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Sonntag, 17. Januar 2016

Keaton aquaphob: die "deleted scenes"

A SEA DOG‘S TALE
USA 1926
Regie: Del Lord
Darsteller: Billy Bevan (Wilbur Watts), Andy Clyde (King Gumbo), Madeline Hurlock (Princess Vanilla), Vernon Dent (Jo Jo)

Buster Keaton war bekanntlich nicht gerade ein ideenarmer Mensch. Das, was wir in seinen Filmen sehen, zeigt vielleicht nur einen Bruchteil der Visionen, die dieser geniale Filmemacher hatte. In THE NAVIGATOR, den ich hier schon besprochen habe, taucht die Keaton-Figur im letzten Drittel des Films unter Wasser, um das Schiff zu reparieren: ein toller Moment Keaton‘schen Surrealismus‘. Die Sequenz sollte allerdings ursprünglich länger dauern. Eine der Ideen war, dass Rollo (so Keatons Figur) von einem rasenden Fischschwarm überrollt wird, sich in Reaktion darauf einen Seestern an die Brust heftet und anfängt, den Fischverkehr unter Wasser zu regulieren. Eine (wie vieles bei Keaton) unglaublich aufwendige Szene, bei der wohl Aberdutzende von Gummifischattrapen an Fäden durch das Wasser manövriert wurden (das ganze wurde ja tatsächlich unter Wasser gedreht). Die Szene war sogar fertig gedreht und soll wohl grandios ausgesehen haben. Doch aus Gründen des dramaturgischen Rhythmus – die Unterwassersequenz unterbricht die eigentliche Handlung bereits für mehrere Minuten – trennte sich Keaton schweren Herzens von dieser Szene, die also leider „verloren“ ging...

...oder eben nicht ganz „verloren“. Das Filmmaterial, das offenbar sogar für Trailer genutzt wurde, ist tatsächlich mittlerweile verloren (wie auch etwa zwei bis drei Minuten des eigentlichen Films, die als verschollen gelten). Doch Keaton schenkte seine Idee ganz einfach an Billy Bevan und Mack Sennett, die auf dieser Grundlage einen eigenen Film drehten: A SEA DOG‘S TALE.

Eines vorweg: es handelt sich, mit Verlaub, um Grobian-Slapstick der wirklich ganz fürchterlichen Art. Das geht so: auf der Salami-Insel im Wurst-Archipel organisieren die Eingeborenen (gemeint: weiße Darsteller in Blackface und Fettkostümen) Speerwurfwettbewerbe. Der dickste unter ihnen, Jo Jo, ist ganz besonders geschickt, stößt aber aus Versehen den Stammeschef King Gumbo mit dem Hintern voran in den Kessel mit der Mittagssuppe. Der ist natürlich wütend und verurteilt Jo Jo zu Tode. Währenddessen entdecken zwei andere Eingeborene eine Flaschenpost mit einem Zeitungsausschnitt. Prinzessin Vanilla, die schönste Tochter von King Gumbo, verliebt sich sofort in den Mann, der auf der Titelseite abgebildet ist: Wilbur Watts – der offenbar einen Kuchenesswettbewerb gewonnen hat. Vanilla möchte ihn sofort heiraten. Gumbo begnadigt daraufhin Jo Jo unter der Bedingung, dass er den abgebildeten Mann findet und auf die Insel bringt. Das macht Jo Jo zusammen mit einigen anderen Eingeborenen tatsächlich. Er findet Wilbur in einer Kirche...
...wo dieser gerade dabei ist, seine Verlobte zu heiraten, die (wie er selbst, worauf die Inszenierung allerdings nicht hinweist) wahrscheinlich eher durch innere Werte als durch Schönheit glänzt. Jo Jo macht es nicht kompliziert: er haut Wilbur eine Keule über den Kopf und entführt ihn, während dessen die Nochnicht-Ehefrau schwört, ihn notfalls auch am anderen Ende der Welt zu finden. Dort wird Wilbur tatsächlich gebracht. Zunächst lernt er King Gumbo kennen. Aus einem Zelt kommen ganz viele Frauen (gemeint: weiße Männer in Blackface und Fettkostümen) und Wilbur fragt neugierig, wer denn die ganzen „fat mommas“ seien. Seine Töchter, antwortet pikiert King Gumbo und fügt hinzu, dass er eine von ihnen heiraten wird, was Wilbur etwas beunruhigt.
Nach all der Aufregung sind aber alle erst einmal hungrig. An der Tafel lernt Wilbur die seltsamen Tischsitten der Eingeborenen kennen. Das Brot baumelt an einem Seil, wird von einem Tischgesellen zum nächsten balanciert und wer ihn fängt, kann gleich herzlich reinbeissen. Wilburs Stimmung hellt sich auf, als ihm die hübsche Vanilla vorgestellt und als seine künftige Ehefrau präsentiert wird. Und sinkt wieder in den Keller, als die Vorspeise kommt, denn die Suppe wird von Hand mit einem Schwamm serviert: als Wilbur gerne auf eine derart servierte Vorspeise verzichten möchte, saugt der „Kellner“ sie von seinem Teller einfach mit dem Schwamm zurück. Als Hauptspeise gibt es Spaghetti. Da wilde Südseebewohner natürlich kein Besteck haben, wird mit der Hand gegessen: reingreifen, die Spaghetti wild fuchtelnd über dem Kopf zusammenrollen und dann die ganze Hand mit den noch dran klebenden Spaghetti in den Mund stecken. Als Wilbur das versucht, landen die Teigwaren in King Gumbos Gesicht, der vor Wut kocht. Jo Jo, natürlich mit Hintergedanken, schlägt vor, dass Wilbur als Buße an einem mysteriösen Spiel teilnehmen soll (wie das in dem Zwischentitel genau hieß, weiß ich nicht mehr). Es geht darum: Wilbur soll den Zahn eines ganz bestimmten Hai im Meer fangen.

Hier erst mal eine kleine Pause. A SEA DOG‘S TALE könnte man als zutiefst rassistisch bezeichnen, wenn er nicht so plump und teils lächerlich inszeniert wäre (vielleicht könnte der Film in einigen Kreisen heute als „Camp“ durchgehen). Allerdings ist der rassistische Content nicht das zentrale Element des Films und jemand wie Griffith hat für wahrhaftig verabscheuungswürdige, antihumanistische Fantasien wesentlich effizientere und manipulativere Bilder erschaffen. Aber auch jenseits jeglicher Ideologiekritik ist A SEA DOG‘S TALE Grobian-Slapstick der üblen „Leute-in-lächerlichen-Kostümen-schubsen-sich-gegenseitig-um“-Manier. Zu grobschlächtig für alles: zu grobschlächtig, um es dem Film wirklich übel nehmen zu können, und zu grobschlächtig, um daran irgendwie Gefallen zu finden.

Dann passiert plötzlich etwas erstaunliches, etwas, das wirklich schwierig zu fassen ist. Als der Film zu der aussortierten Idee aus THE NAVIGATOR kommt, weht plötzlich ein Hauch Keaton‘scher Poesie durch diesen Grobianfilm.

Nun: Gumbo, Jo Jo und Wilbur stehen auf einem Floß und Wilbur soll den Haifischzahn fangen. Er wird von Jo Jo ins Wasser geschubst und findet sich auf dem Meeresboden wieder, wo allerlei Gerümpel liegt. Da ist eine Schatztruhe, die aufgeht – ein Skelett kommt zum Vorschein, erschrickt Wilbur und schwebt Richtung Meeresoberfläche. Dort angekommen dient es für Gumbo und Jo Jo als Signal, dass Wilbur wohl schon von Haien gefressen wurde. Der versucht sich allerdings gerade unter Wasser zu orientieren und zündet ein Streichholz an. Als das nicht hilft, wirft er es weg und löst damit einen kleinen Brand unter Wasser aus (allerspätestens hier schleicht sich ein Keaton-Touch in den Film). An der Oberfläche sehen Gumbo und Jo Jo, wie schwarzer Rauch aus dem Meer steigt. Währenddessen ist Wilbur, der ja nicht dazu gekommen ist, etwas zu essen, hungrig und beginnt, eine Sardinenbüchse zu öffnen, die er gefunden hat. Doch statt Ölsardinen schwimmen quicklebendige Sardinen aus der Dose raus und dann gleich weg. Dann wird Wilbur von anderen Fischen, die unkontrolliert durch das Meer schwimmen, bedrängt. Er greift sich einen Seestern vom Meeresboden, heftet ihn sich an die Brust, und beginnt, den Fischverkehr zu regulieren. Auf sein Kommando hin bleiben die Fische dann auch stehen – oder schwimmen eben weiter. Schließlich kommt eine Meerjungfrau angeschwommen und flirtet Wilbur an, der davon sichtlich begeistert ist. Doch seine Verlobte fliegt schon mit einem Flugzeug über das Meer, wirft einen Anker aus und holt sich ihren Verlobten wieder an die Meeresoberfläche. Der will aber nicht und springt ins Meer zurück. Ende!

Wie gesagt: das Bemerkenswerteste an A SEA DOG‘S TALE ist zweifelsohne, dass die Atmosphäre des Films unter Wasser plötzlich kippt und dabei tatsächlich einen eigenartigen Keaton-Touch entwickelt. Die Gags sind plötzlich keine groben Körperkapriolen mehr, sondern entwickeln plötzlich eine feine surrealistische Note (die Sardinen, die aus der Dose schwimmen) oder entstehen aus dem Zusammenspiel von Körperlichkeit und Raum (das Regulieren der Fische) oder sind sogar mehrteilig und mit einem Verzögerungselement versehen (das Skelett, das 1. zuerst auftaucht, 2. Wilbur verschreckt und 3. an der Oberfläche den anderen Beteiligten eine „falsche“ Information vermittelt). Alles Elemente, die man so eher von Keaton als von Slapstick-Stangenware kennt. Das ganze bleibt natürlich unter dem Inszenierungsniveau des „Mannes, der niemals lachte“. Die Unterwasserszene ist nicht unter Wasser, sondern mit einem starken Weichzeichnereffekt gefilmt, mit Ausnahme der Nahaufnahme der Sardinendose (zugegeben war Billy Bevan nicht ein Stuntman wie Keaton und die Szene hatte die Schwierigkeit, dass sie ohne Taucheranzug gespielt werden musste). Die Fische, die den Befehlen des selbsternannten Verkehrspolizisten folgen, sind nur sehr schemenhaft zu erkennen (offenbar wurden schwimmende Fische in einem Aquarium von oben gefilmt und mit einem Freezeframe „gestoppt“).

