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Sonntag, 31. März 2013

Verbotene Visionen des Holocaust

KOMISSAR (DIE KOMMISSARIN)
UdSSR 1967 (Premiere: 1988)
Regie: Aleksandr Askol‘dov
Darsteller: Nonna Mordjukova (Klavdija Vavilova), Rolan Bykov (Efim Magazanik), Raisa Nedaškovskaja (Marija Magazanik)



Im „russischen Krisen-Kontinuum“ aus Weltkrieg, Revolutionen und Bürgerkriegen wurden zwischen 1914 und 1922 schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Juden ermordet. Antisemitische Pogrome im Russischen Reich waren wiederkehrende Ereignisse in Krisenzeiten, so etwa nach der Ermordung von Zar Alexander II. 1881 und während der Russischen Revolution von 1905. Die Gewalt im Zuge des Ersten Weltkrieges nahm jedoch andere Dimensionen an, als die Russische Armee begann, systematisch Juden unter dem Generalverdacht der Spionage aus frontnahen Gebieten zu vertreiben oder zu deportieren. 1917 brach das Russische Reich unter dem Druck des Kriegs und der revolutionären Bewegungen zusammen. Nirgendwo war dieser vollkommene Zusammenbruch, das Versinken in gewalttätigen Chaos größer als in der Ukraine, wo Dutzende von Armeen sich gegenseitig bekämpften und wo es keine Seltenheit war, wenn eine Ortschaft innerhalb von drei Jahren mehrere Dutzend Machtwechsel erlebte. Hier lebte auch der größte Teil der russländischen Juden. Mit jedem Machtwechsel erlebte die jüdische Bevölkerung eine Welle antisemitischer Gewalt: durch Weißgardisten, Soldaten der Ukrainischen Volksrepublik, aufständische Bauern, polnische Soldaten, marodierende Rotarmisten. Die Pogrome reichten in ihrem Ausmaß von Plünderungen mit vereinzelten Morden bis zu hin zu Massakern mit eindeutig genozidalen Zügen.

Die Kommissarin und die Familie Magazanik
In dieser chaotischen Umgebung spielt Aleksandr Askol‘dovs erster und einziger Spielfilm KOMISSAR. Die Haupt- und titelgebende Figur ist Klavdija Vavilova, eine Kommissarin der Roten Armee, die mit ihrer Einheit im Jahr 1919 oder 1920 in eine nicht namentlich näher gekennzeichnete Stadt in der Ukraine einrückt (wahrscheinlich das westukrainische Berdičev). Die resolute Frau in martialischer Armee-Uniform ist für ihre Härte gefürchtet, und lässt gleich am Anfang einen Deserteur hinrichten. Sie ist aber auch schwanger, und steht kurz vor der Entbindung. Dafür lässt sie sich beurlauben und taucht als Zivilistin in einer zwangsrequirierten Privatwohnung unter. Die Auswahl fällt auf das überaus bescheidene Haus (um nicht zu sagen die Bretterbude) des jüdischen Schmieds Efim Magazanik, der nun für sich, seine Ehefrau, seine sechs Kinder und seine Mutter noch ein Zimmer weniger hat. Als armer Handwerker fühlt sich Efim düpiert und ist zunächst auch in einer entsprechenden Laune. Während er zur Arbeit geht, kümmert sich seine Frau Marija um den personenreichen Haushalt – und sehr schnell auch um „Madam Vavilova“. Die unerbittliche Kämpferin um die Sache der Arbeiter und Bauern versteckt anfänglich kaum ihren Abscheu vor den Magazaniks und ihrer Armut (inwiefern sie antisemitische Ressentiments hegt, bleibt ambivalent). Doch Marija überfällt „Madam Vavilova“ regelrecht mit ihrer Fürsorge: bereitet ihr Tee zu, leiht ihr Hausschuhe aus, gibt ihr Tipps bezüglich der Schwangerschaft, klagt ihr Leid als schwer arbeitende Hausfrau, und näht der Kriegerin, die keine Zivilkleidung (mehr) hat, schließlich ein schönes Sommerkleid.

