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Montag, 5. August 2013

Revolution, eine Hymne, Crowdfunding, und Goethe im Abgang

LA MARSEILLAISE
Frankreich 1938
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Andrex (Honoré Arnaud), Edmond Ardisson (Bomier), Pierre Renoir (Ludwig XVI.), Lise Delamare (Marie-Antoinette), Louis Jouvet (Roederer), Aimé Clariond (de Saint-Laurent), Nadia Sibirskaïa (Louison), Jenny Hélia (Louise Vauclair), Édouard Delmont (Cabri), Paul Dullac (Javel), Julien Carette und Gaston Modot (zwei Freiwillige)

Der König erhält eine Nachricht, deren Tragweite er nicht begreift
Versailles, 14. Juli 1789: König Ludwig XVI. liegt von der Jagd ermattet im Bett, als man ihm die Nachricht vom Sturm auf die Bastille überbringt. "Eine Revolte?" fragt er erstaunt und nur mäßig interessiert. "Nein, eine Revolution", wird er belehrt.

Arnaud, Bomier und Cabri (v.l.n.r.) in den Bergen
Szenenwechsel: Juni 1790, in den Bergen im Hinterland von Marseille. In dieser Abgeschiedenheit verbergen sich zwei junge Anhänger der Revolution, der Zöllner Arnaud und der Maurer Bomier. Zu ihnen stößt der alte Bauer Roux, genannt "Cabri" (Zicklein), dem wegen Wilderei Jahre als Galeerensträfling drohen - er hat gerade mal eine Taube erlegt, die sein Feld plünderte, und wurde dabei erwischt, konnte aber fliehen. Für das einfache Volk hat sich seit dem Beginn der Revolution nicht viel verbessert - die faktische Macht liegt immer noch bei den Großgrundbesitzern und Aristokraten, und letztere üben die Gerichtsbarkeit aus. Zusammen räsonieren die drei Flüchtlinge darüber, was sich alles ändern müsste. Einige Zeit später gibt es Fortschritte: Von ihrem Bergsitz sehen sie Adelspaläste brennen, und Arnaud und Bomier beschließen, dass es an der Zeit ist, nach Marseille zurückzukehren.

Ardisson (links) und Javel vor der Eroberung des Forts
Marseille, Oktober 1790: Arnaud dient als Offizier und Bomier als Soldat in einer republikanisch gesinnten Einheit der Nationalgarde, zu der auch ihre Freunde Moissan, Ardisson und der etwas großtuerische Maler Javel gehören. In einem unblutigen Coup, bei dem ein riesiges Weinfass als trojanisches Pferd dient, erobern sie ein von royalistischen Truppen gehaltene Hafenfort, das auch als Gefängnis dient. Unter den 22 befreiten Gefangenen ist auch Cugulière, ein alter Freund von Bomier und Arnaud. Marquis de Saint-Laurent, der Kommandant der Festung, nimmt den Vorgang gefasst und mit tadellosen Umgangsformen, aber einem gewissen Unverständnis zur Kenntnis. Als ihm Arnaud in einer Unterredung die Bedeutung der Begriffe "Nation" und "Volk" nahebringen will, weiß de Saint-Laurent nicht viel damit anzufangen - für ihn zählt nur die Treue zum König. Später wird er ins Exil nach Deutschland abgeschoben.

Der Marquis de Saint-Laurent (links) und Arnaud
Koblenz, April 1792: Hier hat sich eine Kolonie aristokratischer Exilanten etabliert, darunter der Marquis de Saint-Laurent und seine Frau. Man unterhält sich über die baldige Beendigung der revolutionären Umtriebe durch die preußischen und österreichischen Truppen, die zur Wiederherstellung der alten Ordnung heranrücken - das wird nur ein Spaziergang, der in drei Wochen erledigt ist, glauben sie. Dann wendet man sich einem viel wichtigeren Thema zu, nämlich einer Schrittfolge der Gavotte, eines höfischen Tanzes, die man hier im Exil doch tatsächlich vergessen hat. Das hat gewiss etwas Lächerliches, aber Renoir präsentiert diese Adeligen nicht als Witzfiguren, sondern eher als tragische Gestalten, deren Denkmuster unrettbar in der Vergangenheit verhaftet sind. Nur de Saint-Laurent hebt sich etwas davon ab. Er teilt den naiven Optimismus seiner Kollegen nicht, und er ist durch Arnauds Ausführungen über Volk und Nation doch etwas ins Grübeln geraten, freilich ohne deshalb die Seiten zu wechseln. - Die Hoffnungen der Aristokraten scheinen nicht ganz unberechtigt zu sein: Zwei Freiwillige der Revolutionsarmee, die auf einem Feldposten bei Valenciennes ganz im Norden Frankreichs stationiert sind, sehen sich mit Flüchtlingen und Deserteuren konfrontiert und machen sich ihre Gedanken über die Ursachen der schlechten Lage, die sie in unzuverlässigen und mit dem Feind sympathisierenden Offizieren sehen.

