Freitag, 13. Januar 2012

Zwangsneurotisches Oscarvehikel

Aviator
(The Aviator, USA/Deutschland 2004)

Regie: Martin Scorsese

Darsteller: Leonardo DiCaprio, Cate Blanchett, Kate Beckinsale, John C. Reilly, Alec Baldwin, Alan Alda, Ian Holm, Danny Huston, Gwen Stefani, Jude Law, Adam Scott, Matt Ross, Kelli Garner u.a.

“There’s too much Howard Hughes in Howard Hughes.” - Diese der Schauspielerin Katharine Hepburn in den Mund gelegte Bemerkung fasst vielleicht das zusammen, was die Amerikaner auf der Leinwand von ihrer Ikone zu sehen bekommen wollten: einen Mann, der vom Ehrgeiz getrieben das vergass, was einen Menschen ausmacht, der aber seine Energie in so unterschiedliche Bereiche investierte, dass er stattdessen zum Mythos avancierte und  in einer längst versunkenen Glitzerwelt den “American Dream” verkörperte - um letztlich, während ihm die Welt zu Füssen lag, von seinen Obsessionen eingeholt zu werden und innerlich zu scheitern. Die Bemerkung weist aber auch auf Probleme hin, mit denen sich ein Film, der sich mit der Figur beschäftigt, konfrontiert sieht: Wie soll er dieses “too much”  dem Zuschauer, der doch vor allem an den Erfolgen eines Amerikaners, der angeblich die Zukunft gestaltete, teilhaben will, vermitteln, ohne ihn einer banalen “Rise and Fall”-Geschichte auszusetzen? Und wie viel von diesem “too much”, das den historischen Howard Hughes ausmachte, darf er ihm tatsächlich zumuten? Soll er auch auf das Dunkle im Wesen des Tycoons zu sprechen kommen? Wobei ich mit dem Dunklen beileibe nicht dessen Zwangsneurose und ihre Auswirkungen meine...

Howard Hughes war für mich in den 70er Jahren vor allem der steinreiche Exzentriker, der seit langer Zeit versteckt in einer Hotel-Suite in Las Vegas lebte, die auf den ewig gleichen Bildern in Zeitschriften, die in Friseursalons herumlagen, von einem dicken Pfeil “attackiert“ wurde. Er hatte (warum eigentlich?) einst für Jane Russell einen speziellen Büstenhalter kreiert und den Film “Hell’s Angels” gedreht, liess aber so gut wie niemanden mehr an sich heran (seine Pionierleistungen im Bereich der Aviatik interessierte die Damen in Lockenwicklern wenig). Erst als der in einem Flugzeug verstorbene verwahrloste und nur Windeln tragende Milliardär (“mit Fingernägeln wie Krallen”) vom FBI identifiziert werden musste, begann ich mich ein wenig mehr mit ihm und seinem Leben zu beschäftigen. Und wieder einmal bestätigte sich mein boshaftes Vorurteil, dass steinreiche Männer keineswegs in erster Linie die grossen und vielleicht wegen ihrer “Leiden” zu bedauernden Figuren sind, als die sie gerne in die Geschichte eingingen:  Der seiner Zwangsneurose ausgesetzte Hughes war seit jeher auch ein hemmungsloser Rassist und Antisemit mit entsprechenden Verbindungen während des Zweiten Weltkriegs, leistete sich nicht nur Politiker in Massen, sondern unterhielt sogar  enge Verbindungen zur Mafia (der er später halb Las Vegas abkaufte). Nach dem Krieg entwickelte er einen geradezu krankhaften Wahn gegen die angeblich die USA infiltrierenden Kommunisten, weshalb er 1948 die Kontrolle über die RKO übernahm und sie von "Verdächtigen" säuberte. Über seine zweifelhafte Rolle im Watergate-Skandal wurde viel geschrieben, auch über seinen misslungenen Versuch, der CIA bei der Bergung. eines gesunkenen sowjetischen U-Boots zu helfen. Dass der böse Juan Trippe mit seiner angeblich übermächtigen Pan Am ihn und seine "kleine" TWA je an die Wand zu drücken vermochte, gehört hingeben ins Reich der Legende. - Man könnte Howard Hughes - und ich stimme hier einem hervorragenden Artikel von David Walsh in der  “World Socialist Web Site” zu - als “gangster-industrialist”, der Kontakte zu den schlimmsten Diktatoren der Welt nicht scheute, bezeichnen.

 Nun ist das Biopic in seiner amerikanischen Ausprägung seit jeher ein tendenziell reaktionäres Subgenre, dem es um die Verherrlichung seiner Hauptfigur und ihrer Leiden geht. Diese Verherrlichung nimmt es mit den geschichtlichen Abläufen (die Hepburn galt zum Beispiel noch nicht als “Kassengift”, als sie Hughes kennenlernte), auch mit der Wahrheit nicht sehr genau. Sie reduziert das Leben ihres “Sterns”, der sich von den (hier prominent besetzten) Nebenfiguren wie die Sonne von Planeten umkreisen lässt, auf seine Glanzzeit oder einen entscheidenden Wendepunkt - und bringt im besten Fall grosse Unterhaltung mit beschränkter Glaubwürdigkeit zustande. Einige der stilprägenden Biopics verdanken wir den 50er Jahren (“The Glenn Miller Story”, 1954, “Love Me Or Leave Me”, 1955, “I’ll Cry Tomorrow”, 1955 etc.). Was zu dieser Zeit verschwiegen werden musste, verschweigen interessanterweise auch die bekanntesten biographischen Schlaftabletten, die uns dieses Millenium bescherte (etwa “Ray”, 2004, “Walk the Line”, 2005): das, was dem Mythos schaden könnte.


Gerade Martin Scorsese schien freilich der Regisseur zu sein, der dieses ungeschriebene Gesetz der reinen Verherrlichung zu brechen in der Lage war, verkörperte er doch selber einen Mythos: Er galt als Mann, der die Fähigkeit besass, tief in die von ihm ins Auge gefassten Figuren und ihr Umfeld einzudringen und auf diese Weise zusätzlich die amerikanische Geschichte mit ihren Schattenseiten schonungslos aufzuarbeiten. Was das für das Biopic bedeutete, hatte er in seinem grandiosen Boxerfilm „Raging Bull“ (1980) gezeigt; und der leider gefloppte „New York, New York“ (1977) bewies, dass er seine Schwäche für den alten Hollywood-Film, der er bestimmt auch bei einer Verfilmung des Lebens von Howard Hughes würde nachgehen können, gezielt zur Beleuchtung dessen, was sich hinter all dem Glamour abspielte, einsetzen konnte. – Scorsese wartete aber auch seit den späten 70er Jahren vergeblich auf seinen Regie-Oscar, und es war vielleicht damit zu rechnen, dass er das eigentlich für Michael Mann konzipierte Spektakel als Gelegenheit betrachten würde, sich auf beeindruckende Weise – wenn auch vergeblich - an Hollywood anzubiedern. Wie schwierig das Resultat dieses Sich-Anbiederns zu beurteilen sein sollte, zeigte sich an den Reviews, die das Oscarvehikel  zum Teil brüsk ablehnten, die Schuld für sein Scheitern dem unterschätzten  Leonardo DiCaprio oder Cate Blanchett, die aus Katharine Hepburn eine Karikatur machte, in die Schuhe schoben – oder es manchmal mit bemühten Argumenten, oft aber oberflächlich doch zum Meisterwerk erhoben.


„The Aviator“ kommt tatsächlich als beinahe altmodisches Epos daher, will – und dies deuten verschiedene Kleinigkeiten wie das den Filmen der jeweiligen Epoche entsprechende Einfärben einzelner Szenen an – ein gigantischer alter Hollywood-Reigen mit überwältigenden Bildern sein. Er ist im Gegensatz zu anderen Biopics jener Jahre auch ein zumindest vorübergehend berauschendes Erlebnis: Das sich wiederholende Umfahren der mächtigen Flugzeuge wirkt, als möchte die Kamera sie – besässe sie denn Arme – umschlingen. Bachs berühmte Toccata und Fuge in d-Moll wird zur Untermalung solcher Aufnahmen bemüht. Ruhm, Ausschweifungen und Obsessionen, aber auch Hughes‘ Absturz mit der XF-11 in ein Wohngebiet von Beverly Hills werden in Bilder eingefangen, von denen man den Eindruck erhält, man würde sie für immer im Gedächtnis behalten. Für mich besonders beeindruckend: die Gestaltung des nächtlichen Telefonats mit dem „Mädchen für alles“ Noah Dietrich, nachdem Hughes seine Kleider verbrannt hatte (kleine Berichtigung: er tat dies in Wirklichkeit nicht, weil die Hepburn ihn verliess, sondern weil er von der Syphilis erfuhr, die er sich einfing und die auch ihren Anteil an seiner späteren Entwicklung gehabt haben dürfte). – Aber ist dieser Film denn mehr als eine Feier seiner selbst und des Filmemachens der alten Schule? Entfernt er sich nicht vor lauter Gier nach Glanz weit von seinem Thema und der eigentlichen Wahrheit? - Vor allem aber: Warum muss man anlässlich einer zweiten Sichtung zugeben, dass man sich kaum an den Bilderrausch zu erinnern vermag?