Die Kommissarin als Mutter
Ihrer Uniform beraubt verliert Klavdija auch ihr martialisches Auftreten, und muss sich langsam damit abfinden, nicht nur weiblicher, sondern vor allen Dingen auch ziviler und menschlicher aufzutreten. Diese allmähliche Verwandlung wird schließlich nach der Geburt des Kindes – für eine relativ reibungslose Entbindung hat Marija gesorgt – beschleunigt. Als ihre Rotarmisten-Kollegen erscheinen und die Nachricht überbringen, dass der Einbruch der Weißen Armee bevorsteht, wird sie vor ein schweres Dilemma gestellt. Soll sie bei den Magazaniks bleiben? Zur Armee zurückkehren? Was wird mit ihrem Kind passieren? Während sie mit der jüdischen Familie in einem Keller das Bombardement der Stadt übersteht, ereilt sie eine schreckliche Vision über die Zukunft der Magazaniks und aller Juden der Stadt. Voller Schrecken hinterlässt sie ihr Kind in Obhut der Magazaniks und kehrt resolut zu ihrer Armee-Einheit zurück, um für den internationalen Sozialismus weiter zu kämpfen.
Was sich wie eine eigentlich relativ harmlose humanistisch-realistische Erzählung anhört, brach in der Sowjetunion der 1960er gleich mehrere Tabus. Zwar sind es eher die inhaltlichen Gesichtspunkte, die zum Verbot des Films und zur Beendigung von Askol‘dovs Karriere führten. Doch es ist zunächst einmal die visuelle Kraft von KOMISSAR, seine schiere Bildgewalt, die den meisten Zuschauer als erstes auffallen dürfte: Bilder, die einen unwiderstehlichen Sog bilden und sich ins Gedächtnis einbrennen. Wie etwa bei mir selbst, der den Film noch in der Schulzeit im Fernsehen gesehen hatte: so etwa die Soldaten, die im Bach liegen und Wasser trinken – freilich aus der Perspektive einer um etwa 140 Grad gekippten Kamera.

KOMISSAR ist, besonders in der ersten Hälfte, über weite Strecken „realistisch“ fotografiert. Die neue Umgebung der Klavdija Vavilova wird in langen Plansequenzen festgehalten, wenn die Kamera durch die enge, überfüllte, gedrängte Wohnung der Magazaniks fährt, und deren Gesichter im Schlaf festhält. Oder wenn sie durch den Hof der Wohnung kreist, Efim dabei beobachtend, wie er sich auf die Arbeit vorbereitet, seinen Werkzeugkoffer packt, seine Frau verabschiedet, langsam weg schreitet. Oder wenn eine nunmehr adrette (Ex-)Kommissarin im Hof sitzt und dem fröhlichen Treiben der Familie mit einem Lächeln im Gesicht beobachtet.

Umso hervorstechender erscheinen daher im Kontrast dazu die Szenen, die das Geschehen stilisieren, verzerren, verfremden, in besonderer Weise hervorheben oder gar in Halluzinationen, Visionen und Träume verfallen. Dieser Gegensatz zwischen realistischer Milieuschilderung und traumartiger Atmosphäre löst sich in der zweiten Hälfte des Films (also nach der Geburt des Kindes) allmählich auf: ab hier beginnen Realismus und Traum manchmal fließend, manchmal abrupt ineinander überzugehen. Diese Störungen des „realistischen“ Filmflusses sind fast ausnahmslos in irgendeiner Weise mit Gewalt und Tod verbunden. Besonders hervorstechend sind drei sehr zentrale Szenen, die am Anfang, in der Mitte und am Ende des Films stehen.

Hinrichtung: statt Blut fließt verschüttete Milch
Die titelgebende Kommissarin wird, wie bereits erwähnt, als autoritäre und durchaus gewaltbereite Person eingeführt. Sie lässt bei Ankunft in die Stadt den Deserteur Emelin verhaften: ein junger Mann, der die Rote Armee verlassen hat, um zu seiner Familie zurückzukehren. Er wird in einem Schuppen eingesperrt und dann der Kommissarin vorgeführt. Sie teilt sie ihm mit, dass sie ihn dem revolutionären Tribunal übergeben wird, sprich: zum Tode verurteilen lässt. Hier folgt eine Montage der anderen Soldaten, die ihn vorwurfsvoll anblicken. Plötzlich entsteht vor Emelins geistigen Auge ein Hinrichtungskommando. Er sieht (hört aber nicht) Vavilova ein einzelnes Wort schreien, es krachen Schüsse. In extremer Zeitlupe bricht er zusammen, und verschüttet dabei den Milchkrug, den er in der Hand vorher hielt: Die Kommissarin hat den Tod gegeben. Diese Szene führt sie als gnadenlose Person ein – ihr revolutionärer Eifer ist dabei bar jeglichen Guten, Edlen und Schönen.