Bürgerin Vauclair hält eine Rede
Ungefähr zur selben Zeit im Jakobinerclub von Marseille: Bürgerin Louise Vauclair, eine Fischhändlerin, hält eine flammende Ansprache über die schlechte Lage der Nation. Sie prangert die Nationalversammlung an, die von Großbürgern und liberalen Aristokraten dominiert wird, die nur auf ihre eigenen Pfründe achten, statt die Lage des Volkes zu verbessern. Und der König, der - jetzt im konstitutionellen Rahmen - nach wie vor über politische Macht verfügt, verhindert mit seinem regelmäßigen Veto ohnehin jede progressive Gesetzgebung, weshalb Louise ihn und die Königin als Monsieur und Madame Veto verhöhnt. Die Rede erhält begeisterte Zustimmung, und es wird die Aufstellung eines Freiwilligenbataillons von 500 Mann beschlossen, das nach Paris marschieren soll, um die Sache der Revolution voranzubringen, und sich erst dann den ausländischen Feinden entgegenzustellen. Arnaud, Bomier und die anderen Marseiller, die schon bei der Einnahme des Forts dabei waren, sind alle mit von der Partie. Bei der Einschreibung für das Bataillon singt jemand eine Hymne, die kürzlich in Strasbourg für die französische Rheinarmee geschrieben wurde. Bomier ist wenig begeistert: Das Lied werde in zwei Wochen wieder vergessen sein, meint er. Doch er täuscht sich: Beim Abmarsch des Bataillons, der zu einem großen Volksfest gerät, singt schon halb Marseille mit. Der Marsch nach Paris verläuft ohne Zwischenfälle, aber überall, wo man durchkommt, singt das Bataillon sein neues Lied, das so nach und nach von der Hymne der Rheinarmee zur Hymne der Marseiller und schließlich kurz La Marseillaise wird. In Paris, wo schon ähnliche Bataillone aus dem ganzen Land versammelt sind, werden die Marseiller begeistert empfangen. Bomier lernt die Pariserin Louison kennen und verliebt sich in sie.

Marsch nach Paris
Juli 1792: Jetzt, nach 80 Minuten, kehrt der Film zum ersten Mal seit dem Prolog an den Hof zurück, der sich nicht mehr in Versailles, sondern seit Herbst 1789 auf Druck der Revolutionäre in den Tuilerien in Paris befindet. Am 25. Juli hat der Herzog von Braunschweig, der Oberbefehlshaber der österreichischen und preußischen Koalitionstruppen, ein Ultimatum an die Pariser Bevölkerung unterzeichnet (der eigentliche Verfasser war ein französischer Adeliger aus der Koblenzer Kolonie), das die sofortige und bedingungslose Unterwerfung unter den König fordert, andernfalls wird die Eroberung und Verwüstung von Paris angedroht. Vorerst liegt nun aber eine Kopie dieses Manifests auf dem Tisch des Königs, der entscheiden soll, ob es tatsächlich veröffentlicht wird. Die Hardliner unter seinen Ministern und Beratern sind dafür, ebenso Marie-Antoinette, die es nicht erwarten kann, dass ihre österreichischen Verwandten und die preußischen Verbündeten sie wieder in ihren alten Stand einsetzen. Doch Ludwig XVI. zögert: der aggressive Ton des Dokuments ist ihm zuwider, und er fürchtet zu Recht, dass die Veröffentlichung seine eigene Popularität im Volk weiter untergraben würde. Doch er ist nur halb bei der Sache - nebenbei streitet er sich mit der Königin über die neumodische Erfindung des Zähneputzens mittels Zahnbürste und über die Treffsicherheit des österreichischen Kaisers bei der Jagd. Schließlich wickelt ihn Marie-Antoinette um den Finger, und das Manifest des Herzogs von Braunschweig wird an die Nationalversammlung weitergeleitet und am 1. August veröffentlicht.

Festlicher Empfang in Paris
Doch das erweist sich als schwerer Fehler. Statt wie erhofft die Bevölkerung einzuschüchtern, ruft das Ultimatum nur allgemeinen Zorn hervor. Vor allem die Sansculotten, die Pariser Arbeiter und Kleinbürger, radikalisieren und bewaffnen sich jetzt. Unter Umgehung der offiziellen Pariser Stadtregierung bilden die revolutionären Pariser Sektionen eine erste Kommune (commune insurrectionelle), die ein Gegenultimatum an die Nationalversammlung stellt: Absetzung des Königs bis zum 9. August. Bomier und seine Freundin Louison und die anderen Marseiller nutzen die freie Zeit bis zum Ablauf der Frist, um das Schattentheater von François Dominique Séraphin zu besuchen, das dieser seit 1770 zuerst in Versailles und dann in Paris führte - in gewissem Sinn das zeitgenössische Pendant zum Kino. Gegeben wird unter anderem ein kurzes aktuelles Stück: Le Pont Cassé (Die zerstörte Brücke). "Madame La France" als Personifizierung der französischen Nation steht auf einer Seite eines Grabens, der König auf der anderen Seite. Eine Brücke, die den Graben überspannte, ist zusammengestürzt. Der König will La France umarmen, aber er kann nicht hinüber. Als Grund für den Graben, der beide jetzt trennt, nennt sie das Manifest des Herzogs von Braunschweig. Madame geht von dannen, und der König fällt vor Schreck fast um.

