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Montag, 14. November 2011

Ausgleichende Gerechtigkeit

Tod eines Keilers (Alternativtitel: Der Keiler)
(Tod eines Keilers, Schweiz/Deutschland 2006)

Regie: Urs Egger
Darsteller: Joachim Król, Friedrich von Thun, Lale Yavas, Stefan Kurt, Hans-Michael Rehberg, Hanspeter Müller, Martin Rapold, Michael Finger, María Casal, Charlotte Schwab, Robert Hunger-Bühler u.a.

Gottfried Binder ist ein freundlich-kollegialer, seit dem frühen Tod seiner Frau aber auch zurückgezogen lebender Mann, der seit 25 Jahren als Präparator in der Pathologie der Zürcher Universitätsklinik arbeitet. Als er erfährt, dass er Lungenkrebs hat und nur noch wenige Monate leben wird, empfindet er dies als himmelschreiende Ungerechtigkeit, rührte er doch in seinem ganzen Leben nie eine Zigarette an, während sein Vorgesetzter Dr. Götze, ein zynisches Ekel (“Dass die Leute immer am Wochenende sterben müssen!”), alle verachtend und von allen gehasst, sich eine Zigarette nach der anderen anzündet, seinen Qualm genussvoll verbreitet, aber munter sein Programm als Jogger absolviert und Boshaftigkeiten verbreiten darf.

Der philosophische Kneipenwirt Conny macht Binder zwar auf die Natur aufmerksam, die keine Gerechtigkeit kennt, sondern sich einfach jemanden holt, damit ihr Gleichgewicht gewahrt bleibt; doch erst das “Sie dürfen nicht aufgeben!” der  jungen Doktorandin Pat Wyss erinnert ihn nicht nur daran, dass das wichtigste Kriterium in einer solchen Situation noch immer der Mensch ist - sondern lässt ihn auch an einen Keiler zurückdenken, den er vor vielen Jahren auf der Jagd erlegte, der aber noch im Sterben weiterkämpfte, nicht aufgab, auf ihn zu rannte und ihm das Knie zerschmetterte. - Und Binder fragt sich, ob es nicht an ihm liegen könnte, wie einst der Keiler für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen, indem er  Götze, der sein “Todesurteil” unterschrieb und sich nun während der Arbeit noch über sein baldiges  Ableben lustig macht (“Schliesslich wissen wir beide, dass Sie einer der Nächsten sind, der hier auf dem Tisch liegen wird”), ins Jenseits befördere. Denn im Grunde genommen möchten alle den Drecksack loswerden: Binders Nachfolger Zimmerli sagt, er könnte ihn erwürgen, und sogar Götzes plötzlich auffällig senil gewordener Chef Professor Charlie Bernbeck schreit nach einer unverschämten Forderung im Treppenhaus, er würde den Kerl am liebsten umbringen. - Wie aber würde es der unter Blackouts leidende Professor wohl tun? Vielleicht mit Blasrohr und Giftpfeil, Bestandteile seiner berühmten Waffensammlung, die sich in seinem stets unverschlossenen Büro befindet?


Bald einmal muss Gottfried Binder feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, einen Menschen zu töten. Er erkennt auch, dass das Eingreifen in das Gefüge der Natur, das eigenwillige Verändern des Schicksals, zwar nicht gerade einen Butterfly-Effect auszulösen vermag, aber tief in der Vergangenheit begrabene Dinge unheilvoll an die Oberfläche zerrt. Und dann ist ihm noch ein Kommissar auf den Fersen, von dem man munkelt, er warte auf Kontakt mit dem Jenseits. Wird dieser Kommissar dem Keiler Binder einen Strich durch die Rechnung machen? Oder sorgt ein schöner Engel dafür, dass er sich seinen letzten Traum erfüllen kann: eine Reise nach Afrika, wo er den Kilimandscharo besteigen und nachher sein Grab finden will?