Scorsese und Drehbuchautor John Logan beschränken sich bekanntlich auf die Jahre 1927 – 1947, die Zeit, in der Howard Hughes seine grossen Erfolge als Filmregisseur, Produzent, Flugzeugbauer und Besitzer seiner eigenen Fluglinie feierte. Wir begegnen ihm als Millionenerben, der auf dem Set von „Hell’s Angels“, dem grössten privaten Flughafen der Welt, nicht nur energisch mit Mühe zu erfüllende Befehle erteilt, sondern von seinem Meteorologen sogar „private“ Wolken für sich beansprucht („Find me some clouds!“), treffen ihn im dekadenten „Cocoanut Groove“, den er passend zum Song „I’ll Build a Stairway to Paradise“ betritt, um sich von Louis B. Mayer zwei weitere Kameras für sein hoffnungslos verschuldetes Projekt auszuleihen. Mit seinem Flugzeug fliegt er das Set eines Katharine Hepburn-Films an, weil er die Schauspielerin, eine seiner vielen Eroberungen („Actrices are cheap!“), die hier neben Ava Gardner hervorgehoben wird, zum Golf einladen möchte. Später wird ihn der Zwang zum Ruhm trotz der Warnungen seines Managers Noah Dietrich vor waghalsigen bis illegalen Geschäften zum Kauf der TWA verlocken und einflussreiche Männer mit zweifelhaften Mädchen bestechen lassen, weil er den Auftrag zum Bau der Hercules bekommen möchte.

All dies müsste  Hughes eigentlich zum abstossenden Kapitalisten mit einem unerträglich grossen Ego und einem nicht minder grossen Frauenverschleiss machen. Zum „Glück“ litt der Milliardär jedoch noch unter einer Zwangsneurose, die er sich leisten konnte und dank der man ihn mit der Aura des Bemitleidenswerten zu umgeben vermochte. Scorsese führt diese Neurose allerdings auf geradezu billige Weise auf Mutti zurück, die ihren Sohn in einer Zeit der Typhus-Epidemien mit den Worten „You are not safe“ wusch, wozu er das Wort „Q-U-A-R-A-N-T-I-N-E“ (an dem er sich später  festhalten konnte) buchstabierte. Auch in seinem weiteren Leben werden es neben den von ihm entworfenen Flugzeugen, die er liebevoll streichelt, um sie auf herausragende Nieten abzutasten, angeblich Mutterfiguren sein, die Hughes eine Zeitlang zu leiten und ihm Halt zu geben vermögen: Katharine Hepburn mit ihrer Warnung „Howard, we’re … we’re not like everyone else“ (er trinkt während eines Flugs sogar aus der gleichen Milchflasche wie sie!) oder Ava Gardner, die ihn nach seinem Elendsjahr im Vorführungsraum mit vollgepissten Milchflaschen und einer keimfreien Zone für die Anhörung vor dem Senatsausschuss wegen seiner Geschäfte, die ihn zum Kriegsgewinnler zu stempeln drohen, mit den Worten „Nothing’s clean, Howard. But we do our best“ aufrichtet, als er sich nicht waschen möchte, weil der fürchtet, das Wasser könnte nicht rein genug sein. Die anderen Gestalten in seinem Umkreis dienen ihm oder stören im schlimmsten Fall (wie der Flegel Errol Flynn, der eine Erbse von seinem perfekt arrangierten Teller isst) sein Universum. – Abgesehen von den wirklich erschütternden Bildern des völlig dem Wahnsinn verfallenden Mannes im Vorführraum kostet Scorsese vor allem Hughes‘ Waschzwang aus; das wilde Reinigen der Hände mit der Kernseife nimmt, wie verschiedentlich erwähnt wurde, geradezu masturbatorische Züge an.


Doch die Amerikaner bewundern letztlich nicht das Leiden, sondern Erfolg und Macht – und Scorsese  erliegt einer Schwäche, die kennzeichnend für viele Biopics  ist: Er will „The Aviator“, der so verschiedene Stränge verfolgte, dass es ihm ohnehin an einer Richtung fehlt, unbedingt mit einem Triumph seines Helden beenden. Dieser Triumph soll der kurze Flug mit der als „Spruce Goose“ bezeichneten Holzkiste „Hercules“ werden, der seinerzeit ein Medienereignis war, aber eigentlich nur bewies, dass das während des Weltkriegs entwickelte Monster mit voller Last fluguntauglich gewesen wäre (man verstaute das Flugzeug später in einem Hangar; seine Aufbewahrung verschlang Millionen). – Der vermeintliche Höhepunkt verbietet den oft und zu Unrecht beschworenen Vergleich mit „Citizen Kane“ (1941). Hughes bleibt im Film der unangefochten grosse Amerikaner; sein späterer Gang in die Einsamkeit des endgültigen Wahnsinns wird am Schluss nur diskret angedeutet.

"The Aviator" ist ein Film, der im Betrachter selber ein zwangsneurotisches Verhalten auszulösen vermag. Denn es darf doch gar nicht sein, dass ein derart gigantisches Werk von Scorsese in Wirklichkeit so leer ist, viel über Howard Hughes erzählt, ohne wirklich in ihn einzudringen, ja seinen Helden stattdessen auf oberflächliche Weise preist. Man beginnt förmlich nach einer bedeutsameren Ebene hinter dem Biopic der alten Schule zu suchen. - Mich beschäftigte zum Beispiel eine Zeitlang die berühmte Szene in einer Flugzeughalle, in der sich Hughes Blaupausen ansieht (sie endet mit dem mehrfach wiederholten "Show me all the blueprints!"). Man sieht dort für einen Moment, wie rasch sich alles im Gehirn des Pioniers abzuspielen vermag, mit einem Tempo, das unserer Realität nicht mehr standhält und ihn letztlich überfordern, zum Kranken machen muss. Und ich begann mich zu fragen, ob die abrupt wechselnden Schauplätze, an denen er im Film auftritt, sein Wahrnehmen, die mangelnde Kontinuität seines Seins, wiedergeben wollen. Mit anderen Worten: Ist "The Aviator" in erster Linie gar kein Hughes-Biopic, sondern ein Film über einen Zwangsneurotiker, an dessen subjektivem Empfinden wir teilhaben. Dies würde erklären, warum wir nie auch nur einen Funken Liebe in der Liebesgeschichte zwischen ihm und Katharine Hepburn entdecken. Und dieses unfassbare Durcheinander in der "We're all socialists here"-Familie der Diva kann doch nur als weit von jeder Wahrscheinlichkeit entferntes Wahrnehmen gedeutet werden, ebenso die kleinsten Flecken, die Hughes auf den Anzügen anderer Leute stören oder der Versuch von Juan Trippe, den Rauch seiner Pfeife durch ein Türschloss zu blasen. Ich kann heute auch Georg Seßlen bis zu einem gewissen Grad verstehen, der den Film  wiederum überschwänglich als Darstellung der Geschichte der USA loben möchte, die sich als Spirale in die Barbarei erweist, in der Hughes Täter und Opfer ist. - All das mag zutreffen; aber es reicht nicht aus, kommt nicht deutlich genug zur Sprache, weshalb man es förmlich in den Film hineinlesen muss. Und spätestens wenn man abwechslungsweise einen leidenden  Howard Hughes (als Sympathieträger!) in seinem Vorführungsraum und einen vor Reportern gegen ihn hetzenden Senator Brewster sieht, erkennt man die eigentliche Intention von "The Aviator": Martin Scorsese wollte sich mit diesem Vehikel ohne Scorsese selber ein Denkmal setzen. Er, wegen seines Drangs nach Perfektion auch oft als Neurotiker betrachtet (er leidet ironischerweise unter Flugangst), scheute hier nicht vor den billigsten Effekten zurück, weil er endlich an das Ding rankommen wollte, das ihm "Departed" (2006) dann ja  bescheren sollte. Dass er mit seiner einseitigen und verlogenen Hughes-Huldigung langfristig seinen Ruf aufs Spiel setzen könnte, kümmerte ihn offenbar wenig.


In den letzten Jahren ist wenig über "The Aviator" geschrieben worden. Man erhält den Eindruck, die Leute, die den Film einst lobten, seien bemüht, ihre Worte zu verdrängen und sich eher dem vorher geschmähten Blick auf die Anfänge jenes New York, das der Regisseur in den 70ern geschildert hatte, "Gangs of New York" (2002), zuzuwenden. Andere wiederum sehen sich im Urteil von Jonathan Rosenbaum bestätigt: "There just isn't a lot to chew on once it's over." - Vermutlich werde ich mich in ein paar Jahren einer vierten Sichtung aussetzen und erneut nach dem suchen, was der Film nicht enthält. Das ist natürlich auch eine Wirkung, über deren Bedeutsamkeit sich streiten liesse...

Sonntag, 8. Januar 2012

Kurzbesprechung: Venedig im Wasser

VENEDIG
Österreich 1961
Regie: Kurt Steinwendner (Curt Stenvert)

Selbstverständlich liegt Venedig im Wasser - das weiß man doch. Was soll also der Titel? Steinwendners 11-minütiger Film besteht nur aus Ansichten von Venedig, ohne Handlung, ohne Kommentar. Das Besondere: Die Stadt wird nicht direkt gefilmt, sondern als Reflexion im mehr oder weniger gekräuselten Wasser der Lagune und der Kanäle. So ergeben sich Bilder von leicht verzerrt bis völlig abstrakt. Die Kamera wurde dafür kopfüber gehalten, so dass die gespiegelten Bilder wieder aufrecht stehen. Einmal fiel die Kamera ins Wasser, aber sie konnte geborgen werden, und nach gründlicher Reinigung in den Arri-Werken in München konnte es weitergehen. Dass die poetischen Impressionen nicht ins Süßliche abgleiten, dafür sorgt auch die avantgardistische Musik, die von einem Eric Siday stammt, der wohl in den 60er Jahren ein Pionier auf frühen Modellen des Moog-Synthesizers war [siehe Update unten]. Die frühere Vorliebe Steinwendners für das nicht nur in WIENERINNEN eingesetzte Heliophon findet hier seine logische Weiterentwicklung. Die Einrichtung der Musik für den Film, also Tonschnitt etc., übernahm Steinwendners zweite Frau, die frühere Burgschauspielerin Antonia Mittrowsky. Der originelle und extravagante Film erhielt 1962 bei der Berlinale einen Silbernen Bären. Wie schon im Artikel über WIENERINNEN erwähnt, ist VENEDIG als Bonusfilm auf einer DVD enthalten, die als Beilage einer Monographie über Steinwendner erhältlich ist. Und jetzt sollen die Screenshots für sich sprechen.