Pariser Volk (vorne Nadia Sibirskaïa und Sévérine Lerczinska)
Das Ultimatum der Revolutionäre verstreicht, und so kommt es am 10. August 1792 zum Sturm auf die Tuilerien, und die Marseiller Einheit ist an vorderster Front dabei. Das Schloss wird von der Leibgarde des Königs, die aus Schweizern besteht, sowie Einheiten der Nationalgarde mit zweifelhafter Loyalität verteidigt. Ludwig XVI. und sein Gefolge sind vor dem Kampf guter Dinge, aber als bei der Parade im Hof ein Teil der Truppen Vive la Nation statt Vive le Roi ruft, ist der König für einen Moment fassungslos. Kurz danach erscheint Pierre Louis Roederer, der procureur général syndic des Pariser Départments, also ein hoher Beamter der Stadtregierung, der zwischen dem König, der Nationalversammlung und den radikalen Revolutionären laviert. Angesichts der gewaltigen zahlenmäßigen Übermacht der Revolutionäre rät er dem König dringend, sich in den Schutz der Nationalversammlung zu begeben und mit seiner Familie unverzüglich von den Tuilerien in das nahegelegene Parlamentsgebäude überzusiedeln, und Ludwig XVI. stimmt resigniert zu. Beim kurzen Fußmarsch auf einer Allee spielt der siebenjährige Dauphin mit Laub, und der König merkt an, dass die Blätter dieses Jahr früh gefallen sind - ein Menetekel angesichts der bald fallenden Köpfe. Und dann beginnen die Kämpfe. Arnaud kann die Nationalgardisten unter den Verteidigern überreden, die Seiten zu wechseln, aber die Schweizergarde bleibt standhaft und eröffnet das Feuer. Anfangs gehen die Royalisten in die Offensive, aber in wilden Scharmützeln in den Straßen und Gassen von Paris werden sie niedergerungen, in den Palast zurückgedrängt und vollständig besiegt. Die Überlebenden werden reihenweise füsiliert. Aber auch einer der Marseiller, denen wir von Anfang an gefolgt sind, muss an diesem Tag sein Leben lassen. Um das Gemetzel an den Verlierern etwas einzuschränken, interveniert Roederer und opfert das Königspaar: Er erklärt im Namen der Nationalversammlung die vorläufige Absetzung und Anklage des Königs, die dann bekanntlich im Januar 1793 zur Enthauptung führte.

Marie-Antoinette
Aber der Film endet schon am 20. September 1792: Das Marseiller Bataillon rückt bei Valmy als Teil der Revolutionsarmee gegen das preußische Kontingent der Koalitionsarmee vor. Hier kommt es zu einem mehr oder weniger unentschieden verlaufenden Artillerieduell, an dessen Ende sich die Preußen zurückziehen. Renoir erspart sich neuerliches Schlachtengetümmel und lässt den Film schon vor dem eigentlichen Schlachtfeld enden. - Am preußischen Feldzug nahm auf Wunsch des Herzogs von Weimar auch Johann Wolfgang von Goethe als Beobachter teil. Nach der "Kanonade von Valmy" will er folgendes zu preußischen Offizieren gesagt haben: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Das steht so allerdings nur in einem Text, den Goethe 1822, also 30 Jahre nach dem Ereignis, veröffentlichte, und die Echtheit des Ausspruchs wird denn auch von der Forschung bestritten. Aber Renoir, ein Freund und Kenner deutscher Hochkultur, nutzte das Zitat (unter Weglassung des zweiten Halbsatzes) für ein optimistisches und patriotisches Schlusswort, indem er nach dem FIN noch einen Lauftext einblendet:
Bei Valmy widerstanden die Franzosen allen Attacken der berühmten preußischen Infanterie. Der große deutsche Dichter Goethe war Zeuge ihres Sieges. Sein Kommentar wird den Schlusspunkt dieser Geschichte bilden.

"Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus."

