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Montag, 15. Januar 2018

TOUKI BOUKI - der afrikanische EASY RIDER

TOUKI BOUKI
Senegal 1973
Regie: Djibril Diop Mambéty
Darsteller: Magaye Niang (Mory), Mareme Niang (Anta), Aminata Fall (Tante Oumy), Ousseynou Diop (Charlie)


Um es vorwegzunehmen: Die Bezeichnung "afrikanischer EASY RIDER" stammt nicht von mir, sondern wurde Djibril Diop Mambétys erstem (und vorletztem) Spielfilm schon vor langer Zeit aufgedrückt, und ich finde diese Bezeichnung nicht mal besonders passend - aber es ist halt ein hervorragender Eyecatcher. Auch mit Godards AUSSER ATEM und PIERROT LE FOU sowie mit BONNIE AND CLYDE ist TOUKI BOUKI schon verglichen worden, und auch diese Vergleiche führen nicht sehr weit.

Prolog
Es beginnt mit einem Prolog. Eine Kuhherde wird aus irgendeinem Dorf in die Stadt zum Schlachthof getrieben. Neben zwei oder drei Erwachsenen zu Fuß ist auch ein kleiner Junge dabei, der auf einer der Kühe reitet. Die Kühe werden im Schlachthaus ihrem Schicksal zugeführt (was einige drastische Bilder ergibt), nur eine bleibt übrig - die mit dem Jungen, der nun allein zurück in sein Dorf reitet. Es wird nicht explizit gesagt, aber der Verdacht drängt sich auf, dass der Prolog rund 20 Jahre in der Vergangenheit spielt, und dass es sich bei dem Jungen um Mory, den männlichen Protagonisten des Films, als Kind handelt. In der filmischen Gegenwart von TOUKI BOUKI in den frühen 70er Jahren jedenfalls ist Mory ein junger Mann, der sozusagen auf einer symbolischen Kuh reitet: Er fährt mit einem Motorrad, dessen Lenker von einem Kuhschädel samt ausladenden Hörnern verziert wird, durch die Straßen in und um Dakar (und noch während der letzten Bilder des Prologs hört man überlappend das Geräusch des Motorrads). Das Heck des Motorrads ziert eine Metallskulptur, die an Kanaga-Masken der Dogon erinnert. Mory ist ein Tunichtgut, der Schulden hat, vor "ehrlicher Arbeit" zurückschreckt, vor Gaunereien dagegen nicht.

Ein Motorrad mit Hörnern und einer Skulptur am Heck
Morys Freundin Anta ist eine selbstbewusste und progressiv gesinnte Studentin, die sich schon durch ihre betont schlichte Männerkleidung vom traditionellen westafrikanischen Frauenbild abhebt. Sie sitzt etwas zwischen den Stühlen. Ihre Tante Oumy, offenbar ihre nächste Verwandte, ist eine konservative Marktfrau, die ihr vorwirft, dass sie ihre Zeit verplempert, weil man an der Universität eh nichts Gescheites lernt, und dann treibt sie sich auch noch mit diesem Nichtsnutz Mory herum, der auch noch Schulden bei Oumy hat. Antas Kommilitonen wiederum werfen ihr ebenfalls den Umgang mit Mory vor, weil der sie nur von der politischen Arbeit abhält. Als Mory einmal einer Gruppe der Studenten in die Arme läuft, spielen sie ihm böse mit. Doch die Anfeindungen schweißen Mory und Anta nur zusammen. Sie haben einen etwas abgelegenen Platz außerhalb Dakars über der Steilküste, und wenn sie dort nicht gerade miteinander schlafen, dann sehen sie den Schiffen hinterher und träumen von Europa, wo bekanntlich Milch und Honig fließen. Wenn Mory erst mal in Frankreich ist, dann wird er in kürzester Zeit zu Reichtum gelangen und dann im Triumph als gemachter Mann in den Senegal zurückkehren und auf alle herabschauen, die jetzt auf ihn herabschauen - so stellt er sich das jedenfalls vor. Wenn sie von Frankreich träumen und schwadronieren, und dann noch mehrfach im Film, ertönt der Refrain von Josephine Bakers Paris, Paris als Mambétys ironischer Kommentar dazu.

Mory ...
Doch wie soll man nach Europa gelangen, wenn man kein Geld hat? Man könnte es als blinder Passagier versuchen, meint Mory. Wenn man sich in feiner Kleidung unter die Passagiere mischt und so tut, als würde man dazugehören, würde schon keiner etwas merken. Es gibt mindestens ein reales Vorbild für diese Vorgehensweise: Ousmane Sembène, der Übervater des schwarzafrikanischen Films, erschlich sich 1948 auf diese Art die Überfahrt nach Frankreich, wo er jahrelang als Industrie- und Hafenarbeiter arbeitete, bevor er Schriftsteller und schließlich Regisseur wurde. Aber Mory und Anta wollen es doch lieber mit etwas Kleingeld in der Tasche versuchen, und so handelt ein größerer Teil von TOUKI BOUKI von ihren Versuchen, auf schnelle, aber nicht unbedingt ehrliche Art zu Geld zu kommen. Mory versucht sich zunächst bei einem Spieler, bei dem man die richtige Karte aufdecken muss. Wahrscheinlich handelt es sich da auch um einen Gauner, der die Leute nach Art der Hütchenspiele übers Ohr haut, aber er verlangt bloß drei Franc Einsatz. Man kann aber auch mehr setzen, und Mory treibt den Einsatz auf 1000 Franc hoch. Prompt verliert er, und statt die 1000 Franc zu bezahlen, die er ja gar nicht hat, nimmt er die Beine in die Hand und verduftet. Dabei läuft er geradewegs einem Polizisten in die Arme, der ihn aber nach Entrichtung eines Obolus in Form einer Zigarette ziehen lässt.