Der Regisseur von A SEA DOG‘S TALE ist der Kanadier Del Lord, der im Filmgeschäft ursprünglich als Stuntman für Mack Sennett begann und besonders als Fahrer für gefährliche Autostunts in Filmen mit den Keystone Cops sehr geschätzt wurde. Später übernahm er auch Regie für Mack-Sennett-Produktionen. Ab 1935 wurde er persönlich nicht berühmt, führte aber bei den bekanntesten und erfolgreichsten Filmen der „Three Stooges“ Regie. Er hat über 200 Regie-Credits bei der IMDb, die meisten bei stummen oder tönenden Kurzfilmkomödien. Sein letzter Film ist PARADISE FOR BUSTER, von 1952... mit Buster Keaton in der Hauptrolle! Interessanterweise wurde diese mäßig gelungene 40-Minuten-Komödie von  dem Landtechnikunternehmen John Deere produziert (gleichwohl nichts in dem Film erkennbar ist, das man Schleichwerbung nennen könnte).

Der Australier Billy Bevan gehörte in den 1920er Jahren zum Inventar der Mack-Sennett-Komödien und arbeitete über zehn Jahre lang mit dem kanadischen Filmpionier zusammen. Dabei trat er oft mit Andy Clyde zusammen auf, so auch in A SEA DOG‘S TALE. Er hat bei IMDb über 250 Schauspiel-Credits, unzählige davon allerdings in den Filmen selbst ohne Erwähnung. So spielte er kurze Rollen etwa in Howard Hawks‘ BRINGING UP BABY, in Hitchcocks REBECCA und in Willam Wylers MRS. MINIVER. Sein Name wird übrigens wie die Zahl 7 („Seven“) im Englischen, aber mit einem B am Anfang, ausgesprochen.

A SEA DOG‘S TALE taucht in „ausgewählten“ Filmographien Bevans, Lords oder gar Sennetts nicht auf, dürfte also zu den unbekannteren Filmen der drei Künstler zählen. Selbst Screenshots aus dem Film zu finden ist keine einfache Sache (gefunden habe ich nur zwei Stück hier und hier). Verschollen ist der Film allerdings nicht, denn ich habe ihn ja schließlich mit eigenen Augen gesehen, und zwar bei zwei verschiedenen Projektionen auf einer 16-mm-Kopie aus dem Privatarchiv des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff. Da, lieber Leser, Richard mobil ist und seine persönlichen 16-mm-Filmrollen auch ab und zu mitbringt, kann es sein, dass der Film irgendwann einmal in einem Kino in deiner Nähe gespielt wird.

Freitag, 3. April 2015

Keaton aquaphob


Buster Keaton – der Name steht für spektakuläre Action und Stunts in urbanen Umgebungen, im Inneren von Häusern oder auf modernen Fortbewegungsmitteln wie Autos, Motorrädern, Bussen oder Eisenbahnen. Doch Keaton konnte auch auf hoher See und auf einem so traditionellen Fortbewegungsmittel wie einem Schiff oder einem Boot sein komisches Potential entfalten...



THE BOAT
USA 1921
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der Mann), Sybil Seely (die Frau), Edward F. Cline (der Mann von der Küstenwache)


Ein Mann (stellen wir uns im Folgenden vor, er würde Buster heißen) baut eigenhändig ein Segelboot. Prompt will er seine Frau und seine beiden Kinder auf eine kleine Spritztour mitnehmen. Doch davor muss das Boot noch aus der Garage geholt werden, wo es gebaut wurde – eine Operation, die eine mittelgroße Ruine hinterlässt. Dann wird das Gefährt namens „Damfino“ eingeweiht (mit Cola). Vor dem Seegang gibt es noch Schwierigkeiten: das Boot sinkt nämlich zunächst. Nach fixer Reparation geht es los! Da Buster ein echter Tüftler ist, hat er an alles gedacht: mit einem Hebel kann er Mast und Segel herunterklappen, wenn das kleine Schiff unter eine Brücke passieren muss. Technische Raffinesse bringt bei menschlichem Versagen natürlich nichts, und so beginnt die Fahrt etwas holprig. Das ganze macht richtig hungrig, und im Bootsinneren genießen Buster und die zwei kleinen Buster-Junioren die Steaks, die Ehefrau und Mutter zubereitet hat – nun, nicht wirklich, denn das Fleisch ist so hart geworden, dass es an die Wand genagelt werden kann (und später auch wird!). Nach dem Abendessen ist vor dem Schlafen: die Familie legt sich zur Nachtruhe hin. Eine feuchte Nachtruhe, wenn man das Bullauge offen lässt. Es dann zu schließen bringt auch nichts, denn ein gefährlicher Sturm ist mittlerweile aufgezogen. Das Boot wird durcheinander geworfen, Buster kämpft gegen Lecks und muss schließlich seine Familie auf dem Rettungsboot in Sicherheit bringen. Die vier Menschen, die nur einen Ausflug machen wollten, stehen kurz vor dem Ertrinken, nachdem der kleine Junior den Stöpsel des Rettungsboots herausgezogen hat (!). Doch die vier Schiffbrüchigen sinken einfach nicht, sondern bleiben stehen. Einige Schritte weiter entdecken sie, dass sie am Rande eines rettenden Strands gesunken waren.

THE BOAT gehört definitiv nicht zu meinen Keaton-Favoriten. Er ist bestenfalls die Summe seiner Teile, die für sich genommen nicht alle rundum überzeugen. Dennoch zeugt dieser Kurzfilm von Keatons inszenatorischem Können, etwa in der Szene, in der das Boot im Sturm mehrmals um die eigene Achse geschleudert wird, mit Buster im Inneren. Weniger akrobatisch, aber nicht weniger spektakulär ist der Schluss: Buster watet mit seiner Frau und seinen zwei Kindern durch ein dunkles, schwarzes Meer, und plötzlich taucht der Strand auf – ein schöner und sehr effizienter Beleuchtungseffekt. Der kreative Höhepunkt des Films ist jedoch keineswegs akrobatisch, sondern ein wunderbarer Moment purer Keaton-Poesie. Buster befindet sich im Inneren seines selbstgebauten Bootes, will das ganze gemütlicher gestalten und nagelt deshalb ein Bild mit Seemotiv an die Wand. Natürlich dringt Wasser durch und beginnt – zur Verwunderung Busters – „aus dem Bild“ herauszufließen.

Ein recht subtiler und stiller Gag findet sich bei der Entsorgung der ungenießbaren Steaks. Der Mann und die beiden Jungs wollen auf Ehefrau und Mutter Rücksicht nehmen und drücken deshalb keinen Unwillen gegen die Steaks aus, sondern verstecken sie – in Busters charakteristischem Hut (das selbst nach einer Fleischzubereitung benannt ist: pork pie hat). Andere Gags funktionieren hingegen nicht so richtig. Einen strahlenden Wasserleck will Buster mit einem Trichter auffangen, den er zunächst in den Boden des Bootes bohren möchte und wenig später schöpft er mit einer kleinen Teetasse das Wasser aus dem Bullauge – etwas bemüht und hölzern.
Recht interessant ist der Familienstand der Hauptfigur: Keaton spielt einen im wesentlichen glücklich verheirateten Mann mit zwei Kindern. Eine ungewohnte Konstellation, da das Grundgerüst in vielen anderen Keaton-Filmen darin besteht, dass der ledige Protagonist das Herz seiner Angebeteten zu erobern versucht oder sich auf der Suche nach der großen Liebe begibt.
THE BOAT ist ein Film, der lange Zeit als verschollen galt, bis James Mason 1952 Buster Keatons Haus kaufte, im Keller diverse Filmrollen fand und diese restaurieren ließ.



THE LOVE NEST
USA 1923
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der verlassene Verlobte), Joe Roberts (der Kapitän), Virginia Fox (die Ex-Verlobte)


Eine Verlobte macht mit ihrem Verlobten (den wir unter uns sicherlich Buster nennen dürfen) Schluss. Seine Traurigkeit will der junge Mann mit einer einsamen Bootsreise auf hoher See dämpfen, doch rasch ist er verloren. In letzter Minute wird er von einem Schiff gerettet. Oder eher: „gerettet“. Denn der Kapitän führt seine Mannschaft mit eiserner Hand und schmeißt seine Seemänner schon bei kleinsten Vergehen gnadenlos über Bord. Auch Buster wird irgendwann dran glauben müssen. Nachdem er aus Versehen einen Eimer Wasser auf den Kapitän verschüttet, ihn – aus Versehen – mit einem Gewehr bedroht und sein Kaffeeservice (jawohl: aus Versehen) zertrümmert hat, ist es soweit. Doch dann wird ein Wal gesichtet, und die Hinrichtung verschoben. Als bei der Jagd der Kapitän über Bord fällt und scheinbar ertrinkt, erklärt sich Buster kurzerhand zum neuen Kapitän, doch wenig später taucht der „alte“ wieder auf. Die Amtsanmassung bringt diesen endgültig zum Platzen (und dies wiederum den kleinen Rest der Seemannschaft außer Buster zum spontanen Kollektivselbstmord). Eine wilde Verfolgungsjagd entscheidet Buster für sich, als er den kompletten Dampfer zum Sinken bringt, weil er das Rettungsboot nicht auf andere Weise zum Wasser bringen konnte. Am nächsten Morgen fängt Buster einen Fisch, und erledigt diesen mit einem glatten Gewehrschuss – was wiederum das Rettungsboot zum Sinken verurteilt. Zum Glück war unser Protagonist gerade in der Nähe einer merkwürdigen, schwimmenden Holzkonstruktion. Er erkennt nicht, dass es sich um eine Zielscheibe für Marineschießübungen handelt und wird wenig später in die Luft gesprengt. Tot begibt er sich in Richtung Himmel... Und fällt dann in Richtung Hölle... Und wacht schließlich aus seinem delirierendem Traum auf. Nur wenige Sekunden später merkt Buster zudem, dass er sich auch nicht verloren auf hoher See befand: sein Boot war die ganze Zeit noch am Ufer angebunden.