Der König erörtert das Manifest des Herzogs von Braunschweig - und ist not amused
LA MARSEILLAISE ist laut seinem Untertitel eine "Chronik gewisser Ereignisse, die zum Sturz der Monarchie beitrugen". Das ursprüngliche Konzept des mit 135 Minuten nicht gerade kurzen Films war noch weit ambitionierter: Wie sich anhand der ersten beiden Drehbuchfassungen herausfinden ließ, sollte es ein mehrstündiges Epos werden, gespickt mit Stars wie Jean Gabin, Maurice Chevalier und Erich von Stroheim. Louis Jouvet sollte eigentlich Robespierre spielen. Der Film sollte den Zeitraum von 1787 bis Valmy abdecken, und der episodische Charakter von LA MARSEILLAISE war darin schon angelegt, aber mit viel mehr Episoden, die nach Renoirs Vorstellung an Wochenschauberichte erinnern sollten. Aber auch im tatsächlich gedrehten Film erkannte mancher Kritiker (darunter Truffaut) eine Ähnlichkeit zu Wochenschauen. Der zweite Drehbuchentwurf stammt von Ende Juni 1937, doch dann wurde innerhalb kürzester Frist alles über den Haufen geworfen: Bei den Dreharbeiten im Sommer und Herbst 1937 blieb von der ursprünglich vorgesehenen Handlung so gut wie nichts übrig. Insbesondere wurden die Vordenker der Revolution wie Robespierre, Danton und Marat komplett aus der Handlung entfernt. Neben zu vermutenden finanziellen Gründen lag das auch daran, dass nicht die "Stars" der Revolution, sondern das Volk selbst der Held des Films werden sollte. Weil aber eine abstrakte Größe wie das Volk für das Filmpublikum schlecht zur Identifikation taugt, übernahmen die fiktiven Charaktere aus Marseille (und hier der volkstümliche Bomier mehr als der eher intellektuelle Arnaud) die Rolle der Identifikationsfiguren.

Schattentheater
Renoir lässt an seiner Sympathie für die Revolutionäre nie Zweifel aufkommen, aber er lässt auch der Gegenseite Gerechtigkeit angedeihen. Das Königspaar und die Aristokraten werden weder dämonisiert noch lächerlich gemacht, sondern, wie schon angedeutet, als Gefangene ihrer Denkstrukturen gezeichnet, die subjektiv aufrichtig und ehrenhaft handeln. Einzige negative Ausnahme ist der Adelige, der Cabri anfangs auf die Galeeren schicken will, aber auch der glaubt, damit die göttlich gegebene Ordnung zu verteidigen. Renoir hat dieses Konzept im August 1937 so umrissen: "Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich sei unparteiisch im Kampf dieser widerstreitenden Ideen. Ich drehe LA MARSEILLAISE mit einer sehr festen Überzeugung: ich möchte einen parteiischen, aber zugleich aufrichtigen Film machen." Diese Herangehensweise kulminiert in der Figur des Königs. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen (etwa dem nur einige Monate später gedrehten MARIE ANTOINETTE von W.S. van Dyke) ist Ludwig XVI. hier kein Blutsauger, auch kein Hampelmann oder eitler Geck, sondern ein sehr menschlicher, im Grunde gutmütiger und sympathischer König, dem allerdings jegliches Gespür für die Ursachen der Revolution und für die politischen Notwendigkeiten abgeht, der deshalb von den Ereignissen überrollt und zu einer tragischen Figur wird. Der Film stützt sich dabei auf die überragende Schauspielkunst von Pierre Renoir, der den König mit Leben und subtilen Nuancen erfüllt. Nach LA NUIT DU CARREFOUR, wo er Kommissar Maigret spielt, und nach seinem Charles Bovary in MADAME BOVARY hat Pierre Renoir hier seine dritte und letzte größere Rolle in einem Film seines jüngeren Bruders. Neben ihm glänzt auch Louis Jouvet in seinem kurzen, aber prägnanten Auftritt als Roederer, und auch alle anderen Rollen sind vorzüglich besetzt. Beim Casting achtete Renoir auf authentische Sprache: Für die Aristokraten mit ihrer kultivierten Ausdrucksweise verwendete er vorwiegend ausgebildete Theaterschauspieler, darunter einige von der Comédie-Française, für das Pariser Volk dagegen volkstümlichere Darsteller, und für die Marseiller solche aus Südfrankreich (von denen einige schon in TONI mitgespielt hatten).

Bomier und Louison
Sehr ungewöhnlich war die Finanzierung des Films: Sie beruhte teilweise auf dem, was heute Crowdfunding heißt. Diese Vorgehensweise war ausdrücklich politisch, nicht wirtschaftlich motiviert: "Denn dieser Film soll nicht der Film eines Mannes oder einer Produktionsfirma sein, es soll der Film der Arbeiterklasse sein", schrieb Renoir damals in einem Artikel. Renoir sympathisierte immer noch mit den Zielen der Volksfrontregierung, die nach wie vor im Amt war, auch wenn der Glanz und Elan der ersten Monate gewichen war. Interessenten konnten "Anteilscheine" zum Preis von 2 Francs erwerben, die dann später zum kostenlosen Besuch des Films berechtigten. In der kommunistischen Parteizeitung L'Humanité und in weiteren linken Zeitungen und Zeitschriften wurde das Konzept seit März 1937 vorgestellt, der eigentliche Startschuss erfolgte dann Ende Juli. Die kommunistische Gewerkschaft CGT leistete beim Verkauf der Anteilscheine organisatorische Hilfe und stellte auch Techniker und Arbeiter für die Dreharbeiten. Die Aktion erregte soviel Aufmerksamkeit, dass im Juli auch eine Zeitschrift in London unter dem Titel "Citizens of Paris Make a Film" darüber berichtete. Doch letztlich kam durch Subskription doch nicht genug Geld zusammen, um den gegenüber dem ursprünglichen Konzept zwar zusammengestutzten, aber immer noch sehr aufwendigen Film zu finanzieren, so dass schließlich auch auf konventionellere Geldquellen zurückgegriffen werden musste.

