Sonntag, 5. Januar 2014

2013 – eine persönliche Retrospektive in etwa 11 ½ Listen



Und wieder ein Jahr voller Filme rum!
Was meine Kino-Erfahrungen betrifft, wird 2013 für mich in die Geschichte eingehen als das Jahr, in dem ich das Konzept „Sneak Preview“ kennen lernte – mit global gesehen sehr zwiespältigen Ergebnissen; nicht nur, was die Qualität der Filme betrifft, sondern auch, was die Vorlaufzeit betrifft (zumindest in einem Fall): an einem Montag zwei Tage vor der Mittwochsvorpremiere einen Film zu „sneaken“, ist irgendwie witzlos. Mittlerweile würde ich Sneaks dennoch als gute Gelegenheit für Kino-Besuche zu zweit und in der Gruppe sehen (denn geteilte Qual ist bekanntlich halbe Qual) wie auch als Gelegenheit, Filme zu schauen, die man sonst nie sehen würde, und potentiell auch die eine oder andere Perle zu entdecken.
Geordnet nach Präferenzen:


Ein Jahr – sieben Sneaks

1 ALL IS LOST (J. C. Chandor, USA 2013)
Ein minimalistisches Meisterwerk, oder: wer braucht schon Dialoge und nachvollziehbare Figuren, wenn es Robert Redford in Hochform gibt. Ein Kandidat für die Top-Liste 2014! Mehr Worte von mir zu diesem Film gibt es hier.

2 WARM BODIES (Jonathan Levine, USA 2013)
Meine allererste Sneak! Erfindet das Zombie-Genre letztendlich doch nicht neu, bleibt aber trotzdem bis zum Ende unterhaltsam.

3 IRON MAN 3 (Shane Black, USA / China 2013)
Erstaunlich nett – dafür, dass ich weder IRON MAN noch IRON MAN 2 kannte (und bis heute nicht kenne).

4 SNITCH (Ric Roman Waugh, USA / Vereinigte Arabische Emirate 2013)
Wenn bloß das nervige Rumgewackel nicht gewesen wäre (da wollte wohl wieder jemand einen auf „Realismus“ machen)! Hätte hervorragendes Schauspieler-Kino werden können, nicht trotz, sondern gerade wegen des hervorragenden Dwayne „The Rock“ Johnson.

5 RIDDICK (David Twohy, USA / UK 2013)
Lähm-Gesicht Vin Diesel jagt CGI-Viecher mit CGI-Stöckchen durch eine CGI-Wüste. Der Rest ist weder nennenswert, noch halbwegs so unfreiwillig witzig.

6 THE WAY WAY BACK (Nat Faxon/Jim Rash, USA 2013)
Aua! Autsch!!!

7 PAULETTE (Jérôme Enrico, Frankreich 2012)
Autsch! Aaarrrggghhh!!!


Da ich gerade SNITCH erwähnt habe: Der verrückte Zufall will es, dass ich dieses Jahr nicht nur Dwayne Johnson alias „The Rock“ zum ersten mal bewusst als Schauspieler wahrgenommen habe, sondern dass ich tatsächlich auch alle fünf Kinofilme mit dem Schwergewicht gesehen habe, die 2013 im Kino und im Heimkino herauskamen. Ich muss sagen: ich lernte diesen Mann als Schauspieler zunehmend zu schätzen, und zwar so sehr, dass ich ihn sogar zu meinem Schauspieler des Jahres erklären würde.
Geordnet nach Darstellungs-Leistung (wobei bis auf die Plätze 4 und 5 diese tatsächlich mit der Qualität der Filme korrelieren) folgen die:


Fünf Facetten des Dwayne Johnson 2013

1 Paul Doyle in PAIN & GAIN
Vielleicht die beste Schauspielleistung in einem Film, der sowieso voller lauter toller Darsteller ist: Ein großer, grenzdebiler, tumber, christlicher Bodybuilder, in seiner naiven Einfältigkeit eigentlich herzensgut, in seiner grenzenlosen und kokainverstärkten Dämlichkeit aber auch der grausamste Gewalttäter der Bande.
2 John Matthews in SNITCH
„The Rock“ als mittelständischer Unternehmer und Familienvater. Weint zwischendurch und wirkt dabei nicht nur keineswegs lächerlich, sondern durch und durch glaubwürdig und rührend.
3 Detective Ransome in EMPIRE STATE
Nur eine kleine Nebenrolle, aber ein Lichtblick in einem völlig ausdruckslosen Ensemble.
4 Hobbs in FAST & FURIOUS 6
Dito. Neben Vin Diesel zu glänzen ist zugegebenermaßen keine hohe Kunst.
5 Roadblock in G.I. JOE – RETALIATION
Johnson ist zweifelsohne der charismatischste der Joes. Allerdings stinkt er dann am Ende doch gegen die Geheimwaffe des Films ab (Bruce Willis).



Aktuellste Trends im Kino: die Digitalisierung und ihre Folgen
Um wieder kurz zum allgemeinen zu kommen: für mich persönlich am auffälligsten war die nunmehr wirklich hegemoniale Durchsetzung der DCP-Projektion im Kino und das Quasi-Ende der klassischen 35-Millimeter-Projektion. Eine Entwicklung, die ich als aktiver Kinobesucher mit gemischten Gefühlen beobachte und miterlebe.
Die DCP-Projektion bringt zumindest eine erfreuliche und positive Erneuerung. Kinos können sich nunmehr (wenn sie sich denn dafür entscheiden) vom Verleih einen Film in zwei Sprachfassungen geben lassen, und müssen sich nicht mehr zwischen Synchron-Kopie oder OmU/OV-Kopie entscheiden (oder beide für doppeltes Geld bestellen). So kommt es allmählich zur stärkeren Repräsentation von OmU- und OV-Vorstellungen in provinziellen, kleinstädtischen Programm-Kinos – in Orten also, in denen diese vorher meist randständige Mangel- und Nischenerscheinungen waren. 15 Filme habe ich dieses Jahr im Rahmen regulärer Kinovorstellungen in OV/OmU-Repräsentation gesehen bzw. besser gesagt sehen können: wahrscheinlich ein Rekord (Festivalvorstellungen, Pressevorführungen, Spezialaufführungen und natürlich auch deutschsprachige Filme sind nicht mit eingerechnet).
Im Bereich der Bildqualität allerdings bringt die DCP-Projektion meiner Meinung nach auch merkliche Rückschritte gegenüber guten 35-Millimeter-Kopien. Schlechte DCPs assoziiere ich bereits mit unappetitlichem Pixel-Matsch, sei es jetzt bei neueren Filmen wie ich es bei THE GRANDMASTER oder QUELLEN DES LEBENS erlebt habe, aber auch bei umformatierten Stummfilmen wie METROPOLIS oder – noch schlimmer – DIE AUSTERNPRINZESSIN. Wirklich gute DCPs scheinen nicht die Mehrheit zu sein, und diese haben dann oft ein exzellentes, aber steriles und lebloses Bild, was mir besonders bei DJANGO UNCHAINED aufgefallen ist. Wie wunderbar das gute alte 35-Millimeter-Format im Gegensatz dazu aussehen kann, merkte ich bei meiner Kino-Sichtung von Danny Boyles TRANCE – rein bildlich der allerschärfste und farbenprächtigste Film des Jahres.
Dass trotzdem nicht alles Gold ist, was das Label „35 Millimeter“ hat, zeigte sich bei einer sehr denkwürdigen Aufführung von VERTIGO beim monatlichen Jenaer 35-mm-Kino – eine Vorführung, auf die ich mich wie ein kleines Kind gefreut habe. Die Kopie jedoch war farbentsättigt, sehr stark verschlissen, teils regelrecht beschädigt und die Tonspur in einem noch desolateren Zustand. Die Projektion im falschen Bildformat (seitlich auffallend beschnitten), eine vollkommen sinnlose 10-minütige Pause nach der vierten (?) Rolle und die lebhafte „Beteiligung“ von einem Teil des Publikums (hämische Lacher bei melodramatischen Szenen, munterer Permanent-Audiokommentar und laute Zwischenrufe à la „Was hat die da gerade gemacht?“) haben die Bedingungen der Sichtung nicht gerade verbessert. Dass Hitchcocks impressionistischer Türkis-Film auch unter diesen Umständen beeindruckend war, spricht allerdings für seine zeitlose (geradezu material-unabhängige?) Qualität.

À propos Qualität: gehen wir doch über zu den besten und schlechtesten Filmen des Jahres 2013 (selbstredend meine subjektive Einschätzung, was hiermit ebenso selbstverständlich auch für alle vorherigen wie auch nachfolgenden Listen gilt). 


Die Top-10 2013

1 STOKER (Park Chan-Wook, USA / UK 2013)
Atemberaubend in vielerlei Hinsicht. Die ständig bewegte Kamera, die kunstvollen und asymmetischen Kadragen, der assoziative Schnitt-Rhythmus. Mia Wasikowska ist sowieso immer toll, Matthew Goode kann herrlich psychopathisch lächeln und Nicole Kidman beweist, dass es ein Schauspieler-Leben auch jenseits von Botox geben kann. An anderer Stelle habe ich den Film als „Coming-of-age-Sexkomödie“ bezeichnet, und tatsächlich ist es erstaunlich, wie humorvoll dieser eigentlich zappendustere Film ist – ätzender, schwarzer, grenzwertig perverser Humor!

2 LA VÉNUS À LA FOURRURE (Roman Polański, Frankreich / Polen 2013)
Der große Schauspieler-Film des Jahres. Wie Emmanuelle Seigner und Mathieu Amalric in kleinsten, geradezu mikroskopischen Nuancen mit ihren Körpern, ihrer Stimme, ihrer Mimik, ihrer Intonation, ihrem Atmen agieren und interagieren, ist verblüffend. Auch eines der „filmischsten“ Kino-Werke des Jahres: LA VÉNUS À LA FOURRURE ist trotz des Settings und der Thematik von „abgefilmtem Theater“ ungefähr so weit entfernt wie etwa PAIN & GAIN oder SPRING BREAKERS. Er hat mir außerdem auf sehr plastische Art und Weise deutlich gemacht, was den Kern vieler Polański-Filme eigentlich ausmacht: es gibt keine Unterschiede zwischen Liebesfilm, Komödie und Horrorfilm.

3 PAIN & GAIN (Michael Bay, USA 2013)
Irgendjemand sollte Michael Bay mal die ganzen Spielzeug-Autos aus den Fingern reißen und ihm das Budget auf maximal 25 Millionen $ pro Film begrenzen: wenn dann immer so etwas rauskommt, gibt es von diesem Mann noch vieles zu erwarten! Denn PAIN & GAIN ist der unglaublichste Film des Jahres. Wie eine Parodie auf einen Michael-Bay-Film oder seine radikale dialektische Umkehrung: je protziger, schneidiger, geiler, aufgepumpter, schweißig-glitschiger und bling-bling-mäßiger er sich gibt, um so tiefer starrt er auf die verrottete Schimmel-Seite des amerikanischen Traumes. Ein Paradies auf Erden, voller jovialer Nachbarn (die beherzt Leichenteile auf den Grill werfen), tüchtiger Geschäftsmänner (Spezialgebiet: Entführung, Folterung & Mord) und kerngesunder Gewinner-Typen (die sich nach einem Blutbad erstmal eine Runde „aufpumpen“). Unerhört, ungeheuerlich, unglaublich.

4 THE WORLD‘S END (Edgar Wright, UK 2013)
Dieses vom Alkohol, von jahrelangen Exzessen, von langen Partynächten verwitterte und gerötete Gesicht, diese absolute Sturheit, Sachen (egal, wie sinnlos, dumm, gescheitert und ziellos sie sein mögen) bis zum absolut bitteren Ende, ja bis zum Ende der Welt durchziehen zu wollen, diese fettigen Haare und der lange schwarze Mantel: Gary King ist zweifelsohne die faszinierendste, aber auch die tragischste Figur der „Cornetto-Trilogie“. Ein Mann ohne jeglichen Anschluss an die Gesellschaft. Der weiß, wie traurig das letzte Bier ist. Loser, würden viele Leute sagen. Ich sage: „nur“ ein fehlbarer Mensch. Diese melancholische Nachdenklichkeit ist natürlich eher eine Unterschwelligkeit in diesem flott durchgezogenen Binge-Drinking- & Alien-Invasions-Szenario. Aber sie ist die Würze, die schon SHAUN OF THE DEAD ausmachte (und bei HOT FUZZ fehlte).

5 TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT (Dominik Graf, Deutschland 2013)
Reisszooms, skurrile Figuren, absurder Nonsens-Humor, diese völlig wahnsinnige Detailbesessenheit und dann gehen die Bild- und Tonspur auseinander, um fröhlich umeinander im Kreis zu tanzen. Ein Film wie eine entfesselte Bebop-Improvisation, in der Akkorde in rasendem Tempo schichtweise übereinander gestapelt werden. Die empörten Reaktionen der Format-Liebhaber, die eher an leichten, gemächlichen und vom Blatt gespielten Melodien gewöhnt sind, waren fast so unterhaltsam wie der Film selbst, aber eben nur fast.