UPDATE, Januar 2017: In den Credits von VENEDIG wird der Komponist "Eric Sidey" genannt (und so nannte auch ich ihn hier bis jetzt), im Steinwendner-Büchlein dagegen "Erik Sidey". Als ich den Artikel schrieb, habe ich mich darüber gewundert, dass ich so wenig über diesen Herrn zutage fördern konnte. Inzwischen kenne ich die Lösung: Beide Schreibweisen sind falsch, denn er hieß in Wirklichkeit Eric Siday. Er war in der Tat ein Pionier der elektronischen Musikerzeugung, der beispielsweise Musik zur Frühphase der Serie DR. WHO beisteuerte, der in seinen jungen Jahren aber auch ein fähiger Jazzgeiger war. Als Robert Moog im Oktober 1964 seinen ersten Synthesizer auf einer Tagung von Toningenieuren in New York vorstellte, wurden zwei der Geräte vom Fleck weg bestellt - der zweite Besteller war Eric Siday. Er besaß damals ein gut gehendes Tonstudio in New York, das elektronische Musik und Jingles für Radio- und TV-Werbung produzierte. Als der bestellte Synthesizer von Moog persönlich in Sidays Wohnung in Manhattan, die schon mit elektronischen Geräten vollgestopft war, abgeliefert wurde, bekam Sidays Frau einen hysterischen Anfall und schrie "Eric, more shit in this house!" - so erzählte es jedenfalls Moog in späteren Jahren. Der Soundtrack von VENEDIG entstand aber natürlich vorher, konnte also nicht mit einem Gerät von Moog produziert worden sein. Eine Auswahl von Sidays elektronischer Musik ist 2014 unter dem Titel The Ultra Sonic Perception auf CD und LP erschienen.

Nun aber endlich zu den Screenshots:










Dienstag, 3. Januar 2012

Neorealismus, Noir und Schund: WIENERINNEN

WIENERINNEN (Alternativtitel: SCHREI NACH LIEBE, WIENERINNEN IM SCHATTEN DER GROSSSTADT, VIER FRAUENSCHICKSALE, FÜNF FRAUENSCHICKSALE)
Österreich 1952
Regie: Kurt Steinwendner (Curt Stenvert)
Darsteller:
ANNI: Elisabeth Stemberger (Anni), Hans Lazarowitsch (Fritz), Hilde Rom (Annis Schwester), Maria Eis (Annis Mutter), Heinz Moog (Annis Vater)
HELENE: Edith Prager (= Edith Klinger, Helene), Karlheinz Böhm (Walter), Ilka Windisch (Edith)
GABRIELE: Helmi Mareich (Gabriele), Hans Putz (Paul Rosenauer), Rudolf Rösner (Hans Friedmann), Wolfgang Hutter (Maler)
OLGA: Margit Herzog (Olga), Kurt Jaggberg (Anton), Rudolf Rhomberg (Carlo), Ellen Umlauf (Vera)
THERESE (nicht mehr vollständig erhalten): Anni Weltner (Therese), Elfe Gerhart (Jacqueline), Rolf Wanka, Florl Leithner, Michael Toost

Anni (l.o.), Helene (r.o.), Gabriele (l.u.), Olga
Der Film beginnt mit Postkartenansichten Wiens: Der Stephansdom, Schloss Schönbrunn, weitere Sehenswürdigkeiten als Hintergrundbilder für die Credits, unterlegt mit Walzermusik. Doch das dient nur als vorab eingespritztes Kontrastmittel. Die Walzerklänge enden abrupt und gehen in merkwürdige elektronische Klänge über, und es wird von einer Statue auf das verzerrte Gesicht von Anni überblendet. Dazu ein Sprecher aus dem Off: "Anni war Ziegeleiarbeiterin im anderen Wien." Das "andere Wien" ist das Wien der schmucklosen Arbeiterviertel und der tristen Industrieanlagen an der Peripherie der Donaumetropole. "Die riesigen Fabriksanlagen mit ihren hochragenden Schloten, die Seilbahnen und Schwungräder, die Häuser der Arbeiter bilden eine eigene Stadt. Der rote Ziegelstaub bedeckt alles, auch das Brot, das dort gegessen wird." Damit ist die intendierte Grundstimmung des Films vorgegeben: Die des Neorealismus. Erzählt werden nun vier (ursprünglich fünf) unabhängige Episoden, die jeweils nach der weiblichen Hauptfigur benannt sind.

Für 1952 relativ viel Haut
Anni
Die lebenslustige und attraktive Anni ist Arbeiterin in einem Ziegelwerk. Sie beginnt ein Verhältnis mit Fritz, dem Sohn des Werkmeisters. Was jedoch außer Annis Mutter niemand weiß: Die Mutter, früher selbst Arbeiterin in der Ziegelei, wurde einst vom Werkmeister vergewaltigt, und Anni ist das Ergebnis davon - Anni und Fritz sind also Halbgeschwister. Dem Wahnsinn nahe, drängt die Mutter ihren Mann, einen dumpfen Saufkopf, die unselige Verbindung mit Gewalt zu unterbinden. Und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf ...

Helene
Helene leitet ein kleines Puppentheater für Kinder, mit dem sie in Wiener Schulen auftritt. Sie liebt den jungen Komponisten Walter, der auf einem Akkordeon das Kasperltheater begleitet. Doch Walter fürchtet, dabei zu versauern, statt seine Karriere voranzubringen. Als ihn die neue Kollegin Edith im Stil einer femme fatale umgarnt, widersteht er nicht lange, und er verlässt das Puppentheater. Helene, verzweifelt und nachts in einer Schule allein, spielt wie im Delirium mit ihren Puppen die Dreiecksgeschichte nach. Erst ein Schüler, der nächtens in die Schule einsteigt, um heimlich auf Walters Akkordeon zu spielen, holt sie in die Realität zurück.

Gabriele
Gabriele ist Aktmodell für Maler. Ihr Verlobter Hans wurde für einen Mord verurteilt, doch sie glaubt an seine Unschuld. Sie will einen gewissen Paul Rosenauer aufsuchen, einen Bekannten des Mordopfers, weil der etwas über den Mord wissen könnte. Unterdessen gelingt Hans bei einem Gefangenentransport auf einem verschneiten Bahnhofsgelände die Flucht. Als sich die Wege der drei Personen kreuzen, eskalieren die Ereignisse.

Olga
Olga ist Prostituierte in der Gegend eines Speicherhafens an der Donau. Doch sie sehnt sich nach der "reinen Liebe", und als ihr Carlo, der Kapitän eines Schleppers, das Angebot macht, mit ihm an Bord zu gehen, um ein neues Leben anzufangen, ist sie nicht abgeneigt. Doch ihr eifersüchtiger Zuhälter Anton kommt ihr auf die Schliche. Als Olga Carlos Angebot annimmt, will Anton sie in einem Getreidespeicher für immer verschwinden lassen.

Therese
In dieser nur mehr teilweise existierenden Episode geht es nicht um Mord und Totschlag oder sonstige Abgründe, sondern um Heurigenmusiker (zwei Komponisten tauschen untereinander ihre Sängerinnen aus, oder etwas in der Art). Laut zeitgenössischen Presseberichten soll die Episode recht kitschig gewesen sein, trotz des Bemühens, die üblichen Klischees der Heurigenseligkeit zu vermeiden.
Schräge Perspektiven, Ober- und Untersicht
WIENERINNEN ist eine hochinteressante, aber unausgegorene Mischung verschiedener stilistischer Mittel. Die sachlich-nüchterne Kameraführung des italienischen Neorealismus war Steinwendners Sache nicht. Im Gegenteil: Er und seine beiden Kameramänner (Walter Partsch filmte GABRIELE und THERESE, Elio Carniel die restlichen drei Episoden) griffen tief in die filmgeschichtliche Kiste. Viele Aufnahmen zeigen sehr ungewöhnliche Perspektiven, extreme Ober- oder Untersicht oder verdrehte Blickwinkel, die Kritiker zu Vergleichen mit dem Konstruktivismus veranlassten. Manche Sequenzen sind mit sehr beweglicher Kamera (möglicherweise Handkamera) realisiert, und dann gibt es wieder Szenen mit grellen Kontrasten von Licht und Schatten, die Regisseuren und Kameramännern des Film noir wie Robert Siodmak oder John Alton zur Ehre gereicht hätten, und die in den extremsten Ausprägungen gar an den Expressionismus der Stummfilmzeit heranreichen. Es war übrigens Steinwendners schon im Vorfeld explizit geäußerte Absicht, möglichst viel visuell zu erzählen und die Dialoge knapp zu halten. In der nächtlichen Szene mit Helene wird das naturkundliche Zimmer einer Schule als surreales Gruselkabinett inszeniert. Steinwendner und Carniel arbeiten hier nicht nur mit sehr harten Schlagschatten, sondern sie verwenden auch Unschärfefilter und verzerrende Linsen oder Spiegel. Der von Paul Kont und Gerhard Bronner geschriebene Soundtrack wurde zum größten Teil von dem Musiker und Erfinder Bruno Helberger auf dem von ihm konstruierten Heliophon (ein mit Vakuumröhren bestücktes elektronischen Instrument mit zwei Tastenmanualen) eingespielt. Besonders subtil ist diese Musik allerdings nicht - manchmal werden allzu aufdringliche Akzente gesetzt, auf dass der Zuseher einen dramatischen Höhepunkt auch ja nicht verpasse. Was damals sicher fremdartig und zukunftsweisend klang, wirkt auf mich heute eher altbacken.

