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Donnerstag, 6. Dezember 2012

Subtiler Terror in den schwarzen Bergen

POSLJEDNJE POGLAVLJE (THE ASCENT)
Montenegro 2011
Regie: Nemanja Bečanović
Darsteller: Amar Selimović (Jovan), Vlado Jovanovski (Zeko), Dejan Ivanić (Vuk), Ana Vučković (Vidrana), Inti Sraj (Vesna)

Den nachfolgenden Text habe ich in der Nacht vom 10. auf den 11. November 2011 geschrieben, etwa zwischen 01.30 Uhr und 02.30 Uhr. An diesem Abend hatte das Erste SouEuF-Festival Jena (Southeastern European Film Festival) begonnen, unter anderem mit der Projektion eines montenegrinischen Films, der mich (und wahrscheinlich auch andere Zuschauer) zutiefst beeindruckte. Der Text endete in der „Schublade“ und diente lediglich als Gedankenbasis für zwei meiner Festivalberichte. Dies ist nun eine redigierte, teils gekürzte und teils ergänzte Fassung des Artikels.


Das kleine, studentische Jenaer Südosteuropa-Filmfestival hat viele Besucher gefunden, zumindest genügend, um seinen Vorführraum aus allen Nähten platzen zu lassen. Die Atmosphäre ist familiär, die Organisation auf fast rührende Art und Weise dilettantisch: Rotwein und Weißwein waren um acht Uhr Abends schon alle, das ganze fing natürlich erst c.t. an und ein wirkliches Cinemascope-Erlebnis sieht grundsätzlich anders aus als eine Projektion auf eine viel zu kleine Leinwand. Alles nicht schlimm, wenn das mit Liebe rübergebracht wird, und das wurde es auch. Da kann man auch einen Filmriss gut verkraften, und mit Filmriss meine ich jetzt: CD-Kratzer bei 51min03sec. Kurz: es war eng, es war stickig, es gab keine stimulierende Flüssigkeiten. Die richtige Atmosphäre, um THE ASCENT, das Spielfilmdebüt des montenegrinischen Regisseurs Nemanja Bečanović zu schauen.
Stell dir vor, du bist Schriftsteller, hast eine Third-Life-Crisis, und sitzt an einem Roman, den du trotz deiner anstrengenden und aufreibenden Frühaufsteher-Gewohnheiten einfach nicht fertig kriegst – und du lebst in Podgorice, der Hauptstadt Montenegros. Was tun? Die Lösung: in ein abgelegenes Dorf der schwarzen Berge ziehen, um dort in einer Wohngemeinschaft mit Schafhirten ein wenig abzuschalten und jene Ruhe zu finden, die dir eine bessere Fokussierung ermöglicht. Gesagt, getan: der Bus ruckelt dich dann zu einer verlorenen Straßenkreuzung hin.
Das Dorf: vollkommen verlassen! Der Empfang: kühl wäre durchaus eine Untertreibung! Du musst dich etwa fünf Mal als Jovan vorstellen, damit dich deine wenig gesprächigen ländlichen Gastgeber endlich als Vuk und Vidrana begrüßen. Die schöne Vesna, die du vorher beim Abwaschen am Fluss aufgescheucht hast, grüßt aufgrund ihrer Stummheit nicht zurück, zumindest nicht verbal. Der Hausherr, Zeko, kommt schließlich auch noch dazu. Ja, montenegrinische Berghirten sind etwas befremdlich, ihre Haare sind struppelig und ihre Gesichter sind beängstigend kadaverbleich – dabei liegt Siebenbürgen doch so weit weg. Aber vielleicht wird doch noch was draus.
Wirklich? Jeder kennt das Gefühl. Man ist zu Gast bei jemandem zu Hause, und die Gastgeber streiten sich die ganze Zeit. Eheprobleme und Vater-Sohn-Beziehungen werden einem quasi nebenbei unter die Nase gerieben. Hinzu kommt noch eine leichte Anspannung, die von den scheinbar leicht inzestuösen Situationen herrühren. Dabei ist man sich gar nicht so sicher, wer von den Gastgebern in welcher Weise mit den anderen verwandt sind. Klar: Vuk und Vidrana sind anscheinend ein Ehepaar – oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit? Vesna ist die Schwester von einem der beiden mutmaßlichen Ehepartner – vielleicht? Wirklich sicher ist nur, dass Zeko als übermächtiger Patriarch über alles thront.
