilm ZNOJ von 1963 beteiligt. Ab den 1970er Jahren machte sie sich einen Namen als Regisseurin von Filmen über jugendliche Delinquenten und generell über Konflikte zwischen Teenagern und Erwachsenen und galt als großes Talent im Umgang mit jugendlichen Schauspielern. In den 1980er Jahren arbeitete sie bei vier Filmen – unter anderem diesem – mit dem Schauspieler und Drehbuchautoren Valerij Priёmychov zusammen. Priёmychov, der für mich mit seinem markant-kantigen Gesicht ein bisschen wie der vergessene kleine russische Cousin von Scott Glenn aussieht, spielte im GULag-Auflösungs-Selbstjustiz-Actionthriller CHOLODNOE LETO PJAT‘DESJAT TRET‘EGO („Der kalte Sommer 1953“) die Hauptrolle. In MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ..., für den er auch das Drehbuch schrieb, ist er nicht weniger charismatisch und beeindruckend – da kann seine Partnerin Ol‘ga Mašnaja leider nicht so gut mithalten.
Wie bereits gesagt: ein eindeutiger Fall von Festivalerschöpfung hatte mich diesen Nachmittag ereilt, und ich möchte diesem Zustand zuschreiben, dass ich MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ... etwas unterwältigend fand und dass er sich eher wie 120 als wie kurze 70 Minuten anfühlte. Er bietet zweifellos beeindruckende Impressionen des nächtlichen, verschneiten Leningrad, mit Priёmychov einen wie schon erwähnt fantastischen Hauptdarsteller und eine überaus aufregende Autoverfolgungsjagd gibt es auch. Andererseits wirkte der Film zwischendurch wie ein B-Movie, dem der kleine Funke Genialität fehlt, um seine eigenen Begrenzungen zu sprengen. Dafür, dass in den ersten zwei Dritteln nur zwei Personen ohne Ziel durch Leningrad fahren, paukte er am Ende dann noch ganz schön überhetzt viele Wendungen durch.
Auch von den Ankündigungen her hätte ich einen wilderen Film erwartet. Tatsächlich war aber MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ... eine kleine Ruhepause vor dem kommenden aufbrausenden Sturm...


ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

POSLEDNATA DUMA („Das letzte Wort“)
Regie: Binka Željazkova
Bulgarien 1973
102 Minuten, 35mm
Einige Frauen sitzen in den frühen 1940er Jahren in einem faschistischen Gefängnis in der Todeszelle. Statt passiv auf ihre Hinrichtung zu warten, wehren sie sich mit kreativen Protestaktionen gegen die Schikanen ihrer Wärter.
© goEast Filmfestival
Filmstill in Schwarzweiß – der Film ist farbig