Keatons Filme sind teils auch Filme über gestörte Wahrnehmungen, und nirgendwo sind die Sinne offener für Verzerrungen als im Traum. Hier sind besonders wilde Kapriolen möglich, und die Möglichkeiten eines Traums entwickelte Keaton in SHERLOCK JR. als Film-im-Traum-im-Film-Konzept weiter. Der Traum von THE LOVE NEST, diese surrealistisch verzerrte Welt, entwickelt auch eine unterschwellige Gewalt, eine latent fatalistische Atmosphäre, einen morbiden Unterton, den Keaton auch schon in COPS (und etwas weniger pointiert THE GOAT) genutzt hatte.
Schon als der erste Seemann einen Fehler macht und der Kapitän ihn dann stellt, über Bord schmeißt und einen Kranz aus einer extra dafür vorbereiteten Kranzkollektion greift und hinterherwirft, ist klar, dass Buster auch einen Fehler machen und den tödlichen Zorn des Kapitäns spüren wird – und Buster selbst weiß es auch (gleichwohl er schließlich nicht vom Kapitän des Walschoners, sondern von der Marine „gerichtet“ wird). Grausamkeit, Witz und Poesie halten sich hier die Balance. Nirgends wird dies deutlicher als im angedeuteten Selbstmord Busters: er hat mit einem Gewehr rumgespielt, den er in der Kapitänskoje fand und damit aus Versehen auf den Kapitän gezielt; er nimmt in Konsequenz davon das Gewehr mit, geht auf das Deck, läuft eine Treppenleiter am Rande des Schiffs in das Wasser hinunter, geht komplett in das Wasser, bis er versinkt – und schießt dann unter Wasser... Doch dann taucht er wieder auf, und läuft mit dem Gewehr in der einen Hand und einem erlegten Fisch in der anderen wieder hoch. Das ist ein schwarzer Humor, der sehr perfide die Erwartungen der Zuschauer manipuliert und sie in die Falle lockt (dabei gilt gemeinhin Chaplin als der Subversive unter den Slapstick-Komikern der 1920er Jahre). Die Logik des Traums sieht vor, dass Fische mit Gewehren gefangen werden und deshalb ist es nur folgerichtig, wenn Buster später im Film dabei sein Boot zerschießt und so auf eine der todbringenden Holzkonstruktionen gedrängt wird.
Wesentlich einfacher und harmloser wirken die Gags, wenn Buster Befehle des Kapitäns wie etwa „all hands on deck“ oder „to the port“ allzu wörtlich nimmt und seine Hände auf‘s Deck legt oder dem Kapitän eine Flasche Portwein holt.
Der surrealistische THE LOVE NEST war Buster Keatons letzter kurzer Stummfilm.



THE NAVIGATOR
USA 1924
Regie: Buster Keaton
Darsteller: Buster Keaton (Rollo Treadway), Kathryn McGuire (Betsy O‘Brien)


Rollo Treadway ist ein verträumter und tollpatschiger Millionär, der für das Leben „draußen“ kaum tauglich ist. Aus einer Laune heraus möchte er heiraten: Betsy O‘Brien, eine Millionärstochter und praktischerweise seine Nachbarin. Alles ist vorbereitet, die Schifftickets für die Flitterwochen schon gebucht – nur Betsy weiß von ihrem Eheglück nichts und lehnt den Antrag aus heiterem Himmel dann auch folgerichtig ab. Durch eine Verkettung von Umständen (es geht um eine recht wilde und wirre Industrie- und Armeespionage-Intrige) geraten die beiden jungen Millionäre auf ein Schiff, das kapitänslos durch die See gleitet. Da es sehr groß ist, viele Treppen und Etagen hat, finden sie sich zunächst nicht. Als sie das tun, lehnt Betsy Rollos wiederholten Heiratsantrag erneut ab, aber dennoch raufen sie sich zusammen, um das Überleben auf dem verlassenen Schiff zu sichern. In der Küche merken die beiden, dass Kaffeezubereitung mit Meerwasser nicht so das wahre ist, und dass Spargeldosen schwierig zu öffnen sein können. Plötzlich erblicken beide ein Schiff, das sie retten könnte. Mit einer Flagge möchten sie auf sich aufmerksam machen, doch dummerweise erwischen sie das Zeichen für Quarantäne (was das andere Schiff regelrecht flüchten lässt). Nach der ganzen Aufregung möchten sich die beiden Millionäre zur Nachtruhe begeben: gar nicht einfach, wenn Geisterbilder durch Bullaugen schweben, Türen klappern, ein Feuerwerk aus Versehen (in Keaton-Filmen passiert immer so vieles aus Versehen!) losgeht oder ein Open-Air-Camping aufgrund von Regen unterbrochen wird. Sei‘s drum: nach einigen Tagen haben sich Rollo und Betsy eingelebt, die Kesselräume zu bequemen Nachtlagern umgebaut, die Küche mit allen möglichen Hilfsapparaturen ausgestattet. Dann ist endlich Land in Sicht. Freilich ein Land, das von angriffslustigen Kannibalen bevölkert wird und nicht zum Andocken einlädt. Nun bekommt Rollo allerhand zu tun: ein Leck muss unter Wasser repariert, Betsy vor den Kannibalen gerettet, schließlich letztere in einem rasanten Showdown vom Leibe gehalten werden. Als die beiden Protagonisten schon kurz vor dem Ertrinken sind, taucht ein U-Boot auf, das die beiden rettet. Betsy küsst Rollo in Dankbarkeit (der nächste Heiratsantrag könnte also klappen), doch dieser bringt schon in wenigen Sekunden das U-Boot (im wörtlichen Sinne) durcheinander...

Als ich THE NAVIGATOR im Jahr 2012 zum ersten Mal sah, speicherte ich ihn in der Kategorie „okay-ish“ ab. Eine Sichtung im Kino letztes Jahr öffnete mir dann die Augen für die grandiose Keaton‘sche Komik, die tolle inszenatorische Gestaltung und die Poetik des Films. Die erneute Sichtung für diese Besprechung ließ mich noch weitere Feinheiten entdecken, die ich vorher nicht gesehen oder bemerkt hatte.

THE NAVIGATOR mag vielleicht nicht Keatons bester Film sein und er ist auch nicht mein Lieblings-Keaton (da bin ich recht „traditionell“ und würde wohl THE GENERAL wählen). Wer mich jedoch – als erklärter Keaton-Fan und ambivalenter Chaplin-Skeptiker – fragen würde, warum ich den „Mann mit dem Steingesicht“ für den allergrößten unter den Stummfilm-Komikern der 1920er Jahre halte, dann würde ich wohl auf die „Verfolgungsjagd“ im ersten Drittel von THE NAVIGATOR hinweisen. In knapp drei Minuten und (je nach dem, wo man das Ende setzen möchte) 31 Einstellungen erschafft Keaton ein Gag, der wie ein eigener Ultrakurzfilm funktioniert, mit einer eigenen minutiösen Dramaturgie und der fast zu 100 % nur mittels der Montage und der Rauminszenierung abgewickelt wird (zum Nachverfolgen siehe hier).

Exposition: ein Mann und eine Frau – verloren auf dem Schiff
1 Panorama auf das verlassene Schiff
2 Rollo tritt nach der Nachtruhe gutgelaunt aus seiner Kabine aufs Deck hinaus, doch ein Windstoß bläst sein Hut weg. Er tritt wieder an seine Kabine, nimmt einen Reservehut und geht weiter (die Grundlage für eine spätere und erstaunlich nonchalante Wiederholung des Witzes)
3 Betsy läuft auch auf dem Deck, ist sichtlich verunsichert und sucht nach Ko-Passagieren
4 Rollo betritt das Schiffsrestaurant, das sichtlich menschenleer ist
5 Halbnahaufnahme: Rollo ist etwas irritiert und
6 tritt aus dem Schiffsrestaurant hinaus...
7 aufs Deck, wo ihm ein Windstoß wieder den Hut wegbläst – im Gehen greift er gleich in seine Kabine und setzt den nächsten Hut auf (diesmal einen Zylinder, also einen Hut, den man als Bräutigam tendenziell eher auf einer Hochzeit tragen würde als einen pork pie hat!)
8 er kommt an das Steuer, findet dort niemanden vor, dreht ein wenig an der Lenkung und blickt neugierig auf das, was sich gleich als Kompass herausstellt
9 Kompassnahaufnahme
10 Er blickt auf seine Uhr, erstaunt auf den Kompass, dann wieder auf seine Uhr

Mittelteil: ein Mann und eine Frau – Möglichkeit einer Begegnung
11 Sie kommt auf das Deck an, wo sich seine Kabine befindet, und steigt die Treppen herunter und kehrt ihm den Rücken zu, während er von weiter oben hinuntersteigt: die Möglichkeit einer Begegnung ist also gegeben
12 Beide bleiben erst einmal auf ihrer jeweiligen Etage stehen
13 Er wirft eine aufgerauchte Zigarette herunter
14 Er entfernt sich langsam aus dem Bild, während sie stehen bleibt.
15 Nahaufnahme brennende Zigarette
16 Sie hebt die Zigarette auf...
17 ...und ruft

Showdown: ein Mann und eine Frau – verpasste Begegnung
18 ...er hört, dreht sich um, beginnt zu rennen
19 sie steigt auf seine Etage, ruft, beginnt zu rennen
20 er rennt
21 sie rennt, biegt ab – er kommt am anderen Ende um die Ecke und rennt
22 sie rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt
23 sie biegt ab, rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt
24 sie rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt, biegt ab
25 sie tritt in einen Raum und geht dort eine Treppe runter – er kommt am anderen Ende des Raums (das zwei Türen hat) rein, ignoriert die Treppe, und springt an der anderen Seite aus der Tür raus
26 Nun rennen beide durchgehend im gleichen Bild vereint durch drei verschiedene Etagen des Schiffs, und verpassen sich trotzdem. Dieses Bild ist gewissermaßen die radikale Zuspitzung der Grundsituation eines Mannes und einer Frau, die sich verpassen – und vielleicht der visuelle Höhepunkt des Films.

