Donnerstag, 5. Januar 2017

Tote Liebe, neue Liebe, entspanntes Angeln: 2016 im persönlichen Jahresrückblick


Das Kino ist tot...

Ich habe dieses Jahr einen großen Teil meines Glaubens an das Kino als (Sehnsuchts)ort der Filmrezeption verloren. Ich werde zwar älter und dadurch vielleicht auch griesgrämiger und intoleranter gegenüber vermeidbaren Kinopannen und oft unvermeidlichen Mit-Kinogängern, aber so viele Probleme mit Technik, Projektionen, Vorführern und Co-Zuschauern hatte ich bislang noch nie so gehäuft...

... ein Kinotagebuch der Schande – oder: The Pitiful Eight

30. Januar: THE HATEFUL EIGHT (Quentin Tarantino: USA 2015)
Tatort: Schillerhof Jena
Die deutsche Unsitte, den Kinosaal fluchtartig zu verlassen, wenn der Filmabspann beginnt (als wäre dieser krebserregend-ekliges Glibberzeugs, das es partout zu vermeiden gilt), hat möglicherweise dazu geführt, dass Säle gleich nach Beginn der end credits wieder in gleißendes Licht getaucht werden und die Putzkolonnen durch die Gänge wuseln. Wenn die Eine-Frau-Putzkolonne sich aber während des kompletten Abspanns im vollen Licht direkt neben die Leinwand stellt und die Zuschauer in der ersten Reihe ungeduldig anglotzt, weil diese noch nicht die Freundlichkeit hatten, zu verduften, dann ist das schon ein dickes Ding.

7. Februar: VON MORGENS BIS MITTERNACHTS (Karlheinz Martin: Deutschland 1920)
Tatort: Lichthaus Weimar
Die digitale Projektion des expressionistischen Films wies gleich von Anfang an eine hohe Anzahl an Pixel-Artefakten auf. Mit der Zeit fror das Bild immer wieder komplett ein – diese Passagen überbrückte der begleitende Pianist Richard Siedhoff gnädigerweise, indem er jeweils aus dem Stand ein Pausen-Intermezzo improvisierte. Beim x-ten Freezeframe ging es dann gar nicht mehr weiter. Grund war, dass die gebrannte Blu-ray [sic!] und der Blu-ray-Player [sic!] nicht mehr zusammen wollten. So huschte der Geschäftsführer des Kinos nach Hause, um seinen privaten Player zu holen, damit die Vorstellung (nach etwa 15-20-minütiger Unterbrechung) weitergehen konnte – ohne Freezeframes, dafür aber immer noch mit reichlich Pixel-Gematsche. Hintergrund: statt einer analogen Kopie hatte das angefragte Filmarchiv eine gebrannte Blu-ray geschickt. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Vorführung abzusagen.

6. März: L‘ECLISSE (Michelangelo Antonioni: Italien/Frankreich 1962)
Tatort: Schillerhof Jena
Zwischen zwei Pärchen zu sitzen, die sich jeweils langweilen und deshalb beginnen, sich zu befummeln und lautstark abzuknutschen, ist nicht gerade das Gelbe vom Ei. Dass mir der Film auch nicht gefiel, ist keine Entlastung. Dass beide Pärchen keine Teenies waren, sondern gut gesetzte Anfang-Dreissiger, macht die Sache noch peinlicher. Dass eines der Pärchen Freunde von mir waren, mit denen ich den Film anschaute, macht... ach... lassen wir‘s...

22. April: RITAM ZLOČINA (Zoran Tadić: Jugoslawien 1981)
Tatort: FilmBühne Caligari Wiesbaden
Etwa ein halber Film vergeht, bis der Vorführer merkt, dass die Projektion die ganze Zeit „open matte“ war. Fliegender Wechsel von 1.33:1 zu 1.66:1.

23. April: DOM ZŁY (Wojciech Smarzowski: Polen 2009)
Tatort: Murnau-Filmtheater Wiesbaden
Ein beunruhigender Film – warum also nicht eine komplette Filmrolle mit zittrigem Bildstand abspielen?

24. April: ZIEMA OBIECANA (Andrzej Wajda: Polen 1975)
Tatort: Murnau-Filmtheater Wiesbaden
Ein komplettes Zusatzprogramm mit Filmstörungen: Zuerst wird wegen eines Raubkopier-Terroristen die Pausentaste – die Wunder des digitalen Kinos! – gedrückt und eine melodramatische Belehrung gegeben, später ein Kabel für über 10 Minuten mitten in das Bild rein gehalten. (Ausführlicheres zu den beschämenden Pannen beim diesjährigen goEast-Festival gibt es hier.)

13. Juli: THE NEON DEMON (Nicolas Winding Refn: Frankreich / Dänemark / USA 2016)
Tatort: Kino am Markt Jena
Das neueröffnete Kino am Markt in Jena war von Anfang an eine Mogelpackung: im Grunde nichts anderes als ein externer Zusatz-Saal des Schillerhofs, den dieses eben geografisch weiter entfernt aufmachte. Ein Ort, um das übliche Schillerhof-Programm abzuspielen, wenn das Hauptkino vier Monate lang TONI ERDMANN zeigen muss oder aber genau die Filme, die eh schon im örtlichen Multiplex laufen. Kurz: eine echte Bereicherung für die Filmvielfalt in Jena. Das „neue“ Kino tut nebenbei alles, um wie eine klinische Location auszusehen, die nur den Zweck hat, möglichst viel Zuschauer-Vieh durch das Programm zu schleusen – daher auch die extrem engen, sardinenbüchsenartigen Sitzreihen und das räudige Ambiente einer Bahnhofswartehalle. Und dann meinte ein Zuschauer fünf Sitze weiter noch, möglichst lautstark und aufsehenerregend – am liebsten in den leisen Momenten – ungefähr fünf Bier, drei Chipstüten und mehrere Packungen Erdnüsse vertilgen zu müssen, während direkt neben mir ein Zuschauer sich genötigt fühlte, seinen Abscheu vor den grotesken, sleazigen Szenen mit demonstrativ lautem ironischem Lachen auszudrücken, nur, um dann bei den schockierenden Gewaltmomenten doch kleinlaut zu winseln (das aber auch mit ordentlicher Lautstärke). Dass beide Zuschauer auch noch zur 8- oder 9-köpfigen Freundesgruppe angehörten, die sich aus einem ursprünglich von mir als zweiköpfig geplanten Kinobesuch gebildet hatte, macht das ganze... ach... lassen wir‘s...

18. November: PATERSON (Jim Jarmusch: USA / Frankreich / Deutschland 2016)
Tatort: Schillerhof Jena
Gegen Flüsterteppiche während der Trailerphase zu meckern – das wäre ein Luxus in einer besseren Filmkultur. Dass dieser Flüsterteppich auch nicht leiser wurde, als der eigentliche Film begann, ist schon bedenklicher. Das wenige, das ich unfreiwillig aufschnappte, zeigte aber, dass es um wirklich wichtige und relevante Dinge ging – etwa darum, spöttische Bemerkungen über die Namen der Hauptdarstellerin und des Cutters zu reissen.


...lang lebe das Kino!

Wenn das Kino tot ist, bleibt nichts anderes übrig, als es in Alternativen zu beleben. Das nenne ich gerne „ruhige DVD-Sichtung bei mir zuhause“. Aber es geht auch anders. Meine beste Filmvorführung des Jahres fand nicht in einem „richtigen“ Kino statt, sondern in einem Kellergewölbe: eine (Überraschungs-)Privatvorstellung von Stummfilmen zu Ehren meines 30. Geburtstages, mit dem Stummfilmpianisten Richard Siedhoff und einem knapp zweistündigen Programm, das ich selbst zusammenstellte – ausgewählt aus einer Sammlung von 16mm-Filmrollen, die Richard in einem großen Koffer mitgebracht hatte.

Zu sehen gab es:
IT‘S A GIFT (Hugh Fray: USA 1923) – oder: ein Magnetauto fliegt davon
WRONG AGAIN (Leo McCarey: USA 1929) – oder: ein schwieriger Umzug mit Pferd
PASS THE GRAVY (Fred Guiol: USA 1928) – oder: Peinlichkeiten an der Festtafel
NEIGHBORS (Buster Keaton / Eddie Cline: USA 1920) – oder: Romeo & Julia akrobatisch
ONE WEEK (Buster Keaton / Eddie Cline: USA 1920) – oder: DIY postexpressionistisch
IT‘S A GIFT (Hugh Fray: USA 1923) – oder: ein Magnetauto fliegt davon (Zugabe)


Jacques Rivette ist tot...

2016 war das Jahr der vielen Toten im (pop)kulturellen und auch im Filmbereich – zumindest, wenn man dem Boulevard glauben mag. Ich frage mich, ob wirklich mehr berühmte Persönlichkeiten gestorben sind als sonst, oder ob deren Tod neuerdings einfach nur wesentlich sensationsgieriger und pietätsloser ausgeschlachtet wird. Beides muss sich nicht ausschließen.
Der Tod Jacques Rivettes am 29. Januar 2016 war für viele deutschsprachige Medien kaum eine Fußnote wert. Der Grundton meist: komisch-exzentrischer nouvelle-vague-Kauz, der extrem lange Filme über komische Theatertruppen drehte. Kein Ereignis, der noch vier Tage später 90 % der facebook-Timeline ausmachte. Der metteur en scène (Rivette lehnte den „autoritäreren“ Begriff Regisseur für sich selbst ab) tauchte – übrigens ebenso wie der knapp drei Wochen später verstorbene Andrzej Żuławski – in den meisten Endjahres-(Bilder)galerien der 2016er-Toten folglich auch gar nicht erst auf. Keine der Personen, die „wir vermissen“, wie es so „schön“ hieß. Wenn ich ab und zu Rivette bei persönlichen Unterhaltungen erwähnte, wussten meine Gesprächspartner nicht, von wem ich sprach – Gesprächspartner wohlgemerkt, die teils Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Film studiert hatten und Jean-Luc Godards LE MEPRIS zu ihren großen Lieblingsfilmen zählen.


...lang lebe sein unsterbliches Kino!

Für mich war sein Tod der Auslöser dafür, meine herumliegende DVD von LA RELIGIEUSE zwei Tage später zu sichten. Ich kannte von Rivette bislang nur PARIS NOUS APPARTIENT – ein damals eher im negativen Sinne anstrengendes Erlebnis. Die Sichtung von LA RELIGIEUSE mündete (mit ein wenig Verzögerung) in mein größtes Filmabenteuer des Jahres – neber meiner Werkschau zu John Carpenter, ein ebenso glühender Verehrer Howard Hawks‘ wie sein französischer Kollege. Wenn Rivette kein „Regisseur“ war, sondern ein metteur en scène, so war er vor allem ein furchtloser Abenteurer, ein leidenschaftlicher Entdecker in diesem großen Land namens Film... Sein Redaktions- und Filmemacherkollege Godard sagte einmal über Nicholas Ray, dass dieser vielleicht der einzige Regisseur der Welt sei, der nicht nur fähig, sondern auch willens sei, das Kino neu zu erfinden, wenn dieses verschollen ginge. Ray in allen Ehren – aber auf Rivette trifft diese Aussage vielleicht noch mehr zu. Und jetzt wird auch er nicht mehr da sein, um es neu zu erfinden. Seine Filme zu sehen, ist nicht nur ein großes Abenteuer, es kann auch eine recht mühselige, teils recht teure Herausforderung sein, wenn man sie in ordentlichen Editionen sehen möchte. Und französischsprachige Filme ohne Untertitel zu verstehen, kann auch von Vorteil sein.

Bisheriger Sichtungsstand (nach Präferenz):

LA BELLE NOISEUSE (1991)
CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU: PHANTOM LADIES OVER PARIS (1974)
OUT 1, NOLI MI TANGERE (1971)

LE PONT DU NORD (1981)
SCÈNES DE LA VIE PARALLÈLE: 2 – DUELLE (UNE QUARANTAINE) (1976)
SUZANNE SIMONIN, LA RELIGIEUSE DE DENIS DIDEROT (1966)
L‘AMOUR FOU (1969)

PARIS NOUS APPARTIENT (1961) [Zweitsichtung]
NE TOUCHEZ PAS LA HACHE (2007)

VA SAVOIR – Kinoversion (2001)
HISTOIRE DE MARIE ET JULIEN (2003)
36 VUES DU PIC SAINT-LOUP (2009)

MERRY GO-ROUND (1981)
SCÈNES DE LA VIE PARALLÈLE: 3 – NOROÎT (UNE VENGEANCE) (1976)
LE COUP DU BERGER (1956)

LA BELLE NOISEUSE – DIVERTIMENTO (1992)
PARIS S‘EN VA (1981)
OUT 1, SPECTRE (1972)

2017 werde ich mit Sicherheit den einen oder anderen Rivette-Film hier besprechen. Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster und verspreche zumindest einen Text zu L'AMOUR FOU, dem zentralen Übergangsfilm zwischen der frühen und der mittleren Werksphase – und trotz seiner zentralen Bedeutung in Rivettes Filmographie bis heute nirgendwo auf DVD (noch nicht einmal auf VHS) erhältlich. Auf ihn und weitere sieben der 18 gesichteten Rivette-Filme komme ich zunächst schon mal weiter unten noch mal kurz zu sprechen. Vorher aber gibt es noch einen kurzen Blick auf aktuelle Filme.


Meine besten Filme des Jahres 2016

Trotzdem ich Kinobesuche zunehmend anstrengend finde, habe ich mich vom aktuellen Kino- und Filmgeschehen nicht vollkommen abgekehrt. Es ist dennoch bezeichnend, dass von meiner Liste fast die Hälfte (de-facto-)direct-to-video-Veröffentlichungen, TV-Filme oder „obskure“ Filmfestival-Geheimtipps sind.
Eine Flop-Liste erspare ich mir dieses Jahr: Gordian Mauggs schreckliches Biopic FRITZ LANG und „NWR“s (wie er sich jetzt gerne nennt) THE NEON DEMON seien hiermit als besonders unerfreuliche Sichtungen lediglich erwähnt.