... und Anta
Die nächste Idee hat Anta. In einer Arena mit Tribünen findet vor zahlendem Publikum ein traditionelles Ringerturnier von Angehörigen des Lebu-Volks statt - gedacht als Beitrag zu einem Denkmal für General de Gaulle. Das Geld wird nur von einem schlafmützigen Polizisten bewacht, demselben, dem Mory die Zigarette "spendiert" hat. Doch in welchem von zwei Koffern befindet es sich? Im kleineren, meint Anta. Nein, im größeren, sagt Mory. Und er hat ein unschlagbares Argument: "Widersprich mir nicht! Ich bin der Mann." Es wird also der große Koffer geklaut und mit einem Taxi abtransportiert, denn für das Motorrad ist das Ding viel zu sperrig. Anta lässt sich damit zu einer abgelegenen Ruine an der Küste chauffieren, die vielleicht mal ein koloniales Fort oder dergleichen war. Dort öffnet der neugierige Taxifahrer den Koffer - und bekommt den Schreck seines Lebens, denn ein Totenschädel blickt ihn an. Offenbar doch den falschen Koffer erwischt ... Was es mit dem Inhalt des Koffers auf sich hat, wird nicht weiter erörtert - vielleicht handelt es sich um Utensilien eines animistischen Schamanen. Auf jeden Fall sind Mory und Anta immer noch pleite.

Tante Oumy - keine Angst, das Messer dient nur zum Häuten einer Ziege
Doch der nächste Plan ist nicht weit, und diesmal wird es klappen! Mory kennt einen reichen Schwulen namens Charlie, der ihn mal angemacht hat, und den will er nun ausnehmen. Charlie, der in einem Luxusressort an der Küste wohnt, springt sofort an. Erst dreht er mal ein paar Runden mit Mory in einem Tretboot in einem Bassin direkt am Meer, und dazu hört man die französische Koloratursopranistin Mado Robin mit dem schönen Plaisir d'Amour (das die Melodie zu Elvis Presleys Can't Help Falling in Love lieferte) - wie schon bei Josephine Bakers Paris, Paris darf man das als ironisierenden Kommentar Mambétys auffassen. Dann verschwinden die beiden in Charlies Wohnung, und dieser nimmt erst mal eine Dusche, um das Salzwasser abzuwaschen, und er freut sich über das bevorstehende Schäferstündchen mit Mory. Doch der hat anderes im Sinn - während Charlie unter der Dusche vor sich hin plaudert, räumt Mory den umfangreichen Kleiderschrank aus, und die draußen wartende Anta ergreift eine günstige Gelegenheit und erbeutet einen Haufen Bargeld. Auf der Flucht kapern sie gleich noch Charlies extravagantes Citroën-Cabrio samt seinem nichtsahnenden Chauffeur. - Dieser Charlie ist eigentlich ein netter Kerl, aber auch recht affektiert - Mambéty übertreibt es ein bisschen mit den Tuntenklischees.

Ein Funktionär verteilt Wasser - bald verliert er vorübergehend seine Würde
Während sich Mory mitten in der Fahrt im offenen Wagen Charlies feine Kleider anzieht, fährt zur Abwechslung mal Anta das Motorrad, doch dabei passiert ein Missgeschick: Ein animalisch wirkender hellhäutiger junger Mann mit Wuschelfrisur, der auf einem Baobab hockt, erschrickt sie so sehr, dass sie stürzt und zu Fuß das Weite sucht, während sich der junge Mann das Motorrad als Beute greift. Nun verschwimmen in einer längeren Passage die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Mory steigert sich in seinem Triumph, dass endlich mal ein Plan geklappt hat, in einen Taumel der Selbstüberschätzung hinein. Auf dem Weg ins Zentrum von Dakar stehen zunehmend Leute am Straßenrand Spalier, und schließlich taucht ein Konvoi von Staatskarossen auf und fährt zum imperial wirkenden Präsidentenpalast - und man sieht, vor Morys geistigem Auge, ihn und Anta, wie sie in feiner Kleidung quasi als Präsidentenpaar die Huldigung des Volkes entgegennehmen. Halb ins Reich der Fiktion gehört es auch, dass nun ausgerechnet Tante Oumy in rhythmischem Sprechgesang eine Lobpreisung auf den "höflichen und respektvollen" Mory anstimmt, als sei er schon immer ihr Lieblingsmann für ihre Nichte gewesen. Ein kleiner selbstironischer Schlenker ist es vielleicht, dass danach Charlie bei der Polizei anruft, um den Diebstahl zu melden, und dabei mit einem Kommissar Mambéty spricht. Dabei versucht er gleich, mit diesem anzubandeln, und der Diebstahl gerät zur Nebensache (und prompt hört man wieder Plaisir d'Amour im Hintergrund).

