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Sonntag, 13. September 2015

Ein (Nicht-)Musical in Rot

HOT BLOOD
USA 1956
Regie: Nicholas Ray
Darsteller: Cornel Wilde (Stephano Torino), Jane Russell (Annie Caldash), Luther Adler (Marco Torino)


Marco Torino ist in großen Sorgen. Er ist der König einer großen Roma-Gemeinde in einer sonnigen US-amerikanischen Stadt (wahrscheinlich Los Angeles) – das ist keine einfache Aufgabe, und sie wird ihm zunehmend schwer fallen, denn er ist lungenkrank und muss sich entweder bald zurückziehen und zur Ruhe setzen oder aber sterben. Seine Krankheit verheimlicht er gegenüber seinen Angehörigen. Deshalb arbeitet er fleißig daran, eine Nachfolge zu finden. Die Wahl fällt auf den jüngeren Bruder Stephano, der jedoch Probleme macht: Stephano hat sich von der traditionellen Roma-Kultur entfernt und möchte am liebsten ein bürgerliches US-Leben führen, mit einer „Gajo“-Freundin und einem Job als Tanzlehrer bei reichen „Gajo“-Familien. Damit der kleine Bruder König der Gemeinde werden kann, muss er nach Marcos Willen heiraten und zwar eine richtige Romni, die ihn auf den richtigen Weg bringt. Die passende Kandidatin ist schnell gefunden: Annie Caldash, die Marco kürzlich aus dem Gefängnis zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder (gespielt von James H. Russell – auch im wahren Leben Jane Russells Bruder) befreit hat, in dem er ihre Kaution bezahlte.

Alle sind mit der geplanten Hochzeit zufrieden, außer Stephano, der sich von seinem Bruder nichts vorschreiben lassen und keine Unbekannte heiraten möchte (auch wenn er ihre üppige Oberweite anerkennend begutachtet hat). Doch Annie offenbart Stephano, dass sie sowieso ganz eigene Pläne hat: sie, ihr Vater und ihr Bruder sind eigentlich Ehebetrüger, die nur Marcos Mitgift kassieren wollen. Kurz, bevor die Ehe ausgesprochen wird, soll Annie ein Malaise vortäuschen und würde dann mit dem Geld abhauen. Ein Plan, der Stephano gefällt: so muss er nicht wirklich heiraten, und wenn sein Bruder eins ausgewischt bekommt, dann freut er sich umso mehr.

Natürlich kommt alles anders, und die Hochzeit läuft nicht so, wie geplant. Das heißt eigentlich: sie läuft tatsächlich so, wie eine Hochzeit üblicherweise läuft. Annie täuscht nämlich kein Unwohlsein vor, sondern lässt die Ehezeremonie tatsächlich vollziehen. Ihr überraschter Vater gerät darüber in Tränenausbrüche (was die Anerkennung aller Anwesenden hervorruft „so viele Emotionen“!). Der vollkommen düpierte und nun frisch vermählte Stephano wird darüber hingegen zur Weißglut getrieben, doch muss er seine Wut während der restlichen Festlichkeiten zügeln. Nur die Peitsche bei dem Braut-und-Bräutigam-Peitschentanz lässt er besonders heftig knallen.

Marco Torino ist krank und sucht einen Nachfolger
Sein Bruder Stephano wird zu einer Ehe überlistet
Als beide sich dann im Schlafgemach befinden, fliegen die Fetzen und werden gar Fenster zu Bruch gebracht, was die Hochzeitsgäste, die vor der Zimmertür kampieren und singen, als großes „Temperament“ deuten. Im Inneren des Zimmers befindet sich das Paar allerdings nicht in stürmischer Umarmung, sondern in einem tiefen Streit. Annie möchte tatsächlich eine ernsthafte Ehe führen. Stephano droht hingegen gleich mit einer Scheidung nach traditioneller Roma-Manier: er wird vor dem Rat der Gemeinde aussagen, dass es „keine Liebe“ gibt – und fertig wäre die Sache. Stephano geht dann zu einem Date mit seiner „Gajo“-Freundin weg. Seine Wut tobt er letztlich damit aus, dass er dem Agenten einer Tanzlehrervermittlung, der ihn wohl aus Rassismus nicht eingestellt hat, eine öffentliche Tanzvorführung gibt und ihn schlussendlich durch ein Schaufenster schmeißt. Die Polizei ist bald zur Stelle, und so verbringt Stephano seine Hochzeitsnacht im Knast.

Marco bezahlt natürlich die Kaution für seinen Bruder, während der Rest der Familie nichtsahnend im Wohnzimmer sitzt und wartet, bis das Ehepaar aufsteht und zum Frühstück rauskommt. Stephano, dem das alles egal ist, benutzt nicht die Schleichwege und so kommt offiziell raus, dass er die Hochzeitsnacht nicht bei seiner Frau verbracht hat. Für Marco ist es nun umso wichtiger, dass Stephano endlich in seiner Ehe ankommt. Er bittet Annie, Stephano um jeden Preis zu ihrem Ehemann zu machen (ergo: zu verführen), damit er ein guter Nachfolger wird und setzt Stephanos Ehefrau sogar in Vertrauen über seinen Gesundheitszustand. Die möchte sowieso ihren Ehemann verführen und mischt ihm auch einen leckeren Wein mit Pfirsichen. Stephano, leicht betrunken, deutet nun Annie gegenüber an, dass er die nächste Nacht ganz gerne mit ihr verbringen würde. Genau in diesem Augenblick platzt Marco, der die letzten paar Minuten an der Tür gelauscht hat, rein. Stephano, der in der Situation (nicht ganz zu Unrecht) ein Arrangement zwischen Marco und Annie hinter seinem Rücken wittert, läuft wutentbrannt weg, um sich mit seiner „Gajo“-Freundin zu treffen und vielleicht sogar mit ihr auf Tanztournee zu gehen. Dass Annie ihm folgt und dann die Freundin sogar in eine Kneipenschlägerei verwickelt, besiegelt endgültig seinen Entschluss, wegzugehen.