6 PAZIRAIE SADEH / MODEST RECEPTION (Mani Haghighi, Iran 2012)
Ein Mann und eine Frau fahren durch die Berge, um den Bewohnern Unmengen an Geld in die Hand zu drücken. Die wehren sich dagegen, und das Spender-Paar muss zu immer ausgeklügelteren und schließlich drastischeren Methoden greifen, um die Beschenkten zu ihrem Glück zu nötigen. Der Film Mani Haghighis, der auch die männliche Hauptrolle spielt, fängt absurd an, und zieht irgendwann die Daumenschrauben drastisch an, bis die Knochen zu krachen anfangen und das nackte Grauen auftaucht. Unwohlfühl-Kino vom Feinsten!

7 7 DÍAS EN LA HABANA: DIARY OF A BEGINNER (Elia Suleiman, Frankreich / Spanien 2012)
Insgesamt betrachtet ist 7 DÍAS EN LA HABANA ein ziemlicher Mist. Zwischen den ganzen Kuba-Klischees, billigen Schnulzen-Melos, durchformatierten Latino-Gemeinplätzen, überdimensionierten Sozialkritik-Keulen und peinlichen Exotik-Lüsternheiten findet sich Elia Suleimans Perle, die Donnerstags-Episode DIARY OF A BEGINNER. Der palästinensische Regisseur füllt seine 16 Minuten mit bizarren Tableaus und assoziativen Ellipsen und verwandelt die fast menschenleere kubanische Hauptstadt in ein abstraktes Stillleben. Asketisches Kino als Seelenfutter.

8 SPRING BREAKERS (Harmony Korine, USA 2012)
Der style-over-substance-Gewinner des Jahres. Die Geschichte über die vier Spring-Break-Besucherinnen und den Gangster Alien ist ein hanebüchenes Nichts. Im Gegensatz etwa zum ebenso hanebüchenen ONLY GOD FORGIVES, dem man die verkrampfte Suche nach (letztendlich küchenpsychologischer) „Substanz“ zu deutlich ansieht, ist bei SPRING BREAKERS dieses „Nichts“ auch die beste Voraussetzung für die Stärke des Films: ein faszinierendes Experiment in sich überlappenden Bild- und Ton-Montagen, in das man sich immer tiefer verlieren kann.

9 BEHIND THE CANDELABRA (Steven Soderbergh, USA 2013) 
Steven Soderbergh sollte wesentlich öfter seine Kinokarriere beenden! Und seine potthässlichen Gelb- und Grünblenden in der Schublade stecken lassen. Vom „Weder-Fisch-noch-Fleisch“-Regisseur, der nicht gerade für seine humanistischen Charakterzeichnungen berühmt ist, kommt plötzlich dieser konsequente Film, diese wunderbare und tragische Liebesgeschichte, die voller Respekt, Zuneigung und Empathie für ihre zugegebenermaßen hochneurotischen Figuren ist. Aber meiner Einschätzung nach sind für das Gelingen des Films sowieso auch primär Michael Douglas (kaum wieder zu erkennen und selten so gut) und Matt Damon (so stark, dass man schon nach wenigen Sekunden nicht mehr ständig „Määäääät Dääääämon“ rufen möchte) verantwortlich.

10 IM WEIßEN RÖSSL – WEHE DU SINGST! (Christian Theede, Deutschland / Österreich 2013)
Douglas Sirk (auf dessen Wege entfernt das Melodrama BEHIND THE CANDELABRA wandert) hat einmal gesagt, dass Trash mit einer ordentlichen Prise Verrücktheit ein naher Verwandter von hoher Kunst ist – womit wir bei dieser Adaption der klassischen Operette „Im Weißen Rössl“ wären. Irgendwo zwischen diesem ganzen aufgeblasenen Kitsch, diesen irgendwie lächerlichen Bollywood-Nummern, diesem völligen Nonsens-Showdown, diesen ausgedehnten selbstreferentiellen Musical-Nummern muss sich ganz große Kunst versteckt haben. Wer sie nicht findet (ich selbst bin mir wirklich alles andere als sicher) kann sich zurücklehnen und das ganze genießen. Und zum Beispiel über den Österreich-Internet-Witz lachen.

Für erwähnenswert halte ich außerdem Paul Thomas Andersons faszinierende 70-Millimeter-Collage über eine Hass-Liebe-Beziehung THE MASTER, Jan Bonnys und Günter Schütters POLIZEIRUF 110: DER TOD MACHT ENGEL AUS UNS ALLEN (insgesamt erschütternd, und mit der niederschmetterndsten Schluss-Szene des Jahres), Haifaa Al-Mansours kraftvolles Außenseiterin-Portrait WADJA, Pedro Almodóvars schrill-vergnügte Komödie LOS AMANTES PASAJEROS, Baz Luhrmanns THE GREAT GATSBY (nach einem holprigen Start irrsinnig mitreißend!) und Quentin Tarantinos mittlerweile fünfter Western DJANGO UNCHAINED (nicht annähernd so gut wie seine letzten beiden Filme, aber trotzdem vergnüglich).
Vollkommen aus dem Rennen genommen habe ich dieses Jahr Filme, die nicht „regulär“ in Deutschland liefen, also besonders solche, die ich beim goEast-Festival gesehen habe und die größtenteils keinen aktuellen Kinostart hatten (und oft: leider nicht haben werden). An Kandidaten für die Top-Liste hätte es nicht gemangelt (meine Einschätzungen sind hier und hier zu lesen), eine Ausnahme – also mit deutschem Kinostart – findet sich bei den Rest-Flops.

EDITORISCHE ERGÄNZUNG IN LETZTER MINUTE:
Technisch nicht 2013, sondern erst 2014 gesehen, aber dennoch ein stürmender Kandidat für die Top-10 ist zweifelsohne
ONLY LOVERS LEFT ALIVE (Jim Jarmusch, UK / Deutschland / Frankreich / Zypern / USA 2013)
Ich mag Jarmuschs Filme ja so oder so, und vielleicht wirkt eine große Leinwand gefühlsverstärkend, aber hier bleibt mir nur zu sagen: wow! Ein hypnotischer Film über eine erwachsene Liebesbeziehung, über die Liebe zu den kleinen Freuden des Lebens (und sei es nach dem biologischen Tode), über die grenzenlose Kraft von Musik und Literatur, über die Bedeutung von Wissenschaft, Technik und die Tatsache, wie wichtig „Helden“ (ob Tesla, Monk oder Keaton) in unserem Leben sind. Alles freilich über weite Strecken als Zwei-Personen-Kammerspiel inszeniert. Tilda Swinton als reifer Part des Vampiren-Pärchens ist so ätherisch leicht wie atemberaubend wunderschön, und Tom Hiddleston ist wunderschön schwermütig (wer halt auch ständig mit diesen französischen Romantik-Spinnern rumhängt!). Mia Wasikowska war insofern wenig überraschend, als dass ich von ihr mittlerweile nicht mehr weniger als pure Verzauberung erwarte. Der Soundtrack ist absolut göttlich wie bei den meisten Jarmuschs (warum wird immer nur Tarantino als feinfühliger Musik-Auswähler zitiert?), und zwischendurch fahren wir einfach nur ziellos durch die Gegend, wie schon in GHOST DOG: THE WAY OF THE SAMURAI. Langsam kann er sich tatsächlich selbst zitieren, dieser verrückte kleine weißhaarige Regie-Punker aus dem mittleren Westen.
Die Sichtung liegt nur sehr wenige Tage zurück: zu wenig, um wirklich über den Film zu reflektieren. Die Eindrücke liegen noch offen rum; zucken und schlagen um sich bei der geringsten Berührung. Sollte ONLY LOVERS LEFT ALIVE tatsächlich die heimliche „Nummer 0“ meiner diesjährigen Top-10 sein?

Und jetzt leider zu den unerfreulichen Dingen des Filmjahres.


Die Flop-10 2013

1 PAULETTE (Jérôme Enrico, Frankreich 2012)
Mehr als die vollkommen öde Dramaturgie nach Schema F ärgert mich der ungeheure Zynismus dieses Films, der sich als nette Sommerkomödie gibt und aus einer Bilderbuch-Front-National-Wählerin eine coole Kiez-Oma machen möchte. Bei einer Sneak in einem Saal voller Gäste „aus den umliegenden Dörfern“ zu sitzen, die bei jeder weiteren rassistischen Bemerkung noch lauter vor Lachen wieherten, war nicht nur die gruseligste Filmerfahrung des Jahres, sondern auch eine der unangenehmsten in meinem Leben. Dass dann auch noch ausgerechnet dieser Film DER (!) GANZ GANZ GROßE Programmkino-Hit des Jahres wurde, ist schier unfassbar.

2 GLORIA (Sebastián Lelio, Chile / Spanien 2013)
Auch hier hat mich der grenzenlose, aber unter der Oberfläche der netten Sommer-Drama-Komödie versteckte Zynismus zutiefst schockiert. Wollen jene, die Gloria als „starke Frau“ und „Heldin“ voller „Tiefe“ bezeichnen, der man „stundenlang zusehen“ will, gar nicht merken, wie narzisstisch, paranoid, grenzwertig sadistisch und vor allem zutiefst heuchlerisch die Titelfigur eigentlich ist? Die ihrem neuen Liebhaber am liebsten jeglichen Kontakt zu Ex-Frau und Kinder untersagen möchte, während sie selbst permanent bei ihren eigenen Kindern auf der Matte steht? Ihn letztendlich als Wurm betrachtet, nur weil er nicht so gefühlstot wie sie selbst ist und durch seine Scheidung existentielle Ängste erleidet, während ihr so etwas schnuppe ist. Ihn am Schluss dafür sogar erschießt (nun ja: mit Paintballs), nur um sich dann durch Mitträllern kitschiger Schlager aus dem Autoradio bei den Zuschauern anbiedern zu dürfen?

3 WE‘RE THE MILLERS (Rawson Marshall Thurber, USA 2013)
Der beste Witz am ganzen Film ist wohl, dass er von vier (4!) Drehbuchautoren geschrieben wurde. Vielleicht auch ein Grund, warum er sich so qualvoll lange 110 Minuten hinzieht, von einem abgeschmackten Witzchen zum nächsten homophoben Kalauer. Die Vermählung aus vermeintlicher Frivolität und erzreaktionärem Gesellschafts- und Familienbild gibt dieser unlustigen „Komödie“ einen Beigeschmack wie aus der Hölle.

4 THE WAY WAY BACK (Nat Faxon, Jim Rash, USA 2013)
Im Grunde die „Indiefilm“-Variante von WE‘RE THE MILLERS.

5 LO IMPOSIBLE (J. A. Bayona, Spanien 2012)
Ein Film, der möglicherweise den Begriff „Exploitation“, hinter dem sich manch eine kleine Perle verbirgt, für immer pervertiert: wie hier aus einer zeitlich gar nicht so weit zurückliegenden Katastrophe, die über 200.000 Menschen das Leben gekostet hat, mit einem zynischen und rassistischen Blick ein Tearjerker-Märchen gemacht wird, lässt zumindest mir kalte Schauer über den Rücken laufen.

6 PARKER (Taylor Hackford, USA 2013)
Der erste Film aus der Flop-Liste, den ich im Grunde „nur“ schlecht finde. Das bizarre Frauenbild, das spätestens im unnötigen Nebenplot mit der vollkommen talentfreien Jennifer Lopez offenbar wird, ist ja ein Stückchen weit immanent für das Genre des „harten Männer-Actionfilms“. Nicht immanent ist allerdings die zu Tode verschnittene und verwackelte „Action“, die diesen ohnehin spannungsfreien Film ohne jegliche halbwegs interessante Figur komplett obsolet macht.

7 FAST & FURIOUS 6 (Justin Lin, USA 2013)
Alles, was es hier gibt, ist ganz viel Wackel-Wackel-Schnitt-„Action“ und Vin Diesels vollkommen ausdruckslose Visage. Zugegeben: wenn Dwayne Johnson Snack-Automaten kaputt schießt, ist das relativ witzig, aber dann bleiben immer noch über 129 Minuten!

8 TO THE WONDER (Terrence Malick, USA 2012)
Vor 40 Jahren inszenierte einst ein genialer Mann BADLANDS (eines der ganz großen Meisterwerke des „New Hollywood“). Heute dreht Malick überdimensionierte christliche Werbeclips, deren dröhnend-pompöse Monologe und Voice-Overs gerne mal als „tiefgründig“ bezeichnet werden, nur weil der gute Mann einen akademischen Abschluss in Philosophie hat. Tatsächlich wirken aber seine Filme seit seinem Comeback wie Parodien ihrer selbst, und TO THE WONDER ist bislang das nervtötendste Resultat dieses „neuen Malick-Genres“.

9 NOW YOU SEE ME (Louis Leterrier, USA / Frankreich 2013)
Schmerzhaft anzusehen, wie hier eine wunderbare Schauspielerriege (Michael Caine, Morgan Freeman, Mélanie Laurent, Woody Harrelson, Jesse Eisenberg, Mark Ruffalo) durch ein solch peinliche CGI-Klamotte rennt.

10 KÖNIG VON DEUTSCHLAND (David Dietl, Deutschland / Frankreich 2013)
Eine Satire mit der Bissigkeit einer Ölsardine. Dass er derartig mittelmäßig und spießig inszeniert ist, könnte angesichts der Tatsache, dass hier Mittelmäßigkeit und Spießigkeit satirisch in die Mangel genommen werden sollen, als interessante ästhetische Strategie erscheinen – dieser Umstand dürfte allerdings eher unfreiwillig sein. Außerdem reagiert der Film auf die charakterisierten Missstände mit Parolen wie von einem stark alkoholisierten Stammtisch und mit Aussteiger-Dogmatismus: das macht ihn weder klüger, noch sympathischer.