Morys und Antas Platz über der Küste
Dann ist der Film wieder bei Anta und Mory, immer noch fein in Schale geworfen und mit Cabrio samt Chauffeur mit Dienstmütze unterwegs. In einem Reisebüro kaufen sie Schiffskarten nach Frankreich - jetzt können sie es sich tatsächlich leisten. Ihr Schiff ist die schöne weiße MS Ancerville, die ab 1962 die Route Marseille - Dakar und zurück befuhr. Es war auch die Ancerville, die 1966 in Ousmane Sembènes LA NOIRE DE... Diouana von Dakar nach Marseille brachte. Ist das eine Verbeugung von Mambéty vor dem damals schon arrivierten Meister Sembène? Vielleicht, aber allzu groß war die Auswahl an Schiffen auf dieser Route nicht. Auf jeden Fall kam Mambéty gerade noch rechtzeitig, denn 1973 wurde die Ancerville an China verkauft (und in Minghua umbenannt). Während Mory und Anta im Hafen eintreffen, sind auf dem Deck des Schiffs zum ersten Mal im Film Weiße zu sehen und Französisch zu hören (die Sprache von TOUKI BOUKI ist Wolof, die Hauptsprache des Senegal), und in wenigen kurzen Dialogfetzen erweisen sich diese gut betuchten Europäer als blasierte Idioten, im Geiste immer noch Kolonialherren.

Ringerturnier
Doch nun, gut zehn Minuten vor Ende des Films, kommt es zu einer fast dramatischen Wendung. Während Anta über die Gangway das Schiff betritt, macht Mory davor Halt. In einem jähen Flashback sind Bilder aus dem Prolog zu sehen, also sehr wahrscheinlich aus seiner eigenen Kindheit. Er besinnt sich auf seine Wurzeln und zögert, sie vielleicht für immer hinter sich zu lassen. Und dann macht er kehrt und beginnt zu laufen, quer durch den Hafen und dann durch halb Dakar, scheinbar ohne Ziel. Und Anta steht an Deck und fragt sich, ob er wohl wiederkommt. Morys Lauf, der zu einer wild montierten Odyssee durch die Stadt gerät, findet wie magisch doch sein Ziel, nämlich sein Motorrad (und damit auf einer symbolischen Ebene sozusagen auch die Rinderherde seiner Kindheit). Der junge Mann auf dem Baum, der sich das Motorrad unter den Nagel gerissen hatte, hat damit einen Unfall gebaut und wird schwer verletzt abtransportiert, während Mory den Kuhschädel mit den Hörnern vom Boden aufkratzt und davonträgt - das schwer lädierte und offenbar nicht mehr fahrtüchtige Gefährt lässt er liegen. In der vorletzten Einstellung sieht man Mory, Anta und das unversehrte Motorrad an ihrem Platz über der Steilküste - doch es ist eine exakte Kopie einer Szene von früher im Film, also ein Flashback. Anta ist offenbar an Bord der mittlerweile ausgelaufenen Ancerville geblieben, sie wagt das Abenteuer Europa allein. Zuletzt gibt es noch einmal Bilder vom Prolog, und mit einem Freeze Frame davon endet der Film.

Ein Koffer mit vermeintlicher Beute wird abtransportiert. Man
beachte den Schriftzug am Gebäude - ja, dazu hört man Josephine Baker

TOUKI BOUKI, das bedeutet "Die Reise der Hyäne". Und mit der Hyäne, in der westafrikanischen Volkskultur ein verschlagenes, betrügerisches Wesen, soll man wohl Mory assoziieren. - "In TOUKI BOUKI ist alles allegorisch, geprägt von Symbolen mit afrikanischen, doch kaum wahrgenommenen, da unbekannten Bezügen. TOUKI BOUKI ist der Wunsch auszubrechen, aber auch die Angst vor Veränderungen und schliesslich die Bewegung in der Unbeweglichkeit, der Tagtraum." Das schrieb Paulin Soumanou Vieyra, mit seinem 1955 in Paris gedrehten AFRIQUE SUR SEINE einer der Väter des afrikanischen Kinos, 1983 in seinem Buch Le Cinéma au Sénégal. Es ist oft ein Gegensatz konstatiert worden: Hier Mambéty, der Regisseur des Symbolischen, Allegorischen, Poetischen; dort die meisten anderen westafrikanischen Regisseure, beginnend mit Sembène, die sich in ihren Filmen mit den politischen und sozialen Fragen ihrer Länder (Kolonialismus, Post- und Neokolonialismus, das Geschlechterverhältnis, Korruption, Gegensatz von Stadt und Land, von Tradition und Moderne etc.) auseinandersetzen. Dieses einfache Schema wird freilich von Richard Porton in seinem Essay für Criterion in Frage gestellt. Richtig ist aber, dass Mambéty in TOUKI BOUKI eine Experimentierfreude an den Tag legt, die damals im afrikanischen Film wohl neu war. So gibt es manchmal asynchronen Bild- und Tonschnitt, und noch ziemlich am Anfang des Films gibt es eine längere Parallelmontage zwischen Szenen, die nur assoziativ oder allegorisch, aber nicht inhaltlich zusammenhängen (die Schlachtung und Häutung einer Ziege spielt darin eine Rolle). Solche Schnittfolgen und manche Ellipsen haben einige Rezensenten dazu verleitet, TOUKI BOUKI als schwer verständlich zu bezeichnen, und auf der Ebene einer reinen Handlungslogik ist er das auch bisweilen, aber das fällt nicht negativ ins Gewicht. Durch den Schnitt, die bewegliche Kamera, und natürlich auch durch die Motorradszenen, entwickelt TOUKI BOUKI insgesamt ein relativ hohes Tempo.