Bilder wie aus einem Film noir
Nach der Premiere im Februar 1952 drosch die österreichische Presse auf den Film ein. Die Kritik richtete sich hauptsächlich gegen die Handlung der einzelnen Episoden, die tatsächlich über Kolportage nicht hinauskommt. Dramaturgie und Figurenzeichnung lassen doch sehr zu wünschen übrig. So gerät etwa Annis Mutter fast zur Karikatur einer Hexe, als sie zur Beute des Wahnsinns wird. Gelobt wurden dagegen die Kameraführung und merkwürdigerweise auch die Musik, sowie einige der Schauspieler. Es wurde allgemein abgestritten, dass Steinwendner den (auch schon im Vorfeld in Presse-Statements) behaupteten (neo-)realistischen Anspruch einlöste. Die konstruierte Pseudodramatik hätte mit dem Geist des echten Neorealismus nichts zu tun, wurde nicht zu Unrecht vorgebracht. "Bittere Ziegel" höhnten Kritiker, in Verballhornung von "Bitterer Reis", dem Klassiker von Giuseppe de Santis. Nicht nur der stilistische, sondern auch der tatsächliche Realismusgehalt des Films wurde angezweifelt. Die Ziegeleiarbeiter in ANNI sind Proleten, die in verdreckten Wohnungen hausen und sich nur mit Alkohol und Sex vergnügen. Gegen die Darstellung "schwelender Sinnenfreude" (so ein Vorbericht 1951) protestierte der Betriebsrat der Firma Wienerberger, auf deren Gelände am Laaer Berg ANNI gedreht wurde, schon während der Dreharbeiten und verwies auf soziale Errungenschaften wie Bildungseinrichtungen für die Arbeiter. Die Firmenleitung schloss sich dem an, drohte mit rechtlichen Schritten und verlangte eine Probesichtung der Episode, um ggf. imageschädigende Szenen entfernen zu lassen. Möglicherweise mit Erfolg, denn in einem Bericht im Spiegel vom Oktober 1951 ist von Ratten die Rede, die ich im Film bisher nicht erspähen konnte - vielleicht habe ich sie aber auch nur übersehen. Auch nach der Premiere giftete die Presse gegen die "Verleumdung" der Arbeiter, und mindestens ein linkes Blatt witterte darin eine reaktionäre Tendenz. Steinwendner dagegen beharrte darauf, die Realität abgebildet zu haben: "Aber es entspricht durchaus dem Eindruck, den ich schon beim ersten Besuch im Werk hatte. 3000 Menschen leben in dieser fast hermetisch vom übrigen Wien abgeschlossenen Gemeinschaft und heiraten meist untereinander. Und was die sinnliche Atmosphäre anbetrifft - eine originalgetreue Schilderung würde keine Zensur durchlassen. [...] Die Trinkerfamilie gibt es wirklich, davon hat mir der Volksbildungsreferent, der mich herumführte, gleich erzählt. [...] Im Ziegelwerk fand ich eben keine 'herzige' Heurigenparty, sondern ein bacchantisches Geburtstagstrinkgelage verschwitzter Arbeiterinnen."

Noir zum zweiten
Was die Presse ebenfalls übelnahm, war die für damalige Verhältnisse ziemlich freizügige Darstellung nackter Haut, die dramaturgisch kaum motiviert, also recht spekulativ war. Der Kritiker von Der Abend wetterte, "[...] treiben den Wiener Belzebub des seichten Heurigenkitsches mit dem ungleich bösartigeren Hollywooder Satanas des Schmutz- und Schundfilms aus" (dabei wären Darstellungen wie in WIENERINNEN in einem Hollywoodfilm von 1952 überhaupt nicht möglich gewesen), und fand das Ergebnis "niederschmetternd". Aber ungeachtet der übertriebenen Polemik erweist sich WIENERINNEN in der Handlung tatsächlich als ein Vorläufer des "Schundfilms" der 60er Jahre, wie er in seiner österreichischen Ausprägung etwa von Eddy Saller und Frits Fronz repräsentiert wurde. So bleibt ein zwiespältiges Fazit. Je nachdem, ob man dem Inhalt oder der formalen Gestaltung den Vorrang gibt, kann man WIENERINNEN als auf hohem Niveau gescheitert oder als gelungen mit kleinen Schönheitsfehlern betrachten. Wie auch immer - mit seinem ungestümen Kunstwillen und seinem zeitgeschichtlichen Nährwert ist der Film allemal interessanter und sympathischer als fast alles, was Steinwendners Mainstream-Kollegen von Franz Antel bis Ernst Marischka in den 50er Jahren hervorbrachten.

Edith (Ilka Windisch, l.o.), ein Maler (Wolfgang Hutter), Vera (Ellen Umlauf, unten)
Die Initiative zu WIENERINNEN ging nicht von Steinwendner, sondern vom Produzenten Ernest Müller aus. Inspiriert wurde Müller wahrscheinlich von Harald Röbbelings ASPHALT (1951), der ebenfalls in fünf Episoden und in neorealistischem Gestus (und mit Walter Partsch an der Kamera) das Abgleiten von Jugendlichen in Prostitution und Kriminalität schildert. Ursprünglich sollte jede Episode von WIENERINNEN von anderen Autoren und Regisseuren gestaltet werden. Aber die eingereichten Bücher von Steinwendners Mitbewerbern waren wohl nicht besonders brauchbar, und nachdem er ANNI abgedreht hatte, bekam er auch den Auftrag für den restlichen Film. Laut Credits hatte August Rieger die "künstlerische Oberleitung" der Dreharbeiten. Was das genau bedeutet, weiß ich nicht. Vielleicht war er nur Ernest Müllers Aufpasser, der dafür sorgte, dass Steinwendner das äußerst knapp bemessene Budget nicht überzog. Jedenfalls war Rieger nicht nur durch langjährige künstlerische Zusammenarbeit mit Müller verbunden, er war auch Prokurist in dessen Produktionsfirma. Gedreht wurde fast nichts im Studio, sondern an Originalschauplätzen - neben dem Laaer Berg (ANNI) etwa am Franz-Josefs-Bahnhof (GABRIELE), am Alberner Hafen und dem nahegelegenen "Friedhof der Namenlosen" (OLGA). Zur Kostenersparnis trug auch bei, dass neben einigen schon arrivierten Schauspielern viele Nachwuchsdarsteller verplichtet wurden - so hatten Elisabeth Stemberger (eine Tante zweiten Grades von Julia und Katharina Stemberger) und Kurt Jaggberg ihren ersten Filmauftritt, und auch Karlheinz Böhm spielte eine seiner ersten Rollen. In neorealistischer Manier wurden auch Laiendarsteller eingesetzt.

ANNI (l.o. Maria Eis und Heinz Moog als Annis Eltern)
Bei der Premiere im Februar 1952 wurden gar nicht alle fünf Episoden gezeigt, sondern nur ANNI, OLGA, GABRIELE und THERESE (in dieser Reihenfolge, die von der heutigen abweicht). Warum HELENE damals fehlte, ist mir nicht bekannt, ebenso, wann und warum THERESE (von dem es noch ein Fragment geben soll) entfernt wurde. Die diversen Alternativtitel des Films legen jedenfalls nahe, dass er eine etwas verworrene Schnitt- und Aufführungsgeschichte hinter sich hat. Ein Presseartikel von 1954 behauptet, dass nur auf Drängen des Produzenten eine Heurigenepisode (also THERESE) aufgenommen wurde. Steinwendner behauptete dagegen zumindest damals, dass WIENERINNEN "in völliger Harmonie" mit Müller entstanden sei. Vielleicht war es trotzdem er, der THERESE irgendwann loswerden wollte.

HELENE - Karlheinz Böhm in einer frühen Rolle
Kurt Steinwendner (1920-92) war ursprünglich Maler und Bildhauer. Er gehörte zur dynamischen Avantgarde-Szene junger Künstler, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien um ein paar ältere Leitfiguren wie Albert Paris Gütersloh (bei dem Steinwendner studiert hatte) formierte. Seinen ersten Film DER RABE (1951) drehte Steinwendner zusammen mit dem Psychologen, Fotografen und späteren Journalisten Wolfgang Kudrnofsky. Es handelt sich um eine 14-minütige avantgardistische Interpretation von Edgar Allan Poes Gedicht. DER RABE markiert den Beginn des österreichischen Nachkriegs-Experimentalfilms, der sich mit Regisseuren wie Ferry Radax und Peter Kubelka zu beachtlichen Höhen aufschwang. Nach WIENERINNEN drehte Steinwendner mit FLUCHT INS SCHILF (1953) einen weiteren bemerkenswerten Spielfilm. Es folgten noch eine Reihe von Kurzfilmen, wie der experimentelle Tanzfilm GIGANT UND MÄDCHEN (1955), die preisgekrönte Impression VENEDIG (1961), und diverse Werbe- und Industriefilme. Aber in den 60er Jahren wandte er sich zunehmend der Objektkunst zu und feierte damit Erfolge. 1969 nahm er offiziell das Pseudonym Curt Stenvert an, das schon 16 Jahre zuvor jemand für ihn erfunden hatte. Unter diesem Namen wurde er auch international zu einer anerkannten Größe im Kunstbetrieb. Sein letzter Film VORSTOSS INS NIEMANDSLAND ist eine Art Selbstportrait des Künstlers Stenvert. Seit 1977 lebte und arbeitete er in Köln, wo er auch starb. Während der Künstler Stenvert Erfolge feierte, geriet der Regisseur Steinwendner etwas in Vergessenheit. Das lag auch daran, dass WIENERINNEN lange als verschollen galt. Aber 1989 wurde eine wieder aufgefundene und in der jetzigen Form rekonstruierte Kopie vom Filmarchiv Austria präsentiert und wenig später vom ORF in der Reihe "Kunststücke" ausgestrahlt, wodurch der Regisseur und sein Film auch einem breiteren Publikum zugänglich wurden.