In der Kategorie mutwillige Schändungen von (Davids) Seele und Körper liefen weiterhin: Jon M. Chus G.I. JOE – RETALIATION (Wackel-Wackel-Schnitt-Action meets Popel-3D), Fliegauf Benedeks CSAK A SZÉL / JUST THE WIND (potthässliche Billigdigital-Bilder, die zeigen, dass gut gemeint nicht gut gemacht ist), YI DAI ZONG SHI / THE GRANDMASTER von einem offensichtlich übernächtigten Wong Kar-wai (oder: was Sie schon immer über nervende Ruckel-Zeitlupen wissen wollten, sich aber nie zu fragen trauten), Noah Baumbachs FRANCES HA (vermeintlich cinephil erzählte Kuschel- und Wohlfühlgeschichte einer extrem anstrengenden Möchtegerne-Rebellin, oder: Jim Jarmusch greift wegen des „quirky“-Alarms zur Pistole) und David O. Russells SILVER LININGS PLAYBOOK (keine Ahnung, wie diese überlange Melo-Schlaftablette einen solchen Hype verursachen konnte).


Spezialrubrik: The Angels‘ Share, Jahrgang 2013

Auch der fleißigste Filmegucker muss zwangsweise viele aktuelle Filme bei ihrem Kino- bzw. DVD-Start verpassen. Da kann man nichts machen – außer, sie im nächsten Jahr nachholen. Ken Loachs THE ANGELS‘ SHARE, der 2012 auf internationalen und deutschen Leinwänden lief, war selbst weder vergnüglich noch ärgerlich genug, um in eine der beiden folgenden Kategorien reinzupassen. Doch sein titelgebendes Phänomen (die Verdunstung von Whisky während der Fasslagerung) schien mir einfach die passende Bezeichnung für eine solche „Nachhol“-Rubrik. Zum Glück verdunsten Filme nicht so wie Whisky (zumindest in der Regel und heutzutage).

Top:
1 MANIAC (Franck Khalfoun, Frankreich / USA 2012)
2 UNIVERSAL SOLDIER: DAY OF RECKONING (John Hyams, USA 2012)
3 PREMIUM RUSH (David Koepp, USA 2012)
4 WAR HORSE (Steven Spielberg, USA 2011)
5 OH BOY (Jan Ole Gerster, Deutschland 2012)

Flop:
1 LIFE OF PI (Ang Lee, USA / Taiwan / UK 2012)
2 HOPE SPRINGS (David Frankel, USA 2012)
3 THE BEST EXOTIC MARIGOLD HOTEL (John Madden, UK / USA / Vereinigte Arabische Emirate 2011)
4 HOBO WITH A SHOTGUN (Jason Eisener, Kanada 2011)
5 TO ROME WITH LOVE (Woody Allen, USA / Italien / Spanien 2012)

„Aktualität“ ist eine Kategorie, die hier bei „Whoknows Presents“ nicht gerade die allergrößte Priorität genießt. Daher folgt nun das Herz dieses Jahres-Rückblicks:


2013: ein persönlicher Kanon der Neuentdeckungen

Beeindruckende Filme, die ich dieses Jahr erstmals gesehen habe... Das eine oder andere Werk wurde bereits von Manfred oder mir hier besprochen (entsprechende Links gibt es dazu). Und bestimmt werde ich 2014 auf einen oder mehreren dieser Filme hier in diesem Blog näher eingehen (wie ich das schon 2013 mit vier Filmen meiner großen 2012er-Liste gemacht habe: ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU, KONTO AUSGEGLICHEN, THE THIN RED LINE, BLOOD BEACH).
Wer jeden Film gucken möchte (was bei einigen wohl leider nicht so leicht möglich sein wird), hätte gewissermaßen 2014 eine Woche Zeit für jeden.

1 LE QUAI DES BRUMES (Marcel Carné, Frankreich 1938)
Vielleicht ist es Maurice Jauberts Musik, die diesem poetischen „noir“ den perfekten Feinschliff gibt.
2 TRI (Aleksandar Petrović, Jugoslawien 1965)
Der Partisanenfilm, zur reinen, fast wortlosen Poesie zusammengedampft.
3 SNOW (Geoffrey Jones, UK 1963)
Montage, Trains & Rock‘N‘Roll! (mehr dazu hier)
4 THE GRISSOM GANG (Robert Aldrich, USA 1971)
Der schweißigste Film aller Zeiten? Jedenfalls eine (Schweiß-)Perle, mit der Aldrich auf sehr knallige Art „Adieu“ zu seiner kurzweiligen völligen Unabhängigkeit sagte.
5 DEATH WISH (Michael Winner, USA 1974)
Ein stinknormaler Mann entdeckt den Mörder in sich und verlässt Familie, Gesellschaft und Zivilisation für ein Paralleluniversum der Gewalt: Eher eine Melville‘ianische Todesmeditation als die so oft kolportierte Selbstjustiz- oder Rache-Exploitation.
6 BADLANDS (Terrence Malick, USA 1973)
Malick will der größte Tanz-Regisseur der Welt werden, aber auch der Rest (mit dem Auto rumfahren, Leute abknallen, Toaster klauen, James-Dean-Posen einnehmen) lässt sich (mehr als) sehen.
7 EL PLACER DE MATAR (Félix Rotaeta, Spanien 1988)
Melville meets Buñuel, und zwischendurch wird herrlich ziellos durch Einkaufsgalerien geschlendert. (mehr dazu hier).
8 EXistenZ (David Cronenberg, Kanada / UK 1999)
Fickt Verstand und Seele wesentlich intensiver als alle gängigen Möchtegerne-Mindfucks (und ist natürlich der bessere MATRIX).
9 LA CHAMBRE VERTE (François Truffaut, Frankreich 1978)
Möglicherweise mein neuer Liebling (oder Zweitliebling) Truffauts – sein artifizielles, gestelztes, holpriges und „Schauspiel“-fremdes Schauspiel ist so wunderschön.
10 KOROSHI NO RAKUIN (Suzuki Seijun, Japan 1967)
Irgendjemand hat einmal gesagt, dass Suzuki keine Genres dekonstruiert, sondern sie mit der Maschinenpistole niederschießt und am Wegrande liegen lässt... Ja, passt!
11 CARNIVAL OF SOULS (Herk Harvey, USA 1962)
Ein Regisseur für Industrie- und Erziehungsfilme erklärt mit einer kleinen Fingerübung George Romero, David Lynch und Christian Petzold, wie man einen modernen Horrorfilm dreht. 
12 AI NO MUKIDASHI (Sono Shion, Japan 2008)
Aus Pulp einen Monumentalfilm erschaffen: der GONE WITH THE WIND unter den Unterhöschenfotografen-&-Sektenverschwörungs-Liebeskomödien.
13 THE NAKED DAWN (Edgar G. Ulmer, USA 1955)
Ulmers Western fängt im Bereich Melodrama da an, wo JOHNNY GUITAR aufhört: man siehe nur die so albern-lächerliche wie schaurig schöne Bar- und Tanz-Szene. Ein ganz großer Weirdo unter den durchgeknallten Westerns.
14 LAKAT KAO TAKAV (Ante Babaja, Jugoslawien 1959)
Zeitlich zwischen LES 400 COUPS und À BOUT DE SOUFFLE erschienen: die erst 10 Jahre später so genannte „Jugoslawische Schwarze Welle“ rollt an. (ein etwas längerer Kurzkommentar von mir hier)
15 LA CODA DELLO SCORPIONE (Sergio Martino, Italien / Spanien 1971)
Kein Giallo-Killer könnte jemals so verrückt und obsessiv sein wie Sergio Martino und Kameramann Emilio Foriscot. Die wunderbare Musik Bruno Nicolais stellt dabei sowohl einen Kontrapunkt wie auch das Sahnehäubchen dar.
16 THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI (David Lean, UK / USA 1957)
Auf seine eigene Weise noch wesentlich radikaler und subversiver als PATHS OF GLORY aus dem selben Jahr... „Madness, madness!“
17 SPLENDOR IN THE GRASS (Elia Kazan, USA 1961)
Kazans heimliches Magnum Opus?
18 CITIZEN TOXIE: THE TOXIC AVENGER IV (Lloyd Kaufman, USA 2000)
In Tromaville hört dich niemand nach Film-Konventionen schreien!
19 TATORT: FRAU BU LACHT (Dominik Graf, Deutschland 1995)
Hinter dem Orientalismus taucht allmählich diese Klarheit auf – bezüglich der asiatischen Figuren – während München und seine Notabeln immer mehr zum dunklen Sumpf geraten. Und für diesen Prozess dienen Monty-Python-Witze als Katalysator.
20 THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD (Martin Ritt, UK 1965)
Diese diamantenharte Schwarzweiß-Fotografie: man kann jeden Bartstoppel und jede einzelne Pore in Richard Burtons Gesicht zählen!
21 LONELY ARE THE BRAVE (David Miller, USA 1962)
Nicht ganz so harte Schwarzweiß-Fotografie, aber nicht weniger schön. Bestätigt den Verdacht, den wir alle hatten: Rambo war ursprünglich tatsächlich ein Linksradikaler.
22 BEAU-PÈRE (Bertrand Blier, Frankreich 1981)
Trotz seiner extremen Subthemen ein erstaunlich sensibler Film mit einem Dewaere in Flammen.
23 SPY GAME (Tony Scott, Deutschland / USA / Japan / Frankreich 2001)
Eine Hawks‘ianisch-Borzage‘ianische transzendentale Romanze? Oder geht es um einen alternden Zauberlehrling, der sein eigenes alter ego schuf? Die Training-Montage-Sequenz könnte ich mir jeden morgen zum Frühstück anschauen.
24 FEMINA RIDENS (Piero Schivazappa, Italien 1969)
Ein Feminismus-Manifest als knallbunte Pop-Art-Exploitation-Klamotte? Enthält jedenfalls das wahrscheinlich beste Italowestern-Duell außerhalb eines Italowesterns.
25 LA PASSION DE JEANNE D‘ARC (Carl Theodor Dreyer, Frankreich 1928)
Stummfilme sind an sich nicht emotional stärker als Tonfilme – auch wenn Dreyers ikonischer Klassiker ein gutes Argument gegen diese Aussage wäre. (mehr dazu hier)
26 THE LONGEST YARD (Robert Aldrich, USA 1974)
Albern, ernsthaft, corny, elegisch, düster, ausgelassen, zynisch, humanistisch, spannend, erratisch – alles immer im genau richtigen Moment.
27 WHAT‘S UP, DOC? (Peter Bogdanovich, USA 1972)
Komödie als Action, Action als Komödie – oder die Essenz von Slapstick. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so sehr in Barbara Streisand verlieben könnte.
28 TWO-LANE BLACKTOP (Monte Hellman, USA 1971)
Ein Film, der seine dramaturgischen Entwicklungen dadurch kenntlich macht, dass der Pullover einer der Hauptfiguren die Farbe wechselt, kann doch nur großartig sein.
29 PRINCE OF THE CITY (Sidney Lumet, USA 1981)
SERPICO goes ambiguity? Wahrscheinlich der qualvollste Film der diesjährigen Kanon-Liste – für die Figuren genau so wie für den Zuschauer. Und der traurigste.
30 LE DEUXIÈME SOUFFLE (Jean-Pierre Melville, Frankreich 1966)
Die Gangster kommen langsam aber sicher in Melville‘istan an. (mehr dazu hier)
31 POLIZEIRUF 110: CASSANDRAS WARNUNG (Dominik Graf, Deutschland 2011)
Auf den Dächern deutscher Polizeireviere Tauben mit wilden Reißzooms zu erschießen, um sich vor Samuel Fullers TATORT zu verbeugen... nur eine der vielen tollen Ideen (hier der Text von Christoph bei „Eskalierende Träume“, der mich – und hoffentlich andere – so neugierig machte)
32 ST. PAULI ZWISCHEN NACHT UND MORGEN (José Bénazéraf, Bundesrepublik Deutschland / Frankreich 1967)
Der spätere „Godard des Porno“ verwandelt eine Hamburger Gangster-Klamotte in eine Art hochlebendiger Kunstinstallation – mit tanzenden, mehr oder minder nackten Frauen und einem Rolf Eden in ausgesuchten Gangsterposen.
33 LISTZOMANIA (Ken Russell, UK 1975)
Wären alle Biopics doch nur so [bitte Begeisterung ausdrückendes Adjektiv selbst einfügen]. Dass er im Wagner-Jahr nicht wesentlich öfter in Kino und TV hoch- und runtergespielt wurde, ist geradezu unverständlich.
34 CSILLAGOSOK, KATONÁK (Jancsó Miklós, Ungarn / UdSSR 1967)
Ein Film, der über Kriegsgewalt wahrscheinlich mehr zu sagen hat als jeglicher „realistische“ Zugang es könnte. Markerschütternd (besonders auf großer Leinwand): der kollektive Marsch in den Tod mit der Arbeiter-Marseillaise. (ein etwas längerer Kurzkommentar von mir hier)
35 THE HUMAN FACTOR (Otto Preminger, UK 1979)
Die detailreiche, fast schon liebevolle Zeichnung der biederen Geheimdienst-Angestellten macht diesen „revisionistischen“ Agentenfilm zu einem bescheidenen, nüchternen und leider unterschätzten Abschluss einer großen Regie-Karriere.
36 WO IST COLETTI? (Max Mack, Deutsches Reich 1913)
100 Jahre alt und kein bisschen müde! Nimmt en passant einfach mal so Buster Keaton und Fritz Lang vorweg. (mehr dazu hier)
37 HWANYEO (Kim Ki-young, Republik Korea 1970)
Kims Variation seines HANYO / THE HOUSEMAID, oder: wie ein Giallo denn in Korea aussehen könnte?
38 LIMELIGHT (Charles Chaplin, USA 1952)
Ich mag Chaplin-Filme, die wenig... „Chaplin“ enthalten – er hätte wesentlich mehr Melodramen drehen sollen.
39 DIE GROßE LIEBE EINER KLEINEN TÄNZERIN (Alfred Zeisler, Deutsches Reich-Weimarer Republik 1924)
Eine schmachtend tragische Liebesgeschichte wandelt sich zu einem frühen Stück „body horror“ – alles gespielt von Marionetten!
40 MUNICH (Steven Spielberg, USA / Kanada / Frankreich 2005)
Spielbergs bester „ernsthafter“ Film: ohne Schnörkel, ohne Kitsch, ohne Ausweg aus der moralischen Zwickmühle.
41 DÉJÀ VU (Tony Scott, USA / UK 2006)
Widerspricht vielleicht am vehementesten dem Klischee von Tony Scott als vermeintlich „seelenloser style-over-substance-Technokrat“. Ein wunderschöner Film, ein rührender Film, ein menschlicher Film.
42 LORD OF ILLUSIONS (Clive Barker, USA 1995)
Heruntergekommener „film noir“ trifft auf überkandidelten Supernatural-Horror – und damit ganz gut auf meinen Geschmack.
43 DER GROßE SPRUNG (Arnold Fanck, Deutsches Reich-Weimarer Republik 1927)
Wer hätte ahnen können, dass Nazi-Leni (Riefenstahl) derartig sexy sein kann? Das passt aber auch zu einem Film, der so wirkt, als wäre „Arnold Fanck“ ein Pseudonym für Ernst Lubitsch.
44 EDWARD SCISSORHANDS (Tim Burton, USA 1990)
Balsam für die Außenseiter-Seele in uns allen.
45 JURASSIC PARK (Steven Spielberg, USA 1993)
Eine ausgelassene Screwball-Komödie mit einer Laura Dern, die in den potthässlichsten und kartoffelsack-artigsten Outdoor-Klamotten der Welt trotzdem einen Sex-Appeal wie Diven des klassischen Hollywoods in erlesensten Abendkleidern ausstrahlt. Und dazu gibt es auch noch Dinosaurier!
46 L‘AMI DE MON AMIE (Eric Rohmer, Frankreich 1987)
Diese modernistische Architektur mit diesen ganzen Passanten im Hintergrund – wie ein eigener, vom „eigentlichen“ Film unabhängiger Nebenfilm.
47 THE RETURN OF THE LIVING DEAD (Dan O‘Bannon, USA 1985)
Brraaaaaaiiiiiiinnnzzzz! Von wegen SHAUN OF THE DEAD hat den lustigen und 28 DAYS LATER den schnellen Zombie erfunden: O‘Bannon ist mit seinem Punk-Film sogar Peter Jackson um sieben Jahre voraus.
48 DAS UNSICHTBARE MÄDCHEN (Dominik Graf, Deutschland 2011)
Einen Italo-Western in der fränkischen Provinz zu situieren ist eine tolle Idee – und wirkt hier wie die logischste Sache der Welt.
49 491 (Vilgot Sjöman, Schweden 1964)
Schon erstaunlich, wie nüchtern und nachdenklich so ein Skandalfilm heute sein kann. Wenn es allerdings eine ist, so ist die Hommage an Nicholas Ray trotzdem ziemlich abgefahren.
50 SPALOVAČ MRTVOL (Juraj Herz, ČSSR 1969)
Die Banalität des Bösen in nicht-banalen Bildern. (mehr dazu hier)
51 BABY DOLL (Elia Kazan, USA 1956)
Heiß, hysterischer, BABY DOLL.
52 MORTE A VENEZIA (Luchino Visconti, Italien / Frankreich 1971)
Ein Voyeur trifft auf seinen Todesengel und starrt sich ins Grab...