Auflösung: ein Mann und eine Frau – Zufallsbegegnung
27 Sie steigt schließlich in das Schiffsinnere hinab und setzt sich auf eine Bank
28 Aus Versehen (schon wieder!) fällt Rollo durch ein Lüftungsrohr (oder wie man die Dinger nennt – Marinejargon beherrsche ich nicht gerade fließend)
29 Sie sitzt auf der Bank, er fällt runter, dabei zerbricht die Bank
30 Beide ahnen schlimmes, richten sich auf, sehen sich an, erkennen sich, schrecken auf. Er entspannt sich sogleich, nimmt eine coole Charmeurpose ein, setzt ein verführerisches Gesicht auf (Stoneface hin oder her: Keaton ist ein grandioser Mime) und spricht:
31 Zwischentitel: „Will you marry me“

Jetzt, wo ich die „Verfolgungsjagd“ in einzelne Einstellungen aufgesplittet habe, fällt mir auf, dass sie gleichermaßen auch eine Art kondensierte Zusammenfassung einer Mann-Frau-Annäherung ist (Existenz untereinander unbekannt, Begegnung möglich, Begegnung angebahnt, Begegnung findet statt) – und damit gewissermaßen auch das Thema des gesamten Films (ein Mann möchte eine Frau heiraten) zusammenfasst.
Sie ist formell großartig, weil sie den Gag aus Montage und Rauminszenierung heraus entwickelt. Das Lachen wird so im Raum verortet, und nicht mehr im Körper der Darsteller oder in den Accessoires (außer im Sub-Gag mit dem Hut). Buster Keaton war durch seine Stunts eigentlich immer körperlicher als Chaplin, aber zugleich auch abstrakter und formalistischer (einen solchen Formalismus erreicht Chaplin meiner Meinung nach nur in seinem unterschätztesten und gewissermaßen Keaton‘schesten Stummfilm, THE CIRCUS).

Einen ähnlich formalistischen Gag bringt Keaton schon früher im Film. Rollo hat gerade entschieden, zu heiraten. Also geht er zu seiner Nachbarin, um sie über ihre glückliche Zukunft zu unterrichten. Er setzt sich in das Auto, der Chauffeur fährt los. Normalerweise eine expositorische Einstellung, die mit einem Schnitt oder einer Abblende abgebrochen wird, damit die Person in der Einstellung danach ankommt. Stattdessen folgt ein kleiner Kameraschwenk, und wir sehen, dass das Auto kurz nach Anfahrt umbiegt, um auf der anderen Straßenseite, also knapp zehn Meter weiter, zu parken. In nur wenigen Sekunden entwickelt sich nicht nur ein subtiler, aber sehr witziger Gag, sondern zugleich auch eine Charakterisierung der Rollo-Figur, deren Untauglichkeit für den Lebensalltag (von einer extremen Survival-Situation mal ganz abgesehen) in einer einzigen Einstellung demonstriert wird. Mit einer einzigen Einstellung (geschenkt: dass Rollo ein etwas tollpatschiger Träumer ist, wissen wir schon aus vorherigen Szenen) wird eine Fallhöhe für das darauffolgende Survival-Szenario geschaffen, und obwohl wir über die Figur lachen, fühlen wir mit ihr und ihrem klassenbedingt beschränkten Lebenshorizont. Diese Einstellung ist sozusagen die eigentliche, richtige Exposition des Films. Die vordergründige Exposition um die wirre Spionagegeschichte wird vergleichsweise recht verkrampft und überkompliziert abgewickelt und dient nur dazu, die beiden Protagonisten halbwegs glaubwürdig auf das leere Schiff zu bringen.

Auch in kleinen, scheinbar unwichtigen Momenten beweist Keaton einen großen visuellen Einfallsreichtum und einen feinen Sinn für Poesie. Als sich Rollo und Betsy sich zur Nachtruhe verabschieden, tun sie es auf eine relativ formelle und distanzierte Weise. Rollo zündet für Betsy nur noch kurz eine Kerze an und dann geht jeder aufs Zimmer. Doch eben jenes Kerzenlicht wirft einen Schatten der beiden in den Hintergrund, der leicht verzerrt ist – sodass sich Rollo und Betsy in ihrer Schattenvariante küssen! Das kann man leicht übersehen, weil abrupt von einem Zwischentitel in die Szene geschnitten wird und die „realen“ Figuren, die im Bildvordergrund die Kerzen anzünden, eher die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die deep-focus-photography, die Keaton nicht nur in diesem Film sehr gewinnbringend einsetzt, ermöglicht aber auch in diesem Fall einen Blick auf die vermeintliche Nebenhandlung.

Einen sehr schönen Moment würde ich als „Poesie des Trotzes“ bezeichnen. Rollo und Betsy haben versucht, draußen zu übernachten, wurden jedoch vom Regen überrascht, sind durchnässt in das Schiffsinnere geflüchtet und können nicht mehr auf guten Schlaf hoffen. Rollo entdeckt an einem Tisch ein Kartendeck, das jedoch eine kleine Wasserfontäne aus Betsys Hut nass gemacht hat. Er nimmt es auf, und beginnt zu mischen. Oder versucht es. Gleich zwei Karten bleiben kleben (Herzbube und Herzdame!). Dann mischt er weiter. Was natürlich überhaupt nicht klappt, weil die durchweichten Karten sich verbiegen, aneinander kleben bleiben. Doch Rollo stört das nicht wirklich und er macht unbeirrt einfach weiter, bis am Schluss nur noch matschige Papierpampe übrig ist. Erst beim Austeilen der Karten hat Rollo Einsehen, dass das nichts wird.

Ein kleiner Höhepunkt der Akrobatik ist natürlich die Tauchssequenz, als Rollo mit einem schweren Taucheranzug unter Wasser geht, um ein Leck am Schiff zu reparieren. Als er ins Wasser taucht, scheint er zugleich in eine Art Unterbewusstsein, oder in einen Traum einzutauchen: die Gags werden surrealer. Ein Baustellenwarnschild für die Straße findet sich zufällig unter Wasser, und Rollo stellt es dann auch gewissenhaft und gut lesbar hin, bevor er ans Werk geht. Nach Ende der Reparatur wäscht er sich auch ganz gründlich die Hände und trocknet sie ab – also unter Wasser!

Sowie COPS oder eben THE LOVE NEST zu den düstersten Keaton-Filmen gehören, gehört THE NAVIGATOR zu den fröhlichsten und optimistischsten. Wenn ich vorher schrieb „der nächste Heiratsantrag könnte also klappen“, dann ist damit gemeint: der wird klappen! Der unbewusst aufgesetzte Zylinderhut (bräutigamtauglich) während der „Verfolgungsjagd“, der nächtliche Schattenkuss, das Zeichen der Karten: Immer wieder weist der Film mit mehr oder minder subtilen visuellen Mitteln daraufhin, dass Rollo und Betsy eigentlich ein gutes Paar sind bzw. heiraten sollten. Und warum nicht auch gleich noch Sex haben sollten! Als Rollo mit seinem Taucheranzug die Kannibalen verscheucht, wollen er und Betsy zum Schiff zurückkehren. Sie wählen dabei eine unorthodoxe Variante: Rollo legt sich im Wasser auf den Rücken, während sich Betsy rittlings auf ihn draufsetzt und dann in Richtung Schiff paddelt. Sex in Reiterstellung bei einem unverheirateten Paar kennt man in Hollywood gewöhnlich nur aus „Post-Code“-Zeiten (also über vier Jahrzehnte nach Erscheinen von THE NAVIGATOR). Nun: 1924 war Will H. Hays schon Präsident der Motion Picture Producers and Distributors of America, aber bis zu seinem „Code“ sollte es noch ein bisschen dauern (die gleiche Szene ist nach 1930/34 schwer vorstellbar).

Interessant und etwas verstörend ist der autoaggressive Akt, der folgt, als die beiden am Schiff ankommen. Wasser ist in den Taucheranzug gelangt. So greift Rollo zu einem Messer und schlitzt sich den Bauch auf. Natürlich: nur der Bauch des Anzugs. Das ganze wirkt dennoch recht drastisch. Thanatos folgt wenige Sekunden nach dem Eros. Eine selbst auferlegte Bestrafung für die vorangehende Ungezügeltheit?

THE NAVIGATOR endet jedenfalls mit einer kleinen Anspielung auf THE BOAT: das U-Boot dreht sich um die eigene Achse wie das kleine Schiff im Kurzfilm. In den ganzen Apparaturen, die sich Rollo und Betsy in der Küche zusammenzimmern, kann man durchaus ein kleines Zitat aus dem Kurzfilm THE SCARECROW sehen, in dem sich Buster Keaton und Joe Roberts eine WG mit allerlei technisch raffinierten Apparaturen eingerichtet haben – ein kleiner Triumph des Geistes über die Materie. THE NAVIGATOR wiederum übt mit seiner Trias aus Mann-Frau-Maschine Themen ein, die später in THE GENERAL noch beschleunigt wurden.

Mittwoch, 24. Dezember 2014

Keaton paranoid

Es gibt über Alfred Hitchcock die schöne Anekdote, wonach sein Vater ihn einmal als kleines Kind für eine Viertelstunde von einem befreundeten Polizisten in eine Häftlingszelle einsperren ließ – ein traumatisches Erlebnis, das Hitchcocks lebenslange Furcht vor der Polizei inspiriert haben soll und maßgeblich das Motiv des von der Ordnungsmacht unschuldig Verfolgten prägte. Doch vielleicht hat Hitch in seinen frühen Zwanzigern einfach nur Buster Keatons Kurzfilme THE GOAT und COPS im Kino gesehen?
In beiden Filmen geht es um einen unschuldigen Mann (gespielt von Keaton selbst), der von der Polizei für Verbrechen verfolgt wird, die er nicht, oder zumindest nicht bewusst begangen hat. Das ganze wird mit den Mitteln der Slapstick-Komödie verhandelt, und gerade dadurch nehmen diese Verfolgungen aberwitzige und groteske Züge an – und ähneln schließlich gar einer paranoiden Fantasie mit latent düsteren und morbiden Komponenten.