1 ELLE (Paul Verhoeven: Frankreich 2016)
Die erfolgreiche Chefin eines Computerspielunternehmens wird zuhause überfallen und vergewaltigt. Die Tat wird zum Auslöser für eine Rundumabrechnung mit ihrem Umfeld und ihrer Vergangenheit – und später für den Beginn eines Katz-und-Maus-Spiels mit dem Täter.
Der einzigartige und unverwüstliche Paul Verhoeven ist zurück, nach 10 Jahren Kinopause (allerdings nur 4 Jahren Filmpause – dazu weiter unten mehr). Ein Freund von mir nannte den Film „altersmild“, weil die extreme Gewalt etwas zurückgefahren und der Sleaze sublimiert ist, doch Verhoeven selbst bezeichnete ELLE als den bisher provokantesten Film seiner Karriere. Es ist sicherlich sein provokantester und schockierendster Film seit SPETTERS (1980): wie das pessimistische Panorama der niederländischen Provinzjugend greift ELLE nicht auf das Sicherheitsnetz des Genres zurück. Die Niederträchtigkeit, die Gewalt, die Grausamkeit, die Peinlichkeit, das Abstoßende (aber ebenso die schiere Lebensfreude und die unverhofften Momente der Menschlichkeit) kommen wie in SPETTERS aus dem richtigen Leben, und nicht aus Genre-Mustern. Als Thriller, wie ELLE oft bezeichnet wird, funktioniert der Film nicht und ist auch nicht so gefilmt. Das, was man wohl eher als loses Drama bezeichnen könnte, ist wie seine Hauptfigur: knochentrocken, spröde, im richtigen Moment dennoch sehr schlagkräftig, undurchdringlich, mysteriös. ELLE ist nicht nur Verhoeven pur, sondern auch Isabelle Huppert in einer unsterblichen Glanzrolle.
Der beste Film des Jahres kommt in Deutschland Anfang Februar 2017 ins Kino. Ich war zu ungeduldig und habe mir deshalb schon die französische DVD besorgt. Verhoeven ist mit ELLE definitiv in seiner Altmeister-Werksphase angekommen, ohne jedoch Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Er plant mit LYON 1943 seinen nunmehr dritten Weltkriegsfilm, über sein Jesus-Projekt spricht er mittlerweile auch wieder. Ich bin gespannt.

2 PATERSON (Jim Jarmusch: USA / Frankreich / Deutschland 2016)
Eine Woche im ruhigen Leben des Busfahrers und Freizeit-Lyrikers Paterson in Paterson, New Jersey.
À propos Altmeister-Werksphase... Jim Jarmusch war nie ein klassischer Erzähler im engeren Sinne. Mit THE LIMITS OF CONTROL hat er sich definitiv von jeglichem Plot-Ballast befreit. ONLY LOVERS LEFT ALIVE transzendierte völlig das Genre des Vampirfilms mit seinem meditativen, langsamen Rhythmus (was ihm bei manch einem den Ruf des „Gitarrenstreichler-Films“ brachte). In PATERSON hat Jarmusch außergewöhnliche Figuren (Profikiller, Vampire) nun ganz aufgegeben. Gegliedert in sieben Kapiteln (je ein Tag der Woche) folgt er dem ruhigen Alltag eines Menschen, der fünf Tage die Woche in einem verhältnismäßig monotonen Job arbeitet und der auch in seiner Freizeit eher ein Mann des understatement ist – im Gegensatz zu seiner tatenlustigen Ehefrau oder den anderen Gästen seiner Stammkneipe. Wie Verhoeven entfernt sich auch Jarmusch vom Genre, um etwas freieres zu erschaffen. Etwas, das aus dem meditativen Charme der Wiederholung (mit kleinen Variationen) nach und nach seine volle Schönheit gewinnt.
Mir fällt gerade auf, dass Jarmusch vielleicht einer der interkulturellsten Filmemacher der USA ist. Immer wieder begibt er sich entweder in die Fremde – und das konsequenterweise auch sprachlich – (NIGHT ON EARTH, THE LIMITS OF CONTROL), oder lässt zumindest Fremde auf die USA blicken (in gut der Hälfte der Spielfilme). Am Ende von PATERSON unterhält sich Paterson mit einem japanischen Touristen, der mit dem Blick eines Gedichteliebhabers durch die US-Provinz geht. Noch konsequenter ist wohl, dass die Herkunft von Patersons Frau Laura, die mit ihrem Akzent ganz offenbar keine gebürtige US-Amerikanerin ist (gespielt von der iranisch-französischen Schauspielerin Golshifteh Farahani), gar nicht thematisiert wird und ich glaube auch noch nicht mal erwähnt – sie lebt eben in Paterson mit Paterson und will Country-Sängerin werden. 

3 SULLY (Clint Eastwood: USA 2016)
Pilot Chesley Sullenberger landet kurz nach dem Abflug ein beschädigtes Flugzeug auf dem Hudson River, wird dann als Held gefeiert, von einem Untersuchungsausschuss befragt und gerät in schwere Selbstzweifel.
Mit seiner üblichen klassischen, ruhigen und unaufgeregten Inszenierung (allerdings wesentlich pointierter als in den letzten Filmen) erzählt Eastwood von einem unfreiwilligen Helden, der eigentlich nur seinen Job gemacht hat. Statt eines reißerischen Katastrophenfilms gibt es das intime Portrait eines ruhigen, überlegten Profis, gefilmt aus Perspektive seiner Erinnerungen, seiner Erinnerungsbruchstücke und seines unbeirrbaren Arbeitsethos. Nach einer großen Enttäuschung (JERSEY BOYS) und zwei  mittelmäßigen Streifen (J. EDGAR, AMERICAN SNIPER) liefert Eastwood hier nicht nur seinen besten Film der 2010er Jahre, sondern auch sein persönlichstes Werk seit langem (seit UNFORGIVEN?).

4 DER BUNKER (Nikias Chryssos: Deutschland 2015)
Der Student mietet sich für seine Forschungen im Zimmer einer exzentrischen Familie in einem Waldbunker ein: während der Vater eine erschreckend freundliche passive Aggressivität an den Tag legt, unterhält sich die Mutter gerne mit einem Außerirdischen namens Heinrich, der sich in einer übel aussehenden Beinwunde versteckt hält – und Klaus, den geistig zurückgebliebenen Sohn, soll der Student dazu unterrichten, US-Präsident zu werden.
Nach drei Altmeistern Platz für die Jugend. Nikias Chryssos‘ erster abendfüllender Film ist derartig singulär, dass sich viele Kritiker in halbgare Vergleiche flüchteten à la „David Lynch und Helge Schneider drehen zusammen auf Koks eine Folge der Lindenstraße“. Das ist nicht völlig abwegig, zumal Chryssos wie Schneider prominent einen ganz offensichtlich älteren Schauspieler als kleines Kind besetzt, trifft es aber nur unzureichend. DER BUNKER mag ein klaustrophobisches Kammerspiel sein, das vier Figuren in fensterlose Räume pfercht, aber vor allem ist es ein großes Stück entfesseltes Kino: zugleich grotesk, anrührend, urkomisch, gruselig, erschreckend, zärtlich, schockierend, hysterisch, besinnlich, melancholisch. Alle Register werden ineinander überfließend gezogen. Eine Erklärung für das ganze ist nicht simpel. Selbst die Frage, ob Klaus nun eigentlich ein zurückgebliebener Achtjähriger mit dem Körper eines 30-Jährigen ist, oder ein 30-Jähriger, der eine geistige Regression durchgemacht hat, wird jeder für sich selbst beantworten müssen – ich neige zu ersterem, aber der vieldeutige Schluss verunsichert mich auch. Da passt es wie der Rohrstock auf die ausgesteckte Hand, dass der Film von einem nur vierköpfigen, aber perfekten Cast getragen wird, von wunderbar komponierten Cinemascope-Bildern veredelt wird, kunstvoll ausgeleuchtet ist (die Wände, die wie bei Suzuki Seijun – tut mir leid, noch so ein Vergleich – zwischendurch die Farbe wechseln!), und von einem grandiosen elektronischen Score Leonard Petersens begleitet wird. Den Soundtrack gibt es in der erweiterten DVD-Edition als Bonus, und ich warne eindringlich vor seinem extremen Suchtpotential.
In einer besseren Welt würden die Leute nicht sagen „Wir sind Toni Erdmann“, sondern „Klaus for President“. In einer besseren Welt wäre Klaus tatsächlich der neue Präsident der USA: die Frisur und die profunden Kenntnisse der Weltgeografie ähneln sich zwar, aber Klaus ist doch etwas freundlicher. In einer besseren Welt würde DER BUNKER auch außerhalb von Millionenstädten in Kinos laufen und keine de-facto-direct-to-video-Veröffentlichung sein. Mehr von mir zu diesem wunderbaren Film zu lesen gibt es hier.

5 ZOOTOPIA (Byron Howard, Rich Moore, Jared Bush: USA 2016)
In der Metropole Zootopia suchen die idealistische Hasen-Polizistin Judy und der kleinkriminelle Fuchs Nick nach einer entführten Otter – und stoßen dabei auf ein politisches Komplott, das mithilfe von Hass, Vorurteilen, Rassismus und Attacken auf eine Minderheit die multikulturelle Gesellschaft Zootopias zerrütten möchte.
ZOOTOPIA ist der große politische Film des Jahres 2016. Das mag bei einem 150-Millionen-Dollar-Disney-Film, der eigentlich Kinder und Familien als Hauptzielgruppe hat, befremdlich klingen. Nun... Zufällig kam ZOOTOPIA in die deutschen Kinos genau 10 Tage vor einer dreifachen Landtagswahl, bei der durchschnittlich 15 % der Wähler (insgesamt weit über eine Million Menschen) für Hass, Vorurteile und Rassismus stimmten. Diese unheilvolle Trias wird in Deutschland tagtäglich unter solch netten Begriffen wie „Sorgen“ und „berechtigte Ängste“ legitimiert – leider gerade auch von Leuten, die sich gerne eifrig als liberale Vorzeigedemokraten präsentieren möchten. ZOOTOPIA hingegen will das nicht akzeptieren, und die Hauptfigur Judy Hopps, eine naive Vorzeigedemokratin, wird schlussendlich gezwungen, ihren eigenen, tief verwurzelten Rassismus zu überwinden. Die „Botschaft“ mag vordergründig sein. Vor allem über seine Figuren und Nebenplots fordert ZOOTOPIA völlig beiläufig eine Gesellschaft, in der ethnische, sexuelle, lebensweltliche und subkulturelle Minderheiten selbstverständlich akzeptiert werden sollen (also namentlich Raubtiere, Homosexuelle mit Dienstmarke, naive Land-Stadt-Migranten und nudistische Hippies).
Auch ganz unabhängig dieser Implikationen ist ZOOTOPIA ein wunderbarer Film für Erwachsene – kleine Kinder dürften von der Laufzeit und vor allem von den sehr effektiven Thriller-Momenten (teils am Rande des Horrorfilms) überfordert sein. Mit links verbindet ZOOTOPIA Motive des police procedurals, des Buddy-Movies, des film noir, des Politthrillers, des Actionfilms und der Großstadtkomödie und funktioniert in der Hauptsache auch über die Chemie zwischen den beiden Hauptfiguren. Die einzelnen Vignetten sind alle stimmig: die erste große Verfolgungsjagd Judys nach einem Dieb ist so schweißtreibend, wie die langsame Suche nach einem Autokennzeichen bei der Kfz-Behörde (in der Faultiere arbeiten) absurd-komisch ist. Zwischendurch mokiert sich der Film milde über die Production-Code-Ära, wenn Nick einen Witz mit dem Wort „pregnant“ erzählt oder die schamhafte Judy eine Befragung in einem Nudisten-Club durchführt, in dem sich zahlreiche Tiere so schamlos wie lustvoll nackt räkeln.

6 FINDING DORY (Andrew Stanton, Angus MacLane: USA 2016)
Dory, die unter starken Amnesie-Problemen leidet, begibt sich auf die Suche nach ihren Eltern.
FINDING NEMO war schon ein netter Film. Und doch dachte ich mir: wie würde bloß ein Film aussehen, der sich der faszinierendsten Figur widmet? Die Antwort war also FINDING DORY! Ein Disney-Film, der eine Figur in den Mittelpunkt stellt, deren psychische Probleme nicht nur schwere Identitätsprobleme mit sich bringt. Sie vergisst alle paar Sekunden, was zuvor geschehen ist, und ist, wenn Zwischenfälle sie nicht weiterbringen, gewissermaßen dazu verurteilt, sich permanent im Kreis zu drehen und ist dadurch noch nicht einmal dafür gewappnet ist, die allereinfachsten Aufgaben zu bewältigen, weil sie keine konzentrierte Einordnung ihres eigenen Ichs und ihrer kürzlichen Handlung in ihre Umwelt vornehmen kann. FINDING DORY ist dann entsprechend ein Film darüber, wie das Unüberwindliche überwunden wird. Nicht erzählt mit den Mitteln des film noir (gleichwohl der Film mit einer vergesslichen Protagonistin auf der Suche nach der Vergangenheit sich dazu eignen würde und überhaupt auch der bessere MEMENTO ist), sondern mit den Mitteln des Buddy-Actionfilms. Zumindest größtenteils. Zwischendurch wartet FINDING DORY mit POV-Einstellungen auf (als die vergessliche Dory von Panik ergriffen etwas sucht), die aus einem Thriller entstammen könnten. Mehrere Momente bringen diesen Disney-Film an den Rand dessen, was ein eigentlich für Kinder produziertes Konsumprodukt tun kann – wenn sich Dory etwa in einem Eimer voller toter Fische (Futter für die Haie in einem großen Aquarium-Erlebnispark) wiederfindet, sich nonchalant mit ihnen unterhält und erst langsam merkt, dass etwas hier nicht stimmt.
Angesichts der ganzen Superhelden-Postquel-Reboot-Aufgüsse wird bisweilen von einer Infantilisierung des Publikums gesprochen. Das Paradox, dass ausgerechnet die Disney-Animations- und Kinderabteilung letztendlich intelligente Filme für erwachsene Zuschauer produziert (eben ZOOTOPIA und FINDING DORY), scheint geradezu logisch.

7 BASKIN (Can Evrenol: Türkei / USA 2015)
Eine Handvoll Polizisten begibt sich zu einem abgelegenen Tatort und betritt damit unfreiwillig das Vorzimmer der Hölle.
Can Evrenol schickt fünf türkische Polizisten zusammen mit ihrem bornierten, sexistischen Weltbild in die Hölle, wo der Männerbund ordentlich in Stücke gerissen wird (nicht nur metaphorisch). Der Weg dazu ist aber nicht geradlinig und direkt, sondern führt über diverse Alpträume und Zeitschleifen. Trotz der eindeutigen Beeinflussung durch Dario Argento und Clive Barker ist Evrenol mit seinem ersten Langfilm (ein „Remake“ seines gleichnamigen letzten Kurzfilms) ein ganz eigener, überaus sinnlicher, fleischlicher und alptraumhafter Film gelungen.

8 ZIELFAHNDER: FLUCHT IN DIE KARPATEN (Dominik Graf: Deutschland 2016)
Zwei deutsche Polizisten suchen in der rumänischen Hauptstadt, später in den Dörfern, nach einem entflohenen Kriminellen.
Auch ohne die irrsinnige Dichte von TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT treibt Graf dem Tatort-Spießer die Wuttränen in die Augen mit seinem Krimi, der zuerst mit Autoverfolgungsjagden und wüsten Prügeleien in abgeranzten Bruchbuden aufwartet, um sich später völlig hemmungslos in ausgedehnten Nebenplots zu suhlen. Der Höhepunkt des Films ist entsprechend auch die feucht-fröhliche Hochzeitsfeier, getragen von einer Scheiss-drauf-lass-uns-Spaß-haben-Stimmung – gefolgt von der wundervollsten verkaterten Suche nach einer gestohlenen Kirchturmglocke, die je auf Film gebannt wurde. Auch ein „kleiner“ Graf kann ein großer Filmmoment des Jahres sein!