Plaisir d'Amour - mit Charlie im Tretboot
Bemerkenswert ist auch der vielgestaltige Soundtrack des Films. Die Gesangsdarbietungen von Josephine Baker, Mado Robin und Aminata Fall wurden schon erwähnt. Daneben gibt es auch westafrikanische Trommelmusik, aber auch Afro-Jazz und Rockmusik (vor allem bei Morys Lauf durch die Stadt), und es gibt jede Menge realistische Umgebungsgeräusche, aber auch elektronisch verfremdete Klänge. Dabei hat man nie das Gefühl, dass Mambéty beliebig in die Kiste greift, sondern er hat sich immer etwas dabei gedacht - es passt einfach alles. Mambéty vermeidet überflüssige Dialoge, dafür gibt es aber gelegentlich ganze Redeschwälle, wenn Streit ausbricht. Die Sprache ist manchmal derb, wie in diesem schönen Dialog:

Mory: "Aber bevor ich weiterrede, muss ich erst mal scheißen."
Anta: "Viel Spaß dabei!"

Anta
Einmal versucht ein männlicher Würdenträger, der die Verteilung von Wasser überwacht, einen heftigen Streit zweier Frauen zu schlichten - und wird dann von beiden vermöbelt. Durch solche scheinbar nebensächliche Szenen ist TOUKI BOUKI nicht nur die Geschichte seiner beiden Protagonisten, sondern auch ein Portrait von Dakar als einer etwas chaotischen Stadt mit vielen Gesichtern, vom europäisch geprägten Zentrum bis zu bidonvilles genannten, ausufernden Slum-artigen Siedlungen am Stadtrand.

Ein rätselhafter Mann auf einem Baum
TOUKI BOUKI traf des Lebensgefühl eines beträchtlichen Teils der westafrikanischen Jugend. Vielleicht war es deshalb, warum der Film mit EASY RIDER verglichen wurde, mehr als wegen des Motorrads (das, abgesehen von den Hörnern, ohnehin wenig Eindruck macht - kein Vergleich zu den wuchtigen Harley Davidsons, auf denen Dennis Hopper und Peter Fonda nach ihrem Amerika suchten). Jedenfalls wurde TOUKI BOUKI zu einem Kultfilm und einem Klassiker des afrikanischen Kinos, und er gewann auch Preise in Cannes und Moskau und machte Mambéty auch in Europa halbwegs bekannt. Heute ist Djibril Diop Mambéty (1945-1998) in Afrika eine beinahe legendäre Gestalt, vielleicht gerade deshalb, weil er nur zwei Spielfilme und einige Kurzfilme hinterließ. Mambéty wurde als Sohn eines Imams in der Nähe von Dakar geboren. Nach einer kurzen Zeit als Schauspieler an einem renommierten Theater in Dakar (wo er aus disziplinarischen Gründen hinausflog), drehte er 1968 als Autodidakt seinen ersten Kurzfilm. Sein zweiter, der schon fast eine Stunde dauerte, gewann schon einen Preis auf dem Filmfestival von Karthago, und dann folgte TOUKI BOUKI. Abgesehen von einer kurzen Doku über die Dreharbeiten zu YAABA (1989), den Mambétys Freund und Kollege Idrissa Ouédraogo in Burkina Faso realisierte, folgte dann 19 Jahre lang kein Film mehr von Mambéty. Erst 1992 erschien HYÈNES (HYÄNEN), Mambétys zweiter und letzter Spielfilm. Es handelt sich um eine in eine Kleinstadt bei Dakar (und zwar Mambétys Geburtsort) versetzte Adaption von Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame", und zugleich um eine Parabel auf quasi-koloniales Verhalten der neuen afrikanischen Elite, die Praktiken der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds imitiert. Danach drehte Mambéty noch zwei weitere Kurzfilme. Es hätte eine Trilogie werden sollen, doch schon der zweite erschien 1999 posthum, weil Mambéty 1998 an Lungenkrebs starb. Wer noch mehr über ihn erfahren will, dem sei dieses Interview mit ihm empfohlen.