Deep focus: Im Hof der Tuilerien inspiziert der König die Garde
Das aufgeheizte politische Klima jener Jahre schlug sich nicht nur in der Entstehung, sondern auch in der Rezeption des Film nieder. Weder beim Publikum noch bei den Kritikern war LA MARSEILLAISE ein großer Erfolg, und bei letzteren vorwiegend aus politischen Gründen. Zwar gab es auch sehr positive Rezensionen, etwa von Louis Aragon, der eine ausführliche Lobeshymne verfasste, aber auch wüste Verrisse, vor allem aus dem rechten Lager. LA MARSEILLAISE war ein Plädoyer für die Einigung des französischen Volkes unter progressivem Vorzeichen, und zwar im Angesicht eines äußeren Feindes, der von der anderen Seite des Rheins kam. Das passte perfekt zur Situation von 1938. Spätestens seit im März 1936 die Wehrmacht ins seit dem Versailler Vertrag entmilitarisierte Rheinland einrückte, bedrohte Hitler unmittelbar die französische Flanke, und LA MARSEILLAISE konnte somit als ein Aufruf zur Wachsamkeit und Entschlossenheit verstanden werden. Solche Interpretationen mussten nicht erst von außen an den Film herangetragen werden, sie waren auch in Renoirs Sinn. Im Vorwort zur ersten Drehbuchfassung vom März 1937 heißt es: "[Der Schluss des Films] symbolisiert den Sieg der Volkstruppen über jene Kräfte, die wir heute faschistisch nennen." Aber politische Kontroversen über LA MARSEILLAISE waren nicht auf die 30er Jahre beschränkt. Der Schluss mit Valmy bot Renoir nicht nur die Möglichkeit, den Film mit Goethe enden zu lassen, er enthob ihn auch der Notwendigket, sich mit dem Terror der Massenhinrichtungen auseinanderzusetzen, die erst Monate später begannen. Doch gerade das wurde ihm von einigen späteren Kritikern vorgeworfen. 1962 widmete die Zeitschrift Premier Plan drei Ausgaben Renoir und ging darin kritisch mit ihm und mit LA MARSEILLAISE um, auch als Reaktion darauf, dass er inzwischen von den Cahiers du cinéma zum heiligen Übervater des französischen Films ernannt worden war. Und 1989, zum 200. Jahrestag des Beginns der Revolution, gab es abermals politisch motivierte Debatten um LA MARSEILLAISE. Bei all den politischen Auseinandersetzungen kam die Würdigung der filmischen Qualitäten des Werks lange zu kurz, und zwar sehr zu Unrecht. Renoir zelebriert einmal mehr seine üblichen Stilmittel wie lange flüssige Kamerafahrten und ausgiebigen Einsatz von deep focus (oft durch Fenster, Türen oder Torbögen hindurch) mit gewohnter Souveränität. Vor allem aber ist LA MARSEILLAISE über seine ganze Länge hinweg ein äußerst unterhaltsamer und schon allein deshalb sehr sehenswerter Film. 1967 wurde der nur in beschädigten oder gekürzten Kopien erhaltene Film restauriert und wieder in die französischen Kinos gebracht, zwar wiederum nur mit mäßigem Erfolg beim Publikum, aber mit einer sachlicheren Aufnahme bei den Kritikern. Cahiers du cinéma und das heftig damit konkurrierende Blatt Positif befassten sich Ende 1967 bzw. Anfang 1968 ausführlich damit.