Wow...
...
...
... eine mechanische Spielzeugpuppe läuft zu fetzigen Balkanrock-Klängen auf der Straße. Eine Maschinengewehrsalve ertönt und die Puppe fällt um. Das sind die ersten Bilder von POSLEDNATA DUMA. Bilder, die aussehen, als kämen sie aus einem freidrehenden italienischen Giallo. Gegen Ende des Films sehen wir ein Torbogen, an dem ein baumelnder Galgenstrick hängt. Die Kamera platziert sich dann unter dem Torbogen, schaut nach oben und beginnt dann, wie wild geworden eine Kreisbewegung unter dem baumelnden Galgenstrick auszuführen, dass einem ganz schwindelig wird – als hätte Sergio Leone den Schluss-Flashback von C‘ERA UNA VOLTA IL WEST abstrahierter und auf Speed gefilmt. POSLEDNATA DUMA ist von Anfang bis Ende voll von solchen bizarren, entfesselten Regieideen und während des ganzen Films schwingt das Gefühl, dass man solche Bilder im italienischen Genrekino der 1960er und 1970er Jahre gesehen hat – dort aber nicht so radikal und wahnwitzig wie das, was Binka Željazkova auf die Leinwand gezaubert hat, in einem Land, das in dieser Zeit erheblich weniger „lustig“ und „fröhlich“ als Italien war. Ja, neben Željazkova sieht sogar Chytilová ein bisschen weniger wild aus.
Radikales antiautoritär-feministisches Manifest, Women-in-Prison-Exploitation, Musical und Performance-Kunst (also Choreografien mit und ohne Musik), Momente purer visueller Abstraktion mit wilden Mehrfachbelichtungen, schmachtendes Melodrama, Politessayfilm über Heldengedenken, Paranoia-Thriller – das alles ist POSLEDNATA DUMA. Der Film springt dabei ohne jegliche Vorwarnung, teilweise sogar mit desorientierenden Ton-Überlappungen, zwischen diesen disparaten Genres und Stilen sowie zwischen drei verschiedenen Zeitebenen.
In der Gegenwart der frühen 1970er Jahre wird wie jedes Jahr in Bulgarien an einem 2. Juni der Tag zur Ehrung der gefallenen Antifaschisten gefeiert. Die Stadt (wahrscheinlich eine Provinzstadt) befindet sich im Ausnahmezustand: Stände und Paraden werden vorbereitet, Jung und Alt eilt ins Zentrum, eine Rockband spielt bereits fetzige Lieder und eine Sirene mahnt zu einer bestimmten Zeit zu einer Schweigeminute, die unverzüglich da begangen wird, wo sich die Leute gerade befinden. Immer wieder sehen wir Bilder von Straßen, in denen viele Menschen völlig still auf der Stelle stehen bleiben (was einigermaßen merkwürdig aussieht).
Die Haupthandlung spielt im Gefängnis. Dort sitzt ein halbes Dutzend Frauen in einem Todestrakt und ist der nackten Willkür der männlichen Wärter und des Direktors ausgesetzt. Die Frauen werden permanent überwacht und belauscht. Manchmal wird mitten in der Nacht eine von ihnen herausgezerrt, an den Galgen gebracht und dann einer brutalen und makabren Scheinhinrichtung unterzogen. Auch Vergewaltigungen stehen an der Tagesordnung. Und nicht zuletzt wird jede einzelne vom Direktor unter Druck gesetzt und dazu gedrängt, gegen ihre Zellengenossinnen auszusagen: das funktioniert zumindest im weitesten Sinne, insofern Misstrauen zwischen den Frauen gesät wird. Doch die Insassinnen wehren sich auf ihre eigene Weise. Eine von ihnen ist hochschwanger, doch mit der Hilfe ihrer Zellengenossinnen kann sie das Kind gebären. Daraufhin werden die Zellenwände mit allerlei farbigen Motiven bemalt, um dem Kind bunte Bildgeschichten erzählen zu können. Die Frauen finden auch andere Formen des passiven Widerstands: einige rennen, wenn ihre Zellentür aufgemacht wird, sofort durch die Gefängnisflure (das wird mit einer sehr denkwürdigen Point-of-View-Kamera gefilmt) – auch wenn sie nach spätestens zwei Minuten doch wieder gefangen werden. Zwischendurch verschaffen sie sich Luft, indem sie ihre Wärter und den Direktor wüst beschimpfen. Als im Innenhof allen Insassinnen die Köpfe geschert werden, stimmen sie ein kollektives Gelächter an, das die Wärter fast in Panik versetzt. Und schließlich bricht eine Art kleine Rebellion aus, als alle Frauen sich vor dem Fenster des Direktors versammeln und unisono in seine Richtung pusten.
Die dritte Zeitebene ist die Erinnerung der Frauen an die Zeit vor ihrer Inhaftierung. In den Flashbacks erinnert sich die eine etwa an ihre letzte Aktion als Partisanin, bei der sie schließlich gefangen genommen wurde, während einer ihrer Kameraden getötet wurde. Eine andere, eine Lehrerin, erinnert sich an ihren Unterricht und ihre Schüler, mit denen sie „Antigone“ las und dann eine besonders wilde, aufrührerische Vorstellung des Stücks probte – gespielt wie ein Stück Performance-Kunst in einer felsigen Landschaft.
Woraus in linearer Erzählweise etwa drei bis vier Filme gedreht werden könnten (oder heutzutage wohl sieben bis acht Serienstaffeln) führt Željazkova mithilfe eines elliptischen Schnitts und unerwarteter Montagesequenzen einem einzigen Film zusammen. Harte Balkanrock-Gitarre, die wir im Erzählstrang der 1970er Jahre hören, erklingt in dem Knast-Erzählstrang, bevor es kurz danach wieder in die 1970er geht. Eine Lesung der Namen gefallener Antifaschisten am Gedenktag wird unterbrochen durch Bilder der Frauen im Gefängnis, die in die Kamera schauen und „Anwesend!“ rufen. Zwischendurch beginnen die Frauen in der Zelle zu tanzen, Mehrfachbelichtungen überlagern sie mit immer mehr Ausschnitten ihrer Wandmalerei, bis alles zu einem mehrminütigen abstrakten Bild-Ton-Gemälde verschwimmt.
Ich komme hier nicht aus den Pötten: POSLEDNATA DUMA hat mich offenbar dazu gebracht, inkohärentes Zeug zu brabbeln, das nicht annähernd zeigen kann, was für ein unfassbarer und unglaublicher Film das ist. Daher vielleicht noch ein paar wenige Worte zu Binka Željazkova, die offenbar so obskur ist, dass selbst die Kuratorin nicht viel sagen konnte. Željazkova, Jahrgang 1923, war in den frühen 1940er Jahren Kämpferin bei den kommunistischen Partisanen und kannte aus dieser Zeit persönlich den späteren, langjährigen Parteichef Todor Živkov, mit dem sie eine lebenslange Animosität verband. Zwischen den späten 1950er Jahren und 1990 drehte sie 6 Spielfilme, einen TV-Film und zwei Dokumentarfilme. Bei fast allen Filmen hatte sie mit der Zensur zu kämpfen. Ihr zweiter Film, PRIVARZANIJAT BALON („Der zusammengebundene Ballon“) von 1967, erzählt davon, wie ein Ballon in einem bulgarischen Dorf der frühen 1940er auftaucht und dort für Tumulte sorgt. Der Ton des Films passte dem Regime nicht, und ganz besonders nicht eine Szene, in dem ein Esel gefeiert und von den Männern in einer Art Parade durch das Dorf getragen wird. Dem Film wurde vorgeworfen, die Kommunistische Partei zu beleidigen und er wurde verboten.
Željazkova war mit dem ehemaligen antifaschistischen Partisanen, Drehbuchautoren und Regisseur Christo Ganev verheiratet, der auch einige Drehbücher für sie verfasste und ebenfalls Probleme mit dem Regime hatte. Ihre gemeinsame Tochter, Svetlana Ganeva, ist Kamerafrau. Željazkova zog sich 1990, mit der Wende, aus dem aktiven Filmgeschäft zurück. Sie starb 2011 mit 88 Jahren in Sofija.