THE GOAT
USA 1921
Regie: Buster Keaton, Malcolm St. Clair
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (der Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Polizisten), Malcolm St. Clair (Dead Shot Dan)


Ein offenbar bedürftiger Mann (nennen wir ihn im Folgenden der Einfachheit halber Buster) steht in der Schlange einer Armenspeisung. Aufgrund von für den Zuschauer lustigen und für ihn eher betrüblichen Zufällen und Missgeschicken geht er leer aus. Er geht weiter seines Wegs und bleibt am vergitterten Fenster einer Polizeistation stehen, wo der Verbrecher Dead Shot Dan gerade zwecks polizeilicher Registrierung fotografiert wird. Dieser erblickt Buster hinter sich und reagiert blitzschnell: er bückt sich kurz, löst die Kamera aus und fotografiert damit Buster – wenige Augenblicke später flüchtet Dead Shot Dan aus dem Polizeigewahrsam. Buster geht derweilen nichts ahnend weiter und beobachtet einen Passanten, der ein Hufeisen findet, ihn wegwirft und kurz darauf eine Brieftasche voller Geld auf dem Gehweg entdeckt. Offenbar eine gute Idee: Buster will es dem Glücklichen gleich tun, hebt das Hufeisen auf, wirft es weg – und dieses landet mitten im Gesicht eines Streifenpolizisten. Dieser, offenbar mehr gedemütigt als wirklich verletzt, beginnt Buster zu verfolgen. Rasch gesellen sich andere Ordnungshüter zu der Jagd. Zwischendurch beschützt Buster tatkräftig eine junge Frau und ihren Hund vor einem Passanten, der über die Leine gestolpert ist und dann gegenüber der Dame grob wurde.

Schließlich gelingt Buster die Flucht in eine andere Stadt, wo mittlerweile das Foto des flüchtenden Dead Shot Dan in allen Zeitungen zu sehen ist – wohlgemerkt das falsche Bild, auf dem eben Buster in einem suggestiven Dekor zu sehen ist. Der Gesuchte sieht schließlich selbst ein gigantisches Fahndungsplakat mit seinem Konterfei, und wird sofort von schweren Gewissensbissen geplagt: er befürchtet, den Mann, der die junge Frau mit dem Hund belästigt hat, getötet zu haben (in Wirklichkeit war dieser nur für wenige Sekunden K.O.). Panisch rennt er vor dieser Vision davon und kracht in einen dicken Mann, der sich als Polizist entpuppt. Einige fiese Jungs planen genau in diesem Moment einen Anschlag auf den kräftigen Ordnungshüter, und am Ende sieht das ganze natürlich so aus, als hätte Buster versucht, den Polizisten zu töten. Nun wird er wegen leichter Verletzung eines Polizisten, Mord und versuchtem Polizistenmord gesucht – wobei er in letzteren beiden Punkten unschuldig ist. Durch Zufall trifft er auf die junge Frau mit dem Hund, die ihn freundlich zum Essen bei ihren Eltern einlädt. Die Mutter ist erfreut, der Vater kommt später hinzu – und entpuppt sich, natürlich, als der dicke und große Polizist von vorhin. Eine Verfolgungsjagd durch das Treppenhaus und die Aufzüge des Gebäudes folgt, die Buster für sich entscheiden kann, bevor er dann die junge Frau zur Hochzeit wegtragen kann.

Polizisten überall!
Die massive Verfolgung, die Buster Keatons Held durchzustehen hat, ist geradezu grotesk überzeichnet. Die Polizisten sind schier überall! Hinter jeder Straßenecke scheint sich ein Ordnungshüter zu verstecken, der nur auf Buster aufzulauern scheint – oder in den Buster einfach gleich mit voller Laufgeschwindigkeit reinkracht. Ein Fluchtmanöver, bei dem sich der Verfolgte an ein fahrendes Auto ranhängt (bei Keaton natürlich wortwörtlich), endet damit, dass er vor den Füßen eines Polizisten abgeladen wird. Eine Gruppe von Verfolgern wird der agile Mann dadurch los, dass er sie in einen Umzugstransporter lockt und einsperrt – nur, damit die Polizisten wenig später vor seinen Füßen abgeladen werden (erneut: wortwörtlich). Der einzige Schutzort, den Buster aufsuchen kann (die Wohnung der jungen Frau mit dem Hund), entpuppt sich als Höhle des Löwen. Und während der wilden Verfolgung durch das Treppenhaus sucht Buster Zuflucht in einer fremden Wohnung: dort wartet ein Polizist, der gerade seine Pistole reinigt (wohl, damit sie noch besser schussbereit ist), während die Zeitung mit Dead Shot Dans (also Busters) Fahndungsfoto auf einem Tisch neben ihm ausgebreitet ist. Kurz: Buster gerät in eine alptraumhafte Welt, die scheinbar fast nur von Polizisten bewohnt ist, die es auf ihn abgesehen haben. Dieses paranoide Universum wird noch bedrohlicher, als man ihn seiner Wahrnehmung nach sogar umzubringen gedenkt (Buster landet, mit einem weißen Tuch überdeckt, auf einer Krankenhausbahre in den Vorraum eines OP-Saals und ein Handwerker, der gerade irgendetwas an den Fensterläden repariert, lädt seine „bedrohlichen“ Gerätschaften kurz auf ihn ab). Dieser ganze Alptraum wird am Ende deus-ex-machina-artig aufgelöst, als Buster den Polizisten mit dem Aufzug durch die Decke des Gebäudes herausschießt – es hatte sich herausgestellt, dass nicht der Aufzug die Etagenanzeige kontrolliert, sondern umgekehrt der Zeiger der Etagenanzeige den Aufzug bewegt. Eine typische und sehr poetische Keaton-Idee.

Rasende Lokomotive, ruhiger Keaton
Das paranoide Verfolgungsszenario ist in eine erquickliche Anzahl dichter visueller Gags eingebaut, die mit ihrem Erfindungsreichtum, ihrem Gespür für Raum und Timing alle demonstrieren, dass Keaton schon 1921 auf dem Höhepunkt seiner Könnerschaft stand. THE GOAT dauert nur knapp 20 Minuten, und dennoch ist es kaum möglich, alle ausführlich zu nennen.
Die Faszination mit Autos und Zügen, also mit schnellen (und gefährlichen) Fortbewegungsmitteln, genießt Keaton in vollen Zügen. Das betrifft nicht nur die vorhin erwähnte Szene, in der er sich an ein Auto ranhängt und weggeschleift wird, sondern auch eine andere Autoflucht, die deutlich misslingt: Buster springt auf den Ersatzreifen am Heck eines Autos, das gerade wegfahren will – doch das Auto fährt ohne ihn weg, denn der vermeintliche Ersatzreifen ist in Wirklichkeit ein zum Werbeschild für eine nahegelegene Autowerkstatt umfunktionierter Reifen auf einem Ständer.
Auf einer richtig großen Kinoleinwand sicher sehr beeindruckend ist die Fahrt eines Zuges, der frontal in Richtung Kamera rast und kurz vor „Aufprall“ eine Vollbremsung macht, während Buster mit regloser Mine vorne auf der Lokomotive sitzt. An anderer Stelle lässt Keaton eine Lokomotive mit vielen Zügen auf Straßenbahnschienen durch eine belebte Innenstadt rasen, womit er seine Verfolger für kurze Zeit abschneidet.
Geradezu genial ist das Timing in der Wohnung der jungen Frau mit dem Hund: Buster wähnt sich in Sicherheit, setzt sich an ein Ende der Tafel und beginnt mit dem kleinen Hund zu spielen, während hinter seinem Rücken sein Verfolger erscheint, sich an das andere Ende der gedeckten Tafel setzt und beide erst nach dem Tischgebet merken, wem sie gegenüber sitzen. Wie Buster kurz darauf aus der Wohnung flüchtet, obwohl der Polizist die Wohnungstür abgeschlossen und sich davor aufgebaut hat, ist allerreinste Keaton-Akrobatik (und dürfte für beide Beteiligte nicht ganz ungefährlich gewesen sein).
Der Höhepunkt von THE GOAT ist dann die wilde Verfolgungsjagd durch das Gebäude, in dem Treppen, ein Aufzug, ein Aufzugschacht und eine Telefonkabine die Grundlage eines minutiös choreografierten Balletts bilden.



COPS
USA 1922
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (ein Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Bürgermeisters)


Die narrative Grundidee von THE GOAT (Unschuldiger wird von Polizisten verfolgt) wird in COPS, der nicht ganz ein Jahr später herauskam, in einer radikalisierten, zugespitzten und kompromissloseren Variante präsentiert.

Ein Mann (er ist ohne Namen, aber wir können ihn zwecks Anschaulichkeit gerne Buster nennen) erhält von seiner Verlobten ein Ultimatum: sie wird ihn erst heiraten, wenn er ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist. Betrübt geht Buster auf die Straße und sieht, wie ein Passant seine Brieftasche verliert. Hilfsbereit hebt er sie auf, um sie zurückzugeben, doch der große und kräftige Mann reagiert grob und stößt den ehrlichen Finder zurück. Er ruft sich ein Taxi und stolpert beim Einsteigen. Buster will ihm schon wieder helfen, und erneut reagiert der griesgrämige Mann mit brachialer Grobheit. Als das Taxi weggefahren ist, sehen wir, dass Buster sich zwischenzeitlich doch anders entschieden hat und dem Mann das Geld nun doch geklaut hat (was wir ihm als Zuschauer nicht wirklich verübeln können). Durch ein geschicktes Manöver stiehlt ihm Buster dann auch noch das Taxi, und frustriert bleibt der Bestohlene zurück – sein Jackett rutscht etwas zur Seite und enthüllt eine Polizeiplakette.
Mit dem relativ dicken Bündel Geld zahlt Buster das Taxi. Dies sieht ein zwielichtiger Mann, stellt sich vor einem großen Haufen Hausrat auf dem Bürgersteig und weint Buster so lange etwas vor, bis er ihm den Hausrat abkauft. Der erpresste Verlobte möchte nun „seinen“ Hausrat wiederverkaufen, um zu zeigen, dass er ein guter Geschäftsmann ist. Doch der Hausrat gehört einer Familie, die umzieht, und ihm natürlich den Hausrat überlässt, als er mit einem eben frisch besorgten Pferd und einer Kutsche erscheint – weil sie ihm mit einem Umzugsarbeiter verwechselt. Nun trottet die Kutsche vor sich her. Buster hat zur Verkehrssicherheit eine Apparatur aufgebaut, die an den Seiten hinausschnellt, um den Richtungswechsel anzuzeigen. Beim nächsten Wendemanöver bekommt natürlich ein Verkehrspolizist eins auf die Nase.
Ein wenig später gerät Buster mit seiner beladenen Pferdekutsche in eine Polizistenparade. Etwas zerstreut merkt er das überhaupt nicht, und glaubt sogar, dass die Akklamationen der Tribünen am Straßenrand ihm gelten. Derweilen hat sich ein Anarchist auf einem nahegelegenen Dach postiert, zündet eine Bombe an und wirft sie in die Parade. Die Bombe landet neben Buster auf den Kutschensitz, der die brennende Lunte als Feuerzeug für eine Zigarette nutzt und gedankenabwesend danach die Bombe hinter sich wirft – direkt in die paradierenden Polizisten. Panik bricht aus. Alle Anwesenden haben nur gesehen, dass der Kutschenfahrer eine Bombe geworfen hat, und nun sind alle Polizisten der Stadt hinter Buster her. Zu Dutzenden, ja zu Hunderten verfolgen sie den vermeintlichen Terroristen. Der hemdsärmlige Mann, der eigentlich mit seiner Familie umzieht, macht sich derweilen auf die Suche nach dem Umzugsarbeiter – und zieht dafür seine Polizistenuniform wieder an. Über viele Umwege, unter anderem über eine auf einer Palisade balancierende Leiter, gelingt es Buster, der Polizei zu entkommen. Als Polizist getarnt begegnet er auf der Straße seiner Verlobten, die erkennt, dass er offenbar kein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, ihn mit Verachtung anschnaubt und dann pikiert wegläuft. Daraufhin ergibt sich Buster resigniert dem mittlerweile rasenden Polizistenmob und geht in den sicheren Tod.