Visionen bei der Geburt
Die Szene der Entbindung, die den Film in zwei Hälften teilt, ist noch weiter stilisiert. Klavdija liegt bei den Magazaniks auf einem Tisch und schreit sich ob der Geburtsschmerzen die Lungen aus dem Hals. Halb verrückt vor Schmerz verfällt sie in Halluzinationen: mit ihrer Armee-Einheit steht sie in einer Wüstenlandschaft und versucht mit anderen Soldaten, einen Kanonenwagen aus dem Sand zu ziehen. Mit dabei ist ein Rotarmist mit einem Augenverband, der kurz danach alleine in der Wüste blind und verzweifelt um Hilfe schreit. Begleitet wird die Szenerie von Klavdijas Stoßatmung und einer elektronisch verfremdeten Musik. Die Kamera bewegt sich in gekippten Winkeln, schließlich auch auf dem Kopf durch die Vision. Plötzlich lassen die Soldaten die Kanone stehen und rennen wie von sinnen davon. Sie kommen an einen Bach, stürzen sich hinein und trinken. Klavdija kommt kurz wieder zu sich, als Marija ihr ein Glas Wasser zu trinken gibt. Die Symbolik dieser surrealen Szene ist an sich sehr eindeutig, doch dass das ungeborene Kind in diesem Fiebertraum von einer Kanone dargestellt wird, scheint verstörend.

Schnell verfällt Klavdija wieder in Halluzinationen. Diesmal läuft sie mit einem Mann um den Kanonenwagen herum, bevor dieser anfängt, sie leidenschaftlich zu küssen. Bedrohliche Sensenmänner in Armee-Uniform tauchen plötzlich auf und mähen imaginäres Gras in der Wüste. Für kurze Zeit wird Klavdija von Marija wieder ins Bewusstsein geohrfeigt (eine Point-Of-View-Aufnahme, in der quasi die Kamera geohrfeigt wird!), um wieder in Schmerz und Visionen zu tauchen. Eine Kavallerie reitet durch die Wüstenlandschaft, an der Spitze der Mann, der sie vorher innig geküsst hat und der wohl ihr Liebhaber und der Vater ihres Kindes ist. In vollem Galopp wird er von einer MG-Salve erfasst und bricht vom Pferd zusammen – in extremer Zeitlupe, und damit in eindeutiger Remineszenz an den hingerichteten Emelin. Nach seinem Tod reitet die Kavallerie weiter, aber nun komplett ohne Reiter, die wohl wie der Liebhaber alle getötet worden sind, bis nur noch die Pferde übrig blieben. Alle menschlichen Protagonisten der Vision sind tot. Das Kind ist nun aber geboren, aus vielen Bürgerkriegs-Toden, die alles andere als heldenhaft, sondern beängstigend sinnlos erscheinen.

Die letzte traumartige Sequenz ist ohne Zweifel die beeindruckendste Szene des ganzen Films und hat auch den längsten Vorlauf: Die Nachricht vom Anrücken der Weißen Armee hat sich bei den Juden in der Stadt ausgebreitet. Sie verbarrikadieren ihre Häuser – so auch die Magazaniks mit tatkräftiger Unterstützung Klavdijas. Derweilen spielen die Magazanik-Kinder ein ganz besonderes Spiel, zu dem sie wohl ihre Bürgerkriegs-Sozialisation inspiriert hat: Pogrom! Die Jungen verfolgen die einzige Magazanik-Tochter, nehmen ihre Puppe weg, schlagen sie, beschimpfen sie. Schließlich „töten“ sie ihre Schwester, indem sie sie an einer Schaukel festbinden und durch die Luft schaukeln – wieder kommt eine Zeitlupe in Einsatz, wie während der früheren Tötungen des Films. Efim ist erzürnt und schimpft auf seine Söhne. Alle haben nun im Keller Zuflucht gefunden. Hier beginnen der jüdische Handwerker und die russische Kommissarin, sich über die Zukunft, den Sozialismus und die antisemitische Pogromgewalt zu unterhalten. Efims Traum des sozialistischen Fortschritts besteht darin, dass eines Tages die Straßenbahn durch seine Stadt fahren könnte. Und doch sagt er mit Bestimmtheit, dass niemals eine Bahn in seiner Heimatstadt gebaut wird – es würde bald keine Menschen mehr hier leben, um sie zu benutzen. Erschüttert beschreibt er, wie sein Bruder von einem Pogromtäter mithilfe einer Friseurschere enthauptet wurde und stellt desillusioniert fest, dass sich niemand daran erinnern wird, wenn Efim Magazanik gewaltsam stirbt. Klavdija hingegen meint, dass das Schießpulver die Menschen bösartig werden lasse, man aber weiterhin für die Internationale kämpfen und auch bereit sein müsse, für sie zu sterben. „Und wann sollen wir leben?“, fragt Efim. Die kleine Magazanik-Tochter fragt „Tante Klavdija“, wo denn ihr Mann sei. „Er ist gefallen, im Kampf“, antwortet die Kommissarin müde. Die Bombardierung der Stadt nimmt an Intensität zu und die Kinder beginnen zu weinen.