ab 23.00 Uhr, Festival-Zentrum (Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
Zweites informelles Filmgespräch mit „Bildstörung“
POSLEDNATA DUMA sollte das letzte Wort des Abends sein, zumindest in Sachen Filmvorführung. Welcher Film sollte denn bitte schön nach einem solchen noch folgen können?
Vollkommen überwältigt ging ich mit Lutz in die Innenstadt zum Festivalzentrum, um dort noch ein letztes Absacker-Bier zu trinken (nur ein letztes). Carsten und Alexander von „Bildstörung“ tauchten nach wenigen Minuten zufällig auch dort auf. Aus dem Absacker-Bier wurden dann mehrere Runden und lange Gespräche über abseitige feministische Interpretationen von Mainstream-Horrorfilmen, Frauenfiguren bei James Cameron, Leni Riefenstahl und David Griffith, Paul Thomas Anderson vs. Robert Altman (MAGNOLIA als Rip-Off von SHORT CUTS), Paul Thomas Anderson vs. Paul W. S. Anderson, die ästhetischen Unterschiede zwischen František Vláčils MARKETA LAZAROVÁ und ÚDOLÍ VČEL, sowie zwischen MARKETA LAZAROVÁ und TRUDNO BYT‘ BOGOM (zwischen „Marketa“ und „Gott“), die Unterschiede zwischen den verschiedenen Fassungen von BLADE RUNNER, Walerian Borowczyk, Jean-Luc Godard und vieles mehr.
Schon wieder erst kurz vor vier ins Bett gekommen.



Zum Schluss ein kleines persönliches Ranking

Absolute Bretter
STARCI NA CHMELU – POSLEDNATA DUMA

Große Knaller
HRA O JABLKO – REKVIJEM ZA GOSPOĐU J.
ÖRÖKBEFOGADÁS

Kleine Knaller
MAJD HOLNAP
FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES
RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE
KRYL‘JA
ČESKE HRADY A ZÁMKY
JESTEM MĘŻCZYNĄ

Wirklich gut
NAPLÓ GYERMEKEIMNEK
TRAMVAJ IDET PO GORODU
A LÖRINCI FONÓBAN
BEDNIEREBA / FELICITA

Ganz gut
CIPKA
RVANYE BAŠMAKI
MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ...
BUBA
POKOT

Mäh
ROSSIJA KAK SON
WIR LASSEN UNS SCHEIDEN

Nein!
DEVOČKI

Fahr doch selbst zur Hölle!
BEDNIEREBA / FELICITA: EIN VERGESSENER GEORGISCHER CUT VON GEORGE ROMEROS „DAWN OF THE DEAD“