So beginnt Stephanos Tanztournee – während derer er immer wieder an Annie denken muss. Deshalb kehrt er rasch zurück, nur um zu entdecken, dass bei einer großen Feier seine Ehefrau recht fröhlich mit seinem Bruder tanzt und die beiden recht doppeldeutige Sachen sagen. Stephano reagiert etwas eifersüchtig – was Annie und Marco tatsächlich eiskalt zusammen kalkuliert haben, um den wütenden Ehemann besser an seine Frau zu binden. Der Abend endet damit, dass Stephano wieder Lust auf seine Ehefrau hätte, doch die will nur schlafen und fühlt sich am nächsten Morgen absolut elend. Das liegt daran, dass sie aus Versehen ein Aphrodisiakum geschluckt hat, das der Opa (nach einem Originalrezept aus Serbien) spontan für Stephano gebraut hatte. An dem fürchterlichen Gebräu wäre zweifelsohne jedem Menschen speiübel geworden, doch natürlich denken jetzt alle, dass Annie schwanger sei. Auch Stephano denkt das, nimmt aber an, dass Marco der Vater des (nichtexistenten) werdenden Kindes sei. So bricht er auf, um seinen Bruder zu verprügeln und verkracht sich dann definitiv mit Annie. Als er jedoch erfährt, dass Marco totkrank ist, wird er wieder weich. Zu spät: beim nächsten Ratstreffen des Clans wird Stephano zum neuen König gewählt und seine erste Amtshandlung besteht darin, vor dem versammelten Rat Annies Scheidungsantrag („There is no love!“) zu bestätigen. Als sich die Versammlung auflöst, spornt Marco seinen Bruder dazu an, wie ein „Gajo“ zu handeln und Annie nachzurennen. Dies tut er, hält um ihre Hand an, beide liegen sich in den Armen und Stephano trägt Annie auf den Schultern ins nächstgelegene Zimmer, um nun die Ehe endlich zu „vollziehen“.

Ende gut, alles gut: Stephano trägt Annie über die Schulter ins nächste freie Zimmer

Nicholas Ray drehte in seiner Karriere noirs, Westerns, Melodramen und auch das eine oder andere Epos, jedoch weder ein Musical, noch eine Screwball-Komödie (auch wenn JOHNNY GUITAR – hier einige Worte von mir zu diesem Film – sich teilweise wie ein Musical mit gesprochenen Worten statt Gesängen und Gewaltausbrüchen statt Tänzen anfühlt). HOT BLOOD ist gewissermaßen das, was in Rays Filmographie einem Musical und einer Screwball-Komödie am nächsten kommt. In die Kinos kam HOT BLOOD zwischen den Meilensteinen REBEL WITHOUT A CAUSE und BIGGER THAN LIFE und gilt heute gemeinhin als kurioses Nebenwerk, wobei dies meist tendentiell eher pejorativ gemeint ist.

Die Franzosen wussten es natürlich als erste bereits besser. Jean-Luc Godard, dem kein Superlativ auf der Welt grandios genug war, um DIE Ikone der späteren nouvelle-vague-Rebellen zu loben, schrieb 1957 in seiner Kritik zu HOT BLOOD mit dem Titel „Rien que le cinema“ (Nichts anderes als das Kino), dass Nicholas Ray der einzige Regisseur der Welt sei, der nicht nur fähig, sondern auch willens wäre, das Kino im Falle seines Verschwindens neu zu erfinden. Etwas weniger ekstatisch lobte François Truffaut die Lebendigkeit und Inszenierung des Films.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Es gibt viele und gute Gründe dafür, HOT BLOOD dämlich zu finden. So ist das Drehbuch etwa ziemlich klobig und ruckelt an vielen Ecken und Enden. Marcos schwere Krankheit bleibt die meiste Zeit eine reine Behauptung: manchmal hüstelt Luther Adler etwas vor sich hin, aber so etwas wie Fallhöhe wird noch nicht mal im Ansatz entwickelt. Die Konflikte zwischen den beiden Brüdern scheinen die meiste Zeit wie aus der Konservendose zu kommen und eine tragische oder überhaupt ernsthafte Ebene wird da nie erreicht (selbst dann nicht, als Stephano Marco verprügelt). Das aufgepappte Happy-End könnte lächerlich sein, weil er einfach nicht zu den Konflikten passen will, die vorher mit viel Mühe, aber ohne wirkliche Überzeugungskraft aufgebaut wurden (vielleicht können diese Konflikte deshalb so rasch beiseite gewischt werden, weil sie eh keine Schwere entwickeln konnten). So entwickelt HOT BLOOD eine eigentlich unpassende Balance: die Sachen, die hier passieren, sind zu ernsthaft und tragisch, um den Film wirklich als vollwertige Komödie wahrzunehmen, aber irgendwie auch zu lachhaft, als dass irgend ein Sinn für Tragik entstehen könnte.

Am problematischsten ist aber natürlich das Bild, das in HOT BLOOD von „Zigeunern“ gezeichnet wird: so ein Film würde in dieser Form heute nicht mehr gedreht werden, und darüber sollten wir alle sehr froh sein! HOT BLOOD ist so etwas wie eine audiovisuelle Enzyklopädie aller Zigeuner-Klischees, die man sich so denken kann: der „Zigeuner an sich“ tanzt gern, ist überhaupt sehr musikalisch, trägt bunte Sachen und Bling-Bling-Kram, spricht ständig von Temperament und Emotionen („hot blood“ und so), klaut gerne Sachen, ist fürchterlich abergläubisch, hat es nicht so mit der Moderne, lebt und denkt nur in Familienstrukturen, haut „Gajos“ gerne in die Pfanne etc. Auch kann man den Eindruck nicht loswerden, dass „Zigeuner“ lediglich die Funktion haben, mit ihren Stereotypen das Drehbuch zusammenzuhalten. Es ist ein Drehbuch, dass in einer geschlossenen Gruppe mit strengen, traditionellen Strukturen und Bräuchen (etwa arrangierten Ehen) spielen muss: christlich-traditionalistische Gruppierungen, von denen es in den USA einige gibt, hätten dafür auch herhalten können, aber dann hätte der Film das Hays-Büro wohl definitiv nicht passieren können, und außerdem würden die Figuren dann keine bunten Sachen tragen und tanzen. Das alles hinterlässt schon ein etwas flaues Gefühl im Magen, nicht zuletzt, wenn eine der Nebenfiguren dann fragt, wen man denn beklauen könne, wenn keine „Gajos“ da wären.