Hier fängt Efim an, zu singen und zu tanzen, um seine Familie zu beruhigen. Ostjüdisch gefärbte Musik setzt ein, und alle Magazaniks beginnen in der wohl wunderschönsten, rührendsten und surrealsten Szenen des Films (und von mir aus auch der ganzen Filmgeschichte), im Kreis zu tanzen. Die Intensität des Reigens und der Musik nimmt zu, letztere wird zunehmend elektronisch verfremdet. Es folgt ein harter Schnitt. In nunmehr sepia-gefärbten Bildern marschiert ein große Gruppe Juden, darunter die Magazaniks, mit einem David-Stern an Brust, Arm oder Rücken gekennzeichnet, durch ein Tor in einen Hof, wo sich andere Juden in gestreifter Häftlings-Kleidung befinden. Schwarzer Rauch, der aus einem steinernen Turm steigt, kündet von ihrem kommenden Schicksal. Auch Klavdija steht da, ihr Kind auf dem Arm, und beobachtet das ganze fassungslos. Verstört blickt sie in die Kamera, bevor ihre Vision beendet wird.


Diese etwa zweiminütige Sepia-Sequenz ist das Herz des Films. Hier wird deutlich, dass es KOMISSAR nicht nur um die antisemitische Gewalt im Russischen Bürgerkrieg geht, sondern ganz explizit auch um den Holocaust, der knapp zwanzig Jahre später die jüdische Bevölkerung in der Ukraine und dem restlichen Osteuropa fast vollständig vernichten sollte. Eindeutig zieht Askol‘dov eine Verbindungslinie zwischen den Pogromen des Bürgerkriegs und dem Genozid. Die literarische Vorlage des Films, Vasilij Grossmans Kurzgeschichte „Komissar“ von 1934, wird hier – natürlich mit dem Wissen um den Völkermord – um eine ganz eigene Komponente erweitert und umgedeutet. 

Die Thematisierung des Holocaust grenzte in der Sowjetunion an ein Tabu. Die Bemühungen jüdisch-sowjetischer Künstler, mit dem „Schwarzbuch“ den Massenmord an den europäischen Juden in der sowjetischen Öffentlichkeit bekannt zu machen, scheiterten rasch an der Intervention des Staates, dem der Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg einen gewissen Schub an Legitimation gegeben hatte. Ein an Opfern orientiertes Narrativ über ethnische Massenmorde, an denen zudem manch ein nicht-jüdischer Sowjetbürger teilgenommen hatte, passte nicht in eine Geschichte der siegreichen Sowjetunion. Das „Jüdische Antifaschistische Komitee“, das die Dokumente zum „Schwarzbuch“ zusammengetragen hatte, wurde 1948 aufgelöst. Die Ermordung dessen Vorsitzenden, des Theaterregisseurs Solomon Michoėls, wurde auf makabre Weise als Autounfall getarnt. Die antisemitischen Kampagnen der frühen 1950er wurden zwar durch Stalins Tod abgebrochen, doch der Bann war gebrochen: der Sowjetstaat, der in den 1920er und 1930er Jahren zahlreichen jüdischen Bürgern Aufstiegsmöglichkeiten geboten und Antisemitismus vehement bekämpft hatte, wurde ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend gleichgültiger und passiver gegenüber dem Judenhass.