“Tod eines Keilers” ist die Verfilmung eines Kriminalromans des Schweizer Autors Felix Mettler, der ein grosser Erfolg war und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Möglicherweise rechnete Mettler in seinem Erstlingswerk ein wenig mit einigen arroganten “Göttern in Weiss” ab, hatte er doch selber mehrere Jahre am Institut  für Veterinär-Pathologie an der Universität Zürich gearbeitet. Der Roman “Der Keiler” steht jedoch auch in jener berühmten Schweizer Tradition des Kriminalromans, die nicht in erster Linie mit “Whodunit”-Geschichten daherkommt, sondern in die Tiefe der Figuren eindringt, sich um Authentizität bemüht und  wie hier gelegentlich sogar  philosophischen Fragen nachgeht. Friedrich Glauser (“Wachtmeister Studer”, “Matto regiert”, beide mehrfach verfilmt) und Friedrich Dürrenmatt (“Der Richter und sein Henker”, “Das Versprechen”) seien als wichtigste Vertreter dieser Tradition genannt. Ihre Romane zeichnen sich durch einfache, aber das Wesentliche erfassende Sätze aus, und es geht ihnen neben der eigentlichen Ermittlung vor allem darum, in den üblichen Krimis vernachlässigte Aspekte aufzuarbeiten, vielleicht sogar dem gewohnten Krimi ein Ende zu setzen (Dürrenmatt bezeichnete “Das Versprechen” bekanntlich als “Requiem auf den Kriminalroman”). Es ist eine heute erfolgreiche Art, Kriminalgeschichten zu erzählen, weil sie die Figuren als Menschen erfasst, nicht einfach stereotyp auf mögliche Opfer und Täter reduziert. Sie veranlasst den Leser gelegentlich sogar dazu, sich mit dem - oft schon von Anfang an bekannten - “Täter” zu identifizieren, weil er die sympathischste Figur im Gefüge der erzählten Welt ist, der, wie zum Beispiel in “Der Keiler”, einen Tyrannenmord begeht, nicht nur aus Rache, sondern auch, weil er Gerechtigkeit herstellen will und gegen den Tod ankämpft. Man fiebert förmlich mit Gottfried Binder (im Roman heisst er Gottfried Sonder) mit.

Urs Egger, berühmt für den ersten und wohl raffiniertesten Schweizer Tatort “Howalds Fall” (1989) oder den bereits zusammen mit Nils-Morten Osburg als Drehbuchautor realisierten “Die Rückkehr des Tanzlehrers” (2003), bemühte sich bereits 1990 um die Rechte an Mettlers Roman, als er in Druck ging. Es scheint, als habe er das Potential dieses oft schwarzhumorigen, ja zynischen Stoffs - die Geschichte gipfelt in einer beinahe Dürrenmattsche Ausmasse annehmenden Szene, in der zwei alte Männer sich gegenseitig hinterhältig umbringen wollen - augenblicklich erkannt, auch geahnt, welche Möglichkeiten die stillen, gelegentlich tieftraurigen Momente, die den spannenden Thriller begleiten, einem wirklich guten Darsteller böten. - Dass die Verfilmung erst rund fünfzehn Jahre später zustande kam, hatte damit zu tun, dass die Rechte bereits vergeben waren. Und das nicht ganz an Eggers gewohnte Qualität (er machte sich immerhin mit dem nicht unbedeutenden Schweizer Spielfilm “Kinder der Landstrasse”, 1992, oder dem höchst erfolgreichen Zweiteiler “Opernball”, 1998, einen Namen) anknüpfende Ergebnis dürfte dem Schweizer Fernsehen zu verdanken sein, das den Film zwar zusammen mit dem ZDF produzierte, aber berühmt ist für seine Knausrigkeit am falschen Ort (man fand anschliessend seltsamerweise durchaus das Geld für eine zusätzliche lächerlich wirkende schweizerdeutsche Synchronisation des ursprünglich in Deutsch gedrehten Films). - Gewisse Schwächen machen sich vor allem in den etwas einfallslosen Szenenwechseln bemerkbar, und obwohl man wirklich nicht behaupten kann, “Tod eines Keilers” betreibe Werbung für Zürich (es regnet beinahe während des ganzen Films, was die grauen Häuserwände noch unwirtlicher erscheinen lässt), hielt man es dennoch für nötig, mehrmals mit einer Supertotalen, die die Mündung der Limmat in den Zürichsee zeigt, daran zu erinnern, dass sich der Zuschauer in der Möchtegern-Weltstadt der Schweiz befindet. - Immerhin knüpfen die oft eingeblendeten blau-weissen Trams (= Strassenbahnen) an die konsequent durchgehaltene blau-weisse Atmosphäre in der kühlen Klinik an.