Diese Probleme können sicher nicht beiseite gewischt werden wie die intradiegetischen Konflikte am Ende. Doch HOT BLOOD bietet selbst von alleine einige interessante Anmerkungen und Überlegungen zu den Problemen, die er aufwirft. Er baut Klischees auf, die er teilweise wieder zerschlägt. Er schreibt Roma Eigenschaften zu, um dann wenige Augenblicke später andere Eigeschaftszuschreibungen als solche zu entlarven. „No gajos? Who do we steal from?“ fragt also der Opa verwundert, nur um dann von Marco  ein genervtes „Papo, why do you upset me?“ entgegen geschmettert zu bekommen. Immer wieder muss Marco Leute aus seiner Gemeinde mit teils recht teuren Kautionen aus dem Gefängnis befreien: er zahlt dann Hunderte von Dollars an die Polizei für Menschen, die verhaftet worden sind, weil sie (O-Ton Marco) „verdächtigt wurden, Zigeuner zu sein“. Stephano klagt hingegen gegenüber dem Tanzagenten die Ungerechtigkeit an, dass er nicht als privater Tanzlehrer engagiert wird, weil reiche Leute einen „Zigeuner“ nicht in ihrer Villa haben möchten.

Die Welt außerhalb der Roma-Gemeinde in Blau-Grün-Tönen
Es ist bei Ansicht des Films kaum zu glauben, dass HOT BLOOD ursprünglich ein ernsthaftes und ethnografisch minutiöses Drama über das Leben der Roma in den USA sein sollte. Das Drehbuch in der Urfassung stammt von der Journalistin Jean Evans, mit der Nicholas Ray Ende der 1930er Jahre verheiratet war, und die Geschichte war tatsächlich das Ergebnis intensiver ethnografischer Recherchen seitens Evans‘ in US-amerikanischen Roma-Gemeinden. Es wurde dann allerdings von Jesse L. Lasky und Ray komplett umgeschrieben – das eine oder andere tragische Element, das etwas kontextlos im Film herumschwebt, mag wohl auf Evans‘ Originaldrehbuch zurückzuführen sein. Jedenfalls mag HOT BLOOD mag zwar jede Menge Böcke abschießen im Bezug auf die Darstellung von Roma in den USA, andererseits nimmt der Film eine fast hermetische Binnenperspektive ein: es gibt zwar einige wenige Nicht-Roma-Figuren, doch keine, die von Belang wäre. Der Polizist auf der Station, Stephanos Freundin, der Tanzagent und die Kassiererin des Trailerparks, in dem Marco den Wohnwagen für seine letzte Reise stehen hat – das war‘s. Interessanterweise wird die Umgebung dieser Figuren farblich anders codiert als die Umgebung der Roma, nämlich in Blau-Türkis-Tönen: Stephanos Freundin fährt einen türkisfarbenen Wagen, das Wachhäuschen der Trailerpark-Kassiererin ist blau-grün, während die Roma in Rot- und Orange-Tönen und -Variationen (darunter auch das intensive Nicholas-Ray-Rot) eingebunden sind – und in Rot treten bei Nicholas Ray meistens die „Guten“ auf.

HOT BLOOD sieht die Gemeinde der Roma als Gruppe von ethnischen und sozialen Außenseitern, innerhalb derer wiederum gebrochene Individuen leben. Außenseitergruppen und -individuen: klassische Nicholas-Ray-Helden auch in diesem Film. So problematisch der klischierte Blick des Films auf seine Hauptfiguren ist, so intensiv und leidenschaftlich identifiziert er sich auch mit ihnen. Der Film ist auf ihrer Seite und das ohne wenn und aber. Das unterscheidet HOT BLOOD auch merklich von Rays letztem Hollywood-Film, dem absolut unsäglichen 55 DAYS AT PEKING, der einen dezidiert imperialen Blick auf chinesische (und überhaupt ostasiatische) Figuren hat.

Howard Hawks sagte einmal, ein guter Film sei „drei gute Szenen und keine schlechte“. Ob das unmotivierte und angeklebte Happy-End eine schlechte Szene ist, sei dahingestellt (ich finde sie eher unpassend als wirklich schlecht). Auf jeden Fall hat HOT BLOOD mehr als drei gute Szenen. Vielleicht ist er nicht mehr als die Summe seiner Teile, doch die einzelnen Teile haben es teils wirklich in sich! Der Film ist voller Szenen, die man von der Grundstruktur her in vielen anderen Filmen der Zeit sehen würde, aber die dennoch auch offbeat sind, die ein Element haben, die sie einzigartig macht.

Die Hochzeitsszene bietet zunächst so etwas wie den komödiantischen Höhepunkt des Films, als während der Vermählungszeremonie Stephano und Annies Vater innerhalb kürzester Zeit merken, dass Annie die Vermählung durchziehen wird. Die Kombination von Cornel Wildes entsetztem Gesichtsausdruck und Jane Russells selbstbewußtem Auftreten bietet nicht nur den vielleicht größten Lacher des Films, sondern verdichtet auch in einem  einzigen Bild nonverbal die komplette Situation.

Peitschentanz in Nicholas-Ray-Rot
Wie die kurz darauf folgende Peitschentanzszene die Wächter des Production Codes passierte, muss wohl ein Rätsel bleiben. Man kann diese Momente getrost als eine Art Sex-Ersatzszene sehen: Russell tanzt lasziv, hebt ihr weißes Brautkleid, enthüllt darunter viel Bein sowie ein ein knalliges Nicholas-Ray-Rot, während Wilde seine lange Peitsche schwingt. Er schlägt ihr die roten Zierblumen und den Schleier vom Kopf, versucht mehrmals, sie mit der Peitsche an sich zu ziehen. Ein Verführungs- und Unterwerfungsspiel, das wütender Sex mit einem Hauch „kinkiness“ kombiniert und – wie viele andere Momente im Film – wie der unfertige oder abstrahierte Entwurf einer Musical-Szene wirkt. (was die Probleme von HOT BLOOD mit dem Production Code Office betrifft, so wird er zumindest bei IMDb als einer von vielen Filmen in der Sektion „features“ der Dokumentation HOLLYWOOD UNCENSORED erwähnt).