Roederer
Einen nennenswerten Beitrag zu LA MARSEILLAISE leistete das Ehepaar Carl Koch und Lotte Reiniger, die durch Reinigers Scherenschnittfilme wie DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (an denen auch Koch großen Anteil hatte) in die Filmgeschichte eingegangen sind. Als 1926 DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED auch in Paris erfolgreich lief, gab es dort einen Presseempfang für Reiniger und Koch. Renoir und seine erste Frau Catherine Hessling, damals auch seine regelmäßige Hauptdarstellerin, waren auch da, und die vier schlossen sofort Freundschaft und arbeiteten dann gelegentlich zusammen, so 1929 in Berlin bei DIE JAGD NACH DEM GLÜCK, den Reiniger, Koch und Rochus Gliese gemeinsam inszenierten, und in dem Hessling und Renoir Hauptrollen spielten. Der Linksintellektuelle Koch und Reiniger (beide waren auch eng mit Brecht befreundet) übersiedelten 1935 nach London, wo Reiniger fortan ihre Filme herstellte, aber Koch verbrachte 1937-39 überwiegend in Paris, um für Renoir zu arbeiten, und zwar als technischer Berater und Mitautor der Drehbücher von LA GRANDE ILLUSION, LA MARSEILLAISE und LA RÈGLE DU JEU. Bei LA GRANDE ILLUSION war Koch auch Renoirs Deutschland-Experte, und die sehr schwierige Kommunikation mit Erich von Stroheim delegierte Renoir auch teilweise an Koch (jeder der drei hatte damals mindestens eine Nervenkrise). 1939 begann Renoir in Italien mit der Arbeit an LA TOSCA, Koch und Visconti waren Regieassistenten. Aber Anfang 1940 gab Renoir den Film auf, um in die USA zu emigrieren, und Koch übernahm die Regie. - Lotte Reiniger arbeitete nicht so oft mit Renoir zusammen, aber für LA MARSEILLAISE drehte sie in ihrer Scherenschnitttechnik die Schattentheater-Sequenz bei Séraphin, wofür sie im November 1937 von London nach Paris kam. Das gewählte Stück, Le Pont Cassé, wurde keineswegs für den Film geschrieben, sondern war ganz im Gegenteil ein Klassiker, der zur Revolutionszeit oft gespielt wurde, nicht nur bei Séraphin, sondern auch in anderen Schattentheatern. Reiniger schrieb in einem Text, der 1981, dem Jahr ihres Todes, veröffentlicht wurde: "Séraphins bekanntestes Stück war Le Pont Cassé, das nach ihm von vielen Schattentheatern nachgespielt wurde. Ich kann mich an kein gelehrtes Buch übers Schattenspiel erinnern, in dem nicht die abgebrochene Brücke als ehrenwerter Ahnherr europäischen Schattenspiels erwähnt würde."

10. August 1792: Kampf in den Straßen von Paris
LA MARSEILLAISE ist in den USA in einer Renoir-Box mit drei DVDs erschienen, die noch vier weitere Spielfilme sowie zwei Kurzfilme enthält. In England gibt es LA MARSEILLAISE auf einer Einzel-DVD, in Frankreich auf mindestens zwei verschiedenen DVDs.

Mittwoch, 28. November 2012

Kommissar Maigret gibt seinen Einstand

Jean Renoir, einer meiner Lieblingsregisseure, drehte seine ersten Filme Mitte der 20er Jahre, er war also noch ein Kind der Stummfilmzeit. Doch zu richtig großer Form lief er erst mit seinen Tonfilmen der 30er Jahre auf. Durch Renoirs Emigration nach der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 und die völlig anderen Produktionsbedingungen, die er in Hollywood vorfand, bilden die 15 Filme von 1931 bis 1939 einen in sich geschlossenen Teil von Renoirs Werk. Von diesen 15 Filmen kenne ich bislang neun, und einen Teil davon werde ich in einer losen Reihe chronologisch vorstellen. Dabei konzentriere ich mich auf Filme, die hier zu Lande etwas weniger bekannt sind als die Großtaten DIE GROSSE ILLUSION, BESTIE MENSCH und DIE SPIELREGEL. Vielleicht bespreche ich danach noch zwei oder drei von Renoirs späteren Filmen, aber das überlege ich mir noch. Es beginnt mit einem für Renoir ungewöhnlichen Stoff, nämlich einem Krimi.



LA NUIT DU CARREFOUR
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Pierre Renoir (Kommissar Maigret), Winna Winifried (als Winna Winfried, Else Andersen), Georges Koudria (Carl Andersen), Dignimont (Oscar), Jean Gehret (Michonnet), Georges Térof (Inspektor Lucas), G.A. Martin (Inspektor Grandjean)

"... der Geruch des Regens und der in Nebel gehüllten Felder, jedes Detail, in jedem Augenblick jeder Einstellung macht aus LA NUIT DU CARREFOUR den einzigen großen französischen Kriminalfilm, was sage ich, den einzigen großen französischen Abenteuerfilm." (Jean-Luc Godard, zitiert nach Meinolf Zurhorst: Lexikon des Kriminalfilms)

Kommissar Maigret
Von allen Roman- und Filmkommissaren ist Jules Maigret nicht nur einer der bekanntesten, sondern auch einer derjenigen, die von den meisten verschiedenen Schauspielern dargestellt wurden. Wer bei der Frage nach dem ersten Film-Maigret etwa an Jean Gabin denkt, liegt weit daneben, denn schon rund 26 Jahre vor Gabin blickte ein Maigret von der Leinwand, und es war Pierre Renoir, der ältere Bruder des Regisseurs. Georges Simenon, ein bereits durch Groschenromane einigermaßen bekannter Schriftsteller, begann 1931, die ersten Maigret-Romane in Buchform zu publizieren, und wurde damit zum Shootingstar der französischsprachigen Literaturszene. "La Nuit du carrefour", im April 1931 verfasst, war bereits der sechste Maigret-Roman des Schnellschreibers Simenon. Renoir verfolgte Simenon, der sich damals häufig auf Reisen befand, im Herbst 1931 regelrecht, um an die Filmrechte zu kommen. Die Mühe hat sich gelohnt - er bekam nicht nur die Rechte, und Simenon schrieb gemeinsam mit Renoir das Drehbuch, das Zusammentreffen wurde auch zum Beginn einer langjährigen Freundschaft. Aber Renoir gewann das Rennen um den ersten Maigret-Film nur knapp: Rund zehn Wochen nach LA NUIT DU CARREFOUR erschien mit LE CHIEN JAUNE bereits der nächste, Anfang 1933 der dritte. Dann dauerte es aber bis 1943 bis zum vierten (mit dem vierten verschiedenen Maigret-Darsteller). Danach, aber noch vor Jean Gabin, spielten beispielsweise auch noch Charles Laughton und Michel Simon den bedächtigen Kommissar mit der Pfeife.