GABRIELE (oben Rudolf Rösner als Hans, r.u. Hans Putz als Paul Rosenauer)
WIENERINNEN ist mit DER RABE als Bonusfilm in der vorbildlichen DVD-Reihe "Der österreichische Film" erschienen. In den letzten Wochen bekam die Rezeption von Steinwendner/Stenvert neuen Schwung: Das Filmarchiv Austria veranstaltete im November und Dezember eine Retrospektive seiner Filme, parallel dazu läuft noch bis Mitte Januar im Wiener Schloss Belvedere eine Ausstellung, die sich dem Objektkünstler Stenvert widmet, und im November erschien erstmals eine Monographie über Steinwendner - vielleicht wird darin ja etwas Licht in die mysteriöse Geschichte von WIENERINNEN nach der Premiere gebracht. Das Büchlein enthält als Beigabe eine DVD mit WIENERINNEN, die nicht mit der aus der Edition "Der österreichische Film" identisch ist, denn statt DER RABE sind andere Kurzfilme Steinwendners als Bonus enthalten.

OLGA (r.o. Rudolf Rhomberg als Carlo, unten Kurt Jaggberg als Anton)
UPDATE, 8. Januar:
Ich konnte nicht widerstehen und hab mir das Büchlein (160 kleinformatige Seiten) über Steinwendner besorgt. Allein schon wegen der DVD hat es sich gelohnt. Das Fragment von THERESE mit einer Länge von immerhin neun Minuten ist als Bonus enthalten. Anscheinend handelt es sich um die kompletten letzten neun Minuten der Episode. Und ja - sie ist kitschig. Sie, und damit ursprünglich der ganze Film, endet sogar mit einem Schwenk über liebliche Weinberge vor den Toren Wiens, was ja den restlichen Film völlig konterkariert. Steinwendner bestätigt auch in einem Interview von 1989, das im Buch abgedruckt ist, dass ihm THERESE von Ernest Müller aufgenötigt wurde. HELENE wurde bei der Premiere nicht gezeigt, weil es diese Episode da noch gar nicht gab. Sie war in Steinwendners Drehbuch vorhanden, wurde aber von Ernest Müller zugunsten seines Heurigen-Schmarrns abgelehnt. Als nach der Premiere die Kritiken zu THERESE besonders negativ waren, sah Müller seinen Fehler ein, und Steinwendner erhielt den Auftrag, HELENE als Ersatz nachzudrehen. Gelegentlich wurde der Film dann aber auch mit allen fünf Episoden gezeigt, wie deutsche Pressekritiken von 1953 belegen, und wie ja auch der Alternativtitel FÜNF FRAUENSCHICKSALE schon nahelegte. Steinwendner hatte damit nichts mehr zu tun. Nachdem er den Film ablieferte, lagen alle Rechte bei Müller, mit dem sich Steinwendner auch bald verkrachte. Tatsächlich sah er WIENERINNEN nach 1952 erst 1989 in der rekonstruierten Fassung wieder.

THERESE: l.o. Anni Weltner als Therese, r.o. Elfe Gerhart als Jacqueline,
unten ganz rechts Michael Toost
Die DVD zum Buch enthält außer WIENERINNEN und dem Fragment von THERESE noch ALFRED KUBIN - ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER (1955) - ein eigenwilliges 12-minütiges Portrait des Zeichners - und WAS WÄRE OHNE..?! (1957) - eine sehr schräge 13-minütige Auftragsarbeit, die Propaganda für den Ausbau der Wasserkraft in Österreich macht (u.a. mit Helmut Qualtinger in Mini-Rollen wie ein singender Cowboy, Hans-Moser-Imitator und japanischer Judo-Kämpfer!). Höhepunkt neben WIENERINNEN ist aber VENEDIG, dem ich deshalb eine Kurzbesprechung spendiere.

Dienstag, 20. Dezember 2011

Kommt, ihr Christen all, und hört!

Die rote Herberge (Alternativtitel: Die unheimliche Herberge)
(L'auberge rouge, Frankreich 1951)

Regie: Claude Autant-Lara
Darsteller: Fernandel, Françoise Rosay, Julien Carette, Lud Germain, Marie-Claire Olivia, Didier d'Yd, Grégoire Aslan u.a.

Im Jahre 1989 hielt ein in Vergessenheit geratener Regisseur, der sich aus Verbitterung für Le Pens rechtsextremistischen “Front National” ins Europäische Parlament hatte wählen lassen, seine Eröffnungsrede als Alterspräsident. Diese war derart von rassistischen Äusserungen durchzogen, bezeichnete sogar die Existenz der Gaskammern als Lüge, dass er seine letzten Bewunderer verlor, während Politiker jeder Couleur den Saal verliessen. Nach dem Tod des alten Mannes hiess es denn auch, er gehöre zwar zur Filmgeschichte wie Leni Riefenstahl oder Veit Harlan; es gebe aber keinen Grund, ihm Träne nachzuweinen. -   Tatsächlich war die  Rede wohl der letzte Versuch des - ich spiele auf den Titel seiner Autobiographie an -  den Schmerz in seinem Herzen spürenden Claude Autant-Lara (1901-2000)  das zu tun, was er ein Leben lang getan hatte: anzuecken. Ursprünglich kämpferischer Pazifist, war er mit seinem Filmschaffen früher vor allem von der rechten Presse attackiert worden. Sein Film “Le diable au corps” (1947) mit dem unvergessenen Gérard Philipe in der Hauptrolle sollte, dies wurde gefordert, von der Leinwand verschwinden,  “Tu ne tueras point” (1961), die Geschichte eines Kriegsdienstverweigerers, rief sogar die Zensurbehörde auf den Plan. Doch der Mann, der sich  “bürgerlicher Anarchist” nannte, blieb bei seiner Devise, wonach ein Film, der nicht boshaft sei, langweile - und er hetzte munter weiter gegen seine liebsten Feinde: die Armee, die Bourgeoisie und den Klerus. Selbst gegen  Godard und Truffaut begehrte er auf; doch die Nouvelle Vague tat ihn, sich auf etwas schwülstige Literaturverfilmungen wie "Le rouge et le noir", 1954, oder "Le comte de Monte Christo", 1961, berufend, schlicht als typischen Vertreter des alten französischen Kinos ab, als Mann, der Glanz ohne Substanz produzierte. Das musste den agent provocateur, der sein Handwerk von der Pike auf gelernt hatte, verletzen.


Es gibt nichts, was das traurige Ende des Franzosen rechtfertigen könnte. Seine unbequemen Filme, die eine ganz andere Sprache sprechen,  sollten aber nicht zusammen mit ihm abgetan werden, erinnern sie doch auf meisterhafte Weise an das, was einst die braven Gaullisten das Fürchten lehrte. - Insbesondere “L’auberge rouge”, eine der schwärzesten Komödien, die wir dem französischen Kino verdanken, gibt die lächerliche Hilflosigkeit des real existierenden Katholizismus in einer kritischen Situation auf derart boshafte Weise dem Gelächter des Publikums preis, dass er auch nach vielen Jahren nichts von seiner Wirkung verloren hat: In einer Winternacht des frühen 19. Jahrhunderts sucht eine Kutsche mit vornehmen Gästen Unterschlupf in einer abgelegenen Herberge in der Ardèche  im südlichen Frankreich. Kurz darauf finden sich auch ein Mönch und sein Novize ein, die auf dem Weg zu ihrem Kloster sind und dem Schneetreiben entkommen wollten. Das geschwätzige Mönchlein mit seinem himmelschreienden Dialekt freut sich jedoch vergeblich auf die aufgetischte Suppe, da die Herrin des Hauses plötzlich das Bedürfnis überkommt, die Beichte abzulegen. Und was sie zu erzählen hat, verschlägt ihm den Appetit endgültig: Das Wirtepaar hat zusammen mit seiner hinterhältigen Tochter Mathilde im Laufe der Jahre bereits 102 Gäste umgebracht und ausgeraubt, bevor es sie in der Umgebung des Hauses begrub. Ein gerade kaltblütig ermordeter Spielmann wurde mit Hilfe des schwarzen Dieners (“Un nègre? Mais ce sont des sauvages! Vous n'avez pas peur?”, lässt der hämische Regisseur eine dicke Frau in der Kutsche die  mitreisende Mathilde ankreischend fragen, ohne zu ahnen, dass er eines Tages selber ein Rassist werden sollte) zum Schneemann umfunktioniert. Man möchte den unerwarteten Gästen - sie sollen, man wolle sich langsam zur Ruhe setzen, die letzten Herbergsleichen werden - schliesslich keinen Grund zur Besorgnis geben. - Von nun an sieht sich der an das Beichtgeheimnis gebundene Mönch in der misslichen Lage, das Leben der ahnungslos Essenden und sich Spässchen Hingebenden retten zu müssen, ohne etwas zu verraten. Doch je weniger er die nebensächlichen Gebote seiner katholischen Kirche verletzen will, beim Essentiellen aber auch mal fünfe gerade sein lässt (er erklärt sich sogar einverstanden, seinen verliebten Novizen mit der Wirtstochter zu verheiraten), desto mehr reitet er sich in  - man verzeihe mir oder geniesse den Ausdruck! - Gottes heilige Scheisse hinein...