9 THE KEEPING ROOM (Daniel Barber: USA 2014)
Während des Amerikanischen Bürgerkriegs, irgendwo in den Südstaaten: Die Hausherrin einer kleinen Farm, ihre kleine Schwester und ihre schwarze Sklavin leben alleine auf dem Hof, während die Männer im Krieg sind. Zwei marodierende Soldaten belagern und bedrohen sie...
Der Western ist immer noch nicht tot zu kriegen, und das ist auch gut so! THE KEEPING ROOM verbindet dabei das Setting eines Frauen-Südstaaten-Westerns äußerst effektiv mit Elementen des Home-Invasion-Thrillers und des Rape-and-Revenge-Exploiters. Nebenbei thematisiert der Film auch, wie Krieg Geschlechter- und ethnische Beziehungen wandelt. Die ältere Schwester muss nun funktional „zum Mann“ werden: also den Hof betreiben und beschützen, notfalls mit Gewalt. Doch zugleich erodiert die eindeutige Beziehung zwischen ihr, der Sklavenherrin, und ihrer Sklavin, weil letztere aufgrund des kriegsbedingten sozialen Zusammenbruchs nicht mehr bereit ist, einfach nur Sklavin zu sein. In einem denkwürdigen Moment gibt die Herrin der Sklavin eine Ohrfeige. Diese antwortet mit einer ebenso schallenden Ohrfeige. Für mehrere Sekunden sind beide (und der Zuschauer) erstaunt darüber, was eben passiert ist. Nur wenige Sekunden, die vielschichtiger sind als alles, was Quentin Tarantino in den gesammelten 6 Stunden von DJANGO UNCHAINED und THE HATEFUL EIGHT zu diesem Thema zu sagen (um nicht zu sagen: zu labern) hat.

10 SIMPLY THE WORST (Günther & Hindrich: Deutschland 2016)
Zwei sächsische Slacker fahren zusammen auf Spritztour ins tschechische Erzgebirge. Alkoholkonsum und Tollpatschigkeit bringen bald Trubel.
In Sachsen gibt es nicht nur Naz... besorgte Bürger, sondern auch kreative Filmemacher. Was auf den ersten Blick wie kleine statische Sketches aussieht, verwandelt sich nach dem Start des Trips Richtung Osten in ein Feuerwerk aus irrsinnigen Gags und absurden Ideen. Auf ein Ausschmücken der Handlung wird komplett verzichtet: brutale Schnitte und gnadenlose Ellipsen peitschen die Bilder nur so voran, dass es kracht. Das Resultat ist nicht ein kurzes Roadmovie von 20 Minuten, sondern ein extrem kompaktes Konzentrat mit genug Stoff für 3 Stunden Film. Zeit offline hat mit seinem Statement („Most epic roadmovie ever“) den rostigen Nagel der Marke VEB Kleinmetallwaren Karl-Marx-Stadt direkt auf den Kopf getroffen. SIMPLY THE WORST läuft auf Sächsisch mit hochdeutschen und englischen Untertiteln. Diese differieren in Bedeutung, Länge und Witzform teils sehr erheblich sowohl untereinander wie auch zum gesprochenen Sächsischen und fügen dem Film, der nicht melodisch verläuft, sondern wie ein Schichtkuchen aufeinander geschichteter Akkorde aufgebaut ist, somit eine zusätzliche Note hinzu.
SIMPLY THE WORST sah ich Ende Februar bei den Vorauswahl-Sichtungen zum diesjährigen Jenaer cellu l‘art Kurzfilmfestival (und der Film schaffte es auch in das fertige Festivalprogramm). Er lief auch auf diversen anderen Kurzfilmfestivals und ist auf Video-on-demand bzw. auf Anfrage bei den Machern auf DVD erhältlich.


Film und Kontext: Das Filmbuch des Jahres 2016

SAUFT BENZIN, IHR HIMMELHUNDE! GESPRÄCHE ÜBER MÄNNLICHE ALLMACHTSPHANTASIEN, MASCHINENGEWEHRE, ZERSTÖRUNGSWUT & UNGEHEMMTE MORDLUST (Oliver Nöding, Marcos Ewert)
Wer den Blog kennt (siehe unsere Blogroll) weiß, worum es in diesem Buch geht: um die Rehabilitation eines verfemten Genres – des US-amerikanischen Actionfilms der 1980er Jahre – mit den Mitteln des Filmdialogs. Eine echte Goldgrube nicht nur für Fans von Sylvester Stallone, Chuck Norris, Arnold Schwarzenegger, Charles Bronson, Menahem Golan und Co., sondern für alle Filminteressierte, weil es wohl wenige Filmtexte gibt, die auf einem solch hohen Niveau Liebhaber-Herzblut mit analytischem Scharfsinn verbinden.
Hier noch mal ein paar Infos von einem der beiden Autoren selbst, inklusive eines Links für Käufer.


2016: mein persönlicher Kanon der Erstsichtungen

Ich habe dieses Jahr 439 Filme gesehen (bzw. ein bisschen weniger, weil ich einige auch zwei- oder mehrmals gesehen habe – oder doch eher ein Tick mehr, wenn man noch unzählige Kurzfilme hinzurechnet). Die crème de la crème meiner diesjährigen Erstsichtungen habe ich in der folgenden Liste mit einigen mehr oder minder kurzen Kommentaren versammelt.

1 MAN‘S FAVORITE SPORT? (Howard Hawks: USA 1964)
(4 Sichtungen) Pure Entspannung auf Zelluloid. Mehr von mir zum „ultimativen Hollywood-Autorenfilm“ gibt es hier zu lesen.

Jacques Rivette – Liebe für Kunst, (Lebens)künstler und Schauspieler
LA BELLE NOISEUSE, CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU
OUT 1
2 LA BELLE NOISEUSE (Jacques Rivette: Frankreich / Schweiz 1991)
Dieser Film war der Beginn einer neuen großen Liebe – zu Jacques Rivettes Filmen. Dass er in meiner Liste direkt nach MAN‘S FAVORITE SPORT? kommt, ist wohl kein Zufall: es ist der späthawksianische Film eines großen, erfahrenen Meisters, der nur noch ein bisschen südfranzösische Sonne, Emmanuelle Béarts entschlossene Blicke und Michel Piccolis zögerliche Artikulation braucht (und vier Stunden Zeit), um eine Filmperle zu zaubern.

3 CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU: PHANTOM LADIES OVER PARIS (Jacques Rivette: Frankreich 1974)
Der Film beginnt mit einer 10-minütigen Verfolgungsjagd durch das sommerliche Paris und endet mit dem Bruch der vierten Wand, als eine Katze in die Kamera schaut. Dazwischen gibt es drei Stunden Kinomagie, bei der alles möglich ist. Rivettes Semi-Remake von Hawks‘ GENTLEMEN PREFER BLONDES, mit 16mm aus der Hüfte während eines Sommers gedreht, steht und fällt mit seinen fantastischen Hauptdarstellerinnen, die zwischendurch nonchalant jeweils die andere spielen. Juliet Berto hat als Céline ihre schönste von dreieinhalb Rollen für Rivette und es ist eine Schande, dass Dominique Labourier keine weiteren Filme mit ihm gedreht hat.

4 OUT 1, NOLI MI TANGERE (Jacques Rivette: Frankreich 1971)
Das zwölfeinhalbstündige Mammutwerk, das trotz der epischen Länge auch ein unglaublich intimer Film ist. Das Komplott löst sich wie meist bei Rivette am Schluss in Beliebigkeit auf, es bleiben viele unvergessliche Momente. Was anderswo als zermürbende und strapaziöse Theaterprobeszenen beschrieben wird, gehört zu den intensivsten performativen Kinomomenten, die ich bisher gesehen habe, besonders jene mit Thomas‘ (Lonsdale) Truppe. OUT 1, NOLI MI TANGERE enthält auch eine große herzzerbrechende, unerfüllte Liebesgeschichte zwischen Colin (Léaud) und Pauline (Ogier), die voller Hoffnung anfängt und schließlich in Nicht-Kommunikation und totaler Entfremdung endet. Und eine wunderbare Auferstehung aus Verrücktheit in das Leben zurück, wenn Quentin (Baillot) nach etwa einer Stunde (oder zwei?) scheinbar verrückten Herumirrens wie ein Vollprofi in die andere Theatertruppe einsteigt – ein echter Hawksianischer Professional eben!
Die Laufzeit von 12 Stunden ist zwar logistisch ein bisschen herausfordernd, vergeht aber wie im Flug.

5 WALKABOUT (Nicolas Roeg: UK / Australien 1971)
Roegs 1 1/2. Film über das Erwachen der Sexualität in der Wüste ist ein unglaubliches Kinogedicht von fast unerträglicher Schönheit und Traurigkeit und großem Verstörungspotential. Die pièce de résistance ist die vierminütige Jagd-Schwimm-Montage in der Mitte des Films. John Barry großartiger Score bringt den Bildern das letzte I-Tüpferchen.

Fantastische Bilderwelten mit
unterschiedlichen Mitteln: CALIFORNIA
LE PONT DU NORD
6 CALIFORNIA (John Farrow: USA 1947)
(2 Sichtungen) Ein exzentrischer Western in psychedelischem Technicolor und extralangen Plansequenzen. Zu diesem bizarren Wunderwerk gibt es von mir hier mehr zu lesen.

7 SALON KITTY (Tinto Brass: Italien / Bundesrepublik Deutschland / Frankreich 1976)
Die Idee, dass Prostituierte (die für das stehen, was viele als „unanständig“ sehen) einen kleinen, utopischen, symbolischen Sieg über Nazis (die für das stehen, was viele als „ordentlich“ in einem hoffnungslos ausgehöhlten Sekundärtugend-Sinne sehen) feiern, ist schon wunderschön, aber SALON KITTY war zumindest bei der Erstsichtung vor allem ein unermüdlicher, musikalischer Bilderfluss, der in einer großartigen Katharsis der Zerstörung endet.

8 BRAT (Aleksej Balabanov: Russland 1997)
No Future in Piter! Ein genialer Beitrag zum Genre des Hitman-Films mit entfremdeten, nur scheinbar coolen und kontrollierten Killern.

9 WAKE IN FRIGHT (Ted Kotcheff: Australien / USA 1971)
Weihnachten mit neuen Bekanntschaften und mehreren Bierchen – garantiert unbesinnlich, dafür am Ende besinnungslos betrunken... Auch wenn die Biere so unglaublich schnell getrunken werden, so ist vor allem die bedrückende, qualvolle Langsamkeit dieses Films faszinierend. Ein Abstieg in die Hölle vom Feinsten.

10 LE PONT DU NORD (Jacques Rivette: Frankreich 1981)
Die Hauptfigur des Films ist schwer klaustrophobisch, deshalb wurde LE PONT DU NORD passenderweise auf 16mm im Guerilla-Stil komplett auf den Straßen von Paris gedreht. So wird neben Bulle Ogier und Pascale Ogier dieses dreckige, graue Paris fern der Touristenorte, das langsam gentrifiziert und abgerissen wird, zur dritten Hauptfigur – und zum Spielbrett für Protagonisten, metteur en scène und Zuschauer.

11 SCÈNES DE LA VIE PARALLÈLE: 2 – DUELLE (UNE QUARANTAINE) (Jacques Rivette: Frankreich 1976)
DUELLE ist möglicherweise Rivettes „purster“ Film (vielleicht neben NOROÎT, mit dem er eine Art Duo bildet) – definitiv auch einer seiner „schwierigeren“. Weitere Sichtungen werden zeigen, was mich am Duell der Nachtgöttin (Juliet Berto) und der Sonnengöttin (Bulle Ogier), die in einen irdischen Komplott um einen verschwundenen Edelstein geraten, so fasziniert hat.

12 UN COMISAR ACUZĂ (Sergiu Nicolaescu: Rumänien 1974)
Dirty Tudor räumt auf. Oder wie in Rumänien ein poliziesco gedreht wird, dass den Italienern und Amerikanern Sehen und Hören vergeht. Mehr von mir zum rumänischen Dirty Harry gibt es hier zu lesen.

Bittere Frauenschicksale und Einsamkeit in
THE KILLING OF SISTER GEORGE
LA RELIGIEUSE
13 THE KILLING OF SISTER GEORGE (Robert Aldrich: USA 1968)
Das Schöne und das Grausame, das Vulgäre und das Edle, das Witzige und das Schreckliche, das Nihilistische und das Hoffnungvolle, das Brutale und das Zärtliche nahtlos miteinander verbinden: das gehört sicherlich zu den hervorragendsten Eigenschaften der späten Aldrich-Filme (ich denke an THE GRISSOM GANG, EMPEROR OF THE NORTH POLE, THE LONGEST YARD, HUSTLE). Hier, in seinem persönlichsten Film, kommt das wohl zum ersten Mal in Aldrichs Werk wirklich so gut und meisterhaft zum Tragen.

14 JE T‘AIME MOI NON PLUS (Serge Gainsbourg: Frankreich 1976)
Ein Musikkünstler und Filmamateur dreht aus dem Stand gleich einen solch unfassbaren Film: ein Proto-New-Queer-Cinema-Melodrama, der zunächst nach einer nouvelle-vague-Interpretation von „The Postman Always Rings Twice“ wirkt, dann aber doch unerwartete Wege einschlägt.

15 SOY CUBA (Michail Kalatozov: Kuba / UdSSR 1964)
40 Jahre nach DER LETZTE MANN erfinden Michail Kalatozov und Sergej Urusevskij in diesem Filmessay die entfesselte Kamera neu. Schwerkraft, Natur, Architektur, Menschenmengen, Wasser oder die gängigen Regeln räumlicher Orientierung – nichts kann sie stoppen. Mehr zu Kalatozov und Urusevskij gibt es von Manfred hier zu lesen.

16 HARDWARE (Richard Stanley: UK / USA 1990)
Als „art-house sci-fi gorefest“ wurde der erste abendfüllende Film des exzentrischen Südafrikaners Richard Stanley genannt, in dem der wiedererwachte Schädel eines Cyborgs in einem isolierten Apartment Amok läuft. In diesem klaustrophobischen Kammerspielsetting entfesselt Stanley seine recht banale Geschichte zu einem singulären Bildgedicht – inklusive einer extrem denkwürdigen und bizarren Sterbeszene.

17 SUZANNE SIMONIN, LA RELIGIEUSE DE DENIS DIDEROT (Jacques Rivette: Frankreich 1965)
Rivette leiht sich die Muse seines Freundes Godard aus und erreicht nur mit ihrem Blick, dem kargen und trostlosen Setting und einigen Jumpcuts eine erschreckende emotionale Intensität. Eine Passionsgeschichte, die wirklich weh tut (und nicht nur Genre-Ingredienzen für Tränen zusammenwirft). Der späte NE TOUCHEZ PAS LA HACHE ist der ideale Ergänzungsfilm, weil er Ähnliches mit den gleichen Mitteln erreicht.