Carl und Else Andersen
Stilistisch ist LA NUIT DU CARREFOUR ein Vorläufer des Film noir, gelegentlich wurde er sogar als der erste Film noir überhaupt bezeichnet. Der Titel, der übersetzt "Die Nacht an der Kreuzung" bedeutet, beschreibt den Schauplatz treffend. An einer Straßenkreuzung in einer ziemlich einsamen und trostlosen Gegend, ungefähr 30 Kilometer südlich von Paris, stehen drei Anwesen: Eine Autowerkstatt und Tankstelle mit der Wohnung des Besitzers Monsieur Oscar samt Gattin, flankiert von zwei großbürgerlichen Wohnhäusern. In dem einen wohnt der dickliche Versicherungsagent Michonnet mit seiner ebenso dicklichen Frau, im anderen der verschlossene Däne Carl Andersen mit seiner wesentlich jüngeren Schwester Else. Andersen, früher ein Offizier und Flieger aus nobler Familie, lebt jetzt davon, dass er einmal im Monat Stoffmuster an eine Firma in Paris verkauft. Else, die Carl gegenüber einen ziemlich dominierenden Ton an den Tag legt, zeigt eine Mischung aus (gespielter?) Naivität und Laszivität (Godard schreibt in dem Text, aus dem das obige Zitat stammt, von ihrem "altmodischen Sex wie bei einer rauschgift- oder philosophiesüchtigen Russin"). Eines Tages ist in Michonnets Garage sein Wagen verschwunden, dafür steht überraschenderweise der von Andersen darin. Als man daraufhin gemeinsam in Andersens Garage nachsieht, findet man tatsächlich Michonnets Wagen - mit einer Leiche darin.

Verqualmtes Büro
Der Tote mit Kopfschuss ist, wie sich erweist, ein holländischer Diamantenhändler namens Goldberg. Der einzige Verdächtige ist zunächst Andersen, und Maigret, der die Ermittlungen übernimmt, lässt ihn ins Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres bringen. Doch bei einem stundenlangen zermürbenden Verhör beteuert er nur seine Unschuld und sagt sonst wenig. So lässt ihn Maigret wieder laufen und begibt sich an den Tatort, um sich dort ein Bild zu machen und alle Beteiligten nochmals zu verhören. Als der Abend hereinbricht, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Goldbergs Witwe, die zur Identifizierung ihres Gatten anreist, wird vor Maigrets Augen mit einem Gewehr aus dem Hinterhalt erschossen. Andersen, der seine monatliche Fahrt nach Paris unternimmt, kehrt nicht zurück - hat er sich abgesetzt, oder ist ihm etwas zugestoßen? Else, die allein im großen Haus zurückgeblieben ist, wirft sich jetzt Maigret an den Hals, doch der alte Fuchs hält sie auf Distanz. Mitten in der Nacht - alle Beteiligten sind aber noch wach und beschäftigt - fährt eine offene Limousine vor, und die Insassen beginnen, im Stil von Chicago-Gangstern wild in die Werkstatt hineinzuballern (wie gut, dass Maigret 30 Mann Verstärkung aus Paris kommen ließ). Und das ist noch lange nicht alles. Irgendjemand versucht anscheinend, Else mit Veronal in einer Bierflasche zu vergiften - oder galt der Anschlag etwa Maigret? Carl Andersen wird in der Nähe seines Hauses angeschossen aufgefunden, womit die Frage nach seinem Verbleib geklärt wäre; Michonnet wird beim Versuch, in Andersens Haus einzudringen, festgenommen; Maigret findet heraus, dass Else gar nicht Carls Schwester ist, und mit ihrer noblen Herkunft ist es auch nicht weit her; und als Maigrets Leute die Autowerkstatt auseinandernehmen, finden sie nicht nur Juwelen, die Goldberg anderswo gestohlen und mit sich geführt hat, sondern auch jede Menge Kokain. Am Ende wird eine ziemlich umfangreiche Bande verhaftet, der Mörder Goldbergs überführt, und der Fall ist gelöst - so halbwegs jedenfalls.