“L’auberge rouge” beginnt zwar mit dem zu an den expressionistischen Film erinnernden Aufnahmen von kahlen Bäumen, Felsen und Schluchten erklingenden unheilvollen Gesang von Yves Montand (“Chrétiens, venez tous écouter!”) wie eine Schauermär, entpuppt sich jedoch bald als respektlose Farce, in deren Mittelpunkt der heuchlerische Katholizismus und der nicht minder heuchlerische Umgang der Bourgeoisie mit ihm stehen. Dies zeigt sich schon an dem sich anbiedernden Getue, mit dem der Mönch dem wohlhabenden Klüngel, der diverse Untugenden (Völlerei, Spielsucht, aussereheliche Liebe) verkörpert, das Geld für die Unterkunft abbettelt. Für die makabre Beichte muss, damit Schein und gebührender Abstand gewahrt bleiben, ein Grillgitter herhalten. Es hält das Gesicht des Mönchs  nicht davon ab, sich immer panischere Grimassen zu gönnen, ermöglicht es dem Geistlichen  aber doch, der mordenden Wirtin am Ende - wie es sich gehört - die Absolution zu erteilen. Es ist ja alles nicht so schlimm... - Die vor einer schnarchenden Hochzeitsgesellschaft (man hatte die Gäste bereits betäubt) gehaltene Predigt zur Vermählung des Novizen und der Mördertochter - der Mönch darf sogar die passenden Ringe aus der Beute der früheren Opfer aussuchen -  artet mit ihrem stotternden Scheinlatein und ihren Anspielungen derart ins Lächerliche aus, dass sie Autant-Lara seinerzeit das bescherte, wonach er eigentlich gierte: den entschiedenen Einspruch der Kirche und eine Kampagne gegen den Film. - Am Morgen findet dann noch eine Schneeballschlacht um die “Entblössung” der Leiche im Schneemann statt. Doch während der Zuschauer sich langsam auf ein Happy End einstellt, kommt es noch schlimmer. Das letzte Bild, das ein wegen seines Versagens mit allen Gliedmassen  fuchtelndes Mönchlein durch den hohen Schnee rennen und das Kreuz hinter sich lassend zeigt,  ist mehr als das Ende einer makabren Komödie. Es enthält vielmehr eine gnadenlose Aufdeckung des Wesens der Heuchelei und dessen, wozu sie führt, und es sucht seinesgleichen in der Geschichte des französischen Films.

Fernandel, damals langsam zum Star herangewachsen, hasste “L’auberge rouge” und wechselte angeblich nie wieder ein Wort mit dem Regisseur. Über die Gründe für sein Verhalten gibt es nur Mutmassungen: Es ist denkbar, dass er das Gefühl hatte, trotz seiner Glanzrolle, die es ihm als lächerlichem “Patois”-Geistlichen ermöglichte, den ganzen Film mit herrlich verharmlosendem Geschwätz und sinnlosen Gesten zu füllen, sich neben dem von zwei Veteranen des französischen Kinos gespielten Mörderpaar nicht immer ausreichend hervorheben zu können. Vielleicht reagierte auch der als Tyrann verrufene Regisseur (ich bin mir nicht sicher, ob Jean Gabin der einzige Schauspieler war, der von ihm eine Ohrfeige in Empfang nehmen durfte) unwirsch auf die Versuche des Hauptdarstellers, sich in jeder Szene in den Vordergrund zu drängen. - Auf jeden Fall, und dies scheint mir den Sachverhalt am ehesten zu erklären, war Fernandel ein konservativer  und gottesfürchtiger Mann, der keineswegs Gefallen daran fand, einen ständig herumfuchtelnden heuchlerischen Mönch, der sich zum Esel machte, zu spielen - obwohl er darauf bei Autant-Lara hätte gefasst sein müssen. Die Rolle im ersten “Don Camillo”-Film (ebenfalls 1951), in dem er zu Gott Junior höchstpersönlich Kontakt haben sollte, wird ihm eher zugesagt haben. Sie reicht meines Erachtens aber nicht an seine perfekt übersteigerte Figur des Mönchleins in Gewissensnot - vielleicht seine beste Leistung - heran.


“L’auberge rouge” beruht trotz eines sich hartnäckig haltenden Gerüchts nicht auf einer Erzählung von Honoré de Balzac, in der es ebenfalls um einen (!) Mord geht. Und obwohl Herbergen in Literatur, Film und Musik ein beliebter Ort sind, um Leute zusammenzubringen, die einander Geschichten erzählen (Chaucer’s “The Canterbury Tales”, Hauffs “Das Wirtshaus im Spessart") oder eben "seltsamere" Geschäfte  erledigen (“Psycho“, 1960, und der Eagles-Song “Hotel California“), haben wir es auch nicht mit einer fiktiven Angelegenheit zu tun: Der Film beruht vielmehr auf einer wahren Begebenheit, die 1833 mit der Exekution eines Ehepaars endete, das in einer abgelegenen Herberge in der Ardèche über fünfzig Gäste umgebracht hatte. - Die Geschichte wäre eine ideale Vorlage für einen Horror-Film gewesen; der provozierende Regisseur erkannte jedoch rasch ihr Potential für eine rabenschwarze Komödie, die es ihm ermöglichen würde, seine boshaften Pfeile auf meisterhafte Weise und treffsicher abzuschiessen. Oder, um ihn noch einmal zu bemühen: “Wenn ein Film kein Gift enthält, taugt er nichts.” Diese Überzeugung sollte ihm im Falle von “L’auberge rouge” zum Erfolg verhelfen. Dass sie sich nicht oder nur bedingt auf Reden im wahren Leben übertragen lässt,  sah der alte Narr wohl nicht mehr ein. Dies ist aber kein Grund, sein grandioses filmisches Schaffen aus unserem Gedächtnis zu verbannen.


2007 wagte sich Gérard Krawczyk an ein Remake des Meisterwerks. Ich habe es nicht gesehen. Kenner empfehlen jedoch, den gnädigen Mantel des Vergessens lieber darüber als über die 1951er Version zu legen.

***
Der dieser Besprechung beigefügte Titel dürfte Kennern eine Ahnung vermittelt haben: Dies war mein Weihnachtsfilm 2011. Dank Fernandel und götllicher Eingebung ist es mir nach dem letztjährigen Soldatenengel aus Courgenay bereits zum zweiten Mal gelungen, die üblichen weihnachtlichen Tränenerzeuger zu umschiffen. - Ob Manfred Polak in den nächsten Tagen noch etwas bringt, weiss ich nicht. Für mich war dies die letzte Belästigung des Jahres via Blog, da ich mich jetzt mit Taschentüchern bewaffnet all diesen Hollywood-Schnulzen widme, über die ich nie schreiben würde. Ich wünsche unseren Lesern schniefend



Mittwoch, 14. Dezember 2011

Independent-Kleinod: NOTHING BUT A MAN

NOTHING BUT A MAN
USA 1964
Regie: Michael Roemer
Darsteller: Ivan Dixon (Duff), Abbey Lincoln (Josie), Julius Harris (Duffs Vater), Gloria Foster (Lee), Stanley Greene (Reverend Dawson), Leonard Parker, Yaphet Kotto (Duffs Kollegen)

Kann etwas Gescheites dabei herauskommen, wenn ein intellektueller jüdischer Regisseur aus Neuengland, geboren in Deutschland, einen Film über das Lebensgefühl der Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten der 60er Jahre dreht? Es kann - Michael Roemer hat es bewiesen.


Duff Anderson ist Streckenarbeiter bei der Bahn in Alabama - obwohl traditionell von Demokraten regiert, seinerzeit einer der reaktionärsten US-Bundesstaaten. Duff und seine Kollegen, allesamt Schwarze, verrichten die anstrengende, aber ordentlich bezahlte Arbeit immer dort, wo gerade Schienen verlegt werden, und hausen dabei gemeinsam in Baracken. Ihre Freizeit verbringen sie in Spelunken mit Billard, Alkohol und leichten Mädchen. Aber Duff hat das unstete Leben langsam satt. In einer Kleinstadt lernt er die Lehrerin Josie Dawson kennen, Tochter eines Baptistenpfarrers, und die beiden verlieben sich. Josie und ihre Eltern gehören zur schwarzen Mittelschicht des Städtchens und pflegen einen gutbürgerlichen, um nicht zu sagen spießbürgerlichen Lebensstil. Etwas polemisch könnte man sagen, sie möchten weißer sein als die Weißen. Doch der übertriebene Anpassungswille, den Duff scharf kritisiert, ist nicht ohne Grund: Der letzte Lynchmord in der Gegend liegt erst acht Jahre zurück. Duff als einfacher Arbeiter mit unsolidem Lebenswandel bekommt zu spüren, dass er nicht in dieses Milieu passt. Bei seinem ersten Besuch im Haus von Josies Eltern wird er höflich behandelt, aber die latente Ablehnung durch Josies Vater ist sofort spürbar.


Bei einem Besuch in Birmingham, der größten Stadt des Bundesstaats, besucht Duff seinen vierjährigen unehelichen Sohn. Dessen Mutter hat sich mit einem anderen Mann aus dem Staub gemacht, und das Kindermädchen, das sich um den Jungen kümmert, hat kein Geld mehr von ihr erhalten. Eigentlich sollte Duff das Kind jetzt zu sich nehmen, aber er drückt sich davor. Duff trifft in Birmingham auch seinen Vater, einen kranken und alkoholsüchtigen Taugenichts, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder. Die beiden erkennen sich gegenseitig kaum wieder und haben sich wenig zu sagen. Duffs zaghafter Versuch einer Wiederannäherung wird vom Vater schroff abgewiesen. Er gibt seinem Sohn nur noch den Ratschlag mit auf den Weg, sich von der Ehe fernzuhalten. Vielleicht gerade deshalb heiraten Duff und Josie bald darauf, den Widerständen zum Trotz. Sie beziehen ein eigenes Häuschen, das aber zunächst nur eine baufällige Bruchbude ist und erst in Schuss gebracht werden muss.