Die nächste dieser „unfertigen“ Musical-Szenen ist Stephanos Tanzeinlage vor der Agentur, die ihn abgelehnt hat. Er will dem Agenten demonstrieren, wie gut er tanzen kann. Alle umgebenden Personen klopfen einen Rhythmus, während Stephano herausfordernd zu tanzen beginnt. Das ganze wird größtenteils als Totale gefilmt, damit man das Gesicht des Tänzers nicht sieht – weil Wilde hier gedoubelt wurde. Das gibt der Sequenz auch eine merkwürdige und sehr auffallende Distanz.

Anfang und Schluss der bizarrsten
(Nicht-)Musicalnummer des Films

Der bizarrste Moment im ganzen Film ist zugleich die merkwürdigste Interpretation einer Musical-Szene. Stephano kommt nach der Nacht im Gefängnis zurück. Annie erwartet ihn, fest entschlossen, ihn zu verführen. Sie bereitet gerade einen Wein mit Pfirsichen vor und adressiert Stephano mit einer Mischung aus Rede, Sprechgesang und Gesang. Dieses Spiel mündet in die Musicalnummer „I could learn to love you“, die allerdings nicht live von Russell gesungen wird, sondern als „playback“ gespielt wird: Annie singt das Lied nicht, sondern denkt es nur, sie stellt es sich vor, während Stephano sich im Hintergrund umzieht, sich kurz wäscht, sein Hemd sucht und anzieht. Das ganze endet mit der Linie „Husband, here‘s your wine“, während Annie Stephano ein Glas hinhält. Die Musik stoppt, Stephano guckt wie hypnotisiert auf Annie, die die Schlusslinie des Liedes noch einmal sprechen muss, damit ihr Ehemann reagiert – als wäre er von dieser Musik, die Annie eigentlich nur denkt, hypnotisiert worden.

Diese „extradiegetische Musicalnummer“ gehört schon jetzt zu meinen absoluten Szene-Favoriten des Jahres, und überhaupt von dem mir bisher bekannten Werk Nicholas Rays. Auch nach ihr gibt es viele denkwürdige Szenen. Etwa die wüste Prügelei zwischen Stephanos Ehefrau und seiner „Gajo“-Freundin in der Kneipe. Oder natürlich auch der dramatische Gürtelkampf zwischen Stephano und Marco: die beiden geraten auf dem Trailerpark, in dem Marco seinen „letzten“ Wohnwagen stehen hat, in einen schweren Streit, und Stephano ist bereit, sich mit Marco zu prügeln. Statt sich aber wie vulgäre „Gajos“ zu hauen, machen sie es auf traditionelle „Zigeuner“-Art: Sie hauen sich gegenseitig mit ihren Gürteln. Diese Szene ist auf vielerlei Art bemerkenswert. Erstens natürlich einfach nur aufgrund der ungewöhnlichen Kampfweise: schließlich peitschen sich hier zwei Männer mit Gürteln. Zweitens ist diese späte Szene innerhalb des Films praktisch symmetrisch zur frühen Peitschentanzszene auf der Hochzeit angeordnet und spiegelt sie in gewisser Weise. Während Stephano in der ersten eine Frau auszupeitschen versuchte, auf die er wütend war, weil er sie nicht haben wollte, versucht er in letzterer den Mann auszupeitschen, der ihm diese Frau, die er nun doch begehrt, vermeintlich wegnehmen will. Drittens erinnert diese Kampfszene in ihrer Inszenierung ein wenig an die Kampfszene mit den Springklingenmessern vor dem Planetarium in REBEL WITHOUT A CAUSE. Überhaupt scheint in HOT BLOOD das eine oder andere von Rays berühmten James-Dean-Film übernommen worden zu sein. Auffällig ist etwa, dass die Polizeistation am Anfang HOT BLOOD im Eingangsbereich ebenso einen „Thron“ hat, wie jene in REBEL WITHOUT A CAUSE (in beiden Fällen handelt es sich um einen Sitz für Personen, die sich ihre Schuhe putzen lassen möchten – warum auch immer so etwas im Eingangsbereich einer US-amerikanischen Polizeistation stehen sollte). Auf den „Thron“ setzt sich im früheren Film der vollkommen betrunkene Jim Stark, im späteren Film „thront“ tatsächlich der König der Roma-Gemeinde, während er sich mit einem Polizisten unterhält.

Ein merkwürdiger Thron in REBEL WITHOUT A CAUSE
und in HOT BLOOD
Und natürlich (und da ähnelt HOT BLOOD in Rays Werk nicht nur REBEL WITHOUT A CAUSE) strotzt der Film nur so vor Rot. Mit Ausnahme von vielleicht Michael Powell und Emeric Pressburger (ich kenne allerdings nicht genug ihrer Filme, um da eine sichere Aussage machen zu können) gibt wohl niemanden, der die Farbe Rot so inszeniert wie Nicholas Ray. Kein Mensch im Universum trägt Rot wie die Figuren bei Ray: Viennas leuchtend rote Lippen, ihre Halsschlaufe, ihr Hemd in JOHNNY GUITAR, Jim Starks Jacke, Judys Mantel und Platos Socke in REBEL WITHOUT A CAUSE, Richie Averys Jacke oder einzelne Kleidungsstücke der Schüler in BIGGER THAN LIFE, und eben Stephanos T-Shirts und Schals sowie Annies Blusen, Korsetts und Röcke in HOT BLOOD. 