Eigentlich bist du ja ziemlich apolitisch, aber trotzdem halten es die Bewohner dieser verlassenen Berghütte für wahnsinnig wichtig, dir ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur unter die Nase zu reiben. Dein Problem: es kommt als totales Hinterwäldlertum und extremistische Landideologie bei dir an. Diese Leute hassen Stadtbewohner, sie hassen Intellektuelle, sie hassen Menschen, die offensichtlich keiner „ordentlichen“ Beschäftigung nachgehen (zum Beispiel Schriftsteller), und sie hassen Raucher. Dumm, dass diese ganzen Attribute auf dich zutreffen. Aber Zeko ist durchaus bereit, sich für deine Ehre einzusetzen. Als Vuk dich verbal etwas in die Mangel nimmt, nimmt Zeko ihn in den Schwitzkasten, mit einer deutlichen Bereitschaft, ihm das Genick zu brechen, nur, damit Vuk sich bei dir entschuldigt. So viel hattest du eigentlich gar nicht erwartet!
Die Gesamtsituation ist auch sonst beunruhigend. Diese Menschen treiben dich zu beängstigenden und teils ziemlich blutigen Alpträumen. Sie schlachten ihre ganze Schafherde ab. Sie nehmen die Spiegel in deinem Zimmer weg, um sie in einem Schrank zu verstauen. Und zu sehen, wie Vesna im nahegelegenen Wald bei einem Hügel frisch aufgegrabener Erde in Größe und Form eines Menschen trauert, ist zwar rührend, aber auch nicht gerade vertrauenserweckend.
Aber die Macht des Wortes ist unendlich. Und dank dieser Macht kannst du schließlich auch die Herzen dieser verschlossenen Bergleute öffnen. Wirklich? Wirklich?? WIRKLICH???
THE ASCENT kann man einem Genre zuordnen, den ich mal als „poetischer Symbolismus“ bezeichnen könnte. Grundmuster: kaum Handlung im engeren Sinne, größtenteils sehr starre Kamera, sperrige Darstellungskunst. Was dabei herauskommt: meist prätentiöser Bockmist! Viele Regisseure bringen es mit ihrer Darstellung karger Landschaften, gesprächsloser zwischenmenschlicher Austausche und wenig dynamischer Kameraeinstellungen nur zu einem nebenwirkungslosen Schlafmittel-Surrogat. Nicht so Bečanović. Mit sehr minimalistischen Mitteln erzeugt er eine extrem dichte und spannungsgeladene Atmosphäre voller latenter Gewalt, Klaustrophobie und Paranoia. Vieles, was passiert, nein, sogar das meiste, ist bedeutungsschwanger. Misstrauen entsteht nicht so sehr durch verbale Attacken, als durch penetrantes Schweigen. In dieser Berghütte wird deutlich: „Nicht-Kommunikation“ ist vielleicht die extremste Form von Kommunikation. Da wir als Zuschauer mit Jovan mitfühlen, wird das Gefühl der Bedrohung immer sehr intensiv aufrecht erhalten. Denn so einfach die Ziegenhirten im Film auch scheinbar gestrickt sind, so absolut unberechenbar sind sie letztlich für den Städter Jovan. Und zwar im bösen wie auch im guten Sinne. Und schließlich auch im bösen Sinne...
Der Schluss des Films übertrifft an Radikalität das Allerschlimmste, das man sich im Verlaufe von etwa 80 Minuten erträumen konnte. Zugleich wirkt er aber auch auf seltsame Art und Weise logisch und folgerichtig.
Wer sich jetzt fragt, wie Jovan seinen Laptop über eine Woche lang in einer Berghütte nutzen kann, ohne ihn aufzuladen: keine Ahnung! Aber der Film ist ja sowieso symbolisch. Und vielleicht hat ihn die spannungsgeladene Atmosphäre aufgeladen.