18 VAMPYROS LESBOS (Jess Franco: Bundesrepublik Deutschland / Spanien 1971)
Fans von Jess Franco schreiben oft über die Faszination des Disparaten in seinem Werk oder greifen gerne auf die von ihm selbst genutzte Metapher zurück, dass seine Filme wie Jazz-Nummern mit langen Improvisationen seien. Für letzteres scheint mir VAMPYROS LESBOS der ultimative Beleg zu sein. Zusammengefügt wie die Schattierungen eines Musikstücks, nicht wie eine Erzählung, entwickeln die surrealen, grotesken, schaurig schönen Bilder (dieser Skorpion im Wasser!) eine große Faszination.

(Nicht(?)-/mehr-)Paar-Spiele:
COPIE CONFORME
L'AMOUR FOU
19 COPIE CONFORME (Abbas Kiarostami: Frankreich / Italien / Belgien / Iran 2010)
Kiarostami fügt mit einem kleinen Twist den Annäherungsliebesfilm mit den „Szenen einer Ehe“ zusammen – im Rahmen dessen, was man wohl als eine Art Remake von Orson Welles‘ Essay über Kunstfälscher und Autorenschaft F FOR FAKE sehen kann. 

20 BORDERLINE (Kenneth Macpherson: UK 1930)
Schneller montiert als es die Sowjets kurz zuvor taten, und mindestens so assoziativ und energiegeladen wie Orson Welles 20 Jahre später. Mehr zu diesem verblüffenden Stummfilm und seinen faszinierenden Machern schrieb Manfred hier.

21 ¿QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO? (Narciso Ibáñez Serrador: Spanien 1976)
Das spät- und postfranquistische transgressive Kino Spaniens ist immer wieder eine Quelle von Freude, Überraschung und Verwunderung. Der Auslandsspanier Ibáñez Serrador reibt den Zuschauern die Schrecken des Bürgerkriegs unter die Nase, indem er einen eigenen Bürgerkrieg – am Ende gar einen Weltkrieg – der Kinder gegen die Erwachsenen inszeniert.

22 VILLAGE OF THE DAMNED (John Carpenter: USA 1995)
À propos fiese Kinder... Carpenters humanistischster Film und sein vielleicht vollendetster Cinemascope-Film. Einige Sätze mehr von mir dazu in meinem Artikel zu meiner diesjährigen Carpenter-Retrospektive.

23 NO BLADE OF GRASS (Cornel Wilde: UK / USA 1970)
Der große auteur maudit des provokativen politischen Films, Cornel Wilde, beendet seine Trilogie über den zivilisatorischen Zusammenbruch mit der ökologischen Postapokalypse – er gibt sich als wütender Prediger in einem schwierigen Film, der es schafft, agitatorisch zu sein, ohne pädagogisch zu werden. Hans Schmid hat über NO BLADE OF GRASS hier einiges Interessantes geschrieben.

24 A COTTAGE ON DARTMOOR (Anthony Asquith: UK / Schweden 1929)
Es soll ja immer noch Leute geben, die denken, dass vor der Erfindung des Tonfilms dem Kino etwas wesentliches fehlte. Der konzentrierte, intime Thriller A COTTAGE ON DARTMOOR, wie auch THE GENERAL, SUNRISE, SPIONE, LA PASSION DE JEANNE D‘ARC, GENERAL‘NAJA LINIJA, beweist, dass dem nicht so ist: schon vor den „talkies“ war fast alles möglich. Weitere Sichtungen werden vielleicht ergeben, dass Asquiths A COTTAGE ON DARTMOOR (im Grunde ein früher film noir) tatsächlich auf der Höhe der eben genannten ist.

25 ONE PLUS ONE (Jean-Luc Godard: UK 1968)
Godard schwurbelt vergnügt mit Politik herum, während die Stones „Sympathy for the Devil“ in x-verschiedenen Varianten ausprobieren. Von wegen „ein Mädchen und eine Knarre“: ein Sänger und eine Gitarre tun‘s auch.

26 ONE, TWO, THREE (Billy Wilder: USA 1961)
Die schnellste Komödie, die ich dieses Jahr gesehen habe (schneller als Hawks‘ BRINGING UP BABY). Und auf eine gewisse Weise auch ein ambivalentes Portrait der frühen Bundesrepublik und ihrer (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich: der Sekretär ist ein liebenswürdiger Sidekick, aber wenn er davon erzählt, er habe in der SS nur in der Konditorei-Abteilung gearbeitet, läuft es einem auch kalt den Rücken herunter.

27 L‘AMOUR FOU (Jacques Rivette: Frankreich 1969)
Rivettes zweiter „erster Film“, seine Befreiung vom „konventionellen“ Filmemachen, gedreht ohne Drehbuch und entwickelt in improvisierter Zusammenarbeit mit den Darstellern. In langen, langen, langen Szenen schält sich langsam ein Theaterstück heraus, während parallel eine Liebesbeziehung langsam durch Wahnsinn, Paranoia und Betrug zusammenbricht. Vielleicht hätte auch eine Laufzeit von nur drei Stunden statt vier gereicht, aber was soll‘s: selten fühlte sich ein „Neubeginn“ so sehr befreiend an.

28 BIS ANS ENDE DER WELT (Wim Wenders: Deutschland / Frankreich / Australien / USA 1991)
Mein Jahr 2016 war ganz gut, wenn es um sehr lange Filme ging. Wenders‘ Viereinhalbstünder über einen Diebstahl, Übertragungen von Bildern und Träume in die Gehirne, nukleare Apokalypse und eine große Liebe hat – rückblickend gesehen – tatsächlich etwas leicht Rivette‘ianisches in seiner schieren Verspieltheit.

29 THE WARD (John Carpenter: USA 2010)
Der wohl vorerst leider letzte Film eines großen Meisters. Mehr zu Carpenters „chick flick“ gibt es von mir hier zu lesen.

30 RITAM ZLOČINA (Zoran Tadić: Jugoslawien 1981)
Der audiovisuelle Link zwischen Alfred Hitchcock und Eric Rohmer wird ausgerechnet in einem Thriller aus Jugoslawien hergestellt. Mehr zu diesem erstaunlichen Film gibt es von mir hier zu lesen.

31 TWIXT (Francis Ford Coppola: USA 2011)
Coppola zeigt allen Zuschauern, die gerne THE GODFATHER 4 oder APOCALYPSE NOW 3 sehen möchten, den Mittelfinger und amüsiert sich zusammen mit Val Kilmer und Bruce Dern einfach prächtig in dieser Räuberpistole um traurige Vampire, Untote und einen abgehalfterten Schriftsteller... 

32 YOUTH WITHOUT YOUTH (Francis Ford Coppola: USA / Rumänien / Frankreich / Italien / Deutschland 2007)
... seine altersradikale Phase begann aber mit YOUTH WITHOUT YOUTH, der schamlos Mindfuck-Thriller, Melodrama, meditativer Grüblerfilm, Mystery, Liebesfilm, schwarze Komödie, Surrealismus und Esoterik zusammenfügt.

33 THE DIARY OF A CHAMBERMAID (Jean Renoir: USA 1946)
Uff... was für ein merkwürdiger Film. Ihm wurde vorgeworfen, dass die Charaktere „not in tune“ mit dem Drehbuch seien – ich glaube eher, dass genau das seine Stärke ist. Alle Bilder, ihrer oberflächlichen Fröhlichkeit zum Trotz, werden von etwas überlagert, was nicht passt, was irritiert, stört, ja gar verstört. Eine leichte Komödie mit verrückten Leuten, die Leichen im Keller haben, und am Ende werden sogar Leute getötet. Im Grunde ein bisschen wie in LA RÈGLE DU JEU, bloß noch pessimistischer.

34 DRAK SA VRACIA (Eduard Grečner: ČSSR 1968)
Ein slowakischer Heimatfilm aus der Blütezeit der Neuen Tschechoslowakischen Welle. Mehr dazu von mir gibt es hier zu lesen.

35 STEEKSPEL (Paul Verhoeven: Niederlande 2012)
Zwischen ZWARTBOEK und ELLE war Verhoeven nicht ganz untätig. Der TV-Film STEEKSPEL war eine Art misslungenes Experiment, das Drehbuch mit der „Schwarmintelligenz“ des Publikums zu entwickeln. Entstanden ist eine Art Screwball-Komödie mit viel screw um die eskalierende Geburtstagsfeier eines Schürzenjägers, der eine Affäre mit der besten Freundin seiner alkoholischen Tochter hat und dessen Geschäftspartner ihn mithilfe einer Ex-Geliebten aufs Kreuz legen wollen. Der Film dauert nur 50 Minuten, und vermittelt einen Eindruck davon, wie eine Telenovella-Schmonzette von Paul Verhoeven inszeniert aussehen würde: extrem witzig, hintergründig, mit einem ordentlichen Schuss Sleaze abgeschmeckt, hochenergetisch und schonungslos.
(Die Vorstellung, dass Verhoeven mal nach Deutschland kommen könnte, um eine TATORT-Folge zu inszenieren, ist im Lichte dessen sehr anregend. Ein Meuffels-POLIZEIRUF wäre natürlich sehr naheliegend.)

36 KEETJE TIPPEL (Paul Verhoeven: Niederlande 1975)
Verhoevens Version des gediegenen, respektablen period-Melodrama – natürlich ohne „gediegen“ und ohne dem, was viele Leute unter „respektabel“ verstehen. Die Geschichte des mühseligen und aufopferungsvollen Aufstiegs eines Arbeitermädchens in höhere soziale Gefilde würde mit SHOWGIRLS wahrscheinlich ein perfektes Double-Feature bilden.

37 AIRPORT (George Seaton: USA 1970)
Ich hatte ehrlich gesagt einen fürchterlich pompösen und behäbigen Film erwartet, eine Verbildlichung der Gründe, warum so etwas wie „New Hollywood“ dringend notwendig war. Bekommen habe ich einen Thriller mit einem perfektem Timing, einer grandiosen Darstellerriege, viel Platz für den menschlichen Faktor und für Gewitzheit und – auch wenn er bereits in der Darstellerriege inkludiert ist – mit einem überlebensgroßen Burt Lancaster. Ein perfektes Samstagabend-Programm!

38 L‘INCONNU DU LAC (Alain Guiraudie: Frankreich 2013)
Ein ultraminimalistischer Thriller: ein Badesee im Sommer, mehrere aufeinanderfolgende Tage, ein Mörder, sein Liebhaber, eine moralische Zwickmühle.

"How d'you get your kicks for living?"
 Geschwindigkeit (SPEEDY)
Filmemachen (AMATOR)
39 SPEEDY (Ted Wilde: USA 1928)
Harold Lloyds letzter Stummfilm ist vielleicht auch sein entspanntester – zumindest plotmäßig: er ist schon verlobt, muss also nicht sein Mädchen erobern. Deshalb verbringt SPEEDY auch fast die Hälfte der Laufzeit bei Nebenplots, die für den roten Faden irrelevant sind und hat umso mehr Zeit für Gags und halsbrecherische Verfolgungsjagden.

40 AMATOR (Krzysztof Kieślowski: Polen 1979)
Achtung: Filmemachen macht süchtig und gefährdet Sie und Ihre Umgebung. Mögliche Wirkungen: Probleme am Arbeitsplatz, Entfremdung in der Ehe, Zerstörung der Karrieren anderer Leute.

41 FAT CITY (John Huston: USA 1972)
In einer besseren Welt würde FAT CITY als der große Boxerfilm der New-Hollywood-Ära gelten, und nicht der total überschätzte RAGING BULL.

42 THE HUNTED (William Friedkin: USA 2003)
Friedkin war ja eigentlich schon immer ein Radikaler, insofern sind seine wüsten Spätwerke BUG und KILLER JOE weniger verwunderlich als Coppolas YOUTH WITHOUT YOUTH oder TWIXT. THE HUNTED ist Friedkins letzter groß- bzw. (für Hollywood-Verhältnisse) mittelbudgetierter Film, zeigt aber schon in Richtung der extremen Reduzierung von BUG: zwei Männer, zwei Messer, ein Wald.

43 QIANG JIAN ZHONG JI PIAN: ZUI HOU GAO YANG (Wong Jing: Hong Kong 1999)
(„Raped by an Angel 4: The Raper‘s Union“)
Ein Glücksgriff eines Weihnachtswichtelns von 2015... Zwei Serienvergewaltiger brechen aus, ein Polizist streitet sich mit seiner Freundin, Anthony Wong als Vergewaltigungsguru trinkt gerne Milch – das ganze gefilmt mit einer Verve, als würde hier der letzte Film auf Erden gedreht werden. Eine wunderbare Sleaze-Delikatesse für fortgeschrittene Filmgourmets.

44 A WALK AMONG TOMBSTONES (Scott Frank: USA 2014)
Zu den faszinierendsten Trends der 2000er Jahre gehört, dass Liam Neeson seine Karriere als „ernsthafter“ Schauspieler in den Pausenmodus gestellt hat, um bei mehreren explosiven Actionfilmen mitzuwirken. A WALK AMONG TOMBSTONES ist der Höhepunkt dieses Trends, wenngleich kein Actionfilm im engeren Sinne, sondern eher ein grimmiger Serienmörder-Thriller. Mehr als in seinen „ernsthaften“ Rollen zeigt Neeson, was in ihm steckt und der Film selbst übertrumpft mit links solch weitaus gefeiertere Beiträge zum Genre wie PRISONERS.

Einsamkeit und die Tristesse der nächtlichen Arbeit
CROUPIER
TOPAZU
45 CROUPIER (Mike Hodges: UK / Frankreich / Deutschland / Irland 1998)
An einer Stelle fragt die Freundin der Titelfigur aufgebracht, woher denn das Wort überhaupt herkomme: „Croupier“. Er gibt darauf keine richtige Antwort – weiß er vielleicht, dass das etymologisch etwas mit dem Hintern eines Pferdes zu tun hat? Damit will sich der Croupier, der sich selbst gleich noch ein Roman-alter-ego zur Seite stellt (der für ihn auf die schiefe Bahn gerät) natürlich nicht identifizieren.

46 FIVE CORNERS (Tony Bill: UK / USA 1987)
Ein Liebespaar, das sich zerstritten hat, findet unter widrigen Umständen wieder zusammen. Kurz, bevor sich ihre Wege trennen, bittet er sie, ihn noch einmal fünf (oder sechs?) Mal zu küssen. Ein emotionaler Schlüsselmoment, unscheinbarer als das Fahrstuhl-Ballett, aber trotzdem kennzeichnend für diesen großen „kleinen“ Film. Mehr von Manfred, der hoffentlich nicht nur mich auf diesen Geheimtipp aufmerksam gemacht hat, gibt es hier zu lesen.

47 Z (Costa-Gavras: Frankreich / Algerien 1969)
Ein toller Politthriller, über den Hans Schmid einen seiner monumental langen, kenntnisreichen, teils pointierten und teils lustvoll ausschweifenden, jedoch unbedingt lesenswerten Artikel (in drei Teilen) geschrieben hat.

48 ÚSMEV DIABLA (Ján Zeman: ČSSR 1987)
Außen Kriminalfilm, aber innen tobt das Abstruse und der Wahnsinn. Mehr zu diesem bizarren Anti-Krimi gibt es von mir hier zu lesen.