Aleksandr Askol‘dovs überaus positive Darstellung jüdischer Figuren, denen er sehr offensichtlich große Sympathie entgegenbringt, und die Thematisierung antisemitischer Gewalt waren wohl die Hauptgründe, weshalb KOMISSAR verboten wurde. Dies geschah zudem 1967: einem Jahr, in dem der 50. Jahrestag der Oktoberrevolution glorreich gefeiert werden sollte und in dem der Sechstagekrieg antisemitische Ressentiments in der Sowjetunion noch festigte. Die Liberalisierung der sowjetischen Kulturpolitik, die Ende der 1950er Jahre begonnen hatte und durchaus Grenzen hatte, neigte sich zudem langsam dem Ende zu.

Doch auch in vielen anderen Bereichen war KOMISSAR ein Film, der in der Sowjetunion geradezu anecken musste. Der Bürgerkrieg erscheint hier nicht als ein glorreicher Kampf des Sozialismus gegen die Auswüchse des Alten Regimes, sondern als fast apokalyptischer Wirbelwind der gewaltsamen Zerstörung, der nur menschenleere, zerstörte Städte und verwirrte, gar traumatisierte Menschen zurücklässt. Die kampfmüde Hauptfigur bricht als als Soldat praktisch zusammen unter der Sehnsucht, ein normales und ziviles (Familien-)Leben führen zu können. Immer wieder deutet Efim an, dass er als Handwerker keinen Unterschied zwischen den wechselnden Herren der Stadt sieht: womit er nicht nur den latenten Antisemitismus in den niedrigen Rängen der Roten Armee anspricht, sondern auch die Dysfunktionalität und Misswirtschaft der sowjetischen Verwaltung, angesichts derer sozialistische Parolen wie leere Hülsen wirken mussten. Zudem strotzt der Film nur so von christlicher und jüdischer religiöser Symbolik: wenn immer wieder Kirchen und Synagogen im Stadtbild gezeigt werden, wenn Efim seiner Ehefrau die Füße wäscht, wenn Klavdija ihr Kind zu einer zerstörten Synagoge trägt, um dort eine Art Segnung zu empfangen. Überhaupt die Symbolik, die Chiffren, die Andeutungen, die Assoziationen, die Allegorien: überfüllt ist der Film damit, und sie haben größtenteils nicht die Funktionen von Antworten, also von festgelegten Deutungen, sondern eher von Fragen – somit ein ungewöhnliches Werk in einem Regime, das eher eine Antwort- als eine Frage-Kultur hatte.

Ein anderer Film der 1960er Jahre aus dem staatssozialistischen Osteuropa, der sich mit dem Holocaust befasste (und hier auf diesem Blog bereits besprochen wurde), könnte einem assoziativ als komplementäres Gegenstück zu KOMISSAR einfallen: Juraj Herz‘ SPALOVAČ MRTVOL (Der Leichenverbrenner). Im Gegensatz zu Askol‘dovs Film, wo die Täter der antisemitischen Gewalt überhaupt nicht zu sehen sind, stellt Herz diese ganz bewusst in den Mittelpunkt. Auch ist die surreale Verfremdung hier wesentlich ausgeprägter und konstanter. Doch in ihren elliptisch-assoziativen Bildern lassen sich doch Gemeinsamkeiten in den beiden Filmen finden.

Freilich hat Aleksandr Askol‘dov für sein Werk sehr viel schwerer gebüßt als sein tschechoslowakischer Kollege. Nicht nur wurde sein Diplomfilm verboten. Askol‘dov wurde auch aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, mit einem lebendslangen Verbot belegt, weitere Spielfilme zu drehen und schließlich die Provinz verbannt. Erst 21 Jahre später wurde KOMISSAR aus dem Giftschrank geholt und erlebte seine Weltpremiere beim Internationalen Filmfestival Berlin, wo er einen „Silbernen Bären“ gewann. Während seiner Verbannung in Tatarstan drehte Askol‘dov zwar einige kurze Dokumentarfilme über eine LKW-Fabrik, doch KOMISSAR ist und bleibt der einige Spielfilm des heute 80-Jährigen.