Um Josie näher sein zu können, tauscht Duff den Job bei der Bahn gegen einen in einem Sägewerk, doch das erweist sich als Fehler. Er verdient nicht nur viel weniger, er verliert auch die Arbeit bald wieder, als er seine neuen Kollegen überreden will, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die nun folgende Arbeitssuche gestaltet sich zermürbend. Stellen als livrierter Lakai oder als Baumwollpflücker für einen Hungerlohn nimmt Duff gar nicht erst an, einen Job an einer Tankstelle verliert er gleich wieder, als er von ein paar Rednecks provoziert wird. Eigentlich verdient Josie als Lehrerin genug für beide, aber das verträgt Duffs Ego nicht. Außerdem wird Josie schwanger, so dass sie in ein paar Monaten nicht mehr arbeiten können wird. Duff wird zunehmend unleidlich, sogar gewalttätig, und die Ehe gerät in eine Krise. Schließlich packt Duff die Koffer und geht allein nach Birmingham. Doch als sein Vater im Suff stirbt, packt ihn die Erkenntnis, dass er eines Tages auch so enden könnte, wenn er nicht gegensteuert. Er holt seinen Sohn ab und geht mit ihm zurück zu Josie. Ausgang offen - doch der gute Wille zu einem Neuanfang ist auf beiden Seiten vorhanden.


NOTHING BUT A MAN ist ein unspektakulärer Independent-Film mit semidokumentarischem Touch. Roemer und sein Kameramann, Co-Autor und Co-Produzent Robert M. Young hatten auch ein Standbein im Dokumentarfilm. Die beiden waren Studienkollegen und hatten schon 1949 an der Harvard-Universität gemeinsam einen Studentenfilm gedreht. Für NOTHING BUT A MAN recherchierten sie intensiv in den Südstaaten: Fast im Stil von Ethnologen ließen sie sich drei Monate lang von einer Gemeinde oder Gastfamilie zur nächsten weiterreichen und sammelten Eindrücke, bis sich ihre Vorstellungen so weit verdichtet hatten, dass sie ein Drehbuch daraus machen konnten. Den Kontakt zu ihren Hauptdarstellern vermittelte der schwarze Schriftsteller Charles Gordone. Ivan Dixon war bereits professioneller Schauspieler; später fand er sein Auskommen vor allem durch eine Serienrolle in "Hogan's Heroes". Seine letzte nennenswerte Filmrolle war in CAR WASH (1976), schon vorher hatte er sich auf eine Laufbahn als Fernsehregisseur verlegt. Die Jazzsängerin und Gelegenheitsschauspielerin Abbey Lincoln dagegen spielte ihre erste Rolle, abgesehen von einem Auftritt als sie selbst in Frank Tashlins THE GIRL CAN'T HELP IT. Nicht nur für eine Debütantin macht sie ihre Sache außerordentlich gut. Auch Julius Harris, der Darsteller von Duffs Vater, hatte hier seinen ersten Auftritt - zuvor war er Krankenpfleger. Später war er hauptsächlich in Blaxploitation-Filmen zu sehen. Generell zeigt NOTHING BUT A MAN sehr gute, immer authentisch wirkende Darstellerleistungen.


Der Soundtrack des Films stammt von Motown-Künstlern wie Martha and the Vandellas, Mary Wells und Stevie Wonder (damals, mit 14 Jahren, noch "Little Stevie Wonder"). Er verleiht zusätzliches authentisches Flair, ohne in den Vordergrund gerückt zu werden. NOTHING BUT A MAN ist kein Film über die Swingin' Sixties - dazu wäre Alabama auch der falsche Ort. Gedreht wurde übrigens gar nicht in Alabama, was durchaus riskant hätte werden können, sondern in New Jersey. Auch die gesellschaftspolitischen Umbrüche der Zeit, insbesondere das Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung, bilden nur den latenten Hintergrund des Films, ohne offen angesprochen zu werden (was sich durchaus angeboten hätte - die Darsteller nahmen sich im August 1963 Urlaub von den Dreharbeiten, um an Martin Luther Kings Marsch nach Washington teilzunehmen). Aber Roemer und Young wollten keinen vordergründig politischen Film drehen: "We thought that the most powerful, useful political statement would be a human one" (Roemer). Letztlich ist NOTHING BUT A MAN ein Film über Selbstachtung, Respekt und einen sinnvollen Platz im Leben. Dennoch wird der alltägliche Rassismus unverblümt gezeigt - die Standardanrede der weißen Rednecks für Schwarze ist etwa immer noch "Boy".


NOTHING BUT A MAN lief auf einigen internationalen Festivals und gewann zwei Preise in Venedig, aber der kommerzielle Erfolg in den USA war sehr bescheiden. Immerhin kursierten ausleihbare 16mm-Kopien lange in schwarzen Gemeinden. Dass Roemer heute als Regisseur nicht in Vergessenheit geraten ist, liegt in erster Linie an seinem nächsten Film THE PLOT AGAINST HARRY, wieder mit Young als Partner realisiert. Es handelt sich um eine Gaunerkomödie, wiederum nach ausgiebigen Milieustudien mit semidokumentarischem Anstrich gedreht, und stilistisch irgendwo zwischen Woody Allen und John Cassavetes angesiedelt. Harry, ein jüdischer Ganove in New York, hat nach einem Gefängnisaufenthalt Schwierigkeiten, wieder ins Berufsleben als Verbrecher einzusteigen, und wird schließlich von seinen Verwandten mit Tricks und Schlichen (dem "Plot") wieder auf den Pfad der Tugend und des spießigen Familienlebens geführt. Der Film wurde 1969 gedreht, aber die kleine Firma aus Seattle, die ihn finanzierte, hielt ihn für einen kompletten Fehlschlag, und nach einer desaströsen Probevorführung, bei der niemand lachte, schloss sich Roemer resigniert dieser Meinung an. Abgesehen von einem kurzen Lauf in einem einzelnen Kino in Seattle kam THE PLOT AGAINST HARRY gar nicht erst in den Verleih. Doch 1989 nahm Roemer einen neuen Anlauf. Er reichte zwei Kopien bei den Filmfestivals von Toronto und New York ein, wurde in beiden Fällen angenommen, und THE PLOT AGAINST HARRY geriet zum Überraschungserfolg. Er kam jetzt endlich in die Kinos und lief auf weiteren Festivals, so auf dem Münchner Filmfest 1990 (in einem Programm mit den weiteren Independent-Wiederentdeckungen BLAST OF SILENCE, CARNIVAL OF SOULS und THE HONEYMOON KILLERS). Im Gefolge dieser Wiederauferstehung kam 1993 auch NOTHING BUT A MAN wieder in den Verleih, diesmal mit größerem Erfolg an der Kasse, und 1994 wurde er von der Kongressbibliothek in die National Film Registry aufgenommen. Roemer nahm den neuen Erfolg in den 90er Jahren erfreut, aber gelassen zur Kenntnis. Er lehrt seit 1966 als Professor für Film an der Yale University und drehte nach der vermeintlichen Pleite mit THE PLOT AGAINST HARRY nur noch sehr sporadisch weitere Filme. "I don't think I've made a film that isn't as alive today as it was when we made it", sagte er 2004 in einem Interview. "I feel good about that. Everything still looks like it happened yesterday rather than 40 years ago."


NOTHING BUT A MAN und THE PLOT AGAINST HARRY sind in den USA auf DVD erschienen, ersterer auch in England. In den USA gibt es auch eine DVD-R-Box mit sieben Filmen Roemers.

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Das Jahr, das uns die Alten brachte

Lina Braake (Alternativtitel: Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat)
(Lina Braake, Deutschland 1975)

Regie: Bernhard Sinkel
Darsteller: Lina Carstens, Fritz Rasp, Ellen Mahlke, Herbert Bötticher, Benno Hoffmann, Rainer Basedow, Erica Schramm, Wilfried Klaus, Teseo Tavernese u.a.

Der sich vom reinen Unterhaltungsfilm abgrenzende deutsche Autorenfilm der 70er Jahre zeichnete sich durch eine bemerkenswert vielfältige, oft beinahe dokumentarische Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen und zeitgeschichtlichen Themen aus, die uns heute noch beeindruckt, mochten wir ihn und seine utopische Forderung nach einer besseren Welt vielleicht gelegentlich auch in künstlerischer Hinsicht ein wenig überschätzen.  Denn nicht zuletzt wegen des Heranwachsens immer neuer Regisseure benötigte er eine intensive Förderung; und die erhielt er spätestens seit dem zum Markstein gewordenen Abkommen zwischen der Filmförderungsanstalt und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Jahre 1974 vom Fernsehen, das sich wiederum eine rasche Übernahme  der Produktionen nach der Kinoauswertung sicherte. Eine Zweckehe war geboren, die den deutschen Film nachhaltig veränderte: Zwar gab es immer noch die international erfolgreichen Werke der "bedeutenden" Figuren des “Neuen Deutschen Films”; gerade Jungregisseure sahen sich jedoch veranlasst, sich in ihrer Ästhetik dem Medium Fernsehen anzupassen, sozusagen für den Bildschirm statt für die grosse Leinwand zu inszenieren. - Und so waren einige der Streifen, die wir in dieser Zeit als epochemachende Produkte eines fortschrittlichen Denkens verherrlichten, in erster Linie kleine für den Tag geschriebene Fernsehfilme mit verzeihlichen Schwächen, die bei  einer Sichtung nach vielen Jahren aber doch ins Gewicht fallen.