49 L‘IBIS ROUGE (Jean-Pierre Mocky: Frankreich 1975)
Michel Serraults verträumter Jérémie, ergriffen von einer Besessenheit mit dem weiblichen Busen, die auf ein Kindheitstrauma zurückzuführen ist, ist der biedere Serienmörder von nebenan. Sein Umfeld ist allerdings moralisch wesentlich niederträchtiger als er. Vielleicht bekommt Jérémie deshalb eines der absurdesten Film-Happyends aller Zeiten gegönnt. Im wahren Leben war dies Michel Simons letzter Film.

50 TOPAZU (Murakami Ryu: Japan 1992)
Im Juni 2008 wurde TOPAZU auf arte gezeigt: ich sah mir den Film nicht wirklich an, sondern schaltete ab und zu kursorisch beim Zappen rein. Im Gedächtnis haften blieben mir die geisterhaften Autofahrten durch unwirtliche Straßen in Tokyos Business-Viertel und durch eine von Baumkronen bedeckte Straße, leicht aus der Untersicht gefilmt, ein bisschen wie die Autoverfolgungsjagd am Ende von DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE, unterlegt von „Llegue Llegue“ der kubanischen Band Los Van Van mit dieser extrem markanten Basslinie. Ich glaube nach der kompletten Sichtung immer noch, dass diese das Herzstück dieses Films bilden: trostlose Stadtlandschaften mit verzweifelten und kaputten Menschen (wenn die Kamera dann wieder nach unten blickt).
Gefunden habe ich die DVD übrigens bei einer Videotheken-Auflösung, und zwar im hinteren Bereich des abgetrennten Ab-18-Raumes, sprich: in der Porno-Abteilung. Dort habe ich – wohl wissend, dass wir in Deutschland sind und solche transgressiven Kunstfilme in Zweifelsfall dort eingeordnet werden – genau nach solchen Filmen gesucht.

51 LA PREMIÈRE NUIT (Georges Franju: Frankreich 1958)
Eine geisterhafte Fahrt durch die Nacht prägt auch Franjus LA PREMIÈRE NUIT, wenn ein kleiner Junge ausbüxt und mit der Pariser Metro die Welt erkundet – und dabei Unheimliches und möglicherweise Geister sieht. Ein wundervoller 20-minütiger Film, in wundervollem Schwarzweiß und komplett ohne Dialoge.

52 LES LÈVRES ROUGES (Harry Kümel: Belgien / Frankreich / Bundesrepublik Deutschland 1971)
Geisterhaft geht es weiter mit diesem Horror-/Vampirfilm, in dem es keinen klassischen Horror und keine klassischen Vampire gibt – was es da denn eigentlich gibt, ist unsicher oder zumindest ambivalent, und das macht LES LÈVRES ROUGES so beunruhigend und irritierend. Nur diese statischen Aufnahmen des monströsen Hotels, die immer wieder auftauchen – die sind wirklich der pure Horror! Ein bisschen mehr von Manfred zu diesem Film (in einem seiner wohl kürzesten Texte auf diesem Blog) gibt es hier zu lesen.


Wiedersehen macht Freude

Neue Blicke auf neun bereits bekannte Filme...

DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (Fritz Lang: Deutschland 1933)
3. Sichtung
Mit den MABUSE-Filmen von Lang hatte ich bislang so meine Probleme. Die ersten zwei Minuten von SPIONE sind actionreicher und spannender als die gesamte viereinhalbstündige Stummfilm-Dilogie. DAS TESTAMENT und DIE 1000 AUGEN schienen mir ein Rückschritt zu ihren direkten Vorgängern (M bzw. die Indien-Dilogie) zu sein. Nun hat es zumindest beim TESTAMENT bei mir Klick gemacht. Eine wunderschöne, kristallklare 35mm-Kopie brachte mir Langs letzten deutschen Film der Frühphase endlich nahe: die wunderbaren Bilder, die Ton-Montage, den trockenen Humor des Kommissar Lohmann. Ja wirklich: ein großer Lang!

DEATH PROOF (Quentin Tarantino: USA 2007)
2 1/2. Sichtung (zum zweiten Mal vollständig, das andere Mal in der kürzeren GRINDHOUSE-Fassung)
Außerhalb Frankreichs gehört es zu den großen unerhörten Provokationen, DEATH PROOF zum besten Tarantino-Film zu erklären. Gut fand ich ihn schon vorher, aber im relativ zeitnahen Vergleich zu PULP FICTION gewinnt doch der Autorennfahrerinnen-Exploiter: nicht nur sein schönster Film, sein großer Frauenfilm, sondern auch sein musikalischster, zugleich formalistischster und intellektuellster – ein Muster-Exploitationfilm, gefolgt von einem neuen Film, der als Kritik und Kommentar des ersten fungiert. Ein Kaleidoskop an Spiegelungen.

Hitchcocko-Hawskianisch entspannt...
THE TROUBLE WITH HARRY
RIO LOBO
THE TROUBLE WITH HARRY (Alfred Hitchcock: USA 1955)
6./7. und 7./8. Sichtung (letzte Sichtung Sommer 2015)
Hitchcock zu schauen, als würde man einen Hawks-Film schauen, ist sehr erkenntnisreich – gelten doch beide, der eine grob zusammengefasst ein ausgesprochener Expressionist mit minutiös geplanten Filmen, der andere ein nüchterner Realist mit locker strukturierten Filmen, als Gegenpole in Sachen Filmemachen. Ich fand THE TROUBLE WITH HARRY schon immer sehr gut. Jetzt halte ich ihn für Hitchcocks wahrscheinlich entspanntestes Werk. Wenn RIO BRAVO ein Film über einige Kumpels sind, die in Ruhe miteinander abhängen (na ja, da ist noch diese blöde Belagerungssituation), dann ist THE TROUBLE WITH HARRY ein Film über einige Nachbarn, die sich an einem schönen Herbsttag endlich mal näher kennen lernen, Freundschaften schließen, sich ineinander verlieben (na ja, da ist noch diese blöde Leiche). „What seems to be the trouble, captain?“ dürfte der schönste Hitchcock-Oneliner überhaupt sein.

CRANK (Mark Neveldine / Brian Taylor: USA 2006)
2. Sichtung (erste Sichtung noch zu Schulzeiten, in einer wahrscheinlich schwer verstümmelten TV-Fassung)
Als Trost-DVD in einem stark verspätet verschickten Paket erhalten. Geschaut am Abend nach einem sehr unangenehmen Arztbesuch, bei dem es im allerweitesten Sinne auch um mein Herz ging. Die kathartische Wirkung, Jason Statham dabei zuzusehen, wie er gegen den Stillstand seines Herzens rennt, Sachen kaputtmacht, vögelt und Leute totschießt, war erleichternd. Doch auch unabhängig davon: CRANK, wie in jüngerer Zeit vielleicht nur noch MAD MAX: FURY ROAD, ist ein Actionfilm, der das Versprechen der Non-Stop-Action nicht nur hält, sondern in irrsinnige Höhen treibt – ohne dabei sich selbst mit auch nur einer Spur Selbstironie ein Bein zu stellen. Wirklich explosiv.

Y TU MAMÁ TAMBIÉN (Alfonso Cuarón: Mexiko 2001)
2. Sichtung (erste Sichtung wohl 2008 oder 2009)
Ein wunderbarer, einfacher Roadmovie um eine sehr komplizierte Liebe, bei dem mich die schiere Wärme auf neue Weise überrascht hat – trotz der teils sehr formalistischen Inszenierungsmittel (der Ton, der zwischendurch für den nüchtern-distanzierten Voice-Over ausgeblendet wird). Am wunderschönsten ist Emmanuel Lubezkis Kamera, die den Körpern der drei Hauptfiguren in dieser melancholischen Sommerlandschaft nonchalant  und unaufdringlich folgt. Die Fotografie mag nicht so spektakulär sein wie bei seinen jüngeren Zusammenarbeiten mit Malick, Iñárritu oder auch Cuarón, aber sie ist eben auch nicht so technizistisch, so emotional leer – sondern eben durch ihre „Ungeschliffenheit“ und „Rohheit“ Bestandteil des humanistischen Herzens von Y TU MAMÁ TAMBIÉN. Schönheit, die glücklich und wehmütig macht.

THE FUTURE (Miranda July: USA / Deutschland / Frankreich 2011)
3. Sichtung (2 Sichtungen im Kino 2011)
THE FUTURE wirkte 2011 für mich wie ein lockerer, fluffiger, fantasievoller Film über eine Beziehungskrise, die am Ende in einen Neuanfang mündet (das offene Ende lässt sich ohne Zweifel in diese Richtung interpretieren). Die Neusichtung war wie ein brutaler Fausthieb in den Magen. Nun sah ich einen unter der Oberfläche unglaublich pessimistischen Film über eine Beziehungskrise, die sich ganz leise, aber mit einer erschreckenden und tragischen Eskalationslogik entfaltet und nicht in eine melodramatische Katastrophe, sondern in etwas schlimmeres mündet: in totale Gleichgültigkeit. Jasons magische Fähigkeit, die Zeit zu stoppen, wirkte nicht mehr wie eine Lösung des Problems als eher wie eine Metapher für seine Unfähigkeit, mit der Realität seiner kaputten Beziehung umzugehen. Der Tod der Heimkatze, deren geplante Betreuung eigentlich eine neue Phase der Beziehung einleiten sollte, wirkte nicht mehr wie ein trauriger Plotpoint, sondern wie die Bestätigung eines schlechten Omens: bei einer Geschichte, die aus der Perspektive einer toten Katze aus dem Jenseits erzählt wird, muss irgendetwas ganz fürchterlich im Argen sein. Als Film über eine Beziehungs-Apokalypse wohl auf einer Stufe mit dem ähnlich deprimierenden IN A LONELY PLACE von Nicholas Ray.

NEMESIS (Albert Pyun: USA / Dänemark 1992)
2. Sichtung (nach einer Sichtung im Halbschlaf 2014)
Ein Cyborg-SciFi-Actioner, gefilmt auf industriellen Müllhalden und in abgeranzten Bruchbuden, der sich als kleine neo-noir-Perle entpuppt. Der Film ist voller Grenzgänge: zwischen Cyborgs und Menschen, zwischen Männer und Frauen (fast alle Figuren tragen androgyne Namen), zwischen Körperlichkeit und Virtualität, zwischen Polizist und Verbrecher, zwischen Realität und Traum (viele Szenen wirken wie Träume, manche scheinen dem Nichts, also vielleicht dem Schlaf, zu entspringen). Auch bei einer aufmerksamen Sichtung ist der Plot völlig wirr und undurchschaubar: wie Alex wird man als Zuschauer durch ein undurchsichtiges Labyrinth absurder und gefährlicher Situationen geführt. Kein Wunder, dass Alex sich in einem denkwürdigen Moment sogar den Boden unter den eigenen Füßen wegschießt. NEMESIS ist tatsächlich der bessere BLADE RUNNER (wie es Oliver Nöding einmal schrieb) und der bessere TERMINATOR für fortgeschrittene Filmgourmets.

PARIS NOUS APPARTIENT (Jacques Rivette: Frankreich 1961)
2. Sichtung (nach der eher unerfreulichen Erstsichtung 2010 oder 2011)
Jacques Rivette drehte von allen nouvelle-vague-Regisseuren das wahrscheinlich schwierigste und sperrigste Debüt (wobei ich für Rohmers LE SIGNE DU LION nichts garantieren kann). Nachdem ich einige von seinen Filmen nun gesehen habe, scheint mir PARIS NOUS APPARTIENT tatsächlich eines seiner schwierigeren Werke zu sein. Ein Paranoia-Thriller, bei dem niemand richtig konkret weiß, woher die Paranoia nun wirklich kommt – was die Grundatmosphäre der Unbequemlichkeit, der Angst, der latenten Bedrohung nur steigert. Ein Film voller Mysterien ohne richtige Lösungen, sondern nur mit viel Herumirren.

RIO LOBO (Howard Hawks: USA 1970)
Irgendwo zwischen achter und zwölfter Sichtung – erste Sichtung nach wahrscheinlich über zehn Jahren.
Hawks‘ letzter Film mag die Brillanz des Vorbilds RIO BRAVO nicht erreichen (wie viele Filme können das schon?), zeugt aber dennoch von der sicheren und altersentspannten Hand des Meisters. Mehr als durch die überraschungsarme Geschichte glänzt der Film mit seinen tollen Charakteren und auch den kleinen Momenten. Der Nordstaaten-Oberst, der zwei Südstaaten-Soldaten nach dem Krieg nonchalant zu einem Drink einlädt – das hat natürlich etwas Männerbündisches, aber es ist vor allem eine Art Utopie der Versöhnung in einer gespaltenen Nation. À propos Trinken: John Waynes Colonel McNally spricht beim Nachtlager das Motto der späten Hawks-Filme aus: „Well, I‘ve had about the right numbers of drinks, and I‘m warm, and I‘m relaxed.“

Die richtige Anzahl an Drinks, genügend Wärme und viel Entspannung wünsche ich unseren Lesern für das Jahr 2017...



und natürlich viele spannende Filme!

Sonntag, 1. Januar 2017

Ölmultis, ein Auto und ein Haufen Glas

Einige Werbe- und Industriefilme aus vergangenen Jahrzehnten

Eigentlich wollte ich ja noch im Dezember einen Artikel über Alexandre Alexeïeff und Claire Parker veröffentlichen, der aber über Weihnachten steckengeblieben ist (aber hoffentlich in diesem Monat noch kommt [und hier ist er schon]). Deshalb zur Überbrückung bis Davids Jahresrückblick hier nur ein kleiner Pausenfüller. Und Alexeïeff (ohne Parker) ist hier auch mit dabei.



THE BIRTH OF THE ROBOT
Großbritannien 1936
Regie: Len Lye


In Großbritannien haben eigene Filmabteilungen großer Konzerne, privatwirtschaftlicher ebenso wie (halb-)staatlicher, eine lange Tradition. Produziert wurden Werbe-, Industrie- und Dokumentarfilme, über die eigenen Tätigkeitsfelder, aber auch über andere Themen. Neben der vom General Post Office gestellten GPO Film Unit und British Transport Films, das von der Eisenbahn und weiteren öffentlichen Transportunternehmen betrieben wurde, ist hier vor allem die 1934 ins Leben gerufene Shell Film Unit zu nennen (noch detailliertere Informationen darüber hier). Alle diese Organisationen gehörten zum Dunstkreis der britischen Dokumentarfilmbewegung um John Grierson. Von Grierson, dem Chef der GPO Film Unit, beeinflusste Produzenten wie Edgar Anstey (später langjähriger Chef von British Transport Films) und vor allem Sir Arthur Elton prägten das filmische Geschehen bei Shell. Zu den Regisseuren, die sowohl für GPO Films als auch für die Shell Film Unit arbeiteten, zählte auch der geniale Neuseeländer Len Lye (1901-1980), der in den frühen 30er Jahren nach England gegangen war. Seine Domäne war der abstrakte Film, und hier ist er in einem Atemzug mit Oskar Fischinger und Norman McLaren zu nennen. THE BIRTH OF THE ROBOT, der eher nebenbei Werbung für Schmieröl von Shell macht, ist also ein für ihn ungewöhnlicher Film. Das verwendete Farbverfahren ist Gasparcolor, das ein ungarischer Chemiker erfunden hatte, und das auch von Fischinger und Alexeïeff mehrfach benutzt wurde. Lyes Auftraggeber von Shell waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und der Film wurde in den britischen Kinos von geschätzten drei Millionen Leuten gesehen.