Die Screenshots lassen es vielleicht erahnen, aber die deutsch-russische Ruscico-Edition des Films ist alles andere als ideal: das Bild ist etwas unklar, wenig kontrastreich und läuft mit überaus unangenehmen Nachzieheffekten. Das Prädikat „restaurierte Fassung“ auf der Hülle erscheint da ein bisschen wie ein Hohn. Als Alternative gäbe es eine UK-Fassung von Artificial Eye, die zudem auch noch über zahlreiche Extras verfügt, über deren Bildqualität ich jedoch keine konkrete Aussage treffen kann (außer, dass sie nicht schlechter sein kann). In Frankreich und Italien ist der Film Anfang dieses Jahres erstmals veröffentlicht worden, wobei die französische Edition nur französische Untertitel hat und die italienische allen Anschein nach nur in einer Synchronfassung vorliegt.

Freitag, 27. April 2012

Bilderflut aus den Karpaten

FEUERPFERDE (DDR-Titel SCHATTEN VERGESSENER AHNEN, original (ukrainisch) TINI ZABUTYCH PREDKIW, russisch TENI ZABYTYCH PREDKOW)
UdSSR (Ukraine) 1964
Regie: Sergej Paradschanow
Darsteller: Iwan Mikolaitschuk (Iwan), Larissa Kadotschnikowa (Maritschka), Tatjana Bestajewa (Palagna), Spartak Bagaschwili (Jurko), Nina Alisowa (Iwans Mutter)


FEUERPFERDE, der erste Film, in dem sich Sergej Paradschanow künstlerisch voll verwirklichen konnte, ist von fast unfassbarer Schönheit. Paradschanow findet erlesene Bildmotive ohne Ende, die meist in leuchtenden Farben präsentiert werden. In Verbindung mit der ungemein beweglichen Kamera ergibt sich ein visueller Rausch, der unablässig auf den Zuschauer einwirkt. Man kommt manchmal nicht mehr dazu, die Untertitel zu lesen, weil man ständig von den Bildern überwältigt wird.


Die Handlung ist - zum Glück, könnte man fast sagen - nicht besonders kompliziert. Sie spielt bei den Huzulen, einem Volk von halbnomadischen Schafzüchtern in den nördlichen Karpaten, und ist in einer unbestimmten vormodernen Vergangenheit (die bei den abgeschieden lebenden Huzulen bis ins späte 19. Jh. andauerte) angesiedelt, in der noch Mythen, Legenden und Aberglaube ins Alltagsleben hineinwirkten. Neben den Bildern trägt auch der Soundtrack, der sich teilweise aus huzulischer Volksmusik speist, zur Schönheit des Films bei. So gibt es archaisch-dissonant wirkende Klänge der Trembita, eines entfernt mit dem Alphorn verwandten Blasinstruments, und fremdartig-schönen Frauengesang, der an "Le Mystère des Voix Bulgares" erinnert.


Es handelt sich um eine Verfilmung der Erzählung "Schatten vergessener Ahnen" (1912) des ukrainischen Schriftstellers Michailo Kozjubinskij (1864-1913), der sich dabei seinerseits bei huzulischen Märchen und Legenden bedient hatte. Der erste Teil des Films ist eine Art "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Am Anfang sind die späteren Liebenden, Maritschka und Iwan (von ihr "Iwanko" genannt), noch Kinder. Maritschkas Vater erschlägt Iwans Vater im Streit, nachdem dieser ihn ausgerechnet beim Gottesdienst in der Kirche provoziert hatte. Trotz der Bluttat befreunden sich die Kinder. Die Jahre vergehen, und aus den Freunden wird ein Liebespaar. Aber Iwans Mutter hat für die Tochter der verfeindeten Familie nur Hass übrig. Iwan, der als einziger von vielen Geschwistern noch lebt, muss für seine verwitwete Mutter sorgen und hat nicht genug Geld, um Maritschka heiraten zu können. Um doch noch genug zu verdienen, um einen eigenen Hausstand gründen und die Geliebte heiraten zu können, verdingt sich Iwan als Schäfer auf einer weit entfernten Weide. Doch die große Liebe endet tragisch. Während seiner Abwesenheit stürzt Maritschka beim Versuch, ein entlaufenes Lamm aus einer Felswand zu retten, in einen reißenden Wildbach und ertrinkt. Iwan ist am Boden zerstört und versinkt in Apathie.