Dies trifft sicher nicht auf alle geförderten Werke jener Jahre zu. Gerade der von mir bei früherer Gelegenheit besprochene und leider noch immer nicht auf DVD erhältliche Erstling von  Erwin Keusch, “Das Brot des Bäckers” (1977), setzt seine Geschichte vom Niedergang des Kleingewerbes in jeder Hinsicht tadellos und zeitlos ins Medium Film um. Es beruhigte mich jedoch, dass mein Blogger-Kollege von "Sieben Berge" anlässlich einer Besprechung von Hark Bohms “Moritz, lieber Moritz” (1978) von einem historischen Abstand zur Welt der 70er Jahre schrieb, der sich unter anderem in einem betulich wirkenden Erzählton bemerkbar mache, aber auch in einem Optimismus, der den heutigen Zuschauer befremdet. Denn ich hatte kurz zuvor ähnlich zwiespältige Erfahrungen gemacht - mit einem Film, der uns seinerzeit vorbehaltlos begeisterte und die Presse zu kollektiven Lobgesängen hinriss.

Mit seinem sozialkritischen Schelmenstück “Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat” betrat der Debütant Bernhard Sinkel in zweierlei Hinsicht Neuland: Er entdeckte die Komödie für den “Neuen Deutschen Film” der 70er Jahre, und er besetzte sie mit Senioren. Der Publikumserfolg veranlasste den SPIEGEL gleich zu einem Artikel, in dem ein “Altenkult” beschworen wurde:  1975 sei das Jahr, das uns die Alten wieder ins Bewusstsein bringe, im Film, Fernsehen und Theater. Rainer Werner Fassbinder habe mit “Angst essen Seele auf” (1974) den Anstoss gegeben; jetzt würden mit Serien wie “Rest des Lebens”, Theaterstücken wie Karl Otto Mühls “Rheinpromenade” oder Tankred Dorsts “Eiszeit” - ja gar mit Curd Jürgens’ “60 Jahre und kein bisschen weise” Greise zum Thema der Saison. “Ade, süsser Vogel Jugend, willkommen, ihr Mühseligen und Bejahrten”. Willkommen aber vor allem auch Lina Braake, die zeigt, dass man selbst im Alter noch einen übermächtigen Gegner zu überlisten vermag!

Die Presse neigt bekanntlich zu Übertreibungen und Pauschalisierungen. Eine Kriminalkomödie, die sich für die Rechte alter Menschen stark machte, den Zuschauer  sogar Sympathie für die kriminellen Alten empfinden liess, weil sie gegen einen Goliath antraten, fuhr aber schon ein: Obwohl der 81-jährigen Lina Braake von ihrem verstorbenen Vermieter schriftlich ein Wohnrecht auf Lebenszeit zugesichert wurde, kündigt ihr die Bank, die den Altbau übernommen hat und abreissen will, gnadenlos und schiebt sie in ein idyllisch gelegenes, jedoch völlig verlottertes Altenheim ab. Dort leidet Lina nicht nur unter der ungewohnten Umgebung und den Marotten der anderen Bewohner; die früher selbständige Frau muss auch erkennen, dass ihre Hilfe nicht mehr gefragt ist. Sie lässt sich in eine Lethargie fallen, verbringt den ganzen Tag nur noch im Bett. Erst der ihr zunächst kauzig vorkommende entmündigte ehemalige Bankfachmann und Betrüger Gustaf Härtlein weckt ihre Lebensgeister wieder. Er erinnert Lina daran, dass sie noch eine Rechnung begleichen möchte und er ihr dabei helfen kann. So kommt es, dass nach längerem gemeinsamem Monopoly-Spielen und vielen Lektionen zum Thema Geldzirkulation eines Tages eine distinguiert wirkende ältere Dame die Deutsche Boden- und Kreditbank betritt, um dort 20'000 Mark abzuheben, die ihr nicht gehören. Mit dem erschwindelten Geld kauft sie für den Friseur-Gehilfen Ettore einen Hof in Sardinien, wo sie selber noch einmal die ihrem Alter angemessene Wärme spüren will. Am Ende wird Lina von der Polizei zurück ins Heim gebracht. Aber sie hat einen Trumpf in der Tasche...

Ein Thema, wie es von bleibenderer Aktualität nicht sein könnte. Da lebt ein Mensch sein bescheidenes Leben, ist zufrieden damit und denkt, wenigstens an ihm seien die gesichtslosen Mächtigen nicht interessiert  (zu Beginn betritt Lina den Salon ihres Friseurs und meint zu den laut tönenden Sirenen des Krankenautos, es habe sich wieder einer aus dem Fenster gestürzt, weil man ihm die Wohnung wegnahm - was ihr ja nie passieren könne). Man passt sich sogar den unbequemen Veränderungen der Moderne an (eine Szene, die Lina vor zwei Aufzügen zeigt, deren Türen sich gleichzeitig öffnen und gleich darauf wieder schliessen, wirkt wie eine Reverenz an Jacques Tatis “Playtime”, 1967). --- Doch dann tauchen sie auf, die legalen Abzocker, reissen diesen Menschen aus seinem kleinen Dasein und führen sich sogar als die eigentlichen Opfer auf (“Aber wir sind doch eine Bank! Wir handeln mit Geld...”). Wünscht man sich da nicht ein Märchen, in dem mit dem Pack abgerechnet wird? Ist es nicht das, was sich die heute weltweit Sympathien erntende “Occupy"-Bewegung ebenfalls als utopisches Ziel setzt?

Von nun an gehört der Film ganz den beiden alten Menschen, die dieses Märchen frech und aufmüpfig Realität werden lassen wollen. Man sieht Lina förmlich an den unter einem “Wie gehts uns denn heute” des Heimleiters noch depressiven Augen an, wie das Leben in sie zurückkehrt, als Härtlein sie in die Geheimnisse des Betrugs einzuweisen beginnt (herrlich: die Szene, in der die beiden den korrekten Auftritt der Dame von Welt am Bankschalter einüben). Die traurige alte Frau, die zu der Bemerkung “Schaden kanns nix. Aber obs hilft?” in der Kirche eine Kerze anzündete, wird wieder zum selbständigen Wesen, das auf seinem mit der Unterstützung des Hausmeisters zusammengebastelten Fahrrad herumfährt - und als dann im Friseursalon zum Tango-Leitmotiv des Jazz-Pädagogen Joe Haider die Worte “Bella Lina” erklingen, weiss der Zuschauer, dass das bescheidene Märchen auf Zeit in Erfüllung gehen wird. - Es ermöglicht sogar Lina Carstens, die ab 1935 schon unter Douglas Sirk gespielt hatte, und Fritz Rasp, wegen seiner eng zusammenliegenden Augen immer wieder zu Rollen in Krimis verurteilt, als Gaunerpärchen selber noch einen späten Triumph zu feiern, nachdem man sie schon weitgehend abgeschrieben hatte.

Dieser Triumph der beiden Altstars ist jedoch auch dafür verantwortlich, dass man als Betrachter des Films den zeitlichen Abstand zu den 70er Jahren heute so stark empfindet. Denn nur Lina und Gustaf werden als Menschen gezeichnet, alle anderen Figuren um sie herum sind lediglich Typen, als seien sie als Nebenfiguren der “Lindenstrasse” entsprungen, hätte es diese damals schon gegeben. Der Heimleiter Körner ist nicht mehr als ein spiessiger Emporkömmling, wie man ihn sich damals eben vorstellte: nach oben wegen des kleinen Etats jammernd, nach unten tyrannisierend - und dann noch staunend, weil man ihn offenbar nicht liebt (“Manchmal habe ich das Gefühl, dass die mich hassen”). Jawlonsky, der Hausmeister, wird zum schon beinahe unerträglich stereotypen harten Kerl mit weicher Schale. Und dann beschwört man natürlich noch den Antiquitätenhändler herauf, der die Alten ausnehmen will. - Dass im Zusammenhang mit dem italienischen Friseurgehilfen Ettore sogar die Situation der italienischen Gastarbeiter in Deutschland thematisiert werden muss, zeigt, dass eine 70er Jahre-Komödie eben nicht nur eine Komödie sein kann, sondern sich zusätzlich mit weiteren gesellschaftlichen Problemen überladen muss.


Wer jedoch in den “Genuss” von “Dinosaurier - Gegen uns seht ihr alt aus!” (2009) kam, muss zugeben:  man jammert als Kritiker von “Lina Braake” auf einem hohen Niveau. Selbst die teilweise etwas einfallslosen Dialoge (lediglich Härtling darf sich Bonmots wie “Schwarze Kleider. Geeignet für Beerdigungen und Bankgeschäfte” leisten) wirken im Vergleich zum Remake direkt inspiriert. Und das scheinbar gelegentlich zu lange Verharren der Kamera an einer Stelle im ersten Teil geht vergessen, wenn man die nicht weniger langen Einstellungen geniesst, die Lina unter der Sonne Italiens am Strand sitzend oder in die Landschaft blickend zeigen. Diese Aufnahmen dienen nicht touristischen Zwecken; sie widerspiegeln einfach den Gemütszustand einer alten Frau, der List und Tücke noch zur Möglichkeit verhalfen, nicht nur eine offene Rechnung zu begleichen, sondern einen Traum für sich zu verwirklichen. - Und in solchen Augenblicken sehnt man sich - ich berufe mich noch einmal auf  "Sieben Berge" - zurück nach der tief versunkenen Welt der 70er Jahre mit ihren optimistischen Vorstellungen. Denn trotz aller Bewegungen gegen die Mächtigen vermag man heute nicht mehr die Kraft aufzubringen, an kleine Wunder zu glauben, zu deren Verwirklichung uns das Jahr, das uns die Alten brachte, auf der Leinwand oder am Bildschirm beinahe anspornte.