Über Magaye Niang und Mareme Niang, die beiden Hauptdarsteller, habe ich wenig herausgefunden. Laut IMDb ist TOUKI BOUKI Mareme Niangs einziger Film. Nach einigen Quellen ist sie mit Myriam Niang identisch, für die die IMDb drei weitere Filme verzeichnet, darunter zwei von Sembène, aber ich bin nicht sicher, ob das wirklich dieselbe ist. Auf jeden Fall hatte sie noch eine Statistenrolle in KARMEN GEÏ (2001), in dem Magaye Niang seine offenbar zweite und bislang letzte Hauptrolle spielte. Beide erscheinen 2013 in der Doku MILLE SOLEILS, die Mambétys 1982 geborene Nichte Mati Diop inszenierte. Magaye Niang ist offenbar die Hauptperson darin. Während er die Gegend um Dakar nie verlassen hat, soll Mareme Niang einige Zeit auf einer Ölbohrplattform in Alaska gearbeitet haben. - Während also über die beiden nicht allzu viel bekannt ist, war "Tante Oumy", die Sängerin und Schauspielerin Aminata Fall (1930-2002), im Senegal und darüber hinaus ein Star. Diverse ihrer zwischen Jazz, Blues und afrikanischen Rhythmen angesiedelten Lieder findet man auf YouTube und anderswo. Als Schauspielerin war sie seit Mitte der 60er Jahre am selben Theater in Dakar wie Mambéty. Über ihre Begegnung mit ihm sagte sie einmal:
"Ich traf Djibril Diop Mambéty, der noch kein Filmemacher war, am Daniel-Sorano-Nationaltheater für das Stück L'exil d'Alboury. Er hatte ein Filmprojekt und bot mir eine Rolle an, wo ich mir den Kopf rasieren und eine Perücke tragen musste. Ich habe akzeptiert. Die Rolle, die er mir im Film TOUKI BOUKI vorschlug, war schwierig, aber er war überzeugt, dass ich Szenen drehen konnte, in denen Blut ist [sie häutet da die Ziege]. Ich respektiere die Phantasie von Djibril Diop Mambety. Kritisiere nicht seine Träume. Als Schauspielerin investiere ich mich gründlich in das, was er mich fragt. Und wenn es nötig gewesen wäre jemanden zu schneiden, hätte ich ohne zu zögern den Kopf abgeschnitten."
Kurz vor ihrem Tod wurde Aminata Fall zum Chevalier des senegalesischen Ordre des Arts et des Lettres ernannt. Sie ist nicht zu verwechseln mit der 1941 geborenen Schriftstellerin Aminata Sow Fall (IMDb und Wikipedia scheitern teilweise an dieser Hürde).

Während Anta an Bord gegangen ist, läuft Mory zurück in seine Vergangenheit
TOUKI BOUKI sowie HYÈNES und die beiden späten Kurzfilme LE FRANC und LA PETITE VENDEUSE DE SOLEIL sind jeweils in der Schweiz bei trigon auf DVD erschienen. In den USA ist TOUKI BOUKI zusammen mit fünf anderen Filmen in dem von Martin Scorsese betreuten World Film Project bei Criterion erschienen, als DVD/Blu-ray-Kombi-Box. Für diese Box wurde TOUKI BOUKI restauriert, so dass das Bild möglicherweise besser ist als auf der Schweizer DVD, wo es doch etwas zu wünschen übrig lässt. Eine ältere amerikanische Einzel-DVD von TOUKI BOUKI gibt es auch noch. Längere Ausschnitte des Films sind derzeit auch auf dem einen oder anderen Videoportal zu finden.

Sonntag, 1. Juli 2012

Afrikanische Tragödie ... an der Côte d'Azur

LA NOIRE DE... (dt. DIE SCHWARZE AUS DAKAR)
Senegal/Frankreich 1966
Regie: Ousmane Sembène
Darsteller: Mbissine Thérèse Diop (Diouana), Anne-Marie Jelinek (als Anne-Marie Jelinck, Madame), Robert Fontaine (Monsieur), Momar Nar Sene (Diouanas Freund), Ibrahima Boy (Junge)


Ein schönes großes weißes Passagierschiff fährt, aus Dakar kommend, in den Hafen von Marseille ein, und unter denen, die von Bord gehen, ist Diouana, eine junge Senegalesin. Ihre Blicke und ein innerer Monolog verraten, dass sie fremd ist in diesem Land. Sie ist nach Frankreich gekommen, um in Antibes an der Côte d'Azur für Madame und Monsieur zu arbeiten, als Kindermädchen - wie sie glaubt. Abgesehen von Diouana und den drei kleinen Kindern von Madame und Monsieur bleiben die Namen aller Personen im Film ungenannt. Später im Film zeigen zwei Rückblenden, wie es zu Diouanas Engagement kam: Sie hatte schon in Dakar für das Paar gearbeitet, das dort eine geräumige Villa mit mehreren Angestellten bewohnte. Diouana musste mit den Kindern spielen und sie zur Schule bringen - eine leichte und angenehme Tätigkeit, und als sie von Madame gefragt wurde, ob sie bald nach Frankreich nachkommen will, sagte sie gerne zu. Mehr noch als um den Lohn ging es ihr darum, das ferne Land kennenzulernen und ihre Verwandten und Bekannten vor Neid erblassen zu lassen, wenn sie ihnen Fotos von sich in Frankreich schicken würde. Diouanas Freund dagegen, ein intelligenter und politisch interessierter junger Mann, hält nicht viel von der ehemaligen Kolonialmacht, und er stand ihren Plänen sehr skeptisch gegenüber. Doch in ihrer jugendlichen Unbefangenheit setzte sie sich über seine Einwände hinweg.