Die zweite Hälfte des Films verfolgt Iwans weiteren Weg. Nach Jahren der Verwahrlosung und des ziellosen Umherschweifens (der Film ist hier für einige Minuten schwarzweiß, um seine Verfassung widerzuspiegeln) findet er langsam ins Leben zurück. Er heiratet die wohlhabende und gut aussehende Palagna, doch die Ehe steht unter keinem guten Stern. Sie bleibt kinderlos, und Iwan kann Maritschka nicht vergessen, was schließlich auch Palagna nicht verborgen bleibt. Um ihn trotzdem an sich zu binden, will sie mit Hilfe von Magie für Nachwuchs sorgen, doch das geht nach hinten los. Palagna verfällt dem mächtigen Zauberer Jurko, der sogar Stürme bändigen kann, und wird seine Geliebte. Schließlich planen die beiden sogar, Iwan mit Hilfe schwarzer Magie loszuwerden. In einer Dorfschänke kommt es zu einem Kampf der Rivalen, und Jurko verletzt Iwan mit einem Beilhieb am Kopf. Halb besinnungslos torkelt Iwan in einen Wald, wo ihm Maritschka erscheint. Ein Geist, oder nur eine Halluzination? Paradschanow lässt die Unterschiede verschwimmen. Als ihn Maritschkas Erscheinung schließlich berührt, stirbt Iwan. Den Schluss des Films bildet Iwans Totenfeier, die nahtlos in ein bacchantisches Fest übergeht, das von staunenden Kindern durch ein Fenster beobachtet wird.


Es ist tragisch, dass es in Paradschanows Biographie eine Lücke von 15 Jahren gibt, in denen er keinen Film drehen durfte. Sergej Paradschanow wurde als Kind armenischer Eltern (sein Geburtsname war Sarkis Paradschanian) in Tiflis geboren, wo er aufwuchs und zunächst studierte. Dann ging er nach Moskau an die staatliche Filmhochschule, wo Alexander Dowschenko, der Altmeister des ukrainischen Films, zu seinen Lehrern zählte. Nach seinem Abschluss 1951 ging Paradschanow auf Dowschenkos Anraten zu den nach ihm benannten Filmstudios in Kiew. Dort drehte Paradschanow eine Reihe von Dokumentar-, Kurz- und Spielfilmen, die er später alle als wertlos bezeichnete. Die stalinistische Doktrin des Sozialistischen Realismus wurde seit der Tauwetterperiode (nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956) nicht mehr durchgesetzt, schwebte als Ideal aber immer noch über dem sowjetischen Film, und Paradschanow konnte oder wollte sich nicht komplett davon lösen. Umso radikaler tat er es dann mit FEUERPFERDE. Dass ein völlig anderer sowjetischer Film möglich war, hatte ihm vor allem Andrej Tarkowskijs erster Spielfilm IWANS KINDHEIT gezeigt. Paradschanow und Tarkowskij wurden bald enge Freunde und blieben es bis zu Tarkowskijs Tod 1986.


Auch FEUERPFERDE wurde von den Kiewer Dowschenko-Studios produziert. Dass das überhaupt möglich war, lag vor allem am ukrainischen Parteichef Petro Schelest, der ein starker Förderer der kulturellen und in gewissem Ausmaß auch der politischen Autonomie der Ukraine war, und der selbst ukrainischen Dissidenten erstaunlichen Spielraum gewährte. Es ist auch nicht richtig, dass Paradschanow wegen FEUERPFERDE unmittelbar in Schwierigkeiten kam, wie manchmal behauptet wird. Ein Teil der kommunistischen Kulturbürokratie war sicher irritiert, aber ein erstaunlich großer Teil der sowjetischen Kritiker feierte den Film, und selbst ein staatliches Gremium wie der ukrainische Zweig von Goskino belobigte FEUERPFERDE und sorgte dafür, dass er auch außerhalb der Ukraine nicht russisch übersprochen, sondern in der ukrainischen Originalfassung in die Kinos kam, was durchaus als Privileg zu verstehen war. Ein Privileg war es auch, dass FEUERPFERDE im westlichen Ausland auf Festivals gezeigt wurde, wo er über ein Dutzend Preise gewann (jedoch keinen BAFTA Award, wie in der IMDb und der deutschen Wikipedia fälschlich behauptet wird).