Wir bleiben noch bei Shell. Am Anfang seiner Laufbahn arbeitete auch Geoffrey Jones (1931-2005), den ich hier schon vorgestellt habe, bei der Shell Film Unit, wo er einige Filme drehte, bis er sich 1961 selbständig machte und seine eigene Firma gründete. Die beiden hier vorgestellten Filme realisierte er also nicht als Angesteller des Ölkonzerns, sondern als unabhängiger Auftragnehmer.

SHELL SPIRIT
Großbritannien 1963
Regie: Geoffrey Jones



1962/63 drehte Jones drei kurze Werbefilme für Shell, und das ist einer davon. Der Soundtrack bei allen drei Filmen besteht aus südafrikanischer Kwela-Musik. Tragendes Instrument dabei ist die Blechflöte (Pennywhistle). SHELL SPIRIT gewann einen Ersten Preis einer Vereinigung von Designern und Art Directors, und er machte Edgar Anstey auf Jones aufmerksam, wodurch es dann zu seinen drei Filmen für British Transport Films kam.


THIS IS SHELL
Großbritannien 1970
Regie: Geoffrey Jones



Man glaubt es kaum, aber dieser wunderbare Film wurde gar nicht für die Öffentlichkeit gedreht, sondern nur für die Aktionäre von Shell UK. Nachdem zuvor bei der Jahreshauptversammlung von Dutch Shell ein eigens gedrehter Kurzfilm gezeigt worden war, wollte man im britischen Zweig des Konzerns auch sowas haben, und da griff man auf Jones zurück, mit dem Shell ja schon gute Erfahrungen gemacht hatte. Jones realisierte THIS IS SHELL unter großem Zeitdruck - er hatte genau zwei Monate, dann fand die Aktionärsversammlung statt. Die Musik für THIS IS SHELL schrieb Donald Fraser, der auch LOCOMOTION vertonte, und ebenso wie bei Jones' drei Eisenbahnfilmen war auch hier die geniale Daphne Oram für die elektronische Bearbeitung des Soundtracks zuständig.



LA SÈVE DE LA TERRE
Frankreich 1955
Regie: Alexandre Alexeïeff



Hier nun also der oben schon angesprochene Alexandre Alexeïeff, und statt Shell jetzt die Konkurrenz von Esso. Da ja hoffentlich bald der Artikel über Alexeïeff kommt [schon da], will ich hier nicht viele Worte über ihn verlieren. - Ölmultis brauchen natürlich Autos, also bauen wir uns eines:


AUTOMATION
Frankreich ca. 1960
Regie: J.P. Rhein, Alexandre Alexeïeff (Beratung)



Ein wunderbar modernistischer Werbeclip für Renault. Damit da keine Missverständnisse aufkommen: Bei der Musik hat sich nicht etwa ein heutiger Möchtegern-Künstler aufgespielt, wie man das so häufig auf YouTube findet, sondern das ist der Originalsoundtrack, und er stammt von einem Maurice Van Thienen. Alexeïeff fungiert hier in den Credits als Berater, über den nominellen Regisseur J.P. Rhein weiß ich nichts. Schade, dass bei diesem Video die Bildqualität so schlecht ist - auf DVD sieht das noch deutlich eindrucksvoller aus.



Die letzten beiden Filme verfolgen ein gemeinsames Thema - sie sind der Herstellung von Glasprodukten gewidmet.

GLAS
Niederlande 1958
Regie: Bert Haanstra

GLAS darf man getrost zu den Klassikern des Industriefilms zählen, und er zählt auch zu den Filmen, die Geoffrey Jones (seiner eigenen Aussage nach) inspiriert haben. Der Film ist deutlich zweigeteilt - während es in der ersten Hälfte mehr um traditionelle Glasbläserei geht, wechselt es ziemlich genau in der Mitte zur industriellen Glasherstellung, was sich auch im Soundtrack widerspiegelt.



Bert Haanstra (1916-1997) ist neben Joris Ivens wohl der bekannteste holländische Dokumentarist (mit nur seltenen Ausflügen zum Spielfilm). Und siehe da - auch Haanstra hat für die Shell Film Unit gearbeitet. Auf Einladung von Sir Arthur Elton drehte er ab 1952 eine Reihe von Dokus für Shell, neben Filmen über den Themenkomplex Erdöl beispielsweise auch DIJKBOUW über traditionelle und moderne Methoden des Deichbaus in Holland. Schon zuvor hatte Haanstra mit dem 1950 gedrehten SPIEGEL VAN HOLLAND Aufsehen erregt. In diesem schönen neunminütigen Film werden Szenen des Alltags aus Holland als Spiegelung im Wasser der Grachten gezeigt, so wie das später Kurt Steinwendner in VENEDIG gemacht hat.

Leerdam ist seit dem 18. Jh. ein Zentrum der Glasproduktion in Holland, und auf Einladung der dortigen Königlichen Glasfabrik drehte Haanstra 1957/58 seinen bekanntesten Film. Genauer gesagt, er drehte und schnitt parallel zwei Filme. Der knapp halbstündige OVER GLAS GESPROKEN ist sozusagen der offizielle Film, also der Film, den die Glasfabrik von ihm wollte (und laut dem von John Wakeman herausgegebenen World Film Directors ist es "an excellent instructional documentary"). GLAS dagegen ist Haanstras persönliche Variation des Themas - und er geriet ihm zum Triumph. GLAS gewann als erster holländischer Film überhaupt einen Oscar, und auf einem Dutzend Festivals gab es Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



100 WATTS 120 VOLTS
USA 1977
Regie: Carson Davidson



Den im letzten September verstorbenen Carson "Kit" Davidson (1924-2016) habe ich hier schon anhand seines 3rd AVE. EL von 1955 vorgestellt. Wer Davidson noch nicht kennt oder wieder vergessen hat, sei erneut auf diese Seite verwiesen. Mit GLAS kann es der knapp 20 Jahre später entstandene 100 WATTS 120 VOLTS an filmgeschichtlicher Relevanz nicht aufnehmen, aber schön ist er auch, und das Dritte Brandenburgische Konzert von Bach trägt seinen Teil dazu bei. Gedreht wurde in einer Glühlampenfabrik der Firma Duro-Test. Die "120 Volt" im Titel beziehen sich natürlich auf das nordamerikanische Stromnetz mit seiner im Vergleich zu unseren 230 Volt deutlich niedrigeren Spannung.



Von Len Lye, Geoffrey Jones und Alexandre Alexeïeff & Claire Parker gibt es jeweils eine DVD mit einer Auswahl ihrer Filme, die auch die hier behandelten beinhalten, von Bert Haanstra gar eine Box mit 10 DVDs unter dem Titel "Bert Haanstra Compleet" (der Name sagt schon alles Nötige), und das zu einem sehr gemäßigten Preis und mit engl. Untertiteln. Von Carson Davidson gibt es dagegen nichts.

Freitag, 18. November 2016

CŒUR FIDÈLE: Jean Epstein, der Impressionismus und die entsittlichende Wirkung

CŒUR FIDÈLE
Frankreich 1923
Regie: Jean Epstein
Darsteller: Gina Manès (Marie), Léon Mathot (Jean), Edmond van Daële (Petit Paul), Marie Epstein (Nachbarin), Claude Benedict (Hochon), Mme. Maufroy (Mme. Hochon), Madeleine Erickson (Hure)

Marie; rechts oben Jean; Petit Paul; rechts unten die Hochons mit Marie
Die Filmhistoriker sind gespalten über die Frage, ob es im französischen Film der 1920er Jahre die Bewegung des "Impressionismus" (die natürlich nicht mit der gleichnamigen Richtung in der Malerei verwechselt werden darf) gegeben hat. Während die einen, etwa David Bordwell und Kristin Thompson, mit meiner Meinung nach guten Gründen die Realität dieser Bewegung oder Stilrichtung bejahen und Regisseure wie Abel Gance, Marcel L'Herbier, Louis Delluc, Germaine Dulac und Dimitri Kirsanoff dazu zählen, streiten einige andere die Existenz einer geschlossenen Bewegung rundweg ab. Die Charakteristika, die die Befürworter des Impressionismus anführen, treffen geradezu exemplarisch auf CŒUR FIDÈLE zu, und so wird auch Jean Epstein zu den Hauptvertretern des Impressionismus gezählt - wenn es ihn denn gab (was ich im Folgenden aber voraussetze). Wie diese Charakteristika denn nun aussahen, darüber unten mehr. Zunächst zur Handlung.

Hafenkneipe mit Tiefenschärfe; Petit Paul betritt die Szene
Die junge Marie wurde als Findelkind von Monsieur und Madame Hochon in Marseille aufgezogen. Doch die beiden sind lieblose Rabeneltern. Marie muss als Bedienung in der schäbigen Hafenkneipe der Hochons schuften, eigene Bedürfnisse werden ihr nicht zugestanden. Und es kommt noch schlimmer: Sie soll mit dem Ganoven Petit Paul verkuppelt werden, mit dem die Hochons durch irgendwelche krummen Geschäfte verbunden sind. Doch Marie liebt den stillen Hafenarbeiter Jean. Als der in der Kneipe vorstellig wird, um seine Ansprüche auf Marie anzumelden, wird er aber von den Hochons und Petit Paul nur abgebügelt. Und Petit Paul verschwindet daraufhin mit Marie, der keine Wahl gelassen wird, in eine Kleinstadt im Hinterland von Marseille. (Gedreht wurde die Kleinstadt-Sequenz in Manosque, aber der Name der Stadt wird im Film nicht genannt und spielt keine Rolle.) Dort ist gerade ein Rummelplatz in Betrieb, den Petit Paul mit der jetzt völlig apathischen Marie besucht. Jean hat mittlerweile von Maries Verschwinden Wind bekommen und ist Petit Paul auf der Spur. Tatsächlich findet er ihn bald, und mitten auf der Straße der Kleinstadt kommt es zu einem wilden Kampf der beiden Kontrahenten. Petit Paul zückt ein Messer, doch statt Jean trifft er einen Polizisten, der die beiden trennen wollte. Während Petit Paul daraufhin das Weite sucht, wird Jean verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Marie, die wie gelähmt den Kampf verfolgt hat und für Jean aussagen will, wird von der Polizei nur abgewimmelt.

Am Hafen von Marseille
Jeans Verurteilung ungefähr in der Mitte des Films bildet eine Zäsur. Es geht dann ein Jahr später mit Jeans Freilassung weiter, und die zweite Hälfte des Films spielt wieder in Marseille. Jean arbeitet jetzt als Kohlenschaufler im Hafen, und nebenbei sucht er nach Marie. Zunächst ohne Erfolg, doch dann läuft er ihr zufällig über den Weg. Und zu seinem Schreck muss er erfahren, dass Marie mit Petit Paul zusammenlebt und ein Baby von ihm hat. Doch Petit Paul hat sich nicht zum Besseren gewendet - ganz im Gegenteil. Er trinkt regelmäßig, und wenn er betrunken ist, schikaniert und tyrannisiert er Marie, die obendrein kaum Geld für sich und das Baby hat, weil Petit Paul alles versäuft oder verzockt. Jean besucht jetzt regelmäßig Marie in ihrer Wohnung, wenn Petit Paul auf Sauftour ist. Unterstützt wird das Liebespaar von einer freundlichen jungen Nachbarin mit verkrüppeltem Fuß (gespielt von Epsteins Schwester Marie, die auch am Drehbuch mitschrieb). Doch eine geschwätzige Hafenhure, die bei Jean abgeblitzt ist, hinterträgt Petit Paul das Treiben in seiner Abwesenheit. So macht er sich zu ungewohnt früher Stunde auf zu seiner Wohnung, ertappt Jean und Marie, und es kommt zum Showdown - diesmal hat er kein Messer, sondern eine Pistole dabei. Aber anders als beim ersten Kampf bleibt Petit Paul auf der Strecke, und Jean und Marie sehen einer gemeinsamen Zukunft ohne Angst vor dem Strolch entgegen.

Jean macht schwere Zeiten durch
Es ist keine freundliche Welt, die Jean Epstein uns zeigt. So wie ungefähr das erste Viertel von CŒUR FIDÈLE, spielt auch Marcel Pagnols Marseille-Trilogie (verfilmt 1931-36 als MARIUS, FANNY und CÉSAR) in einer Hafenspelunke in Marseille und ihrer näheren Umgebung (in einer der deutschen Zensurentscheidungen, auf die ich unten eingehe, als "Apachenviertel einer französischen Hafenstadt" bezeichnet). Doch von der Atmosphäre gegenseitiger Sympathie und Respekts, die diesen Mikrokosmos der "kleinen Leute" bei Pagnol prägt, findet sich in CŒUR FIDÈLE fast nichts (einziger Lichtblick ist die empathische, selbst vom Leben gebeutelte Nachbarin von Marie). Eher fühlt man sich, um einen weiteren Vergleich mit dem Film der 30er Jahre zu bemühen, an das triste Le Havre von Carnés LE QUAI DES BRUMES erinnert. Überhaupt wirkt manches schon wie eine Vorwegnahme des Poetischen Realismus, der 15 Jahre später seinen Höhepunkt erreichen sollte. Was die Handlung betrifft, so hatte sich Epstein selbst Zurückhaltung und Schlichtheit auferlegt - er wollte ein auf seine Grundmuster reduziertes Melodram erzählen. Das ist - auch nach Auffassung seiner Zeitgenossen - gelungen. "Seine Handlung ist banal", schrieb René Clair im Februar 1924 (seinen ersten Film hatte er da schon abgedreht, aber noch nicht veröffentlicht), "eine Art von BROKEN BLOSSOMS, durch französische Augen gesehen." Doch das sei nicht wichtig, beeilt er sich hinzuzufügen: "Das Thema eines Films ist nicht wichtiger als das Thema einer Symphonie. [...] Monsieur Jean Epstein, der Regisseur von CŒUR FIDÈLE, ist offensichtlich mit der Frage des Rhythmus befasst. [...] Ich fordere diese Leser nochmals auf, sich CŒUR FIDÈLE und seinen Karneval [gemeint ist der Rummelplatz] anzusehen, eine schöne Szene von visueller Berauschung, ein emotionaler Tanz in der Dimension des Raums, in der das Antlitz der Dionysischen Poesie wiedergeboren wird."