In der 70-minütigen vollständigen Fassung enthält der ansonsten schwarzweisse Film nach Diouanas Ankunft eine ca. zehnminütige Farbsequenz, die Diouanas erste Eindrücke von der Côte d'Azur wiedergibt. Diese Sequenz wurde jedoch schon für den französischen Verleih gestrichen und der Film auf eine knappe Stunde gekürzt. Auf DVD gibt es nur die gekürzte Fassung, die längere mit der Farbsequenz hat aber überlebt (Jonathan Rosenbaum berichtet, dass er sie 2008 sah). In Antibes angekommen, wird Diouana von Madame die Aussicht auf die Küste mit den daran gelegenen Städten gezeigt: Hier Nizza, dort Cannes, dazwischen Antibes. Doch die klingenden Namen bleiben bloße Verheißung, die nicht eingelöst wird. Es erweist sich, dass Madame und Monsieur ihren luxuriösen Lebensstil nur im postkolonialen Dakar pflegen können. Hier in Frankreich sind sie ein ganz normales Mittelklasse-Paar. Sie fahren einen Kleinwagen mit Delle, die Wohnung ist auch nicht besonders groß, und Diouana ist jetzt die einzige Hausangestellte. Und sie ist nicht mehr Kindermädchen, sondern Mädchen für alles: Putzen, Kochen, Geschirr spülen, Wäsche waschen, und nochmal Putzen. Außer zum Einkaufen kommt sie nicht aus dem Haus. Als sie das geforderte Arbeitstempo kaum einhalten kann, wird die anfangs noch freundliche Madame zunehmend ruppig. Monsieur findet das Verhalten seiner Frau zwar übertrieben, aber er gibt sich weitgehend indifferent, statt Diouana beizustehen. Diouana empfindet sich bald nicht mehr als Person, sondern wie ein Einrichtungsgegenstand behandelt. Das bringt auch der ambivalente Filmtitel zum Ausdruck: Das "de..." kann nicht nur für die geographische Herkunft stehen, sondern auch ein Besitzverhältnis anzeigen - "Die Schwarze von Monsieur und Madame" (der plumpe deutsche Titel macht die Ambivalenz natürlich zunichte). Diouanas faktisches Eingesperrtsein wird von Sembène durch die kontrastierende Wahl der Schauplätze veranschaulicht: Während die meisten Szenen in Dakar im Freien spielen, wird Diouana nach der Ankunft in Antibes nur noch in den vier Wänden von Madame und Monsieur gezeigt, so dass sich schnell eine klaustrophobische Stimmung einstellt. Diouanas Gemütsverfassung, die von anfänglicher Neugier und Hoffnung schnell in Ernüchterung, Wut und schließlich Verzweiflung und Resignation übergeht, wird durch ihren per Voice-over vermittelten inneren Monolog dargestellt.


Zur Arbeitsüberlastung und Isolation kommen kleinere und größere Demütigungen. Es beginnt schon damit, dass Madame ihr verbietet, schöne Kleider und Schuhe eigener Wahl zu tragen und ihr stattdessen schmucklose Arbeitskleidung aufnötigt. Als Madame und Monsieur Gäste bewirten, gibt ein älterer Herr Diouana einen Schmatz - weil er "noch nie eine Negerin geküsst" hat, wie er ganz unverblümt sagt. Der konsternierten Diouana bleibt nichts übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Peinlich gestaltet sich auch die Ankunft eines Briefs von Diouanas Mutter. Da Diouana Analphabetin ist, liest Monsieur den Brief vor: Die Mutter beklagt sich, dass Diouana noch kein Geld geschickt hat, weil sie wohl alles verprasst - dabei hat sie noch gar keinen Lohn erhalten. Als wäre das noch nicht genug, macht sich Monsieur gleich daran, den Brief zu beantworten. Weil ihm Diouana trotz seiner Aufforderung nichts diktiert, schwadroniert er selbst eine Antwort zusammen, natürlich ohne auf die tatsächliche Situation von Diouana einzugehen. Diese ist in dieser Situation sprachlos, ihr fehlen komplett die Worte.

Madame, Monsieur und einer ihrer Gäste
Monsieur hat die Zeichen verstanden und händigt Diouana nun den ausstehenden Lohn aus, aber er dringt nicht mehr zu ihr durch - sie hat sich nun emotional komplett von ihrer Umgebung abgekapselt, selbst den Sohn von Madame und Monsieur ignoriert sie jetzt. Am Beginn ihrer Anstellung in Dakar hatte sie Madame eine Maske geschenkt, die sie einem kleinen Jungen aus der Nachbarschaft für wenig Geld abgekauft hatte. Als Zeichen ihrer inneren Kündigung nimmt sie die Maske nun wieder an sich, worauf es zu einer regelrechten Rauferei mit Madame kommt. Danach packt Diouana ihre Koffer. Doch sie wagt sich nicht ins fremde Frankreich hinaus. Stattdessen legt sie sich in die Badewanne und schneidet sich mit einem Rasiermesser die Kehle durch. Etwas später sieht man Monsieur am Strand liegend, wie er in der Zeitung eine dürre Notiz über Diouanas Selbstmord liest. In einem Epilog versucht er, offenbar vom schlechten Gewissen geplagt, in Dakar Diouanas Lohn und ihre Habseligkeiten an ihre Mutter auszuhändigen. Doch er prallt am Stolz der Mutter und ihrer Nachbarn ab, das Geld wird nicht angenommen. Nur der Junge nimmt die Maske an sich, die ihm schon einmal gehört hatte. Obwohl ihn niemand bedroht und ihm außer dem Jungen mit der Maske niemand folgt, gestaltet sich Monsieurs Rückzug zur Flucht - eine Szene, die man auch allegorisch verstehen kann.