Double-Features 2013: sieben tolle Vorschläge

Wer eins sagt, muss manchmal auch zwei sagen. Doch 1 + 1 ergibt nicht automatisch eine gute 2. Hier deshalb einige Film-Doppel-Programme, die ich dieses Jahr persönlich getestet und als in höchstem Maße erlesen empfunden habe:

1 „Ein Männerabend mit Bob“
     - ATTACK (Robert Aldrich, USA 1956)
     - THE LONGEST YARD (Robert Aldrich, USA 1974)
2 „Große Gefühle, kleine Gehirne und eine ganze Menge Sci-Fi-Trash“
     - METROPOLIS (Fritz Lang, Deutsches Reich-Weimarer Republik 1927)
     - CITIZEN TOXIE: THE TOXIC AVENGER IV (Lloyd Kaufman, USA 2000) 
3 „Mord und Totschlag – ein Rezept für Kleinbürger“
     - ARSENIC AND OLD LACE (Frank Capra, USA 1944)
     - DEATH WISH (Michael Winner, USA 1974)
4 „Der beste Freund eines Mannes ist sein Schwiegersohn“
     - RICHARD WAGNER (Carl Froelich, Deutsches Reich 1913)
     - LISZTOMANIA (Ken Russell, UK 1975)
5 „Spiel, Spaß und Idylle in den Bergen“
     - IM WEIßEN RÖSSL – WEHE DU SINGST! (Christian Theede, Deutschland / Österreich 2013)
     - THE SHINING (Stanley Kubrick, UK / USA 1980)
6 „Die reitende Dame mit der Peitsche züchtigt Beethovens Taube“
     - TATORT: TOTE TAUBE IN DER BEETHOVENSTRAßE (Samuel Fuller, Bundesrepublik Deutschland 1973)
     - FORTY GUNS (Samuel Fuller, USA 1957)
7 „Kleine Läden, große Leben“
     - SMOKE (Wayne Wang/Paul Auster, USA / Deutschland / Japan 1995)
     - CLERKS (Kevin Smith, USA 1994)
(WARNUNG: Die vorgeschlagenen Reihenfolgen sind selbstverständlich strengstens einzuhalten! Für etwaige Nebenwirkungen bei Umkehrung kann ich keine Verantwortung übernehmen!)



Steven Spielberg ist gewissermaßen der Fritz Lang des Jahres: „mein Filmschaffender 2013“. Der Regisseur, der mir im Jahr 2013 am häufigsten begegnet ist...
Als ich zu Jahresbeginn mit meinem liebsten Spezialisten für US-amerikanische Politik und Geschichte ins Kino gegangen bin, um LINCOLN zu schauen, musste ich mir schmerzhaft bewusst werden, wie unfassbar wenige Filme ich von Steven Spielberg zu diesem Zeitpunkt kannte – ein Umstand, dem ich Abhilfe schaffen wollte. Eine lückenhafte, aber dennoch recht umfangreiche Retrospektive später hat sich zumindest eine leichte Tendenz verfestigt, die schon zu erahnen war: Spielberg ist für mich ein ganz großer Regisseur des „Trivialen“. Seine „seriösen“ Filme erscheinen mir fast alle bestenfalls nett, oft jedoch mittelmäßig, schlimmstenfalls geradezu unerträglich: tun ernsthaft, prügeln sich aber mit Kitschkeulen selbst in die Bewußtlosigkeit. Als positive und besonders faszinierende Ausnahme stellte sich in diesem Bereich sein MUNICH heraus. Sehr positiv überrascht hat mich auch WAR HORSE: nicht nur wie üblich wunderschön fotografiert, sondern auch angenehm „unambitioniert“ – keine Geschichtslektion, sondern ein Period-Abenteuerfilm. Was die INDIANA JONES-Reihe betrifft: vor der Retrospektive stand in meiner Gunst noch LAST CRUSADE vor LOST ARK und TEMPLE OF DOOM (letzterer schon mit einer gewissen Distanz). Die Zweitsichtung von TEMPLE OF DOOM hat ihn extrem aufgewertet: als Spielbergs vielleicht wildesten und expressionistischsten Film. Mit Fritz Langs Indien-Dilogie (dem er viel verdankt) im Hinterkopf hat er einen herrlichen Schmelz. Short Round und Willie wirken auch nicht mehr so nervend, besonders, wenn man dann im Vergleich Shia LaBeoufs Rocker-Karikatur in CRYSTAL SKULL durchstehen muss, den ich als Film voller verschenkter Potentiale wahrgenommen habe.
Die Retrospektive ist natürlich nicht per se abgeschlossen. CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND und E.T. – THE EXTRA-TERRESTRIAL warten auf Neusichtungen, alle anderen Werke des geschäftigen Filmemachers auf erstmalige Entdeckung.
Hier aber nun meine Ordnung nach Präferenz (die Lücken markieren einen Bruch in den „Qualitätsblöcken“, und es handelt sich, wenn nicht anderes angegeben, um Erstsichtungen):

1 RAIDERS OF THE LOST ARK (1981) 2. Sichtung
2 INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM (1984) 2. Sichtung
3 INDIANA JONES AND THE LAST CRUSADE (1989) 3. Sichtung
4 MUNICH (2005)
5 JURASSIC PARK (1993)

6 DUEL (1971) 2. Sichtung
7 ALWAYS (1989) 4. Sichtung
8 WAR HORSE (2011)
9 JAWS (1975) „1½.“ Sichtung

10 THE SUGARLAND EXPRESS (1974)
11 COLUMBO: MURDER BY THE BOOK (1971)
12 LINCOLN (2012)
13 SCHINDLER‘S LIST (1993) 2. Sichtung

14 1941 (1979) 2. Sichtung
15 INDIANA JONES AND THE KINGDOM OF THE CRYSTAL SKULL (2008)
16 THE LOST WORLD: JURASSIC PARK (1997)
17 CATCH ME IF YOU CAN (2002)

18 SAVING PRIVATE RYAN (1998) 2. Sichtung
19 THE COLOR PURPLE (1985)



Dominik Graf ist in gewissen Filmblog-Kreisen (ich verlinkte ja schon einen vor Begeisterung fast platzenden Artikel aus „Eskalierende Träume“ weiter oben) ein gefeierter, um nicht zu sagen „gehypeter“ Regisseur, und vannorden droht mir bei the-gaffer.de in der Kommentarspalte gerne mit einem Graf-Zitat im Ärmel mit lebenslangen Kontaktsperren (die er – erfreulicherweise – doch nicht einhält). Ein TV-Tipp bei einer gelb-blauen Seite machte mich auf eine Wiederholung von POLIZEIRUF 110: CASSANDRAS WARNUNG aufmerksam. Und was soll ich sagen: das Graf-Fieber befiel mich. Ein leidenschaftlicher, drängender Filmemacher, der großes Genre-Kino für den kleinen Bildschirm dreht, und dieses Jahr für einen teilweise höchst unterhaltsamen, oft aber auch höchst befremdlichen Shitstorm mit seinem ersten TATORT seit 18 Jahren sorgte (was befürchten lässt, dass es noch mal 18 Jahre dauern wird, bevor er wieder einen drehen kann/darf). Auch hier ist die Retrospektive natürlich nicht im engeren Sinne „abgeschlossen“.
Der erste Block der folgenden Präferenz-Liste verteilt sich komplett auf meine Kanon- und aktuelle Top-10-Liste, wo auch Kurzkommentare zu lesen sind (alles Erstsichtungen):

1 TATORT: FRAU BU LACHT (1995)
2 POLIZEIRUF 110: CASSANDRAS WARNUNG (2011)
3 DAS UNSICHTBARE MÄDCHEN (2011)
4 TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT (2013)

5 DER FAHNDER: NACHTWACHE (1993)
6 DER FAHNDER: DER DICHTER VOM BAHNHOF (1985)
7 POLIZEIRUF 110: DER SCHARLACHROTE ENGEL (2005)
8 KALTER FRÜHLING (2004)

9 DER FAHNDER: LIEBE MACHT BLIND (1985)
10 DER ROTE KAKADU (2006)
11 TATORT: SCHWARZES WOCHENENDE (1986)

12 HOTTE IM PARADIES (2002)

13 DER FAHNDER: LAUTER GUTE FREUNDE (1986)



Robert Aldrich war mir bereits als Regisseur von THE DIRTY DOZEN (vor zu langer Zeit gesehen) und des überaus furiosen „noir-to-end-all-noirs“ KISS ME DEADLY bekannt. Es ist Oliver von „Remember It For Later“, der mir den guten Mann mit seiner wirklich wundervollen und fast allumfassenden Robert Aldrich-Retrospektive näher gebracht. Diese hat mich unendlich neugierig auf weitere Filme dieses subversiven „Hollywood maverick“ gemacht hat.
Mit lediglich 10 Filmen war meine persönliche Aldrich-Reihe alles andere als umfassend, aber nichtsdestotrotz stets höchst interessant (vom durch und durch öden THE BIG KNIFE abgesehen). Mein Überraschungsknaller war THE GRISSOM GANG, der letzte von vier Filmen, die Aldrich komplett „independent“ und in seinen eigenen Studios drehte, bevor er pleite ging und wieder „Auftragsregisseur“ wurde. Ein Film, der sich wie völlig neben der Spur anfühlt, von einer teils hysterisch anmutenden Bilder-Dichte. Ein Werk, das seine Dreckigkeit regelrecht ausstellt und dessen Figuren vollkommen jenseits von Gut und Böse sind. Letzteres passt zu einem Film, der sich kaum sinnvoll mit konventionellen Kategorien erklären lässt, und der stellenweise sogar den bizarren KISS ME DEADLY verhältnismäßig normal aussehen lässt: Als eine Art „New Hollywood“-Statement jedenfalls ist er wesentlich radikaler als der thematisch verwandte BONNIE & CLYDE, dem er natürlich einige Elemente verdankt.
Bei der Zweitsichtung hat KISS ME DEADLY nichts von seiner Faszination eingebüsst, auch wenn zumindest die Geschichte ein klein wenig mehr Sinn zu ergeben schien. Meinen Erklärungsnotstand aufgrund mangelnder Kenntnis des Klassikers THE LONGEST YARD konnte ich mit viel Genuss beseitigen. Auch die interessante und unterschätzte Facette Aldrichs als „Frauen-Regisseur“ hat mir gut gefallen, und macht mich neugierig auf weitere Filme wie THE KILLING OF SISTER GEORGE, THE LEGEND OF LYLAH CLARE sowie HUSH... HUSH, SWEET CHARLOTTE. Der solide APACHE sollte eine gute Grundlage für die berühmteren bzw. gelobteren Westerns VERA CRUZ und THE LAST SUNSET bilden.
Kurz, ich habe künftig noch wesentlich mehr zu sehen als das:

1 THE GRISSOM GANG (1971)
2 KISS ME DEADLY (1955), 2. Sichtung
3 THE LONGEST YARD (1974)

4 AUTUMN LEAVES (1956)
5 WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE? (1962)
6 ATTACK (1956)

7 TWILIGHT‘S LAST GLEAMING – europäischer Cut (1977)
8 APACHE (1954)
9 THE ANGRY HILLS (1959)

10 THE BIG KNIFE (1955)



James Bond-Retrospektive

Vodka-Martini statt Glühwein, Beluga-Kaviar statt Christstollen, die coolste Titelfigur-Melodie der Welt statt Adventsgeträller, Ernst Stavro Blofeld statt Knecht Ruprecht, rasante Verfolgungsjagden statt Rumlümmeln am Weihnachtsmarkt – kurz: meine persönliche Alternative zum Adventstrubel war eine kompakte, zumindest die EON-Produktionen umfassende Retrospektive zum berühmtesten Geheimagenten der Welt. Einige große Überraschungen habe ich dabei erlebt!
In Klammern hinter dem Titel steht jeweils die mehr oder minder präzise Sichtungsanzahl:


001 THE SPY WHO LOVED ME (XY?)
Jaws, Union-Jack-Leap, Barbara Bach, Lotus Esprit, Jaws, Ägypten und eine Renoir-Connection: Nobody does it better...
002 LICENCE TO KILL (3?)
Eine neue Liebe, Nr. 1: Diente jahrelang als Staubfänger in der „Na ja, geht so“-Schublade. Wie konnte das passieren? Nicht nur der explosivste Bond, sondern paradoxerweise vielleicht auch der subtilste – so faszinierend in allem, was er nur andeutet und unausgesprochen lässt. 
003 CASINO ROYALE (2)
Hat bei der Zweitsichtung nichts eingebüßt. Nichts.
004 ON HER MAJESTY‘S SECRET SERVICE (3?)
Eine neue Liebe, Nr. 2: Leistete LICENCE TO KILL beim Staubfangen Gesellschaft. Hat seinen Status als „Bond-Geheimtipp für Cinephile“ reichlich verdient. 
005 SKYFALL (2)
Hat zwar den Pathos des Erstsichtungs-Begeisterungssturms verloren, was sich allerdings nicht als wesentlich herausgestellt hat.

006 THE LIVING DAYLIGHTS (7?)
Ein Nebenbösewicht hat sein eigenes Musikmotiv und Bond turnt mit den späteren Talibans rum! So geliebt wie eh und je.
007 YOU ONLY LIVE TWICE (6?)
Der Showdown fällt zum Rest vielleicht ab. Ansonsten natürlich der exquisiteste Connery-Bond.
008 MOONRAKER (5?)
Die Photonen-Pistolen sind natürlich Quark hoch drei. Aber er enthält trotzdem fantastische Actionszenen in wunderbaren Settings und den nach wie vor besten Bond-Nebenbösenwicht aller Zeiten (der hier eine fast schon lyrische Menschwerdung erfährt).

009 FOR YOUR EYES ONLY (7?)
2CV, Pistazien und Carole Bouquet!
010 DIAMONDS ARE FOREVER (6?)
Einige finden den albern: aber eigentlich macht er doch in doppelter Hinsicht nur Spaß. Bond-Girl und Nebenbösewichte sind einfach nur wunderbar.
011 GOLDFINGER (4?)
„I expect you to die“! Nicht nur die Sprüche, auch die Dramaturgie ist ordentlich choreografiert.
012 TOMORROW NEVER DIES (1)
Perfektes Bond-Feeling für die 1990er Jahre. Die Motorrad-Helikopter-Verfolgungsjagd ist die beste der ganzen Reihe, und die Blondierung des Nebenbösewichts die furchterregendste.
013 A VIEW TO A KILL (5?)
80er-Jahre-Augenkrebs vom Feinsten (ich hoffe, Grace Jones‘ Kostümdesigner wurde nicht juristisch verfolgt). Und die Ohren kriegen auch was ab. Je nach Perspektive der „schlechteste“ der guten Bonds oder der allerbeste der „mittelmäßigen“.

014 GOLDENEYE (2)
Russische Bond-Girls sind immer toll, und 007 grüßt dialektisch Ivan Danko, wenn er halb Moskau zu Schutt und Asche fährt. Der Showdown lahmt allerdings vor sich hin.
015 LIVE AND LET DIE (4?)
Bond verliert hier nicht nur sein schwarzes Bond-Girl, sondern zwischendurch auch seinen dramaturgischen Flow – trotz immer wieder starker einzelner Szenen (Bond goes crocodile). Hier eine sehr interessante Deutung des Films.
016 DR. NO (5?)
Gute Nostalgie fängt langsam an, abzublättern (ist tatsächlich der erste Bond, den ich jemals gesehen habe): Connery bewahrt sich trotzdem stets seine Coolness (vielleicht sogar zu sehr?).

017 DIE ANOTHER DAY (1)
Bizarre Zweiteilung. Bis auf das Titellied und eine gewisse Oscar-Gewinnerin schrammt die erste Hälfte am Quasi-Meisterwerk vorbei. Der CGI-Rest erinnert einen daran, dass billige Rückprojektionen einst doch nicht das schlechteste der Welt waren.
018 THE WORLD IS NOT ENOUGH (1)
Ich habe knapp einen Monat später schon gefühlte Zweidrittel vergessen. Ach ja: witzige Rotorensägen-Verfolgungsjagd, aber Carlyle vollkommen verschenkt, Marceau nichtssagend und wer war noch mal das andere Bond-Girl?
019 THE MAN WITH THE GOLDEN GUN (XY?)
War mal einer meiner absoluten Lieblinge der Reihe. Warum nur? Ich gehe davon aus, dass der Film derselbe geblieben ist, und nur ich mich geändert habe.

020 OCTOPUSSY (3?)
Ich konnte mit dem noch nie was anfangen. Wahrscheinlich ist es seine schreckliche Beliebigkeit: alles hier ist irgendwie vollkommen mittelmäßig, und daher auch egal.
021 FROM RUSSIA WITH LOVE (4?)
Auch diesen Kultklassiker unter den Bonds hatte ich nie wirklich gern. Nach Lektüre des Romans weiß ich, wie eng er sich an die Vorlage hält: schnarchig, dramaturgisch katastrophal und in seinem orientalistischen Rassismus so furchtbar lächerlich weil verkrampft ernsthaft.

022 THUNDERBALL (3?)
Agent 007 geht tauchen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
023 A QUANTUM OF SOLACE (2)
Lächerlicher Wackel-Wackel-Schnitt-Clip. Der Rest (Musik, Bond-Girl, Bösewicht, Spannung etc.) ist allerdings nicht besser.

Und jetzt ist Weihnachten und überhaupt 2013 zu Ende. Dieser persönliche Rückblick hat für mich ein bisschen wie eine Beichte, wie eine Bewältigungsleistung gewirkt. Jetzt kann es frisch im neuen Jahr weitergehen. Mit weiteren Filmen...

Montag, 23. Dezember 2013

Fellatio, Bildgewitter in Super 8, und Sexualerziehung mit Außerirdischen in Kantabrien

Drei spanische Underground- und Avantgardefilme

ICE CREAM
Spanien 1970
Regie: Antoni Padrós
Darsteller: Rosa Morata, Hiriam Abid

Do you suck?



Antoni Padrós (geb. 1940) war ursprünglich ein katalanischer Maler, der, nachdem er eine Filmschule in Barcelona besucht hatte, "achteinhalb" (wie er selbst in Anspielung auf Fellini sagt) Filme drehte (in Wirklichkeit sind es wohl 13 oder 14), meist in Schwarzweiß auf 16mm, wie auch ICE CREAM. Ausgangspunkt war ein erotisches Gedicht, das Padrós selbst geschrieben hatte, und wie unschwer zu erkennen ist, geht es in diesem Film nicht wirklich um eine kalte Süßspeise, sondern um Oralsex. Wenn man Spanisch (oder ist das Katalanisch?) kann bzw. die auf der DVD (siehe unten) vorhandenen englischen Untertitel liest, wird das noch deutlicher, aber es ist auch so schon offensichtlich genug. Rosa Morata spielte in allen Filmen von Padrós Hauptrollen, und in einem Text wird sie als "seine persönliche Diva" bezeichnet. Später verlegte sie sich auf konventionellere Rollen, meist im Fernsehen. Padrós' Filme scheinen in Deutschland selten bis nie gelaufen zu sein, dem Lexikon des internationalen Films ist nur SHIRLEY TEMPLE STORY von 1976 bekannt. - Andy Warhol war mit BLOW JOB von 1963 sieben Jahre früher dran als Padrós, man sollte aber nicht vergessen, dass 1970 das Fossil Franco noch für weitere fünf Jahre am Leben und an der Macht war, und dass die katholische Kirche damals in Spanien über großen Einfluss verfügte. Ein Film wie ICE CREAM dürfte damals durchaus gewagt gewesen sein, und das Label "Undergroundfilm", das oft etwas leichtfertig vergeben wird, ist hier sicher passend.



A MAL GAM A
Spanien 1976
Regie: Iván Zulueta
Darsteller: Iván Zulueta (als "Jim Self")



Der Rest des Films: Teil 2, Teil 3, Teil 4. Leider wird Teil 2 in Deutschland von der GEMA blockiert, wer ihn dennoch sehen will, muss also einen passenden Proxy benutzen. Wer meint, dass ihm eine gute halbe Stunde bei einem solchen Film zu lang ist, der sollte wenigstens die furiosen letzten drei Minuten ansehen, die mit dem Beatles'schen A Day in the Life unterlegt sind.

Der aus dem baskischen San Sebastian stammende Iván Zulueta (1943-2009) lebte Anfang der 60er Jahre kurze Zeit in New York, wo er Pop (damals in Spanien weitgehend abwesend) und Underground kennenlernte, was seinen weiteren künstlerischen Weg prägte. Der auf Super 8 gedrehte A MAL GAM A ist eine Art Selbstportrait: Der junge Mann mit Bart und Wuschelhaar ist Zulueta selbst, gedreht wurde hauptsächlich in Zuluetas Elternhaus in San Sebastian und in seiner Madrider Wohnung, und zwar mit einem Minimum an personellem Aufwand, weil Zulueta den Arbeitsmodus von Malern, ganz auf sich allein gestellt ein Kunstwerk zu erschaffen, auch im eigentlich auf Teamarbeit basierenden Film realisieren wollte. 1981 hat er dazu folgendes geschrieben:
"Ich stelle mir vor, dass alle Filmemacher gelegentlich die Maler, Zeichner, Grafiker beneiden, die nicht mehr als sich selbst (abgesehen von einigen Werkzeugen natürlich) für ihre Arbeit benötigen. [...] A MAL GAM A ist, mehr als irgendetwas sonst, ein Versuch, Kino so wie jemand zu machen, der ein Portrait malt und sich entscheidet, das ohne ein Modell zu tun [...] Der Maler würde einen Spiegel vor sich aufstellen, und man würde das ein Selbstbildnis nennen, und es wäre mehr oder weniger masturbatorisch. Der Filmemacher, in diesem Fall ich, denkt sich Einstellungen mit fixierter Kamera aus, kauft sich einen langen Auslöse-Draht, setzt das Vakuum ins Bild und taucht dann selbst in diesen unsichtbar gerahmten Raum ein, im Vertrauen darauf, dass er nicht den Focus oder den Bildausschnitt verliert [...] Ein guter Wichs (Verzeihung!), in dem, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, mein Bruder aushelfen musste (jemand musste drehen, wenn sich Jim Self bewegte), für die Momente, wenn die Kamera nicht fixiert werden konnte [...]
Mit seiner vage autobiografischen Ausrichtung und den Assoziationsketten erinnert mich A MAL GAM A etwas an Stan Brakhage, während die Handhabung des Soundtracks und die Integration von Fremdmaterial (teilweise vom laufenden Fernseher abgefilmt) vielleicht an Kenneth Anger denken lässt. Möglicherweise sind solche Vergleiche mit angelsächsischen Regisseuren nicht sehr sinnvoll, aber das ist für mich eben vertrauteres Terrain. Zuluetas opus magnum, der wüste und selbstreflexive ARREBATO von 1980 (Zuluetas alter ego in diesem Film, diesmal nicht von ihm selbst gespielt, ist ein Regisseur im Spannungsfeld von Sex, Drogen und (experimentellem) Film), war gleichzeitig Höhe- und (fast) Endpunkt seiner Karriere. Durch seine langjährige Heroinabhängigkeit und Finanzierungsprobleme konnte er keine weiteren Filme mehr drehen, abgesehen von zwei Folgen zweier Fernsehserien. Die Heroinsucht beeinträchtigte nicht nur sein Berufs-, sondern auch sein Sozialleben schwer: In den 90er Jahren hat er laut eigener Aussage die Familienvilla in San Sebastian acht Jahre lang nicht verlassen. Zulueta war nicht nur Regisseur, sondern auch Grafiker, und er gestaltete viele Poster und Filmplakate, darunter auch aus der Frühphase von Pedro Almodóvar. Wer mehr über Zulueta wissen will, dem sei dieser Artikel auf Senses of Cinema empfohlen.