Aberdutzende Polizisten!
COPS beginnt langsamer als THE GOAT, baut aber im letzten Drittel ein Showdown auf, das zumindest in der schieren Menge der Komparsen den Vorgängerfilm in den Schatten stellt. Doch man könnte es auch als langsames Crescendo sehen. Busters teils bewusste, teils unbewusste Gesetzüberschreitungen bauen sich nach und nach auf. Es fängt damit an, dass er einen Polizisten beklaut: allerdings ohne Wissen, dass es sich um einen Ordnungshüter handelt, sondern eher als eine kleine Rache gegen einen Mann, der ihn als „Dank“ für seine Hilfsbereitschaft grob herumschubst. Weiter geht es damit, dass er den Hausrat eines Polizisten „stiehlt“, allerdings völlig unbewusst: denn Buster ist auf einen Betrüger reingefallen (und dass der hemdsärmlige Mann ein Polizist ist, erfahren wir erst später). Schließlich schlägt Buster einen Polizisten zwei mal mit seinem improvisierten Kutschen-Blinker und wirft eine Bombe auf eine Polizistenparade – beides ebenfalls völlig unbewusst. Ihm passiert das selbe wie in THE GOAT: er ist der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort unter den falschen Umständen und gerät als Unschuldiger durch eine Verkettung scheinbar harmloser Situationen in einen Alptraum aus rasender Verfolgung.

Ein potenzierter Alptraum: um die Ecke lauert nicht mehr ein Polizist oder wenn es hochkommt zwei bis vier, sondern Aberdutzende, gar Hunderte – eine Massenchoreographie des Schreckens. Ja, des Terrors. COPS endet damit, dass ein im Grunde unschuldiger Mann von einem tobenden Mob (off screen) erschlagen wird. Gleichwohl Keaton in seinem Werk neben surrealistischen und poetischen auch immer wieder schwarzhumorige Elemente einbaute, findet sich hier die wohl morbideste und makaberste Filmwendung seiner Karriere. Auch sein COLLEGE von 1927 endete mit einem Grabsteinbild, dem allerdings kein gewaltsamer Tod vorausging. Die zugespitzte paranoide Welt voller Polizisten findet ihren Höhepunkt, als Buster selbst zum Polizisten wird (als Tarnung). Die Paranoia wendet sich gegen ihn, und es scheint hier auf bittere Weise folgerichtig, dass die Erlösung nur durch den Tod kommen kann.

Neben dem Motiv des unschuldig Verfolgten enthält COPS wie auch THE GOAT (aber auch andere Keaton-Filme wie z. B. CONVICT 13), in zugespitzter Weise das „proto-Hitchcock‘ianische“ Motiv des multiplen Identitätstausches (bzw. „proto-Lang‘ianisch“, wenn man bedenkt, dass Hitch von Fritz Lang beeinflusst wurde – und in diesem Sinne ist es wieder „post-Feuillade‘isch“). Es gibt wohl kaum eine Figur in COPS mit fester Identitätszuschreibung, denn alle Akteure fallen auf Identitätsverwechslungen ein. Der unglückliche Verlobte wird aus Rache zum Taschendieb, dann zum neureichen Herr und Betrugsopfer, später zum Umzugshelfer, schließlich zum Terroristen, um als Polizist und schließlich Opfer eines Mobs zu enden. Eine tödlich endende „große“ Eskalation der Identitätsverwechslungen, der sich in „kleinere“ Verwechslungseskalationen aufsplittet. Rein legal etwa „stiehlt“ Buster das Pferd und die Kutsche: er übersieht, dass das Verkaufsschild zum Pferd mit der Kutsche eigentlich ein Herrenjackett vor einem naheliegenden Bekleidungsgeschäft betraf, und drückt dem vermeintlichen Kutscher die fünf Dollar in die Hand – doch dieser war eigentlich nur ein zufällig dort sitzender Mann, der nun das unerwartete Geld nutzt, um gleich eben erwähntes Jackett zu kaufen (Buster wird ein „guter Geschäftsmann“ – von seinen „Geschäften“ profitieren aber eben nur andere).

Buster im Knast? Na... doch nicht!
Die schiere Dichte an visuellen Gags, die THE GOAT zwischendurch fast explodieren lassen, erreicht COPS zwar nicht, aber auch dieser Film enthält immer noch genug große Keaton-Momente. Das beginnt natürlich mit den ersten Bildern, die Buster in trübseliger Stimmung hinter Gittern zeigt, während eine junge Frau vor den Gittern auf ihn einredet. Das sieht aus, als erhielte ein Gefangener Knastbesuch. Doch ein Schnitt offenbart, dass dies kein Gefängnis ist, sondern das Gittereingangstor eines Hauses (womit gewissermaßen die darauf folgenden Verwechslungen, Wahrnehmungslücken und Identitätsstörungen schon vorweggenommen werden). Diesen Moment kann man sicher auch als kleine Insider-Anspielung auf THE GOAT sehen, in dem ebenfalls ein Bild Busters hinter Gittern zu sehen ist, das eigentlich „falsch“ ist.
Ein besonders bizarrer Gag, den man wohl in gallizistischem Amerikanisch wohl „risqué“ nennen würde und der ein Jahrzehnt später unter der Herrschaft des Joseph Breen nicht mehr möglich gewesen wäre, arbeitet wieder mit einer Identitätsverwechslung. Das Kutschenpferd, das Buster „gekauft“ hat, fängt an zu bocken, und der „falsche Umzugshelfer“ erblickt in der Nähe ein Schild mit der Aufschrift „Dr. Smith, goat gland specialist“. Eine indirekte Anspielung auf THE GOAT? Buster hält auf jeden Fall den besagten Smith für einen Tierarzt (wenn der schon was mit Ziegendrüsen macht). In Wirklichkeit wütete in den 1920er ein Scharlatan namens John Brinkley, der mit der Transplantation von Ziegendrüsen männliche Schwäche (also Impotenz) heilen wollte. Das klingt alles witziger, als es in Wirklichkeit ist, denn nach diesen Operationen starben offenbar zahlreiche Patienten an Infektionen. Jedenfalls bringt Buster sein bockiges („schwaches“) Pferd zu besagtem Dr. Smith. Als er herauskommt, ist das Tier tatsächlich wesentlich belebter, ja sogar so quicklebendig, dass er schwer zu kontrollieren ist. Buster selbst hält kurz inne, scheint zu überlegen, kehrt dann zu Dr. Smith ohne das Pferd zurück – um seinen liegengebliebenen, charakteristischen pork-pie-Hut zu holen. Eine kleine zusätzliche Notiz zu den John Brinkley und seinen Ziegendrüsen, die sogar die Filmindustrie beeinflussten: „goat gland“ ist auch die Bezeichnung für Filme aus den Jahren 1927 bis 1929, die als Stummfilme gedreht wurden, und in denen nach Fertigstellung noch Tonpassagen eingefügt wurden (ein Beispiel wäre etwa Hitchcocks Tonversion von BLACKMAIL).
Ein wie ich finde sehr typischer, poetischer Keaton-Moment folgt in der Interaktion Busters mit „seinem“ Pferd. Das Tier verhält sich im Allgemeinen recht schwierig, und so kramt Buster ein Elektrogerät aus dem Hausrat hervor, setzt dem Pferd Kopfhörer auf, dreht die Kurbel des Fernsprechers und sagt seine Befehle in den mit den Kopfhörern verbundenen Sprachtrichter hinein: das Pferd reagiert darauf williger als auf „direkte“ Sprachbefehle.
Akrobatischer Höhepunkt von COPS ist natürlich die Leiter-Szene. Buster klettert eine lange Leiter hoch, die an einer Palisade angelehnt ist. Die Leiter ist etwa doppelt so hoch wie besagte Palisade, kippelt daher rasch von einer Seite auf die andere, bis sie irgendwann im Gleichgewicht balanciert, als sich ein Polizist gegenüber Buster an sie ranhängt. Von beiden Seiten eilen Polizisten heran, die mit der Leiter ein „Tau-Ziehen“ um Buster veranstalten, der nach Gleichgewicht suchend sogar Rückwärtsrollen machen muss. Schließlich wird er weggeschleudert – und landet natürlich auf direkt auf den von Joe Roberts dargestellten Polizisten.


Dies war nun die letzte Filmbesprechung bei „Whoknows Presents“ in diesem Jahr. Anfang Januar folgt mein persönlicher Rückblick auf das Filmjahr 2014. Und 2015 kommen dann neue Besprechungen von Manfred und mir.

Doch bis dahin wünsche ich all unseren Lesern frohe Weihnachten...