Bald begannen dann jedoch Paradschanows Probleme. Nach Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 stieg zwar Schelest in der Parteihierarchie weiter auf, aber insgesamt wurde das innen- und kulturpolitische Klima der UdSSR rauer. Paradschanow sprach seine Ablehnung des Sowjetsystems offen aus, unterzeichnete Petitionen für inhaftierte Dissidenten etc. und bekam die Folgen zu spüren. Er wurde wegen "ukrainischem Nationalismus" verhaftet (was bei einem armenisch-georgischen Regisseur durchaus bemerkenswert war), aber bald wieder freigelassen. 1966 übersiedelte er von Kiew nach Jerewan in Armenien. Nach FEUERPFERDE wurden sowohl in der Ukraine wie in Armenien vier Jahre lang alle seine eingereichten Drehbücher abgelehnt, abgesehen von einem kurzen Dokumentarfilm 1967. Dann durfte er 1968 in Armenien wieder einen Spielfilm drehen, der um Sayat Nova, einen armenischen Dichter, Troubadour und Mönch des 18. Jahrhunderts, kreist, und der sich einer stringenten Handlung verweigert und stattdessen Tableaus von atemberaubender Schönheit präsentiert. Doch der vorgesehene Titel SAYAT NOVA musste in ZWET GRANATA (DIE FARBE DES GRANATAPFELS) geändert werden, und unmittelbar nach der Fertigstellung wurde der Film verboten. 1971 wurde dann eine von Sergej Jutkewitsch entschärfte und verstümmelte Fassung des Films in die sowjetischen Kinos gebracht. 1980 wurde eine weiter korrumpierte Kopie der Jutkewitsch-Fassung in den Westen geschmuggelt und sorgte dort trotz ihrer Mängel für Aufsehen.


Nach DIE FARBE DES GRANATAPFELS wurden wiederum alle Drehbuchentwürfe abgelehnt, und Ende 1973 wurde Paradschanow verhaftet und angeklagt. Die Anklage war ein wildes Gebräu, das Homosexualität, eine angebliche Vergewaltigung, Verbreitung von Pornographie, illegalen Handel mit Ikonen und weiteres umfasste. Richtig daran war nur, das Paradschanow bisexuell war, die anderen Punkte waren an den Haaren herbeigezogen oder frei erfunden. Paradschanow wurde zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt und in verschiedenen Straflagern in Sibirien untergebracht, meist unter Schwerkriminellen und in unwürdigen Bedingungen. Seine Freunde Tarkowskij und Michail Wartanow protestierten öffentlich, und es gab auch internationale Proteste, vor allem von französischen und italienischen Künstlern und Intellektuellen. Aber erst nach vier Jahren wurde Paradschanow freigelassen. Angeblich gab ein persönliches Treffen von Louis Aragon und dessen russischer Frau mit Leonid Breschnew den Ausschlag.


Paradschanow lebte jetzt in Tiflis und durfte weiter keine Filme drehen. 1982 wurde er erneut verhaftet und angeklagt, nach einem Dreivierteljahr im Gefängnis aber freigesprochen. Und 1984, kurz vor Beginn der Ära Gorbatschow, erhielt er endlich wieder eine Drehgenehmigung. Mit dem in Georgien gedrehten DIE LEGENDE DER FESTUNG SURAM (1985) und dem in Aserbaidschan entstandenen KERIB, DER SPIELMANN (1988) griff Paradschanow seinen Stil der 60er Jahre wieder auf (der bei beiden Filmen als Co-Regisseur genannte Schauspieler Dodo Abaschidse ist nur aus formalen Gründen aufgeführt, in Wirklichkeit hat Paradschanow allein inszeniert) und erneuerte auch seinen bereits in den 60er Jahren errungenen internationalen Ruf. Beide Filme gewannen diverse Preise, und Paradschanow reiste auch in den Westen, so 1988 zum Münchner Filmfest, wo er Ehrengast war und eine Retrospektive seiner Filme gezeigt wurde. Ein weiterer begonnener Film, der autobiographische Elemente enthalten sollte, blieb durch Paradschanows Tod unvollendet. Er starb 1990 in Tiflis an Krebs, und er hinterließ große Fußstapfen, die kaum jemand ausfüllen konnte. "Wer versucht, mich zu kopieren, ist verloren", soll er einmal gesagt haben.


FEUERPFERDE ist in Russland bei RUSCICO und in England bei Artificial Eye (engl. SHADOWS OF FORGOTTEN ANCESTORS) auf DVD erschienen. Eine deutsche Lizenzausgabe der RUSCICO-Scheibe scheint derzeit nicht mehr erhältlich zu sein. - Selten habe ich mich mit dem Aussortieren der Screenshots so schwer getan wie hier, deshalb muss ich jetzt einfach noch ein paar bringen. Zum Vergrößern draufklicken.