DER MILCHSHORF: LA COSTRA LÁCTEA (alternativ auch nur LA COSTRA LÁCTEA)
Spanien 2002
Regie: Velasco Broca



César Velasco Broca (geb. 1978), wie Zulueta aus dem Baskenland stammend, drehte DER MILCHSHORF [sic!] in und um Laredo in der nordspanischen Küstenregion Kantabrien, und es geht um eine Invasion Außerirdischer in ebendieser Gegend. Zusammen mit dem zuvor entstandenen (aber anscheinend erst 2004 herausgekommenen) KINKY HOODOO VOODOO und AVANT PÉTALOS GRILLADOS von 2006 bildet er die Trilogie ECHO DER BUCHRÜCKEN (deutsch im Original). Er beruht auf einem Text eines Elier Ansgar Wilpert, der auch an anderen Broca-Filmen beteiligt war (in KINKY HOODOO VOODOO spielt er einen Außerirdischen). LA COSTRA LÁCTEA gewann diverse Festivalpreise im In- und Ausland und machte Broca zu einem Shooting Star des spanischen Experimentalfilms. Der kanadische Filmkritiker Todd Brown hat die Trilogie als "eine Mischung der Arbeiten von Ed Wood und Guy Maddin" bezeichnet, mir würde vielleicht noch SINS OF THE FLESHAPOIDS von den Kuchar-Brüdern einfallen. Kurios ist die (behauptete) Entstehungsgeschichte von LA COSTRA LÁCTEA. Im Presseheft des Films heißt es folgendermaßen:
Der kurze Film ist das Resultat eines Auftrags einer feministischen Vereinigung, deren Intention es war, ein Video zur Sexualerziehung von Heranwachsenden zu produzieren. Nach einer großen Zahl an Sitzungen mit den Direktorinnen der Vereinigung schaffte es Velasco Broca, sie von folgendem zu überzeugen: Das Betrachten des kurzen Films würde Jugendliche in eine Art von hypnotischer Trance versetzen, die sie viel aufnahmefähiger für die sexuellen Informationen machen würde, die die Lehrer(innen) übermitteln wollten. Unglücklicherweise konnte das nie demonstriert werden, weil der Film nie in einer schulischen Umgebung lief.
Das klingt so hanebüchen, dass ich mich frage, ob Broca hier nicht die Presse auf den Arm nehmen wollte. Wie dem auch sein mag - weniger spektakulär ist die Information aus dem Presseheft, dass der auf 16mm gedrehte Film ungefähr 6600 Euro gekostet hat.



Die vorgestellten drei Filme sind zusammen mit ca. 25 weiteren in einer spanischen 2-DVD-Box mit dem Titel "Del Éxtasis Al Arrebato" (was ungefähr "Von der Extase zur Verzückung" bedeutet) erschienen. Menüs und Booklet sind zweisprachig (Spanisch/Englisch), und die Filme haben engl. Untertitel, wo nötig. Die Box beruht auf einem gleichnamigen Filmprogramm, das 2009-2011 durch diverse Länder tourte, um den spanischen Experimentalfilm der Obskurität zu entreissen. Ungefähr die Hälfte der enthaltenen Filme entstand bis 1975, die andere Hälfte danach, und man staunt, was zu Francos Lebzeiten schon alles gemacht wurde. Geografische Schwerpunkte liegen auf Katalonien und dem Baskenland, aber andere spanische Regionen sind auch vertreten. Ich hätte gern noch ein oder zwei weitere Filme daraus vorgestellt, etwa den ziemlich grandiosen MISERERE (1979) von Antoni Miralda und Benet Rossell, der das Kunststück zuwegebringt, Allegorien mit Stilmitteln des Cinéma vérité zu vereinen, und der damit zu einer Verhöhnung des Militarismus gelangt, oder SÚPER 8 (1997) von David Domingo, eine wilde Collage auf (man ahnt es schon) Super 8 in der Tradition von Zulueta (auf die Frage, wer ihn beeinflusste, antwortete Domingo in einem Interview "die Kuchar-Brüder, Kenneth Anger, Martha Colburn, und natürlich Zulueta") - aber die habe ich alle nicht online gefunden. - Es gibt auch eine Box mit 4 DVDs, die (vermutlich alle) Filme von Antoni Padrós enthält, ebenfalls zweisprachig in Spanisch/Englisch. Sehr lobenswert, das alles! - Zwei Meister, die ebenfalls auf "Del Éxtasis Al Arrebato" vertreten sind, nämlich José Val del Omar und José Antonio Sistiaga, habe ich hier absichtlich weggelassen, denn ich werde ihnen eigene Artikel spendieren.

Sonntag, 15. Dezember 2013

C – eine Stadt sucht einen Detektiv


WO IST COLETTI?
Deutsches Reich 1913
Regie: Max Mack
Darsteller: Hans Junkermann (Jean Coletti), Madge Lessing (Lolotte), Heinrich Peer (Anton), Anna Müller-Lincke (resolute Dame), Hans Stock (Graf Edgar), Max Laurence (Alter Graf)



Zum Inhalt

Innerhalb von 48 Stunden nach der Tat fängt der Berliner Detektiv Jean Coletti einen Verbrecher. Eine beachtliche Leistung eigentlich, findet er. Die Presse (besonders die B. Z.) ist jedoch anderer Meinung und macht sich über ihn lustig: wenn die Öffentlichkeit über einen in der Zeitung veröffentlichten Steckbrief an der Verbrecherjagd teilgenommen hätte, wäre der Übeltäter doch wesentlich schneller gefangen worden. Coletti kontert: er lässt sich selbst steckbrieflich erfassen und ruft die Bevölkerung Berlins dazu auf, ihn binnen weniger als 48 Stunden auffindig zu machen. Wer ihn fängt, erhält ein Preisgeld von 100.000 Mark. 

Gesagt, getan: der Steckbrief wird aufgegeben, die Belohnung ausgeschrieben. Coletti versteckt sich zunächst bei seiner Verlobten, der Tänzerin Lolotte, lässt sich vom Barbier Anton rasieren und verkleidet sich mit Perücke und entsprechendem Overall als Straßenfeger. Seinen Barbier verkleidet er als sich selbst. Draußen, auf den Straßen, ist der Steckbrief („Wo ist Coletti?“) schon überall angeschlagen, und schnell wird der falsche Coletti Anton von einer Menge verfolgt. Der richtige Coletti taucht als Straßenfeger unter, bis er die Aufmerksamkeit eines Polizisten auf sich zieht, weil er seine wesentlich feiner gekleidete Verlobte auf der Straße küsst. Anton-Coletti derweilen flieht in einem Omnibus, dann auf einem Fahrrad vor einer Verfolger-Menge und steigt in ein Zeppelin. Dort bekommt er vom mittlerweile als Kellner verkleideten richtigen Coletti einen Cognac serviert und wird von einer resoluten Dame erkannt. Der Zeppelin landet und er wird zur Polizei abgeführt, wo er seine wahre Identität preisgibt – sehr zum Hohn der Fängerin und der sensationsgierigen Menge.

Derweilen versteckt sich der richtige Coletti wieder bei seiner Verlobten, die ihn in einem Wäschekorb zum Hotel Adlon transportieren lässt, wo sie am nächsten Tag einen Auftritt haben soll. Graf Edgar, ein Verehrer der Tänzerin, verschafft sich zusammen mit seinem Onkel Zugang zum Hotelzimmer und bittet sehr eindringlich um ein abendliches Rendezvous mit Lolotte. Diese sagt zu, und bringt gleich eine Freundin zu einem Doppel-Date mit: nämlich den als Frau verkleideten Coletti. Vor dem Abendessen gehen alle vier ins Kino, wo sie in der Wochenschau von der Verfolgung des Detektiven erfahren. Danach geht es zu Speis, Trank und Tanz in ein Lokal – doch die Verfolger sind schon auf der Spur...


Das Medium Film auf dem Weg zur ernsthaften Kunstform

Vor ziemlich genau 100 Jahren machte das Medium Film allmählich eine Wandlung von einer Jahrmarktsattraktion zur eigenständigen Kunstform durch und stieß dabei auf erheblichen Widerstand von Seiten zahlreicher intellektueller Kreise. Die „Filmkunstbewegung“, die ihren Ursprung in Frankreich hatte, wollte das stark kritisierte Medium auch für gebildete und gehobene Schichten attraktiv machen und für dessen Respekt kämpfen. Besonders Bezüge zur Literatur und zum Theater – thematisch, ästhetisch und personell – sollten dabei helfen. Max Mack (1884-1973), der Regisseur von WO IST COLETTI?, der heute als Pionier des deutschen Films gesehen werden kann, kam selbst vom Theater, und drehte seit 1911 Filme. Auch er wollte den Status des Mediums durch literarische Bezüge und namhafter Unterstützung aus der Theater-Szene heben. Für Aufsehen sorgte sein Film DER ANDERE: die Geschichte eines Rechtsanwalts, der mildernde Umstände für geistig kranke Verbrecher strikt ablehnt, aber nach einem Unfall selbst unbewusst eine „andere“ Persönlichkeit als Krimineller entwickelt. Das Drehbuch schrieb der Journalist, Schriftsteller und Theater-Intendant Paul Lindau nach einem Bühnenstück aus dem Jahr 1893. Für einen noch renommierteren Namen aus der deutschen Bühnenlandschaft sorgte Alfred Bassermann in der Titel-“Doppel“-Rolle, seines Zeichens einer der großen Darsteller am Deutschen Theater Berlin in der Ära Max Reinhardts (der selbst durchaus filmaffin war). DER ANDERE floppte trotzdem beim Publikum.

Für WO IST COLETTI? schrieb erneut eine Theaterkoryphäe das Drehbuch, nämlich der österreichische Lustspiel-Spezialist Franz von Schönthan, der noch Ende des selben Jahres 64-jährig verstarb. Hans Junkermann, der Darsteller der Titelfigur und erfahrener Theaterschauspieler, war 1913 schon seit zwei Jahren auch aktiv im Filmgeschäft tätig, im Gegensatz zu seiner britischen Partnerin Madge Lessing, die hier ihren Film-Einstand gab. Ihre Credits zu Beginn des Films enthalten einen expliziten Hinweis auf ihre Theater-Herkunft.

Diese herausgestellten Bezüge zum Theater im personellen Bereich (nicht so sehr im ästhetischen, wie gleich zu erläutern sein wird!) dürften allerdings nicht der Hauptgrund für seinen großen zeitgenössischen Erfolg gewesen sein. Denn tatsächlich wurde WO IST COLETTI? so etwas wie der erste, große, erfolgreiche, abendfüllende deutsche Film – sowohl in Deutschland, wie auch international. Ein Sensationsfilm. Geradezu eine Art früher „Blockbuster“. Und zusammen mit den wenigen Wochen bzw. Monaten später gezeigten RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG ein Wegbereiter des „künstlerischen“ Films in Deutschland.

Alle drei erwähnten Werke sind Pionierfilme, allerdings mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und Themen. WO IST COLETTI? ist gewissermaßen der „trivialste“ der drei Filme. Er ist der am wenigsten bekannte, und – meiner Meinung nach – auch der beste, interessanteste, aufregendste und im banalen Sinne unterhaltsamste von allen drei!


Zur besonderen Ästhetik von WO IST COLETTI?

Der Film beginnt damit, dass ein Schreibtisch per Stopmotion von der Seite in die Mitte des Bildes „hinein läuft“. Ein Jump-Cut später sitzt der Autor Franz von Schönthan am Tisch, und stehend daneben präsentiert ihm der Regisseur Max Mack die Hauptdarsteller. Aus einem zusammengeknüllten Papierbündel heraus „wirft“ er die Namen an die schwarze Leinwand im Hintergrund und mit einem Handgriff (sprich: Jump-Cut) tauchen alle drei Personen (Hans Junkermann, Madge Lessing und Heinrich Peer) unter ihren jeweiligen Namen auf. Der Autor und der Regisseur schütteln ihnen die Hände und scheinen mit ihnen zufrieden zu sein: der Film kann (nun also „wirklich“) beginnen.