...und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Montag, 3. November 2014

Der deutsche Expressionismus geht nach Hollywood

THE CAT AND THE CANARY („Spuk im Schloss“)
USA 1927
Regie: Paul Leni
Darsteller: Laura La Plante (Annabelle West), Creighton Hale (Paul Jones), Flora Finch (Tante Susan), Tully Marshall (der Anwalt Roger Crosby), Martha Mattox (Mammy Pleasant, die gruselige Haushälterin), Forrest Stanley (Charles Wilder)

Cyrus West ist alt, reich und exzentrisch – und vielleicht etwas verrückt? Jedenfalls hinterlegt er ein Testament, das erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden soll. Als diese Zeit verstrichen ist, versammeln sich die potentiellen Erben im großen Landhaus des Verstorbenen: die Neffen Harry Blythe, Charles Wilder und Paul Jones, die Schwester Susan Sillsby mit ihrer Tochter Cecily Young, und die Nichte Annabelle West. Dort werden sie von Cyrus Wests Anwalt Roger Crosby und der gruseligen Haushälterin Mammy Pleasant empfangen. Das Testament wird verlesen, und als alleiniger Erbe des West‘schen Vermögens wird der entfernteste Verwandte mit dem Namen „West“ bestimmt – also die junge Annabelle. Diese Bestimmung gilt nur unter der Bedingung, dass die geistige Gesundheit des Erbes festgestellt werden kann. Falls der Erbe verrückt sei, falle das Vermögen an eine genannte Person in einem zweiten Testament. Klingt einfach und schlüssig? Ist es auch... bis plötzlich der Anwalt mit dem zweiten Testament auf mysteriöse Weise verschwindet... und der Wachmann einer nahegelegenen Psychiatrie von einem entflohenen Patienten berichtet, der sich für eine Katze hält und gerne Mitmenschen wie Mäuse zerfleischt... das beunruhigt alle Anwesenden, aber besonders die sensible Annabelle wird nervlich stark belastet. Daraufhin hoffen Teile ihrer Verwandtschaft glühend darauf, dass sie ob der Ereignisse verrückt werden möge.

Paul Lenis THE CAT AND THE CANARY ist die erste Filmadaption eines Theaterstücks aus dem Jahre 1922. Der Autor John Willard wollte ursprünglich auf keinen Fall die Rechte an seinem Werk einem Hollywoodstudio verleihen, da er befürchtete, dass Filmzuschauer, die das Ende kannten, keine Lust mehr auf das Theaterstück hätten. Willard gab schließlich dem Drängen des Universal-Chefs Carl Laemmle nach. Nach Lenis Verfilmung folgten noch die erste Tonfilmadaption THE CAT CREEPS (1930), dessen spanischsprachige Version LA VOLUNTAD DEL MUERTO im gleichen Jahr, das enorm erfolgreiche THE CAT AND THE CANARY von 1939 mit Bob Hope und Paulette Goddard, der schwedische Fernsehfilm KATTEN OCH KANARIEFÅGELN von 1961, und schließlich 1978 eine britische, gleichnamige Adaption mit unter anderem Honor Blackman und Edward Fox.

Stilbildend wirkte Lenis THE CAT AND THE CANARY als Vorläufer des „haunted house“-Horrorfilms: einige meist untereinander unbekannte Leute finden sich für eine Nacht in einer (vielleicht?) spukenden Villa aus meist pekuniären Gründen ein, und nach und nach verschwinden einige von ihnen. Ein Szenario, das vielleicht in HOUSE ON HAUNTED HILL von 1959 seinen besten Ausdruck fand (zumindest musste ich bei der Sichtung immer wieder an Castles Film denken). THE CAT AND THE CANARY war auch ein früher Vertreter jener Horrorfilme, für die das Universal-Studio im Laufe der nächsten Jahrzehnte geradezu ikonisch stehen würde (als erste Universal-Horrorfilme gelten DR. JEKYLL AND MR. HYDE sowie der verschollene THE WEREWOLF von jeweils 1913).

Lenis Film ist aber auch dafür bekannt, dass er der Tendenz folgte, humorvolle und komödiantische Elemente in das Horrorgenre einzubringen. Mehr als der schwarze Humor, den man bei einem solchen Stoff eigentlich erwarten würde, entsteht die Komik vor allen Dingen durch die Figur des Paul Jones: außer der Alleinerbin Annabelle ist er der einzige aus der West-Verwandtschaft, der nicht vollkommen geldfixiert ist. Der junge, etwas pummelige Mann ist vielmehr in Annabelle verliebt (dass sie wohl seine Cousine ersten Grades ist, steht auf einem anderen Blatt), und gebärt sich als äußerst nervöser und ängstlicher Mensch. Es dann vor allem die sehr exaltierte Darstellung Creighton Hales in Kombination mit teils überstrapazierten Zwischentiteln, die für Komik sorgen soll. Inwiefern dies gelungen ist, sei dahingestellt. Ich persönlich fand einige der Witze ganz lustig, viele andere eher bemüht und deplatziert..

Der Reiz von THE CAT AND THE CANARY liegt freilich auch im visuellen Bereich. Besonders beeindruckend ist Gilbert Warrentons Fotografie mit der expressiven chiaroscuro-Lichtsetzung, die meisterhaft ein „state of art“ der entfesselten Kamera präsentiert. Diese verwandelt sich in einigen Momenten regelrecht in eine Protagonistin: zu Beginn des Films irrt sie durch die langen Gänge des gruseligen Landhauses und „blickt“ nervös suchend, geradezu manisch durch die Umgebung. Das wird zwar damit erklärt, dass es sich um den Geist Wests handeln könnte, aber wir wissen, dass es in diesem Film keine richtigen Geister gibt. Daher würde ich dezidiert dafür plädieren, es als „point of view“ der Kamera zu sehen: die Kamera hat sich vom Stativ befreit, und befreit sich auch von der Verpflichtung, die Filmhandlung zu bebildern. Edgar Ulmer verwendet in einer Szene diese „autonome“ Kamera 1934 in THE BLACK CAT und bei Dario Argento wurde sie quasi zu einem Markenzeichen. Von Lenis THE CAT AND THE CANARY zum Giallo der 1970er ist es übrigens gar nicht so weit: zu Beginn legt eine unbekannte Person mit schwarzen Handschuhen einen Brief in den Cyrus Wests Safe. Ein sehr frühes Proto-Giallo-Motiv, gefilmt mit Handkamera. In Spannungs- und Terrormomenten fährt die Kamera mit hoher Geschwindigkeit frontal in Richtung der schreienden Gesichter: in einem mitteleuropäischen Genrefilm der 1960er oder 1970er Jahre wäre das wohl mittels eines Reisszooms gemacht worden. In einer weiteren denkwürdigen Szene nimmt die Kamera die Perspektive eines Portraits ein, der von der Wand herunterfällt – abgebildet ist Cyrus West. Wir sehen also die überraschte und erschrockene Erbgemeinschaft durch die Augen des Portrait-West (den „point-of-view“ eines scheinbar „beseelten“ Gemäldes nutzte später Max Ophüls auch außerhalb eines  Horrorkontexts in LA SIGNORA DI TUTTI).

Auch mit einigen recht gelungenen Spezialeffekten kann THE CAT AND THE CANARY aufwarten. Erwähnt sei hier die effektvoll eingesetzte Mehrfachbelichtung, als der alte und gebrechliche Cyrus West in einer Art Delirium durch ein Dekor überdimensionierter Medizinflaschen torkelt und dabei von riesigen Katzen gejagt wird (was der Geschichte den Titel verleiht: er fühlt sich von seinen geldgierigen Verwandten so bedrängt wie ein Kanarienvogel von einer Katze). Des weiteren spielt der Film auch an spannenden Stellen mit seinen Zwischentiteln: diese „zittern“ dann wie eine Spiegelung auf einer bewegten Wasseroberfläche (bzw. eben wie die angsterfüllten Protagonisten).

Überhaupt ist THE CAT AND THE CANARY ein extrem „filmischer“ Film. Davon, dass er eine Bühnenadaption ist, findet sich bis auf den einheitlichen Schauplatz keine Spur. Wie toll er inszeniert ist, konnte man in einigen wenigen Augenblicken auch noch 2014 in einer öffentlichen Kinovorführung merken. Ich saß also am Abend des 26. Oktobers dieses Jahres im Weimarer Lichthaus, und der rekordverdächtig gefüllte Saal erreichte bisweilen den Gelächterpegel, den man eher in einer Keaton-Vorführung erwarten würde: eine relativ große Fraktion des Publikums lachte immer wieder über das manierierte und expressive Spiel der Darsteller, und besonders laut bei Stellen, die gemeinhin als „goofs“ bezeichnet werden (Schauspieler laufen mit Kerzenleuchtern herum und schleifen leicht bemerkbar Elektrokabel am Boden hinter sich her). Als jedoch eine in der Wand versteckte Tür aufging und Roger Crosbys Leiche völlig unerwartet auftauchte und zu Boden fiel, lachte tatsächlich niemand – vielmehr ging sogar eine kollektive Schnappatmung durch den Saal. Dieser tolle filmische Schock war effizient und modern genug inszeniert, um auch jene heutigen Zuschauer zu schockieren, die mit einem recht beachtlichen Maß an Zynismus an alte Filme herangehen. Wie dieser Schock 1927 gewirkt haben muss? „Must have scared the shit out them“ würde man auf Englisch dann wohl sagen.

THE CAT AND THE CANARY gehört auch zur Geschichte des deutschen Expressionismus, der nach Hollywood geht: personell, ästhetisch – und intertextuell. Auf mindestens zwei große Klassiker des deutschen Expressionismus (also in Deutschland) spielt Lenis Film an. Zum einen taucht mitten im Chaos aus verschwundenen und ermordeten Personen scheinbar aus dem Nichts eine besonders skurrile Figur auf: es ist der Arzt, der gemäß Testament die geistige Gesundheit des designierten Erben bestätigen soll. Diese Figur, gespielt vom gebürtigen Texaner Lucien Littlefield, sieht fast genauso aus wie Werner Krauß‘ Titelfigur aus DAS CABINET DES DR. CALIGARI: eine Erscheinung, die mindestens so beunruhigend ist wie die gruselige Haushälterin – Annabelle ist bei der Untersuchung entsprechend nervös und verhält sich dann auch nicht so, dass man ihr 100%-ig geistige Gesundheit bescheinigen könnte. Einige Augenblicke vorher hatte sie sich schlafen gelegt. Doch ihre nächtliche Ruhe wurde gestört, als eine haarige Hand mit langen spitzen Fingern anfing, über ihr Gesicht zu huschen: eine schöne Hommage an die ikonische Szene in NOSFERATU, in der Graf Orloks Hand als Schatten über Ellens Körper huscht und ihr Herz (bzw. ihren Busen) ergreift. Die erotische Aufladung fehlt bei THE CAT AND THE CANARY: hier greift die Hand nach Annabelles wertvoller Halskette.