Unbeschwerte Tage in Dakar
Sembène enthält sich in seinem ersten Spielfilm jeder Sentimentalität und Melodramatik. Stattdessen ist LA NOIRE DE... betont nüchtern gestaltet, die Tragödie wird sachlich-analytisch protokolliert. Sembène moralisiert auch nicht. Madame und Monsieur sind keine Bösewichter. Sie können kaum anders handeln, weil sie die Situation überhaupt nicht begreifen. Als Diouana am Ende kurz vor dem psychischen Zusammenbruch steht, kommen sie nur auf den Gedanken, dass sie krank sein könnte. Dass sie selbst etwas damit zu tun haben, kommt ihnen nicht im Entferntesten in den Sinn. Es geht wohlgemerkt nicht darum, dass die Europäer nicht in der Lage wären, das "unergründliche" Afrika zu verstehen. Derlei Exotismus ist einem afrikanischen Regisseur wie Sembène natürlich fremd. Madame und Monsieur fehlt schlicht jedes Verständnis für Diouanas Bedürfnisse als Person, es fehlt vor allem am Respekt. Wie auch an der Unterhaltung mit den erwähnten Gästen deutlich wird, handelt es sich letztlich um die latent rassistische Ignoranz der ehemaligen Kolonialherren.


Die nüchterne Machart von LA NOIRE DE... bedeutet nicht, dass es sich um einen filmsprachlich schlichten Film handeln würde. Sembène arbeitet viel mit betonten Kontrasten. Kameramann Christian Lacoste (ein in Dakar lebender Franzose) fängt viele harte Schwarzweiß-Kontraste ein, was man durchaus als bewusste Metaphorik deuten kann. Im Soundtrack findet sich - passend zum jeweiligen Schauplatz - westafrikanische neben europäischer Musik (ein Stück, das zweimal angespielt wird, erinnert stark an Georges Delerues Klaviermusik aus SCHIESSEN SIE AUF DEN PIANISTEN). Die Gegenüberstellung afrikanischer Außen- und europäischer Innenräume wurde schon erwähnt. Sembène nimmt auch, nicht weiter verwunderlich, gewisse Anleihen bei der Nouvelle Vague, und der Einfluss des Neorealismus (der bei Regisseuren aus Ländern mit unterentwickelter oder fehlender Filmindustrie, wie damals der Senegal, auch nach seinem Abklingen in Italien noch Vorbildfunktion hatte) ist noch spürbar, wenn auch nicht so deutlich wie in Sembènes Kurzfilm BOROM SARRET von 1963 (der ähnlich wie FAHRRADDIEBE endet). Wie in den meisten Filmen Sembènes sind auch in LA NOIRE DE... alle Darsteller Laien (Mbissine Thérèse Diop war damals Näherin, Anne-Marie Jelinek und Robert Fontaine waren auch im echten Leben miteinander verheiratet, und sie hatten eine "koloniale" Vergangenheit - Fontaine wurde in Saigon geboren, und Jelinek in Algerien). Sembène selbst übernahm eine Cameo-Rolle als Grundschullehrer in Diouanas Viertel in Dakar, der als Nebenbeschäftigung gegen eine Gebühr Schreibarbeiten für die Bevölkerung übernimmt - ein nebenbei verabreichter Hinweis auf den weit verbreiteten Analphabetismus im damaligen Senegal.

Harte Schwarzweiß-Kontraste
LA NOIRE DE... ist eines der Gründungswerke des schwarzafrikanischen Kinos (die Einschränkung auf Schwarzafrika ist nötig, weil es in Ägypten mit Regisseuren wie Youssef Chahine schon deutlich früher losging). Er gilt als der erste Spielfilm eines schwarzafrikanischen Regisseurs, der wenigstens teilweise in einem afrikanischen Land entstand. In Französisch-Westafrika war Einheimischen das Drehen von Filmen schlichtweg verboten, so dass Regisseure aus dieser Region vor 1960 nur außerhalb Afrikas arbeiten konnten. (Wichtig war vor allem der 1955 in Paris entstandene Kurzfilm AFRIQUE-SUR-SEINE von Paulin Soumanou Vieyra, aus Benin stammend und danach ebenfalls Senegalese. Vieyra war später mit Sembène befreundet und arbeitete gelegentlich mit ihm zusammen, z.B. als Produzent von Sembènes XALA (1975), und er schrieb mehrere Bücher über das afrikanische Kino, darunter 1972 eines über Sembène.)