Dieser Prolog mischt Theater-Ästhetik auf der einen Seite (Handlung auf einer Bühne) mit „reinem“ Film in der Tradition des Attraktionskinos à la Georges Méliès. Letzteres, also das „pure“ Kino, wird den Film ästhetisch größtenteils dominieren. Das merkt man schon am Schnitt, der regelmäßig „statische“ Szenen dynamisiert. Man kennt die „Theater-Ästhetik“ aus vielen frühen Stummfilmen: eine Szene wird von A bis Z in einer einzigen fixen Einstellung gefilmt – gerade auch in RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG. In WO IST COLETTI? hingegen werden viele Szenen schon recht dynamisch mit Schnitten aufgelockert und punktuiert. So etwa die Szene, wo Coletti sich zwecks der genauen steckbrieflichen Erfassung seine Körpermaße nehmen lässt: die Messmaschine (eine Art bizarrer Thron mit vielen verschiebbaren Messlatten) wird aufgebaut und erste Messungen werden von den Polizeiassistenten durchgeführt. Als die Schultern Colettis gemessen werden, wechselt der Schnitt in die Naheinstellung: von der Gesamtszene wandert die Aufmerksamkeit zur Mimik des Coletti, der die Prozedur offenbar furchtbar amüsant findet (überhaupt lacht Junkermann bzw. die Coletti-Figur ziemlich oft im Film).

Noch weitaus interessanter ist die Art und Weise, wie die Raumtiefe genutzt wird. Dank sehr hoher Tiefenschärfe lassen Max Mack und sein Stammkameramann Hermann Böttger an mehreren Stellen parallele Handlungen in verschiedenen Arealen des Bildraumes stattfinden. Wenn etwa Lolotte im Hotel Adlon den Wäschekorb (mit dem Inhalt Wäsche und Coletti) in ihrem Zimmer von Hotelpagen in eine Nische vor der Badezimmertür im Hintergrund tragen lässt, einige Coletti-Sucher sie befragen und sich sonst im Zimmer umsehen und sie in den Vordergrund tritt und die Zuschauer schmunzelnd anzwinkert (das Durchbrechen der „vierten Wand“ passiert im Film immer wieder). Kurz, bevor die zentrale Action-Szene des Films beginnt, sieht man eine Menschenansammlung vor einer Litfaßsäule mit dem Steckbrief stehen, im Hintergrund fährt ein Omnibus vorbei, in dem der Anton-Coletti sitzt und der schon von einigen Leuten verfolgt wird. Die Menge rennt daraufhin sukzessive dem Bus nach, während sich im Vordergrund der als Straßenkehrer verkleidete Coletti lachend vor die Litfaßsäule stellt.

Diese Massen-Szene, gedreht mit dem Brandenburger Tor im Hintergrund, mündet auch in die spektakulärste Action-Szene des Films. Anton-Coletti sitzt im zweiten Stock des Busses ganz hinten. Eine aufgeregte Menschenmenge rennt ihm hinterher (hier wieder ein Beispiel für kunstvoll ausgenutzte Tiefenschärfe). Teile der Menge erreicht den Bus, es entsteht ein Gerangel, Leute klettern auf den fahrenden Bus, einige fallen dabei wieder runter, das Fahrzeug wackelt gefährlich unter dem Gewicht der Kletterer, und in diesem Chaos schafft es der Anton-Coletti, sich auf und davon zu machen. Diese Verfolgungsjagd ist zweifelsohne die visuell großartigste Attraktion von WO IST COLETTI? Ein kurzer, aber sehr effektiver Prototyp des Actionfilms. Eine Szene, die ein wenig an die komplexen und gefährlichen Stunts erinnert, die Buster Keaton etwa ein Jahrzehnt später in seinen Filmen (freilich wesentlich geballter) einbauen würde. Dass der Meister des Action-Stummfilms diesen Detektiv-Film gesehen hat, wäre nicht völlig unmöglich: WO IST COLETTI? lief im Frühjahr 1914 auch in den USA.

Eine Keaton-Verbindung fände sich auch in der demonstrativen Selbstreflexion des Mediums Film. Als Lolotte, der verkleidete Coletti und die beiden Grafen ins Kino gehen, sehen sie eine Wochenschau über Colettis Flucht bzw. über die Verfolgung des falschen Colettis: auf der Leinwand laufen Bilder aus dem Film selbst, und zwar mit doppelter Geschwindigkeit. Der richtige Coletti bekommt im Kino quasi ein Briefing darüber, wie bislang seine eigene Verfolgung verlief, und wird auf den Wissensstand des Zuschauers (außerhalb seines Filmuniversums) gebracht. Dieses Film-im-Film-Element tauchte später bekanntermaßen in Keatons „Detektiv“-Film SHERLOCK JR. auf – freilich noch wesentlich komplexer (als Film-als-Traum-im-Film).

WO IST COLETTI? schafft es, zumindest meiner Meinung nach, wesentlich besser als RICHARD WAGNER und DER STUDENT VON PRAG, sich komplett von anderen Kunstformen zu emanzipieren, um ganz und gar Film zu sein. Allerdings sind zugleich auch seine Rückgriffe auf andere Kunstformen und Genres wesentlich breiter. Nebst Theater-Elementen hat Macks Film mit einer Tanz-Nummer gegen Ende auch Versatzstücke aus dem Varieté. Sein Thema schafft auch Bezüge zum damals überaus beliebten Groschenroman. In den Zwischentiteln finden sich auch Elemente des frühen Comics: mehrmals tauchen neben dem Text kleine Cartoons auf, etwa bei (sinngemäß) „Coletti geht zum Barbier“ eine kleine Karikatur eines Barbiers, oder bei „Coletti taucht als Straßenkehrer unter“ eine Karikatur des Colettis in seiner etwas grotesken Verkleidung.

Inhaltlich kann WO IST COLETTI? auch als milde Satire gesehen werden auf den rechthaberischen Kleinbürger, der gerne möchte, dass „ordentlicher“ gegen Verbrecher vorgegangen wird, und zwar am besten mit seiner Beteiligung und Expertise. Die Frage nach der Effizienz von Verbrechensbekämpfung und der möglichen Beteiligung der Öffentlichkeit an dieser wurde fast zwei Jahrzehnte später in einem anderen visuell beeindruckenden Berlin-Film gestellt, nämlich in M. Wo in Macks Film die erregte Menschenmenge, die wie ein Hunderudel hinter einen Bus rennt, noch durchaus belächelt werden kann, ist in Fritz Langs Film die kollektive Paranoia und Massenhysterie natürlich wesentlich düsterer dargestellt. 


Weitere Lebenswege der Macher & einige Worte zur Überlieferung

Hans Junkermann, der wunderbare Darsteller des Coletti, blieb dem Film noch jahrzehntelang treu, allerdings meistens in Nebenrollen (u. a. in Josef von Bákys MÜNCHHAUSEN aus dem Jahre 1943). Madge Lessing hingegen spielte bis 1919 nur noch in vier weiteren Filmen von Max Mack Kinorollen. Dieser drehte allerdings weitaus mehr Filme: 127 Credits als Regisseur hat Max Mack bei der imdb (darunter natürlich viele Kurzfilme), Dreiviertel dieser Filme hat er vor 1920 gedreht. Eine interessante Info: in zwei dieser Werke, namentlich ARME MARIA – EINE WARENHAUSGESCHICHTE sowie ROBERT UND BERTRAM, DIE LUSTIGEN VAGABUNDEN (beide 1915) spielte Ernst Lubitsch eine Nebenrolle. Ab 1930 begann Max Mack auch, Tonfilme zu drehen. 1933 endete seine Karriere in Deutschland, als er vor den Nazis nach Großbritannien floh. Dort drehte er noch zwei Filme, bevor er sich aus dem Filmgeschäft zurückzog. 1973 verstarb er im Alter von 88 Jahren in seiner Exilheimat London. Trotzdem Mack 1965 beim Deutschen Filmpreis das „Filmband in Gold“ für seine Verdienste für den deutschen Film erhielt, sind seine (Pionier-)Werke dem breiten Publikum weitestgehend unbekannt. 

Wenn ich es richtig sehe, ist kein einziger Film von Max Mack in irgendeinem Heimkino-Format verwertet worden. WO IST COLETTI? ist als 35-Millimeter-Kopie beim Deutschen Institut für Filmkunde in Frankfurt erhältlich – sprich: für den Otto-Normal-Zuschauer gar nicht (einer der Gründe, warum dieser Beitrag entgegen der Gepflogenheiten in diesem Blog keinerlei Screen-Shots enthält). Ich selbst habe den Film am Sonntag, dem 8. Dezember im Weimarer Lichthaus-Kino in besagter Kopie bei einer Aufführung mit Live-Musik gesehen.

Sowohl DER STUDENT VON PRAG als auch RICHARD WAGNER wurden, gewissermaßen zu ihrem 100. Geburtstag, 2012/13 restauriert und 2013 in neuem Glanz wieder gezeigt: zunächst in öffentlichen Aufführungen, dann später bei arte-Stummfilm. Es ist (wahrscheinlich) nur eine Frage der Zeit, bis von beiden Filmen eine DVD-Edition erscheint. Natürlich: DER STUDENT VON PRAG ist eh ein legendärer Film, und RICHARD WAGNER profitierte von der medialen Aufmerksamkeit des Wagner-Jahres. Vielleicht wird ja auch WO IST COLETTI? gerade durch eine fleißige Restaurations-Abteilung geschleust und dort zwecks Präsentation für ein breiteres Publikum zurecht gemacht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Montag, 9. Dezember 2013

Moderne Architektur, tanzende Flamingos und Heinz Erhardt

MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER
Bundesrepublik Deutschland 1961
Regie: Ulrich Erfurth
Darsteller: Fritz Tillmann (Alexander Engelmann), Marika Rökk (Ilona Farkas), Conny Froboess (Julia), Heinz Erhardt (Paul Korn), Helmut Lohner (Tommy Schiller)



Ein Flugzeug landet in Berlin. Ein Mann möchte sich zum Ausgang drängeln. Eine Frau lässt ihn nicht durch. Auf der Landebahn passiert dasselbe Spiel und die Frau bezeichnet den Mann beleidigt als Nilpferd. Auf dem Parkplatz warten die jeweiligen Chauffeurs, und beim Hinausmövrieren aus dem Stellplatz krachen beide Autos fast ineinander.

Der Mann, Alexander Engelmann, ist Großunternehmer im Stahl-Geschäft. Er ist ein Workaholic, der ab und zu mit seinem Chauffeur Paul, der auch sein bester und einziger Freund ist, über die alten Zeiten im Krieg plaudert – damals war Alexander Pauls Chauffeur. Der Industrielle ist verwitwet, und zieht alleine eine Tochter groß. Keine einfache Aufgabe: Julia ist nämlich gerade im rebellischen Teenager-Alter und denkt vor allem an Rock‘n‘Roll, Filme und Jungs. Außerdem lässt sich „Alex“ – wie sie ihren Papa immer neckisch nennt – arbeitsbedingt nur höchst selten zu Hause blicken.

Julia mit ihrer "Stiefmutter" Ilona
Engelmann mit Chauffeur Paul
Eine kleine Krisensitzung mit Paul schafft Klarheit: eine neue Mutter muss für Julia her und zwar möglichst schnell. Davon will die Tochter nichts hören, und schwärmt lieber von ihrem neuen Lieblingsstar, der Sängerin und Schauspielerin Ilona Farkas. Kurzerhand entscheidet Engelmann also, „die Farkas“ zu heiraten. Dass diese von ihrem künftigen Eheglück als so ziemlich letzte Person informiert wird, ist dabei das geringste Problem: Ilona Farkas ist die Dame, mit der sich Engelmann am Flughafen verbal geprügelt hat. Da Julia erklärtermaßen nur ihren Lieblingsstar als neue Mutter akzeptieren wird, will der Millionär die Sache trotzdem zähnebeissend durchstehen.

Ein sehr formeller Ehevertrag wird ausgearbeitet: Zweck der Verbindung ist die Erziehung Julias bis Erreichen des 21. Lebensjahres, körperliche Berührungen zwischen den Ehepartnern sind unstatthaft. Ilona Farkas sieht hier nicht so sehr eine Chance auf viel Geld (sie ist selbst reich genug), sondern vor allen Dingen die Möglichkeit, es dem unhöflichen Flugzeug-Rempler so richtig heimzuzahlen...

Das ist natürlich keineswegs die narrative Voraussetzung für einen Rache-Thriller, sondern für eine leichte Komödie, denn im Grunde sind alle Figuren überaus nett. Engelmann zum Beispiel ist sicherlich kein absolut idealer Vater, aber das eben vor allen Dingen, weil er oft tagelang einfach nicht da ist und nicht etwa, weil er seiner Tochter gegenüber besonders streng oder gar unfair wäre. Paul, der Chauffeur, ist der engste Vertraute Engelmanns, versteht sich allerdings auch blendend mit Julia (die ihn im Prinzip öfter als ihren Vater sieht) und agiert mit seiner gutmütigen Art allgemein als Vermittlungsfigur, wenn es Konflikte gibt. Geistig völlig abwesend ist er hingegen, wenn er Lotto spielt und nach allen möglichen zufälligen Zahlen in seiner Umgebung sucht: in seinen Schein versunken zählt er etwa die Anzahl der Treppen, die er besteigt, oder fragt eine Sekretärin nach ihrem Alter oder addiert die Anzahl der Buchstaben, aus denen ein zufällig gesagter Name besteht. Auch Ilona Farkas ist trotz ihres Drangs, dem Millionär Dampf unter den Hintern zu machen, eine herzensgute Person. Ihre „Rache“ besteht vor allen Dingen darin, als neue „Ehefrau“ Engelmanns ihn mit Innenausstattungswechseln und spontanen kleinen Parties zur Weißglut zu treiben. Das tut sie keineswegs „auf dem Rücken“ Julias – schnell merkt sie, dass die Teenagerin im Grunde keine Erzieherin mehr braucht, und versteht sich rasch mit ihrer „Adoptivtochter“.