Trostlose Gegend bei Regen und Nebel
Denn die Handlung des Film glänzt nicht gerade durch Klarheit, und am Ende bleiben viele Fragen offen. Man könnte sich ja auf den Standpunkt stellen, dass ein verwirrender Plot zum Konzept eines Film noir gehört (man denke etwa an Howard Hawks' THE BIG SLEEP), aber natürlich macht man es sich damit etwas zu einfach. Jean Mitry hat eine Erklärung für die Konfusion vorgebracht (der spätere Filmtheoretiker und Regisseur von PACIFIC 231 war als Schnittassistent und Nebendarsteller am Film beteiligt): Er habe während oder kurz nach dem Dreh versehentlich zwei bereits belichtete Filmrollen von LA NUIT DU CARREFOUR für einen eigenen Kurzfilm verwendet, den er gerade drehte, so dass sie durch Doppelbelichtung unbrauchbar wurden und für den Schnitt nicht mehr zur Verfügung standen. Diese Geschichte ist aber angezweifelt worden. Der Produzent Pierre Braunberger, der in den 20er und 30er Jahren etliche Filme Renoirs produzierte (nicht jedoch LA NUIT DU CARREFOUR), soll bei einer Probevorführung gegenüber Renoir geäußert haben, dass bei der Verfilmung ungefähr zwölf Seiten des Scripts (das Braunberger kannte) schlicht vergessen worden seien. Pascal Mérigeau, der gerade eine nagelneue Renoir-Biographie von 1100 Seiten vorgelegt hat, hält Mitrys Version für falsch, ist aber auch nicht sicher, ob die Braunberger-Version stimmt - so bleibt die Frage vorerst (und vielleicht für immer) offen. (Für hilfreiche Informationen zu diesem Punkt danke ich Prof. Chris Faulkner von der Carleton University, Ottawa.)

Else umgarnt Maigret
Wie dem auch sein mag - Logik und eine stringente Handlungsführung gehören nicht zu den Stärken von LA NUIT DU CARREFOUR. Dafür punktet der Film im Atmosphärischen. Wie schon geschrieben, besitzt er Ingredienzien eines Film noir. Starke Schwarzweißkontraste; verqualmte Polizeibüros im Halbdunkel am Quai des Orfèvres; der ebenso verqualmte Salon im Haus der Andersens; die meisten Szenen im Freien bieten Regen, Nebel, Dämmerung oder eine Kombination daraus, und ein beträchtlicher Teil des Films spielt sowieso in der Nacht. Und es gibt eine echte femme fatale. Die Dänin Winna Winifried ist fast so mysteriös wie die von ihr gespielte Else Andersen. Das beginnt schon mit ihrem Geburtsdatum - in der IMDb findet man nur "ca. 1914". Ich nehme an, dass Renoir selbst die Quelle dafür ist, denn er hat irgendwann mal geäußert, dass sie beim Dreh erst 17 war. Die Unsicherheit setzt sich bei ihrem Künstlernamen fort. In den Credits erscheint sie als "Winna Winfried", in den meisten Quellen jedoch als "Winna Winifried", in manchen aber auch als "Winna Winifred". Immerhin scheint festzustehen, dass sie als Amalie Nielsen in Kopenhagen geboren wurde. (Godard hielt übrigens ihren dänischen für einen englischen Akzent - da kannte er wohl Anna Karina noch nicht.) LA NUIT DU CARREFOUR war ihr erster Film, dem laut IMDb sechs weitere folgten - zuerst drei in England, dann wieder drei in Frankreich. Sie scheinen allesamt ziemlich obskur und vergessen zu sein. Nach 1940 verliert sich dann offenbar Winifrieds Spur.

Ein Zeitungsstand als "Uhr"
Ich bin zwar nicht so enthusiastisch wie Godard, aber sehenswert ist LA NUIT DU CARREFOUR allemal. Renoir zeigt sein Gespür für Stimmungen und glänzt mit kleinen Details. Beispielsweise verdeutlicht er die stundenlange Dauer von Andersens Verhör durch mehrmalige Zwischenschnitte zum unteren Teil eines Zeitungsstands. Man sieht nur die Beine der Kunden, aber man hört ihre Bestellungen: Beim ersten Mal "Le Matin" (eine Morgenzeitung), beim nächsten Mal "Paris-Midi" (ein Mittagsblatt), schließlich - man ahnt es schon - mit "Paris-Soir" eine Abendzeitung. Am Schluss liegen die Zeitungen gelesen und weggeworfen im Rinnstein. Gekonnt ist auch Renoirs Umgang mit Direktton (in der Frühzeit des Tonfilms keine Selbstverständlichkeit) in der Autowerkstatt und auf der Straße. Gelegentlich gewinnt die Geräuschkulisse die Dichte von Musique concrète. Und nicht zuletzt ist Pierre Renoir mit seinem "faulen Falkenauge" (Godard schon wieder) ein ganz ausgezeichneter Maigret. Simenon soll ihn sogar mal als den überzeugendsten Maigret bezeichnet haben, allerdings ist andernorts auch zu lesen, dass er diese Ehre Gabin und Rupert Davies zuerkannte. - LA NUIT DU CARREFOUR ist unter seinem Originaltitel in den USA auf DVD erschienen.