Dass “Tod eines Keilers” trotz der erwähnten Schwächen zu einem sehenswerten Ereignis wurde, ist neben der mit überraschenden Wendungen aufwartenden Geschichte vor allem den hervorragenden Darstellern zu verdanken. Friedrich von Thun sorgt als scheinbar an Demenz leidender Professor für Lacher, die einem gelegentlich im wahrsten Sinne des Wortes im Hals stecken bleiben (wenn er etwa auf Binders Erklärung “Ich hatte Krebs” mit einem abwesenden “Aber sonst - geht es Ihnen gut?” reagiert), oft aber auch herrlich sind (etwa die vom Brüllen der Studenten begleitete Ankündigung seiner Vorlesung “Über den Kreislauf der Geschichte” - was eigentlich ein spannendes Thema für eine Vorlesung wäre!). Hanspeter Müller spielt einen seltsam von Ahnungen erfüllten Ermittler, und Robert Hunger-Bühler ist als philosophierender Kneipenwirt schlicht ein Erlebnis.  Neben Hans-Michael Rehberg ist es natürlich vor allem der begnadete, lange Zeit in etwas seichten Blockbustern eingesetzte Joachim Król, dem es mit seinem differenziert-minimalistischen Spiel gelingt, zu einer sanften Annäherung an den todkranken Mann zu finden, der in das Gefüge der Natur eindringt und den Lauf der Dinge verändert. Die Rolle des Gottfried Binder ist wie gemacht für ihn: Seine Stille wirkt in diesem Film natürlich, glaubhaft. Unnötige Gesten fehlen, und man bemerkt rasch, dass man es bei Binder mit einem Mann zu tun hat, der üblicherweise eher durch seine Gefühle als mit Worten und Taten wirkt. - Król selber schrieb denn auch: “Gottfried Binder hat mich fasziniert, weil er ein Mensch ist, der sich in einer aussergewöhnlichen Lebenssituation befindet. Er hat nicht mehr lange zu leben, und genau das führt bei ihm dazu, dass er ein sehr eigenes Empfinden für Gerechtigkeit entwickelt. ... Sein Verbrechen ist natürlich untragbar. Dass ein Mensch jedoch, der so sehr unter seinen Lebensumständen zu leiden hat, schliesslich zu einer solchen Tat fähig ist und Rache übt, ist  zumindest vorstellbar. Zudem ist Gottfried Binder bereit, sich seiner Verantwortung zu stellen. Er sagt die Wahrheit, verschweigt jedoch seine Tat.” - Wenn sich Schauspieler zu der von ihnen verkörperten Figur äussern, wirkt dies oft wie der verzweifelte Versuch einer Beschreibung dessen, was sie ihr eigentlich gerne mitgegeben hätten. Das ist hier nicht nicht der Fall.

***

Die Besprechung eines Thrillers, mag er auch als ruhiger Fernsehfilm daherkommen, ist grundsätzlich eine diffizile Angelegenheit. Man möchte etwas über ihn erzählen, auch neugierig auf ihn machen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, verräterische Äusserungen zu übersehen oder ihnen nicht ausweichen zu können. Ich hoffe deshalb, es sei mir halbwegs gelungen, "Tod eines Keilers" dem Leser schmackhaft zu machen, mit passenden Teasern zu punkten, aber auch ein paar falsche Fährten zu legen.