Ich habe, um ein wenig vergleichen zu können, REBEL WITHOUT A CAUSE gleich nach der zweiten Sichtung von HOT BLOOD zwecks Verfassen dieses Text geschaut. Dabei ist etwas passiert, was ich nicht erwartet hätte: HOT BLOOD ging aus dem (persönlichen) Vergleich als eindeutiger Sieger hervor, während REBEL WITHOUT A CAUSE – Jean-Luc Godard möge mich dafür gerne steinigen – in meiner Wertschätzung mit dieser (dritten) Sichtung erneut ein wenig niedriger rutschte. Die Gründe dafür (unter anderem eine trotz allem sehr traditionelle und auch unangenehme Sichtweise auf Männlichkeit, die ihn fast schon zum sozial konservativen Film macht) würden einen eigenen Text benötigen. HOT BLOOD gefiel mir bei der ersten Sichtung ganz gut und ich fand ihn so bizarr und bemerkenswert, dass er mir einen eigenen ausführlichen Text wert zu sein schien. Bei der zweiten Sichtung nun habe ich ihn wirklich ins Herz geschlossen...

Ein Film voller Rot

...und nach meinem jetzigen Kenntnisstand würde ich ihn in Rays Werk als Mittelteil einer inoffiziellen „Trilogie des Fieberwahns, der knalligen Farben und überlebensgroßen Gesten“ einordnen, chronologisch zwischen JOHNNY GUITAR und PARTY GIRL – Filmen, die im Kern hauptsächlich aus diesen drei Elementen bestehen (wobei die restlichen Zutaten von JOHNNY GUITAR für zwanzig Filme reichen). Die große Klasse von JOHNNY GUITAR mag HOT BLOOD vielleicht nicht haben (aber das können sowieso nur ganz wenige Filme von sich behaupten), und wahrscheinlich scheitert er im Gegensatz zum wohl großartigsten Western aller Zeiten darin, aus dem Fieberwahn, den knalligen Farben und den überlebensgroßen Gesten etwas wahrhaftig Großes zu machen. Diesem Scheitern zuzusehen ist allerdings ein Erlebnis voller Überraschungen, absolut faszinierend und kurzweilig.



HOT BLOOD ist natürlich in französischen und US-amerikanischen, aber auch in italienischen, britischen und spanischen DVD-Editionen verfügbar. Ich selbst kann nur die UK-Fassung bewerten, die in Bild und Ton gut bis sehr gut ist.

Samstag, 18. August 2012

Ein Senator sieht rot: durch Western-Genre und zeitgeschichtliche Paranoia in sechs Kostümen

JOHNNY GUITAR
USA 1954
Regie: Nicholas Ray
Darsteller: Joan Crawford (Vienna), Mercedes McCambridge (Emma), Sterling Hayden (Johnny Guitar), Scott Brady (Dancing Kid), Ward Bond (John McIvers)


Emma steht total auf den Dancing Kid. Der wiederum hat nur Augen für Vienna, die sich nur auf Johnny einlassen möchte. Johnny fährt ebenso auf Vienna ab, aber die beiden brauchen noch ein bisschen Zeit, um zueinander zu finden. Das Problem ist, dass Vienna dermaßen sexy ist, dass alle am liebsten mit ihr schlafen möchten. So zum Beispiel auch Turkey, der jüngste Kumpel des Dancing Kids. Möglicherweise könnte auch Emma eine gewisse Anziehung zu Vienna verspüren. Da jedoch niemand positive Gefühle oder geschlechtliche Neigungen ihr gegenüber hat, entwickelt sie sich zu einer verbitterten Intrigantin, die mithilfe ihrer düsteren und humorlosen Kumpels dafür sorgen möchte, dass gar niemand sich mit niemanden vergnügen kann.

Was bestenfalls wie eine schlechte Sitcom, schlimmstenfalls wie das Drehbuch zu einer albernen Softerotik-Komödie klingt, ist eigentlich einer der großartigsten (Anti-)Westerns aller Zeiten, ein kühnes farbdramaturgisches Filmexperiment, eine radikale Infragestellung des Western-Genres im allgemeinen und traditioneller Gender-Rollen im speziellen, und eine mächtige Anklage gegen die antikommunistische Hexenjagd McCarthy‘ischer Art. 

„Johnny Guitar“ wurde von der zeitgenössischen US-amerikanischen Kritik regelrecht verrissen: als inkonsistenter Film ohne jegliche spannende Handlung und mit grässlichen Darstellern. Besonders Joan Crawford bekam dabei ihr Fett weg. Französische Filmkritiker hingegen konnten sich vor lauter überschäumender Begeisterung für „Johnny Guitar“ kaum halten. Für die späteren nouvelle vague-Regisseure François Truffaut und Jean-Luc Godard war Nicholas Rays Western ein ikonischer Kultfilm, den man unbedingt in den eigenen Filmen augenzwinkernd zitieren musste. Während Truffaut von einem filmischen „Delirium“ sprach, von einem „Die Schöne und das Biest des Westerns“, erklärte Godard Nicholas Ray geradezu zum Filmgott. Amerikanischen Filmkritiker (und auch Regisseure) zogen, wenngleich ohne große Superlative, später nach und würdigten „Johnny Guitar“ als eines der außergewöhnlichsten Werke der Filmgeschichte. Truffauts „Delirium“-Metapher sowie ähnliche Bezeichnungen werden immer wieder gerne verwendet: „weird“, „bizzare“, „madhouse“, ...

Auch wenn François und Jean-Luc nicht immer überall recht hatten, so demonstriert Rays Werk, wie Stil und Subtext einen trivialen Genre-Film mit einer banalen Handlung zu großer Kunst erheben können. Das Drehbuch ist in der Tat scheinbar banal: Vienna (Joan Crawford) hat sich am Rande einer Kleinstadt mit ihren Ersparnissen ein Saloon aufgebaut. Sie wartet darauf, dass eine geplante Eisenbahnstrecke vor ihrer Tür gebaut wird und mehr Kunden bringt. Mit ihrer unabhängigen Art ist die Wirtin ein Dorn im Auge der Stadtnotablen. Besonders Emma Small (Mercedes McCambridge) hasst die starke und selbstbewusste Vienna und will sie aus der Stadt drängen. Als eine Postkutsche überfallen wird, beschuldigt Emma die Gang um den Dancing Kid (Scott Brady), die regelmäßig bei Vienna einkehrt. Sie überzeugt Marschall McIvers (Ward Bond), den Dancing Kid und seine Bande zu verbannen und den Saloon zu schließen. Als Vienna am nächsten morgen in der Stadt ihr Sparkonto schließen möchte, wird die Bank vom Dancing Kid und co. überfallen: sie wollen sich mit einem wirklichen Verbrechen für die unrechtmäßig ausgesprochene Verbannung rächen. Emma sieht nun die Gelegenheit, um mit Vienna endgültig abzurechnen und versammelt einen Lynch-Mob zu ihrem Saloon...