Die Maske und ihr alter und neuer Besitzer
Ousmane Sembène (1923-2007) war schon in seiner Jugend in den 30er Jahren ein eifriger Kinogänger. "Wir kannten die Filme von George Raft, Charlie Chaplin und Shirley Temple auswendig", erinnerte er sich einmal. Am meisten beeindruckte ihn und seine Freunde in Dakar aber Leni Riefenstahls OLYMPIA. Nicht etwa wegen seiner filmischen oder gar propagandistischen Qualitäten, sondern weil sich mit Jesse Owens ein Schwarzer erdreistete, die Weißen zu besiegen. Sembène wurde zwar islamisch erzogen, wandte sich aber als junger Mann dem Sozialismus zu. 1944 wurde er zu den Senegal-Schützen, einer Abteilung der französischen Armee, eingezogen, und er kämpfte unter de Gaulle gegen die Nazis. Nach seiner Entlassung 1946 ging er zunächst in den Senegal, wo er in einen großen Eisenbahnstreik involviert war, aber 1948 ging er wieder zurück nach Frankreich. Indem er sich in einem feinen Anzug unter die Passagiere eines Dampfers mischte, erschlich er sich die freie Überfahrt, so wie es auch 1973 das Paar in Djibril Diop Mambétys TOUKI BOUKI in Angriff nimmt. Er arbeitete als Fabrik- und Hafenarbeiter, zunächst kurz in Paris, dann jahrelang in Marseille. Sembène wurde Mitglied der Gewerkschaft CGT und der Kommunistischen Partei Frankreichs, und er war wieder an Streiks beteiligt, die den Nachschub für den Kolonialkrieg in Indochina behindern sollten. Mitte der 50er Jahre begann er zu schreiben, wobei er vorwiegend autobiographische Erfahrungen verarbeitete. Um 1960 herum stellte sich der Erfolg als Schriftsteller ein, doch Sembenès auf Französisch verfasste Romane und Kurzgeschichten wurden fast nur von Europäern gelesen. Um auch die Massen seiner Landsleute erreichen zu können, beschloss er, auf Filmregisseur umzusatteln.


Sembène bewarb sich in verschiedenen Ländern um entsprechende Stipendien, und er wurde 1961 in Moskau angenommen. Nach einem Jahr an der staatlichen Filmhochschule WGIK und einem weiteren Jahr Praktikum in den Gorki-Studios (zu seinen Lehrern gehörten Mark Donskoi und Sergej Gerassimow, nach dem die Filmhochschule heute benannt ist) ging er 1963 mit einer 35mm-Kamera im Gepäck in den Senegal, wo er mit 40 Jahren seine ersten Filme drehte. Zunächst im Auftrag der Regierung von Mali eine kurze Doku über die Geschichte des historischen Reichs Songhai, dann den schon erwähnten BOROM SARRET, bereits mit Christian Lacoste an der Kamera. Er behandelt einen Tag im Leben eines Mannes, der mit einem Pferdekarren ein Einmann-Fuhrunternehmen in Dakar betreibt. Am Ende des Tags steht er ohne Arbeitsgerät und damit ohne Einkommensquelle da. BOROM SARRET gewann einen Ersten Preis bei einem Filmfestival in Tours, und Sembenès nächster Kurzfilm NIAYE, der von einem Inzestskandal in einer Dorfgemeinschaft handelt, erhielt einen Preis in Locarno. Dann folgte schließlich LA NOIRE DE..., der ebenfalls nicht ohne Auszeichnungen ausging - Erste Preise bei Festivals in Dakar und Karthago, und in Frankreich einen Prix Jean Vigo.


Alle Filme bis LA NOIRE DE... kamen französisch nachsynchronisiert in die Kinos (Sembène konnte mit seiner einfachen Ausrüstung damals ohnehin keinen brauchbaren Direktton aufnehmen), alle weiteren bis auf den letzten wurden dann auf Wolof (die wichtigste Sprache des Senegal und Sembènes Muttersprache) gedreht und veröffentlicht (je nach Thema des Films auch mit Einschüben von Französisch und weiteren Sprachen). Wie auch einige andere seiner Filme, beruht LA NOIRE DE... auf einer von Sembènes literarischen Arbeiten, die 1962 in der Kurzgeschichtensammlung Le Voltaïque erschienen war, und diese wiederum wurde von einem wahren Ereignis inspiriert, dem Selbstmord einer afrikanischen Hausangestellten, von dem Sembène 1958 in einer südfranzösischen Regionalzeitung las - dieselbe Zeitung, die Monsieur nach Diouanas Tod am Strand liest.

Ousmane Sembène in einer Cameo-Rolle als Lehrer in Dakar
1963 rief die französische Regierung ein Filmbüro ins Leben, das afrikanische Filmemacher technisch und finanziell unterstützen sollte, und BOROM SARRET war der erste davon geförderte Film. Das eingereichte Drehbuch für LA NOIRE DE... war dem Filmbüro jedoch nicht genehm und wurde abgelehnt. Sembène musste dennoch nicht ohne französische Hilfe auskommen. Wie schon NIAYE, ist LA NOIRE DE... eine Coproduktion von Sembènes eigener Firma Filmi Domirev und der französischen Wochenschau Les Actualités Françaises. Deren damaliger Herausgeber André Zwoboda, in den 30er Jahren ein Freund und Mitstreiter von Jean Renoir, fungierte als Produzent, und in den Einrichtungen der Wochenschau fand auch die Postproduction von LA NOIRE DE... statt.


Nach den Festivalerfolgen seiner frühen Filme war Sembène eine anerkannte Größe - 1967 saß er bereits in den Jurys bei den Festivals von Cannes und Moskau -, und er blieb bei Publikum und Kritik erfolgreich. Bis zu seinem letzten Film MOOLAADÉ von 2004, der die Genitalverstümmelung von Mädchen in Afrika anprangert, gewann er jede Menge Preise und Auszeichnungen, und er ist die Ikone des schwarzafrikanischen Films. LA NOIRE DE... ist mit BOROM SARRET als Bonusfilm in den USA bei New Yorker Films auf DVD erschienen (engl. Titel BLACK GIRL), ebenso wie etliche weitere Filme Sembènes. MOOLAADÉ gibt es auch in Deutschland und England auf DVD.