Der Vorspann als Architektur-Montage
MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER ist ein einfaches Lustspiel mit Screwball-Komödien- und Musical-Elementen (ja, zwischendurch wird auch gesungen). Das Drehbuch ist eher simpel und strotzt nicht gerade vor Originalität. Auch das vielleicht zu erwartende satirische Element – ein reicher Wirtschaftswunder-Gewinner „kauft sich“ auf die Schnelle eine Ehefrau – ist eher rudimentär ausgebildet und fordert nicht wirklich zu großen interpretatorischen Rundumschlägen heraus. Weitaus bemerkenswerter, und das, was den Film ziemlich hervorstechend macht, ist seine visuelle Gestaltung. Bereits der Vorspann macht ein zentrales Element von MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER deutlich, nämlich die Inszenierung von Architektur.

Beim sehr kurzen Vorspann werden Gebäude in Außensicht fotografiert. Im weiteren Verlauf spielt dann vor allem die Innenarchitektur eine bedeutende Rolle. Die Gestaltung der Innenräume (Set-Designer: Ernst H. Albrecht und Max Vorwerg) nimmt im Film eine zentrale Rolle ein, denn oft werden die Figuren nicht in Nahaufnahme gefilmt, sondern in Totalen, in denen sie nur einen kleinen Teil des Bildausschnitts darstellen. Die für eine solche „triviale“ Komödie sehr exzentrisch wirkende Gestaltung kann man aber durchaus als konsistent mit dem Narrativ interpretieren: den zentralen Figuren werden gewisse Formen von Innenarchitektur und bestimmte Raumarrangements zugeschrieben, die sie charakterisieren. Ihre Konflikte tragen sie dadurch aus, dass sie die Räume anderer Personen mit ihrem eigenen Stil ändern.

Engelmanns Geschäftsräume...
Alexander Engelmann etwa gebietet über zwei Raum-Komplexe: sein Büro und seine Villa. Ersteres ist eine geradezu puristische Manifestation architektonischen Modernismus: große weite Räume, auf reine Funktionalität reduzierte Möbel, auf dem leicht überhöhten Schreibtisch des Chefs stehen lediglich eine Knopfleiste und ein halbes Dutzend Telefone (unwillkürlich fragt man sich, warum es noch nicht mal ein Regal für Aktenordner gibt, aber sogar der erscheint hier überflüssig). Selbst der Blick aus dem Fenster offenbart nur eine Business-Skyline. Deren kantige Linien, in Kombination mit den Lamellenjalousien, „durchschneiden“ oft das Haupt des Industriellen – als würde diesem Workaholic die Arbeit manchmal über den Kopf wachsen. Trotzdem: hier fühlt sich Engelmann ganz und gar in seinem Reich. Wenn jemand diese minimalistische Harmonie stört, dann ist es Paul (wenn er die Empfangssessel verrückt) oder Julia (wenn sie ihren Vater besucht und die Knopfleiste auf dem Schreibtisch hoch- und runterdrückt). Ilona Farkas hingegen, nachdem das erste Eheanbahnungs-Gespräch unbefriedigend verläuft, meint hingegen aufgebracht: „Nicht einmal was zum kaputt schmeißen gibt es hier.“

... und sein Zuhause.
Sie und Engelmann scheinen generell architektonisch inkompatibel zu sein. Denn die Villa des Industriellen ist im Prinzip eine Art Duplikat des minimalistischen Modernismus seiner Geschäftsräume – trotz einiger doch persönlicheren Noten (eine bizarre Vorliebe für kitschige Engel-Plastiken und eine gemütlich-fluffige Hänge-Schaukel-Couch). „Stell dir vor, man müsste in so etwas wohnen. Eiskalt!“ sagt Ilona zu ihrer Chauffeurin und Agentin, als sie erstmals die Engelmann-Villa besucht – und niest daraufhin spontan: „Schon verkühlt.“

"Gradeso, so wie du, sieht der Held in meinen
Träumen aus..." Bizarre Montage der Verspieltheit
Julia hingegen wird im Rahmen der so charmanten wie auch zutiefst bizarren Musical-Nummer „Gradeso, so wie du“ in ihrem Zimmer dem Zuschauer erstmalig vorgestellt. Die harte geometrische Grundstruktur des Zimmerzuschnitts weicht sie vor allem mit allen möglichen Starportraits (darunter zum Beispiel Marilyn Monroe, Burt Lancaster und Ilona Farkas) auf, sowie mit einem Regal voller mechanischer Spielzeuge (über die symbolische Kontrastierung von unschuldiger Kindlichkeit und erwachender Sexualität ließe sich bestimmt auch eine ganze Menge sagen). Was diese Spielzeuge eigentlich von diesem jungen Mädchen und ihrem Tanz halten, ist schwer zu sagen: manche schütteln den Kopf, manche nicken. Denn die Musical-Nummer wird visuell immer wieder von Großaufnahmen der mechanischen Spielzeugfiguren unterbrochen. Eine interessante, weil auch sehr bizarre Montage. Klar ist nur: Julia steht generell für innenarchitektonische Verspieltheit.

Ilonas architektonische Charakterisierung fällt eher knapp aus, da man sie nur kurz in ihrer eigenen Wohnung sieht: eine Mischung aus altmodisch, barock, ein bisschen verkitscht, aber trotzdem (oder gerade deswegen) gemütlich. Während ihrer arrangierten Ehe mit Engelmann wird sie, mit Julia und auch Paul als Komplizen, nach und nach die privaten Räume des Industriellen erobern, und über deren Grundstruktur ihre eigene „Schicht“ auftragen. Das fängt zunächst damit an, dass sie zur Hochzeitsfeier eine Unmenge an Menschen einlädt, die das riesige „kalte“ Wohnzimmer mit ihrer Präsenz füllen und zu den Klängen einer „ungarischen“ Zigeuner-Combo tanzen. Die Wände werden mit (wahrscheinlich) knallbunten Bändern geschmückt. Später, nachdem Engelmann seine Abneigung gegen Gartenzwerge in einem Nebensatz erwähnt hat, füllt sich die Villa wie durch ein Wunder mit Gartenzwergen.

Aus "kalt" mach "lustig"
Der Höhepunkt der Verwandlung findet jedoch in den Keller-Räumen statt, wo Ilona mit Julia, Paul und Julias Verehrer, dem Journalisten Tommy, eine eigene kleine architektonische Utopie für Julias 17. Geburtstag errichtet: einen Jazz-Keller. Dieser an nur einem Nachmittag errichtete Party-Raum ist geradezu ein „Who‘s who“ des zeitgenössischen Jazz: die Wände sind vollgepackt mit Festival- und Konzert-Postern sowie mit Portraits berühmter Jazzmusiker. Zu Julias Geburtstagsfeier kommen tatsächlich eine ganze Menge Leute (darunter sogar ein Flamingo!), die sich dann unter den Blicken der Jazz-Prominenz tanzend vergnügen. Louis Armstrong auf einem Riesentransparent ist gewissermaßen der Conférencier des Abends, aber auch Sidney Bechet, Benny Goodman, Django Reinhardt, Ray Anthony und Max Roach sind anwesend. In absentia, aber namentlich aufgeführt, nehmen auch Art Blakey, Albert Mangelsdorff, Jay Jay Johnson, Benny Carter, Coleman Hawkins, Stan Getz, Don Byas, Roy Eldridge, Jo Jones, Cándido (Camero), Ella Fitzgerald, Oscar Peterson und nicht zuletzt der Jazz-Impressario Norman Granz an der Feier teil. Sie alle sind passive Beobachter des bunten Treibens im Keller. Oder vielleicht auch richtige Nebenfiguren? Benny Goodman jedenfalls scheint aufmerksam über die Annäherung zwischen Julia und Tommy zu wachen, während Louis Armstrong offenbar großen Spaß daran hat, Alexander vollkommen überfordert zu sehen.

Feiern, lieben und streiten
unter den Blicken der Jazz-Prominenz
Der Kameramann Albert Benitz fängt diese komplexen räumlichen Arrangements in wunderbaren, prägnanten Bildern ein. Von der Kameraarbeit her dürfte manch ein Film aus den 1950er Jahren schlechter gealtert sein. So wird zum Beispiel eine Szene in einer Bar „künstlich“ zu Cinemascope verengt: der Blick der Kamera aus einer Position hinter der Theke wird oben und unten von einer Reihe Gläser begrenzt. Benitz, geboren 1904, hatte sein Metier noch in der Stummfilm-Ära gelernt, vor allen Dingen für Arnold Fanck. Später blieb er dem Bergfilm weiterhin treu und wurde zum Stammkameramann Luis Trenkers, sowohl während der ausgehenden Weimarer Republik, des Dritten Reiches wie auch in der frühen Bundesrepublik. In den 1950er Jahren arbeitete er auch mit Helmut Käutner.

Ulrich Erfurth, der Regisseur von MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER, ist wesentlich unbekannter (gewesen und geblieben). Er war vor allen Dingen ein Mann des Theaters, und erst nachrangig Filmregisseur. 1956 sorgte sein Film FRUCHT OHNE LIEBE (auch unter dem Titel GEHEIMNISSE EINER EHE veröffentlicht) für einen Skandal, weil er künstliche Befruchtung thematisierte. Ab den frühen 1960er Jahren drehte Erfurth, neben seiner Hauptbeschäftigung als Theater-Regisseur und -Intendant zwischen Hamburg, Essen, Frankfurt und dem Wiener Burgtheater, vor allem für das Fernsehen.

Fritz Tillmann, der den stets ein wenig überforderten Alexander Engelmann wunderbar verkörpert, spielte in den 1950er und 1960er Jahren in mehreren Filmen Helmut Käutners, unter anderem in DAS HAUS IN MONTEVIDEO. Mit Heinz Rühmann wirkte er in zwei weiteren Adaptionen von Curt Goetz-Stücken mit. Ab den späten 1960er Jahren war er vor allen Dingen im Fernsehen zu sehen und arbeitete auch als Synchronsprecher, als Leihstimme für unter anderem Karl Malden, Orson Welles, Peter Ustinov und Ernest Borgnine.

Conny Froboess als rebellische Julia in einer
Cinemascope-Bar
Marika Rökk wurde in den 1930er Jahren zu einem großen Star der Ufa für die Sparte Operettenverfilmungen und Revuefilme, besonders als Partnerin von Johannes Heesters. Ihr „sprudelnder Charme“ und der „Paprika im Blut“ wurde stets gelobt. Letzteres eine Anspielung auf ihre ungarische Herkunft: von einem deutschen Vater und einer ungarischen Mutter in Kairo geboren, wuchs sie in Budapest auf und lernte das Tanzmetier in Paris und New York und behielt im Deutschen stets einen „exotischen“ Akzent. Nach einer kurzzeitigen Karrierepause (aufgrund ihrer Involvierung in die nationalsozialistische Unterhaltungs- und Propagandaindustrie) spielte sie auch in den 1950er und 1960er im größtenteils selben Repertoire weiter: Musicals und Komödien.

Cornelia Froboess ist vor allem als Deutschlands Beitrag zum 7. Eurovision Song Contest im Jahre 1962 bekannt geworden, wo sie mit dem Schlager „Zwei kleine Italiener“ zwar nur auf den sechsten Platz kam, aber später trotzdem einen großen Hit in (West-)Deutschland landete. Die Schlagersängerin ist noch bis heute als auch Schauspielerin für Kino, Fernsehen und Theater tätig. Erwähnenswert ist auch, dass der gebürtige Wiener Helmut Lohner, der Julias Verehrer Tommy spielt, ein renommierter Opern- und Operetten-Regisseur ist und in seiner Heimatstadt (mit einer kurzen Unterbrechung) neun Jahre lang Direktor des Theaters in der Josefstadt war – ein Amt, das von 1933 bis 1935 Otto Preminger inne hatte.

Zu Heinz Erhardt, einem DER bundesdeutschen Allround-Entertainer der 1950er und 1960er Jahre, müssen wohl nicht allzu viele Worte gesagt werden. Die Rolle des stets etwas gedankenverlorenen Chauffeurs Paul ist ihm auf den Leib geschrieben. Allerdings spielt er in MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER tatsächlich „nur“ eine Nebenrolle, auch wenn er in den Anfangs-Credits noch vor Fritz Tillmann erwähnt wird. An mancher Stelle merkt man ein bisschen die Bemühung der Macher, durch zusätzliche Dialoge und Musical-Nummern Erhardt mehr screening time zu geben, als seine Figur dramaturgisch eigentlich hergibt. Wer den Film also nur wegen Erhardt schaut, dürfte letztendlich trotzdem enttäuscht sein.

Ein merkwürdiger Party-Gast

Auch heutzutage wird MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER als reines Heinz Erhardt-Vehikel vermarktet. Das Intergroove-Sublabel „Dynasty Film“ bringt seit kurzem sukzessiv eine „Heinz Erhardt Filmklassiker“-Reihe heraus, in der nun im November 2013 auch MEIN MANN, DAS WIRTSCHAFTSWUNDER erschienen ist. Die DVD ist minimalistisch gehalten , die Bild- und Ton-Qualität des Films lassen jedoch kaum was zu wünschen übrig.