Und der von Sterling Hayden gespielte Titelgeber selbst? Die Johnny Guitar-Figur ist dramaturgisch (wenngleich nicht symbolisch) relativ unbedeutend, genauso wie alle anderen männlichen Figuren. Nicht umsonst ging der Kultfilm in die Geschichte ein als „revisionistischer“ Frauen-Western, der mit großer Freude traditionelle Gender-Rollen brachial ins Umgekehrte drehte. Vienna ist eine „paternalistische“ Matriarchin: eine selbstbewusste Kleinunternehmerin, die ihre größtenteils männliche Umgebung vollends im Griff hat - angefangen bei ihren Angestellten, von denen einer zu Beginn beichtet: „Never seen a woman who was more of a man. She thinks like one, acts like one, and sometimes makes me feel like I‘m not.“ Manch zeitgenössischer Filmkritiker warf Joan Crawford völlig zu unrecht vor, asexuiert zu spielen. Der gute Mann ging wohl eher von seinen eigenen Problemen aus, denn Vienna ist Sex-Appeal in reiner Form. Roger Ebert traf den Punkt schon eher, wenn er andeutete, dass die Vienna-Figur im ersten Akt, mit ihren engen dunklen Hosen und Lederstiefeln und der umgegurteten Pistole wie eine Domina aus einem zeitgenössischen Fetisch-Pornoheft aussah, die sich in einen Western verirrt habe. Das erklärt auch, warum mindestens drei männliche Film-Figuren Vienna begehren, ganz besonders, wenn sie im wörtlichen Sinne „die Hosen anhat“. Gerade wenn sie „Männer“-Kleidung trägt, ist ihr Sex-Appeal völlig ungezügelt. Vienna ist sich sehr wohl der Gender-Problematik bewusst, wenn sie Johnny aufgebracht mitteilt: „A man can lie, steal, and even kill. But as long as he hangs on to his pride, he‘s still a man. All a woman has to do is slip once. And she‘s a tramp. Must be a great comfort to you to be a man.“

Emma ist hingegen in vielerlei Hinsicht das Gegenteil: eine verbitterte und verklemmte „alte“ Jungfer, die keiner begehren will. Sie ist ohne jeglichen Sex-Appeal: kreischt ununterbrochen hysterisch, geifert Verachtung und Hass. Außerdem versagt ihr Ray das Tragen von sexy Hosen: nur im ersten Akt darf sie sich ein wenig farbig gekleidet zeigen. Während des restlichen Films versprüht sie ihr Gift in einem Kleid, dessen schwarze Farbe und weiter Schnitt alle Körperformen verhüllt.

Und ganz offensichtlich ist Emma zutiefst sadistisch veranlagt - sowohl metaphorisch wie auch in einem ganz wörtlichen, sexuellen Sinne. Erregt ist sie im Zusammenhang mit graphischen Gewaltandrohungen und tatsächlich ausgeübter physischer Gewalt, sei es gegen den Dancing Kid, gegen seine Kumpanen oder gegen Vienna. Zum Flirten ist sie  hingegen gänzlich unfähig. In einem der zahlreichen unglaublichen Momente des Films beweist Johnny Guitar dem Dancing Kid, dass er tatsächlich spielen kann, indem er ein Lied anstimmt. Der Dancing Kid zeigt dem „Guitar Man“, dass er wirklich tanzen kann, indem er sich kurzerhand Emma schnappt und mit ihr einige Runden durch Viennas Saloon dreht. Emma ist dermaßen fassungslos, dass sie darauf nicht reagieren kann und nach dem Tänzchen blickt sie, als hätte der Dancing Kid sie vor der ganzen Versammlung vergewaltigt, mindestens aber unsittlich angefasst. Sie erholt sich aber rasch und keift anschließend Vienna und Johnny Guitar umso aggressiver an.

Worin sie Vienna durchaus gleicht ist, hingegen ihre autoritäre Dominanz gegenüber der rein männlichen Umgebung: es ist ihr extremistischer Aktivismus, der sie zur unumstrittenen Chefin des Lynch-Mobs macht, genauso wie Vienna sich mit ihrem resoluten Auftreten als geistige Führerin der sozialen Außenseiter behauptet. Manch Filmkritiker sieht auch eine noch engere Verbindung zwischen Emma und Vienna und interpretieren die Figur Mercedes McCambridges als „closet lesbian“. Eine durchaus diskutable These, die zumindest durch die obsessive Fixierung Emmas auf Vienna (und ihre Zerstörung) eine gewisse Grundlage hat.

Viel eindeutiger ist jedoch was anderes. Emma ist eigentlich ein Senator aus Wisconsin. Emma Small ist Joseph McCarthy! Denn mehr als eine Gender-Groteske ist „Johnny Guitar“ auch ein politisches Manifest. Diese Beschäftigung mit den antikommunistischen Hexenjagden der späten 1940er und frühen 1950er Jahre ist aufgrund ihrer Offensichtlichkeit schon gar nicht mehr als Subtext zu bezeichnen, sondern bildet den eigentlichen Kern des Films. Noch einmal zur Story: eine Gruppe „respektabler“ Bürger, die sich auf Seite des Gesetzes wähnt, tritt eine geradezu irrationale und rücksichtslose Hetzjagd gegen soziale Außenseiter los, denen man im rechtsstaatlichen Sinne nichts vorzuwerfen hat.