Rummelplatz
In der Tat bildet die Sequenz auf dem Rummelplatz den Höhepunkt des Films, gerade weil der Plot hier mehr oder weniger pausiert (denn Jean ist noch auf der Suche nach Marie und Petit Paul). Karussell, Kettenkarussell und Schiffschaukeln werden mit Hilfe von ungewöhnlichen Kamerapositionen, mehrfacher Bildüberlagerung, rasantem Schnitt und gezielter Bewegungsunschärfe zu einem sehr dynamischen und modern wirkenden Gebilde aus Bewegung und Geschwindigkeit verwoben. Aber auch sonst bildet die Kameraarbeit den zentralen Bestandteil von CŒUR FIDÈLE, ebenso wie im Impressionismus insgesamt. Fast alle Szenen des Films sind mit sehr großer Tiefenschärfe gefilmt (was damals nichts Besonderes war - als deep focus cinematography mit Filmen wie DIE SPIELREGEL und CITIZEN KANE wieder in Mode kam, war das eigentlich schon ein alter Hut). Die hohe Tiefenschärfe ermöglicht es Epstein und seinen drei Kameramännern, gezielt partielle Unschärfe (nicht nur Bewegungsunschärfe) als Stilmittel einzusetzen. Es gibt auch ausgiebig Doppel- und Dreifachbelichtungen. Viele Szenenübergänge sind nicht als normale Schnitte, sondern als Überblendungen realisiert, auch andere weiche Übergänge wie Iris- und Wischblenden kommen zum Einsatz. Fast alle diese kameratechnischen Mittel dienen dazu, innere Zustände der Protagonisten zu visualisieren - Gedanken, Träume, Visionen, Hoffnungen, Ängste, Erinnerungen. Auch das ein allgemeines Charakteristikum der impressionistischen Filme. Verzerrende Spiegel oder Linsen dienen dazu, Petit Pauls subjektiven Blick im betrunkenen Zustand zu vermitteln (und in Epsteins FINIS TERRAE von 1929 den Blick eines an Blutvergiftung mit hohem Fieber Erkrankten). In anderen impressionistischen Filmen kommt auch Zeitlupe zum Einsatz. Die Betonung des Innenlebens korrespondiert mit einer hohen Zahl von Großaufnahmen in CŒUR FIDÈLE.

Kettenkarussell: Die Kamera fixiert Petit Paul und Marie, während der Hintergrund verschwimmt
Was den rasanten Schnitt betrifft, so hatte Abel Gance in seinem viereinhalbstündigen Eisenbahnepos LA ROUE neue Maßstäbe gesetzt. Zwar war das durchschnitliche Schnitttempo nicht übermaßig hoch, doch gab es wahre Ausbrüche, in denen das Tempo rasant anzog. Beispielsweise eine Sequenz, in der die Einstellungen nacheinander 11, 14, 7, 6, 5 und 6 Frames lang sind (die Zahlen entstammen dem profunden Film History. An Introduction von Bordwell & Thompson). Bei einer Vorführgeschwindigkeit von 18 oder 20 Bildern pro Sekunde, wie damals meist üblich, dauern die kürzesten dieser Einstellungen nur ungefähr eine Viertelsekunde. In einer Szene, in der ein Protagonist über einem Abgrund hängt und gleich in den Tod stürzen wird, zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei - und jeder dieser Erinnerungsfetzen besteht aus nur einem einzigen Frame! Das war unerhört und ging über alles hinaus, was frühere Meister der Montage wie D.W. Griffith veranstaltet hatten. LA ROUE wurde denn auch neben Griffith zum wichtigsten Einfluss der sowjetischen Montage-Schule (und auch BORDERLINE mit seiner clatter montage wurde davon beeinflusst). Doch während die sowjetischen Meister um Eisenstein mit ihrer "intellektuellen Montage" Erkenntnisse über die äußere Welt vermitteln wollten, ging es Gance und seinen französischen Kollegen wiederum um das Innenleben der Protagonisten. CŒUR FIDÈLE war nun nach LA ROUE der zweite Film des Impressionismus, der sich der ultraschnellen Montage befleißigte. Zwar treibt es Epstein nicht ganz so wild wie Gance, aber in der Rummelplatzsequenz sind etliche Einstellungen auch gerade mal zwei Frames lang, und früher im Film gibt es in der Hafenkneipe auch schon einen wenn auch etwas gemäßigteren Ausbruch so eines Schnittgewitters. Nach diesen beiden Wegbereitern beinhalteten zwar nicht alle, aber doch recht viele weitere impressionistische Filme sehr dynamisch geschnittene Sequenzen, siehe etwa den ganz erstaunlichen Anfang von Kirsanoffs MÉNILMONTANT.

Der erste Kampf um Marie
Die Impressionisten bevorzugten einen zurückgenommenen, naturalistischen Schauspielstil, und der findet sich auch in CŒUR FIDÈLE. Nur Léon Mathot, der Darsteller von Jean, zeigt gelegentlich leichte Anflüge von Overacting, es hält sich aber immer in Grenzen. Dennoch scheint mir Mathot im Trio der Hauptdarsteller der Schwächste zu sein. Er wird allerdings auch ein bisschen vom Drehbuch benachteiligt. Petit Paul ist ein Widerling, aber auch ein dynamischer Charakter, und solange er nicht betrunken ist, strahlt er sogar ein gewisses Charisma aus. Im Vergleich zu ihm ist Jean fast ein Phlegmatiker, auch wenn er zweimal (in der Mitte und am Ende des Films) aus sich herausgeht. Trotzdem - 15 Jahre später hätte vielleicht Jean Gabin diese Rolle gespielt, und der hätte wesentlich mehr daraus machen können. Mathot (1885 [verschiedene Quellen nennen fälschlich 1886]-1968) war aber zu seiner Zeit ein populärer Darsteller, z.B. spielte er den Grafen von Monte Cristo in einem Serial von 1917/18. Später wechselte er ins Regiefach. - Edmond van Daële (1884-1960) alias Petit Paul war trotz seines holländisch klingenden Namens Franzose - eigentlich hieß er Edmond Jean Adolphe Minckwitz. Er spielte noch in zwei weiteren Filmen von Epstein, und in Gances NAPOLÉON gab er den Robespierre. Auch mit weiteren namhaften Regisseuren wie Maurice Tourneur und mehrfach Julien Duvivier und Marcel L'Herbier hat van Daële zusammengearbeitet. In der deutsch-französischen Coproduktion CAGLIOSTRO von Richard Oswald spielte er Ludwig XVI. - Gina Manès (1893-1989) schließlich kam in ihrer 50-jährigen Filmkarriere von 1916 bis 1966 auf rund 90 Filme. In NAPOLÉON spielte sie Kaiserin Joséphine de Beauharnais. In den späten 20er Jahren machte sie einige Abstecher in den deutschen Stummfilm, u.a. THÉRÈSE RAQUIN aka DU SOLLST NICHT EHEBRECHEN! von Jacques Feyder, DIE TODESSCHLEIFE von Arthur Robison und DIE HEILIGE UND IHR NARR von und mit William Dieterle. Im Tonfilm wurden ihre Rollen kleiner, aber sie blieb im Geschäft. Unter ihren Auftritten waren etliche Filme von namhaften Exilanten wie DIVINE (Max Ophüls), MAYERLING (Anatole Litvak) und MOLLENARD (Robert Siodmak). 1955 hatte sie einen Auftritt im letzten Film von Preston Sturges, dessen Karriere da eigentlich schon längst vorbei war.

Jean schippt Kohlen und denkt dabei an Marie
Der 1897 in Warschau als Sohn eines französisch-jüdischen Vaters und einer polnischen Mutter geborene Jean Epstein war nicht nur Regisseur, sondern neben dem jung verstorbenen Louis Delluc auch der wichtigste Theoretiker der Impressionisten. Etliche Schriften der beiden drehten sich um den etwas schwammigen Begriff photogénie. Mit seiner wilden Künstlertolle, die auch Grafiker und Bildhauer inspiriert hat, war Epstein in den 20er Jahren eine markante Erscheinung. In seinen Filmen ging er mehrfach neue Wege. Im Gegensatz zu den Verfechtern des cinéma pur hielten die Vertreter des Impressionismus am narrativen Kino fest, aber mit seinem Kurzfilm LA GLACE À TROIS FACES entfernte er sich weiter von klassischen Erzählmustern als die meisten seiner Kollegen. Epsteins heute bekanntester Film (zumindest bei uns) ist wohl LA CHUTE DE LA MAISON USHER, entstanden im selben Jahr wie die Version von Watson & Webber dieses Werks von E.A. Poe. Mit USHER hat sich Epstein dem Surrealismus angenähert, und manche Szenen erinnern an den vier Jahre später entstandenen VAMPYR von C.T. Dreyer. Regieassistent und Mitautor des Drehbuchs war Luis Buñuel, doch Buñuel und Epstein zerstritten sich, und ihre Wege trennten sich schnell. Aber Buñuel hatte dabei soviel über das Filmhandwerk gelernt, dass er daraufhin mit Salvador Dalí zu seiner ersten Großtat UN CHIEN ANDALOU schreiten konnte.

Klatschweiber in Marseille
Epstein dagegen trieb das Konzept von USHER nicht weiter auf die Spitze, sondern machte eine radikale Kehrtwende. In seinem nächsten Film FINIS TERRAE verzichtet er bis auf die schon erwähnte Szene mit dem verzerrten Blick eines Fieberkranken komplett auf die gewohnten Kameratricks. Vielmehr handelt es sich bei dem Film um ein proto-neorealistisches Drama, in der hintersten Bretagne (finis terrae = "Ende der Welt") mit einheimischen Laiendarstellern gedreht. Danach drehte Epstein noch mehrfach in der Bretagne. Seit den 30er Jahren konnte er nur mehr wenige Spielfilme realisieren, aber er drehte noch eine Reihe von Kurzfilmen, viele davon dokumentarisch. - Heute ist von den Impressionisten wahrscheinlich Abel Gance am bekanntesten, der nach den Großwerken J'ACCUSE! (keine Zola-Verfilmung, sondern eine Anklage des Ersten Weltkriegs) und LA ROUE mit dem Übergroßwerk NAPOLÉON noch eins draufsetzte. Aber die anderen Impressionisten, auch Epstein, sind außerhalb Frankreichs weniger bekannt, weil ihre Filme im Ausland wenig Erfolg hatten, und weil sie in den 30er Jahren von den Vertretern des Poetischen Realismus an Popularität weit übertroffen wurden. Aber CŒUR FIDÈLE kann man durchaus zu den Klassikern des französischen Kinos zählen.

Eine gesprächige Dame aus dem Hafenviertel
Weniger glorios verlief die Karriere von CŒUR FIDÈLE in Deutschland: Da wurde der Film nämlich verboten.

Entsittlichende Wirkung


Im November 1918 wurde mit dem Ende des Kaiserreichs auch die Zensur in Deutschland abgeschafft - jedenfalls auf dem Papier. Untergeordnete Behörden wie Polizeidirektionen konnten nach wie vor Filme verbieten (und taten es auch), aber einheitliche landesweite Verbote gab es nun nicht mehr, und das eröffnete einladende Schlupflöcher für "Sittenfilme" und "Aufklärungsfilme". Tatsächlich war die Zeit von Ende 1918 bis Mitte 1920 und nicht etwa die 60er und 70er Jahre die erste Blütezeit dieses Genres in Deutschland. Manche dieser Filme wollten tatsächlich aufklären oder eine progressive Sexualmoral (und eine entsprechende Gesetzgebung) propagieren (am bekanntesten wohl Richard Oswalds Homosexuellendrama ANDERS ALS DIE ANDERN), während die meisten eher spekulativ waren. So oder so - diese Filme waren natürlich den Konservativen in Gesellschaft und Politik (und auch dem einen oder anderen linken Kulturpessimisten) ein Dorn im Auge, und der Ruf nach einer speziellen Filmzensur wurde laut. So wurde auf Betreiben der Mitte-Rechts-Parteien von der Verfassunggebenden Nationalversammlung die Möglichkeit eines Zensurgesetzes in der Weimarer Verfassung verankert, und dieses Gesetz wurde dann als Reichslichtspielgesetz im Mai 1920 verabschiedet. Neben der Verbannung der "Schund- und Schmutzfilme" wurde damit auch eine politische Filmzensur etabliert, die im Verlauf der 20er Jahre immer rechtslastiger wurde.

Während Petit Paul keinen klaren Blick mehr hat, kümmert sich Marie um ihr Baby
Artikel 118 der Weimarer Verfassung (Fassung vom August 1919):
Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.
Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.

§ 1 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz (Fassung vom Mai 1920):
Die Zulassung eines Bildstreifens erfolgt auf Antrag. Sie ist zu versagen, wenn die Prüfung ergibt, daß die Vorführung eines Bildstreifens geeignet ist, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden, das religiöse Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden. Die Zulassung darf wegen einer politischen, sozialen, religiösen, ethischen oder Weltanschauungstendenz als solcher nicht versagt werden. Die Zulassung darf nicht versagt werden aus Gründen, die außerhalb des Inhalts der Bildstreifen liegen.

§ 3 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz:
Von der Vorführung vor Jugendlichen sind außer den im § 1 Abs. 2 verbotenen alle Bildstreifen auszuschließen, von welchen eine schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen zu besorgen ist.

Die Nachbarin von Marie und Petit Paul
Nun musste also jeder Film (deutsche ebenso wie importierte ausländische) vor der Veröffentlichung einer der beiden in München und Berlin ansässigen Filmprüfstellen zur Genehmigung vorgelegt werden, als Revisionsinstanz gab es die Oberprüfstelle in Berlin. Diese Prüfstellen waren dem Reichsinnenministerium zugeordnet, und das Ministerium bestimmte auch über die personelle Besetzung. Die Entscheidungen der Film-Oberprüfstelle waren endgültig, der Gerichtsweg war nicht vorgesehen. Ein nicht zugelassener Film konnte jedoch gekürzt oder sonstwie verändert erneut zur Prüfung vorgelegt werden.

Der Schurke und seine Spießgesellen
Wenn die verschiedentlich zu findende Angabe stimmt, dass die Originallänge von CŒUR FIDÈLE 1990 Meter beträgt, dann war die für Deutschland bestimmte Fassung bereits stark gekürzt, denn deren Länge betrug zunächst 1577 Meter. Die fehlenden 413 Meter entsprechen bei der für den Film laut Booklet der Blu-ray vermutlich vorgesehenen Abspielgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde einer Dauer von etwas mehr als 20 Minuten. Diese Fassung von CŒUR FIDÈLE wurde nun unter dem vorgesehenen Titel HERZENSTREUE von einem Berliner Verleih am 7. März 1925 der Filmprüfstelle Berlin vorgelegt und daraufhin auf Antrag eines der Beisitzer mit der Begründung "Exemplarischer Schundfilm, und daher seelisch verrohend" verboten. Gegen diese Entscheidung der Kammer legte der Vorsitzende Beschwerde ein (wie es wörtlich im Protokoll heißt), sowohl aus formalen wie auch aus inhaltlichen Gründen. Formal, weil der Begriff "Schundfilm" im Reichslichtspielgesetz nicht erwähnt war und deshalb kein gültiger Ablehnungsgrund sein konnte. Inhaltlich, weil die seelisch verrohende Wirkung nicht gegeben sei, u.a. weil "... das gute Prinzip am Ende siegt und das elende Leben Petit Pauls endet". Allerdings hielt der Vorsitzende, ein Regierungsrat Goetz, Schnitte für angebracht, "... besonders im letzten Akt jene Scenen, die das blutüberströmte Gesicht Petit Pauls zeigen".