Diese Verbindung ist natürlich kein Zufall, denn mit Paul Leni folgte ein weiterer Vertreter des deutschen expressionistischen Film dem Ruf in die USA (Leni und NOSFERATU-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau drehten jeweils etwa zeitgleich ihren Hollywood-Einstand, und SUNRISE: A SONG OF TWO HUMANS hatte seine US-Premiere exakt zwei Wochen nach THE CAT AND THE CANARY). Leni, 1885 in Stuttgart geboren, war von Haus aus Maler, und kam wie viele Stummfilmkünstler vom Theater her, wo er Bühnenbilder konzipierte, zum Kino. Hier machte er sich besonders als Setdesigner einen Namen, und arbeitete mit Regisseuren wie Joe May, Ernst Lubitsch, Max Mack, Ewald André Dupont, Alexander Korda und Michael Kertész (später Michael Curtiz) zusammen. Seinen ersten Film als Regisseur drehte Leni schon 1916, doch zu besonderer Aufmerksamkeit gelangte 1923 DAS WACHSFIGURENKABINETT. Dieser Film hat nicht nur Sergei Eisenstein bei der Darstellung Ivans des Schrecklichen im Zustand des Wahnsinns inspiriert, sondern ist wohl auch der Grund dafür, dass Universal-Chef Carl Laemmle den gebürtigen Stuttgarter nach Hollywood einlud.

THE CAT AND THE CANARY lief in den USA sehr erfolgreich, und lockte auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien die Zuschauer massenhaft ins Kino. Während in der neuen Welt der Film auch von den Filmkritikern wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurde, waren die Besprechungen in der deutschen Fachpresse eher ambivalent. Willy Haas, seines Zeichens nicht nur Filmkritiker beim „Film-Kurier“, sondern auch Drehbuchautor für Murnau (DER BRENNENDE ACKER) und Georg Wilhelm Pabst (u. a. für DIE FREUDLOSE GASSE), vergiftete ein großes Lob mit ätzendem Spott:

„Interessant, spannend, direkt kriminalpsychologisch fesselnd ist für mich an dieser Sache eigentlich nur eines: wieso das feinste, ästhetisch differenzierteste, gepflegteste, bis zum Snobismus raffinierteste Talent des deutschen Films, Paul Leni, ausgerechnet mit solchem Kriminalkitsch in Hollywood debütiert; warum er sich mit einer Versessenheit, einer leidenschaftlichen, gequälten, skrupulösen Hingabe, die man jeder Einstellung, jedem Ausschnitt, jeder der unendlich originell und skurril erdachten Dekorationen, jeder der zauberhaften Licht- und Schattenwirkungen, jedem Photographietrick, jedem Möbelstück, jeder Schauspielermaske ansieht – warum er sich mit dieser unersättlichen, gierigen, maßlosen Arbeitsfuries ausgerechnet in einen solchen Kriminalkitsch hineinkniet?“ 
Es ist wohl nicht völlig abwegig, in diesem Zitat eine gewisse (wohlweislich selektive) Schmähung von Genrefilmen herauszulesen, die gerade auch in Deutschland bis heute nachwirkt. Inwiefern auch ein dezidierter Antiamerikanismus in Willy Haas‘ Aussage mitschwingt, muss unklar bleiben (Haas verbrachte in der Nazi-Ära sein Exil in der Tschechoslowakei und dann in Indien, nicht in den USA – aber das muss nichts heissen, denn die meisten Emigranten haben ihre Aufenthaltsorte natürlich eher nach pragmatischen Möglichkeiten als nach Vorlieben ausgesucht).
Was man in Deutschland über seinen US-Einstand dachte, musste Leni aber nicht weiter kümmern, denn in den Staaten drehte er weiter Filme für Universal. THE CHINESE PARROT gilt heute als verschollen und war der zweite Film um den chinesischen Detektiven Charlie Chan – eine Reihe, die überaus erfolgreich sein würde. In THE MAN WHO LAUGHS, der Verfilmung eines Romans von Victor Hugo, demonstrierte Leni wieder sein Gespür für die Kombination aus Groteskem, Horrorelementen und expressionistischer Gestaltung. Die Geschichte um einen Mann mit einer Verstümmelung, die sein Gesicht zu einem permanenten Grinsen entstellt, kam weniger gut an als THE CAT AND THE CANARY: es wurde unter anderem das „zu deutsch“ aussehende Setting bemängelt. Der Film beeinflusste später aber so unterschiedliche Regisseure wie Sergio Corbucci und Brian De Palma, und die Ikonografie seiner von Conrad Veidt gespielten Titelfigur inspirierte wahrscheinlich maßgeblich die zwölf Jahre später geschaffene Figur des Jokers. Mit THE LAST WARNING sollte 1929 an den Erfolg von THE CAT AND THE CANARY angeknüpft werden: eine ähnliche Mystery-Handlung wurde vom Landhaus in ein Theater verlegt.

Paul Leni hatte sich in nicht einmal zwei Jahren als der Horrorspezialist von Universal schlechthin etabliert. Ende der 1920er Jahre kaufte das Studio die Rechte an der Verfilmung von Bram Stokers Roman „Dracula“ bei den Erben des Autoren (und vermied so vorsorglich Copyright-Probleme, die bei NOSFERATU nach dem Dreh entstanden waren). Offenbar war wohl geplant, dass Leni die Regie übernehmen würde, und der Deutsche Conrad Veidt, der schon die Titelfigur von THE MAN WHO LAUGHS gespielt hatte, sollte den titelgebenden Blutsauger spielen. Doch der Regisseur starb im September 1929 mit gerade einmal 44 Jahren unerwartet an einer Blutvergiftung, und das „Dracula“-Projekt wurde später in anderer personeller Besetzung realisiert (mit Karl Freund an der Kamera, also ebenfalls unter maßgeblicher mitteleuropäischer Beteiligung mit expressionistischem Hintergrund). Leni verstarb mitten in einer vielversprechenden Karriere viel zu früh: ein Schicksal, das ein wenig dem Friedrich Wilhelm Murnaus ähnelt.


Zur Überlieferung von THE CAT AND THE CANARY

Das Negativ von THE CAT AND THE CANARY (bzw. die zwei Negative: eins für die US-Kopien, eins für die ausländischen Kopien) wurde in den 1930er Jahren vom Universal-Studio vernichtet: ein Schicksal, das in dieser Zeit auch viele andere Universal-Stummfilme betraf. Archiviert wurden lediglich 16mm-Kopien.
In den 2000er Jahren wurde der Film zwei Mal restauriert. Einmal 2003 durch das Filmmuseum München anhand einer unvollständigen niederländischen 35mm-Nitrokopie, deren fehlenden Teile (und die Zwischentitel) aus einer vollständigen 16mm-Kopie im Blowup-Verfahren ergänzt wurden. Das bedeutet, dass die Momente, die der 16mm-Kopie entnommen sind, in verhältnismäßig schlechterer Qualität und leicht unscharf sind (was man z. B. auch aus der 2010er-Restauration von METROPOLIS kennt). 2004 restaurierte die britische Gesellschaft Photoplay Productions THE CAT AND THE CANARY auf Basis einer unvollständigen dänischen Nitrokopie, deren fehlende Teile ebenfalls mit einer 16mm-Kopie ergänzt wurden. Diese zwei Restaurationen beruhen auf Nitrokopien, die jeweils aus einem der beiden Negative gezogen wurden. Welche Kopie welchem Negativ zugeordnet werden kann, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.
Die Photoplay-Restauration ist auf einer DVD von Kino in den USA veröffentlicht worden. THE CAT AND THE CANARY ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, so dass hier teilweise auch ziemlich ramschige Editionen, teils aus fragmentarischen 8mm-Kopien gezogen, im Umlauf sind. Es gibt auch eine spanische DVD-Edition, die den Film einmal in einer viragierten, unrestaurierten Fassung und einmal in einer restaurierten Sepiafassung enthält – beide offenbar mit unterschiedlichen Laufzeiten –, aber um welche Restauration es sich bei der Sepiafassung handelt, kann ich nicht sagen (vermutlich um die Photoplay-Version). In Frankreich gibt es seit just einigen Tagen den Film ebenfalls auf DVD: ob restauriert oder nicht, ist schwer zu sagen, aber auf jeden Fall offenbar in einer falschen und viel zu langsamen Abspielgeschwindigkeit (wohl irgendetwas bei 18 oder sogar nur 16 Bildern pro Sekunde statt den originalen 24). Eine „edizione restaurata“ gibt es in Italien zu erwerben, aber auch hier ist unklar, in welcher Fassung (auch hier wahrscheinlich die Photoplay-Version).
Alles ziemlich verwirrend und unklar, nicht wahr? Stummfilme und ihre Überlieferung sind eben oft eine komplizierte Angelegenheit. Ich meinerseits habe am 26. Oktober im Weimarer Lichthaus-Kino eine 35mm-Kopie aus dem Münchner Filmmuseum in besagter Münchener Restaurierung gesehen. Dies verdankten die Zuschauer dem Einsatz (und den guten Beziehungen) des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff, denn das Filmmuseum München leiht seine Kopien eigentlich nicht an reguläre Kinos. Siedhoff, der den direkten Vergleich mit der Photoplay-Restaurierung hat, schätzt die Münchener Fassung von THE CAT AND THE CANARY als die bildqualitativ bessere Restaurierungsversion ein. Meiner Einschätzung nach schwankte die Bildqualität irgendwo zwischen „relativ gut“ und „mittelmäßig“ (abgesehen von „geht gerade so“-Momenten bei den deutlich sichtbaren 16mm-Inserts). Kurz: andere restaurierte Stummfilme sehen (nicht zuletzt auch dank besserer Überlieferung) wesentlich klarer aus. Die Münchener Fassung hat es wahrscheinlich nicht auf DVD geschafft, sondern allerhöchstens zu einer arte-Ausstrahlung im Januar 2006.
Diese Besprechung hat keine Screenshots, weil sie im wesentlichen auf meiner Sichtung im Kino beruht. Auf die Kürze war eine DVD nicht zu besorgen (zumal ich völlig unschlüssig bin, welche Edition ich nehmen sollte). Screenshots aus Fassungen bei youtube kamen aufgrund der miserablen Bildqualität der dort vorhandenen Versionen nicht in Frage.