Das Problem ist dabei nicht nur, dass die Beschuldigungen irrational, absurd und durchweg paranoid sind: ob der Dancing Kid und seine Gang-Kollegen tatsächlich zu Beginn des Films die Postkutsche ausgeraubt haben, bleibt unklar und ist letztlich irrelevant. Vielmehr ist das Urteil schon à priori festgelegt worden: Die Unschuldsvermutung wird aufgehoben und Indizien kann man mit viel Phantasie in „Beweise“ uminterpretieren. So hat der offensichtlich noch unter Schock stehende Fuhrmann der ausgeraubten Kutsche aufgrund des Sonnenstands die Räuber nicht genau sehen können. Emma und McIvers brüllen ihn so lange an, bis er „zugibt“, dass es vier Männer waren: es „musste“ sich also um den Dancing Kid und seine drei Kollegen handeln.

Vienna hingegen macht sich nur durch die Tatsache verdächtig, dass die Dancing-Kid-Bande jeden Freitag Abend in ihr Lokal einkehrt. Das ist der Grund, warum die unentschlossenen „respektablen“ Männer Emma folgen. Johnny Guitar ist hingegen per se verdächtig, weil er ein unbekannter Fremder ist. Dass er keine Waffe trägt, macht ihn noch verdächtiger (vielleicht habe er die Kutsche ja überfallen und dann die Waffen beseitigt). Seine Begründung für die Waffenlosigkeit - „Because I‘m not the fastest draw West of the Pecos“ - bringt Vienna und Dancing Kid & Co. zum lachen. Das wiederum bringt Emma auf die Palme: die Gesetzeslosen würden McIvers auslachen.

In nicht einmal einer Viertelstunde entlarven Nicholas Ray und Drehbuchautor Ben Maddow die Mechanismen der Kommunistenjagd. Das „House Committee on Un-American Activities“ (HCUA), ursprünglich zur Untersuchung faschistischer Gruppierungen gegründet, wurde ab Ende des Weltkriegs von rechten Republikanern zum Hauptorgan der Kommunistenjagd umfunktioniert. Sie diente vor allem der radikalen Abrechnung mit der New-Deal-Ära. Hollywood war dabei eine besonders öffentlichkeitswirksame Zielscheibe. Der HCUA arbeitete mit wilden Beschuldigungen, Anprangerungen und Beweisumkehrungen. Geladene Zeugen, die sich als „unfreundlich“ erwiesen und sich auf die Verfassung beriefen, wurden wegen Missachtung („Auslachen“) des Abgeordnetenhauses zu Gefängnisstrafen verurteilt, darunter die berühmten „Hollywood Ten“. Und wenn das Komitee selbst keine Strafen aussprach: „respektable“ Bürgerversammlungen (die Studios und „freundliche“ Zeugen) konnten dank schwarzer Listen faktische Berufsverbote aussprechen oder die Angeklagten noch etwas mehr durch den Dreck ziehen.
Das Komitee für unamerikanische Umtriebe (als Lynch-Mob getarnt)
McIvers verbannt den Dancing Kid und seine Bande administrativ und schließt Viennas Saloon. Für Emma ist dies jedoch nicht genug. Der Lynch-Mob versammelt sich am nächsten Abend wieder bei Vienna, die in der Zwischenzeit den Jüngsten der Dancing-Kid-Bande, Turkey, bei sich versteckt hält. Vienna weigert sich, über den Aufenthaltsort der anderen auszusagen. Als Turkey entdeckt wird, zwingen ihn Emma und McIvers dazu, gegen Vienna auszusagen. Von der Aussicht gelockt, nicht an den Galgen zu kommen, schwärzt er sie als Anstifterin an. Emma brennt das Saloon nieder und der Mob macht sich auf, um Turkey und Vienna unter der nächsten Brücke zu erhängen.
Dieser Höhepunkt des zweiten Akts macht dem Ruf des Films als „halluzinatorisches“, „bizarres“ Werk alle Ehre (siehe einen Teil dieser atemberaubend inszenierten Szene hier), thematisiert aber auch eines der meist diskutierten Komplexe der antikommunistischen Hexenjagd Hollywoods: das Denunzieren von Kollegen („naming names“). Da der HCUA die Namen aktueller oder ehemaliger Mitglieder der Kommunistischen Partei so oder so schon kannte, hatten die Denunziationen oberflächlich keinen Zweck, schafften es aber erfolgreich, die Solidarität progressiver und linker Kreise zu untergraben. Die Bandbreite an persönlichen Motivationen für die Aussagen vor dem HCUA ist groß: zwischen fanatischen, begeisterten Kommunistenjägern auf der einen und verzweifelten „blacklistees“, die durch Denunziation hofften, wieder Arbeit in Hollywood zu bekommen, auf der anderen Seite. Turkey gehört zweifelsohne zu den letzteren: schließlich ist er auf fast schwärmerische Weise in Vienna verliebt.

Auch Sterling Hayden gehört tendenziell in die letztere Kategorie. Hayden war kurzfristig Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Beigetreten war er aus Bewunderung für die jugoslawischen Partisanen, an deren Seite er als US-Soldat im Weltkrieg gekämpft hatte. Als nach „The Asphalt Jungle“ Angebote ausblieben, vermutete er, dass er auf eine schwarze Liste geraten war. Er bot sich daraufhin als „freundlicher“ Zeuge an und „nannte Namen“. Diese Tat bereute Hayden fortan. Sie trieb ihn in lebenslangen Selbsthass (und wahrscheinlich auch in den Alkoholismus). Auch sein Filmcharakter nennt einen Namen: seinen eigenen (Johnny Logan). Dass Namen wie „Johnny Guitar“ oder „Dancing Kid“ eigentlich völlig bescheuert sind, darin sind sich bis auf die zwei Betroffenen alle einig. Die symbolische Bedeutung liegt jedoch auf der Hand.

Der eigentliche (!) Drehbuchautor von „Johnny Guitar“, Ben Maddow, blieb hingegen jahrelang auf der schwarzen Liste. Der offizielle Szenarist Philip Yordan hatte lediglich seinen Namen zu den Credits beigetragen. Als engagierter Linker hätte eigentlich auch Nicholas Ray „geschwarzlistet“ werden müssen, zumal er schon - freilich etwas untergründiger und subtiler - in früheren Filmen die Kommunistenjagd thematisiert hatte. Die persönliche Protektion des RKO-Chefs Howard Hughes (ironischerweise ein paranoider Anti-Kommunist) bewahrte ihn wohl vor der Knochenmühle.

Außerordentlich merkwürdig war jedoch die Beteiligung von Ward Bond, einem Mitglied der „Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideals“. Dieser 1944 gegründete Verband rechter konservativer Hollywood-Leute unterstützte voll und ganz die Hexenjagd des HCUA, und stellte gerne „freundliche“ Zeugen zur Verfügung, um Hollywood vor der kommunistischen Infiltration zu retten. Selbst sein bester Kumpel John Wayne hielt Bond für einen radikalen Fanatiker. Dass er ausgerechnet den Marschall McIvers spielt, der dem Lynch-Mob einen Schein von Legitimität verleiht, lässt einen ziemlich sprachlos. Trotz des „halluzinatorischen“ Charakters von „Johnny Guitar“ war die Realität hier fast noch unglaublicher als die Fiktion selbst - wenngleich nicht in solch exquisiten Bildern festgehalten.

Gerade die Farbdramaturgie ist ein dermaßen zentrales Element des Films, dass sie ihn sogar präzise gliedert. Sechs Kostüme in ganz bestimmten Farbgebungen teilen „Johnny Guitar“ in genau sechs Abschnitte, die paarweise jeweils einen Akt darstellen. Hier die Einteilung, nach den sechs (sichtbaren) Facetten der Vienna-Figur benannt.

I. Akt
Autorität (Schwarze Lederstiefeln, dunkelbraune Hose und schwarzes Hemd mit türkis-farbener Hals-Schleife): Einführung der Charaktere und ihrer Konflikte. Vienna als matriarchalische, dominante Saloon-Besitzerin.
Begierde (Purpurnes Kleid mit dunkelrotem Umhang): Neben-Story um die vergangene und künftige Liebe zwischen Vienna und Johnny. Vienna als liebende Frau.
II. Akt
Sehnsucht (Graues Alltags-Kleid mit roter Hals-Schleife): Vienna sehnt sich nach einem bürgerlichen Leben mit Johnny und fährt zur Bank, um ihr Konto aufzulösen (wo der Überfall des Dancing Kid stattfindet). Vienna als respektable Bürgerin.
Unschuld (Weißes, teils durchsichtiges Ball-Kleid mit dünner schwarzer Hals-Schleife): Vienna hofft darauf, ihren Saloon zumindest als Wohnung beizubehalten und wird von Emmas Lynch-Mob (ganz in schwarz gekleidet) überfallen. Vienna als unschuldige Kulturbürgerin und Mutter Pieta.
III. Akt
Flucht (Knallrotes Hemd mit blauer Hose): Vienna ist dem Lynch-Mob entkommen. Ihr Saloon und ihr weißes Kleid sind verbrannt und sie flieht zusammen mit Johnny zum Versteck des Dancing Kid. Vienna als Flüchtling.
Rache (Knallgelbes Hemd mit roter Schleife und schwarzer Hose): Vienna bereitet sich mit Johnny und dem Dancing Kid auf den Showdown gegen Emma und ihrem Mob vor. Vienna als zorniger Rache-Engel.
Das Setdesign von „Johnny Guitar“ meistert hingegen eine Gratwanderung zwischen kargem Minimalismus, barocker Überfrachtung und überdrehter Stilisierung. Spuren von„Realismus“ findet man nicht einmal mit der Lupe. Teilweise wirkt das Set geradezu schäbig und sieht nicht wie das Innere eines Saloons, einer Bank oder einer Berghütte aus, sondern eben wie eine billige Kulisse. Was teilweise noch heute bemängelt wird, verstärkt jedoch gerade auch die surreale Stimmung des Films. Viennas Saloon ähnelt auch schon vor der „offiziellen“ Schließung mehr einer Berghöhle, in der ein Eisenbahn- und Kutschenmodell-Fetischist seinen Hobbyraum eingerichtet hat. Natürlich versinnbildlicht dies Viennas Hoffnung auf jene Verkehrsmittel, die mehr Kunden an die permanent leeren Roulettentische bringen soll. Es ist jedoch nicht logisch erklärbar, warum der Saloon so aussieht, als wäre er an einem Stück Fels angebaut worden, so dass ein Teil der Wand keine Wand ist, sondern braune Gestein-Struktur. Wenn Vienna davor in ihrem weißen Ball-Kleid am Klavier sitzt, sieht es auf jeden Fall umso surrealer aus, während Johnny mit seiner Wildlederjacke in dieser Umgebung fast verschwindet.


Diese magische „halluzinatorische“ Wirkung könnte der Film selbstverständlich nicht entwickeln, wenn irgendeine der Figuren auch nur annähernd wie ein normaler Mensch spräche oder sich verhielte. Das völlig überdrehte Overacting, besonders der beiden Hauptdarstellerinnen, aber auch die stilisierten und geradezu poetischen Dialoge würden in einem anderen Kontext lächerlich wirken. Für Leute, die den Film nicht mögen, wirken diese Elemente tatsächlich lächerlich.

„Johnny Guitar“ ist also mehr als nur die Summe seiner Teile. Aber wie magisch sind schon die Teile an sich! Wenn Vienna ohne mit der Wimper zu zucken Rühreier zubereitet, während Dancing Kid und Johnny nur ganz kurz davor sind, sich gegenseitig umzubringen. Wenn Johnny und Vienna sich über die Gefährlichkeit Emmas und ihrer Kumpanen vor einem Sonnenuntergang unterhalten, der wie gemalt aussieht (weil er es vielleicht auch ist!). Wenn man merkt, dass der Lynchmob auf der Suche nach dem Dancing Kid sich beim Reiten die schwarze Kleidung mit braunem Schmutz eingesaut hat. Vienna am Piano. Und dieser Shootdown zwischen Vienna und Emma...

Hinweis:
Mit den bescheuerten Verleihtitel-Zusätzen à la „Wenn Frauen hassen“ oder „Gehasst, gejagt, gefürchtet“ ist „Johnny Guitar“ auch in Deutschland relativ kostengünstig zu erwerben. Üblicherweise noch kostengünstiger ist die UK-DVD, auf deren Sichtung sich die Besprechung stützt.