Das hat dem Regierungsrat Goetz nicht gefallen
Am 12. März beriet die Film-Oberprüfstelle über die Beschwerde, wies diese jedoch ab. Zwar wurde dem formalen Teil stattgegeben: "Nach geltendem Recht bildet die Schundfilmeigenschaft eines Bildstreifens keinen Verbotsgrund im Sinne von § 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. Mai 1920. Zu diesem Teil ist die Beschwerde begründet." Inhaltlich schloss man sich der Vorinstanz aber an, was folgendermaßen zusammengefasst (und jetzt formal korrekt formuliert) wurde: "Der Bildstreifen ist in hohem Masse [sic] geeignet, entsittlichend zu wirken. Das hat wohl auch die Prüfstelle zum Ausdruck bringen wollen, als sie ihn für geeignet erklärte, "seelisch verrohend" zu wirken." Und das wird dann noch ausführlich begründet. Folgende Formulierung ließ dem Verleih wenig Hoffnung: "Diese Wirkung geht von dem g e s a m t e n Bildstreifen [Hervorhebung im Protokoll der Sitzung], nicht nur von einzelnen Bildfolgen aus, von denen Teile der Kampfscenen, insbesondere das Ende Petit Pauls geeignet sind, verrohend zu wirken, sodass ein Teilverbot nach § 1 Abs. 3 [also eine Freigabe mit Schnittauflagen] nicht in Frage kommt."

Unschärfe - kein handwerklicher Fehler, sondern ein Stilmittel

Die im Beschauer schlummernden rohen Instinkte


Trotzdem machte der Verleih tapfer einen zweiten Versuch, kürzte CŒUR FIDÈLE um weitere 23 Meter (was bei einer Abspielgeschwindigkeit von 18 fps einer Dauer von 1:07 min entspricht) und legte ihn am 15. April erneut der Filmprüfstelle Berlin vor. Zwei der vier Beisitzer waren schon beim ersten Durchgang dabei gewesen (was anscheinend ungewöhnlich war, denn sie wurden vom Vorsitzenden ausdrücklich befragt, ob sie nicht befangen seien), die anderen beiden und der Vorsitzende der Kammer waren neu. Doch auch die gekürzte Fassung fiel durch und wurde verboten: "Der Gesamteindruck ist so verrohend, dass durch die Beseitigung einzelner roher Handlungen in der Wirkung nichts wesentliches geändert wird. Aus diesem Grunde sind die inzwischen vorgenommenen Kürzungen belanglos, wie auch weitere Ausschnitte die verrohende Wirkung nicht aufheben können, weil diese hervorgerufen wird durch den Gesamtinhalt der Handlung, durch die sich, wie ein roter Faden, die nackte brutale Gewalt hindurchzieht. [...] Es besteht die Gefahr, dass im Beschauer schlummernde rohe Instinkte ausgelöst werden, die andererseits durch die Geschehnisse keinerlei Dämpfung finden. [...] so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das allgemeine sittliche Niveau durch das Zeigen des Martyriums, das eine wehrlose Frau durch das brutale Verhalten eines gewissenlosen Mannes erleidet, herabgemindert und gesenkt wird."


Der bei der Sitzung anwesende Vertreter des Verleihs legte wiederum Beschwerde ein, so dass es am 22. April 1925 vor der Oberprüfstelle zur vierten und letzten Verhandlung über CŒUR FIDÈLE kam. Die Besetzung war identisch mit der vom 12. März (ob das üblich war, ist mir nicht bekannt). Und neuerlich wurde die Beschwerde abgeschmettert: "Das Verbot des Bildstreifens durch die Entscheidung der Oberprüfstelle vom 12. März 1925 tat [sic] auf den Verbotsgrund der entsittlichenden Wirkung gegründet, die die Oberprüfstelle darin gesehen hat, dass der Gesamtinhalt des Bildstreifens derart herabziehend und auf das Gefühl des Beschauers abstumpfend wirke, dass von seiner Vorführung eine Verschlechterung des sittlichen Fühlens und Denkens zu besorgen sei. An dieser Feststellung wird durch die von dem Beschwerdeführer vor der Widervorlage [sic] des Bildstreifens gemachten wenigen Ausschnitte nicht [sic] geändert."

Überblendung
Während gemäß der zum Reichslichtspielgesetz erlassenen Gebührenordnung die erste Verbotsentscheidung samt Berufung gebührenfrei erfolgte, trug nach der zweiten Runde der Antragsteller (also der Verleih) die Kosten. Und damit war dann die Karriere von CŒUR FIDÈLE bzw. HERZENSTREUE in Deutschland beendet, bevor sie begonnen hatte. Das Lexikon des internationalen Films kennt CŒUR FIDÈLE nicht, er lief also anscheinend auch nie in der Bundesrepublik und der DDR. Auf der Website des Österreichischen Filmmuseums in Wien wird CŒUR FIDÈLE als TREUES HERZ erwähnt. Ich weiß aber nicht, wann er diesen Titel verpasst bekam, und ob er zeitnah zu seiner Entstehung in Österreich lief.

Noch eine Überblendung
Die so ausgiebig bemühte "verrohende" und "entsittlichende" Wirkung eines Films war eine Universalkeule des Reichslichtspielgesetzes. Das Schöne daran (aus Sicht der Zensoren) war, dass man diese Wirkung gar nicht schlüssig nachweisen, sondern nur vermuten bzw. behaupten musste (darin der "sozialethischen Desorientierung" nicht unähnlich, vor der die heutige Bundesprüfstelle und weitere Gremien seit den 50er Jahren die gefährdungsgeneigte Jugend schützen zu müssen glauben). Das war auch so gewollt. Leiter der Oberprüfstelle war seit 1924 ein Oberregierungsrat Dr. Ernst Seeger, der auch die beiden Berufungsverhandlungen HERZENSTREUE betreffend als Vorsitzender leitete. Dr. Seeger war auch an der Abfassung des Reichslichtspielgesetzes beteiligt, und in einem 1923 von ihm verfassten Kommentar zum Gesetz kann man lesen: "Der Inhalt des Bildstreifens ist nur insoweit Gegenstand der Prüfung, als von ihm aus Schlüsse auf die mutmaßliche Wirkung bei der Vorführung auf den Beschauer zu ziehen sind" (Hervorhebung von mir). 1933 konnte Dr. Seeger, inzwischen zum Ministerialrat befördert, seine Laufbahn nahtlos im Propagandaministerium fortsetzen - "Die Lücke, die sein Tod im Reichspropagandaministerium gerissen hat, wird schwer auszufüllen sein", hieß es in einem Nachruf im Film-Kurier vom 18. August 1937. - Aus heutiger Sicht ist das Verbot von CŒUR FIDÈLE natürlich ein schlechter Witz, aber damals war das ein ganz normaler Vorgang, und meist ging sowas sang- und klanglos über die Bühne. Öffentlich ausgetragene Zensurskandale wie bei DIE FREUDLOSE GASSE, PANZERKREUZER POTEMKIN oder KUHLE WAMPE blieben die Ausnahme. - Wer sich die erbauliche Lektüre der famosen Filmprüfer gönnen will, findet hier die Sitzungsprotokolle verlinkt.

Links Dreifachbelichtung, rechts ein natürlicher Schleier im Bild
CŒUR FIDÈLE ist in England bei Masters of Cinema als Blu-ray/DVD-Combo mit ausgezeichneter Bildqualität erschienen. Eine französische DVD gibt es auch. Und für die, die mehr von Epstein sehen wollen, gibt es ebenfalls in Frankreich drei DVD-Boxen: "Jean Epstein - Première Vague" mit vier Filmen auf zwei DVDs, "Jean Epstein - Poème Bretons" mit seinen sieben bretonischen Filmen auf drei DVDs sowie (zu einem sehr gehobenen Preis) den "Coffret Jean Epstein" mit 14 Filmen auf acht Scheiben sowie einem beigelegten Buch.

Großaufnahmen ...
... und noch mehr Großaufnahmen

Mittwoch, 2. November 2016

Frühling in einem kleinen Haus

XIAO CHENG ZHI CHUN („Spring In A Small Town“)
China 1948
Regie. Fei Mu
Darsteller: Wei Wei (Yuwen, die Ehefrau), Li Wei (Zhang Zhichen, der Gast), Shi Yu (Liyan, der Ehemann), Zhang Hongmei (Xiu, die kleine Schwester), Cui Chaoming (Laohuang, der Diener)



Irgendwo in der chinesischen Provinz, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (bzw. des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs). Der ehemals reiche Bürger Dai Liyan ist finanziell wie auch gesundheitlich ruiniert: sein einst schönes Haus ist größtenteils zerstört, so dass er mit seiner Familie in noch intakten Nebengebäuden wohnen muss, er selbst leidet an Tuberkulose sowie an „Neurose“ (man würde das wohl heute „Burn-Out“ oder schlicht Depressionen nennen). Mit ihm wohnt seine Ehefrau Yuwen, seine quirlig-fröhliche 15-jährige Schwester Xiu sowie der alte, bedächtig-ruhige Hausdiener Laohuang. Yuwens und Liyans Ehe kriselt. Die Ehefrau muss sich um alles im Haushalt kümmern, geht jeden Tag ins Dorf, um Essen für die Familie sowie Medikamente für ihren Ehemann einzukaufen, während Liyan stundenlang apathisch im Garten herumsitzt und oft abweisend und launig ist. So wirft er etwa das Päckchen mit den Medikamenten, das ihm Yuwen überreicht, gleich zu Beginn – eher resigniert als wütend – weg. Von häuslicher Gewalt (ob physisch oder psychologisch) kann zwar in keiner Weise die Rede sein, und der Umgang zwischen den Eheleuten ist stets respektvoll, aber eben auch ohne jegliche Wärme oder spürbare Zuneigung.

dramatis personae:






Eines Tages kommt ein Mann zu Besuch: der Arzt Zhang Zhichen ist ein ehemaliger Schulkamerad Liyans, und tatsächlich kommt in dem resignierten Hausherrn ein bisschen Freude über den Besuch auf. Was Liyan nicht weiß und der Zuschauer erst im weiteren Verlauf von XIAO CHENG ZHI CHUN nach und nach erfährt: Zhichen war auch Yuwens Geliebter, bevor diese Liyan heiratete. Und so liegt gleich zu Beginn von Zhichens mehrtägigem Aufenthalt eine gewisse Spannung in der Luft. Am ersten Abend gehen die beiden ehemaligen Liebhaber noch recht verstohlen miteinander um: sie kommt mehrmals in sein Gästeraum, um nach dem Rechten zu sehen und zusätzliche Decken zu bringen.

Am nächsten Tag gehen der Hausherr, die Ehefrau, die kleine Schwester und der Gast zusammen spazieren. Zunächst auf der Stadtmauer, wo Zhichen für kurze Zeit Yuwens Hand ergreift. Dann geht es mit dem Boot weiter, wo sich beide sehnsüchtige Blicke zuwerfen. Am nächsten Tag gehen beide, diesmal alleine, auf der Stadtmauer spazieren. Die Stadtmauer ist der Ort, wo Yuwen gerne alleine schlendern geht, wenn sie nach dem Einkauf vor der Rückkehr in ihr unglückliches Zuhause noch einmal Ruhe tanken möchte. Dort unterhalten sie sich, erwägen implizit, zusammen ein neues Leben zu beginnen und schlendern dann weiter. Später, wieder zuhause, sagt Yuwen, dass alles einfacher wäre, wenn Liyan sterben würde – was sie sofort bereut und sowohl ihr wie auch Zhichen ein sehr schlechtes Gefühl gibt.

Eine entfremdete Ehe...
...bildet die Grundlage für Annäherungen zwischen zwei ehemaligen Liebhabern.
Das linke untere Bild: vielleicht eine Inspiration für die ikonischste Einstellung in Wong Kar-wais IN THE MOOD FOR LOVE?

Bevor das alles zu trübsinnig wird, kommt Xiu dazwischen, die nun am nächsten Tag mit dem „Großen Bruder Zhichen“ zur Stadtmauer geht, dort zu seinem Gesang etwas tanzt und sich dann milde beschwert, dass ihr Bruder Liyan immer so unlustig und schwermütig sei. Nachdem Xiu ihrer Schwägerin gesagt hat, wie schön der Spaziergang mit Zhichen war, spielt Yuwen ihrem Ex-Geliebten eine kleine Eifersuchtsszene, weil er offensichtlich Xiu lieber möge als sie – sagt ihm aber kurz vor ihrem Abgang, dass das nicht ernst gemeint war. Den gleichen Gedanken spinnt jedoch Liyan völlig ernsthaft weiter: Zhichen sei möglicherweise für Xiu die richtige Partie, und da müsse man mit den beiden mal drüber sprechen. Yuwen redet ihm den Gedanken aber erst einmal aus. Xiu werde ja morgen erst 16 Jahre alt.

Auf der Geburtstagsfeier am nächsten Abend wird dann fröhlich gesungen, gespielt und getrunken. Aus Hände- und Fingerspielen à la Schere-Stein-Papier entwickeln sich bald Trinkspiele. Yuwen, offensichtlich in trüber Laune, trinkt mehr als alle anderen, und taut erst auf, als sie mit Zhichen ein Trinksspiel spielt – an dieser Stelle merkt Liyan auch zum ersten Mal, dass etwas nicht ganz in Ordnung ist. Später, als alle schon im Bett sind, schleicht sich Yuwen zu Zhichen ins Zimmer. Beide werden von ihrer Leidenschaft zueinander fast überwältigt, stoßen sich aber mehrmals im letzten Moment wieder voneinander. Zhichen eilt danach zu Liyan ins Zimmer, um sich eine Schlaftablette zu borgen. Wenig später wiederum sucht Yuwen ihren Ehemann auf. Dieser fragt sie offen, ob sie immer noch Zhichen liebe, gibt sich aber auch selbst die Schuld an der zerrütteten Ehe.

Bei den Trinkspielen zu Xius Geburtstag ereilt Liyan eine Erkenntnis
Am nächsten Tag will Zhichen weiterziehen. Liyan bittet ihn verzweifelt, zu bleiben, weil Yuwen in seiner Anwesenheit glücklicher sei. Später versucht er, sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umzubringen – Zhichen hatte jedoch in der Nacht zuvor die Tabletten mit Vitaminpillen ausgetauscht. Trotzdem geht es dem Ehemann schlechter und er ringt kurzzeitig mit dem Tod. Sein Zustand bessert sich jedoch dank der raschen medizinischen Intervention Zhichens, und allen Mitgliedern des Haushalts fällt ein Stein vom Herzen. Der Arzt verlässt den Haushalt am nächsten Tag, verspricht, zum nächsten Frühling wieder vorbeizukommen. Später, wohl am selben Tag, geht Yuwen wieder wie so oft auf der Stadtmauer spazieren, mit dem Unterschied, dass ihr Ehemann sich zu ihr gesellt. Die Eheleute blicken Arm in Arm in den Horizont – und offenbar auch in eine etwas hoffnungsvollere und fröhlichere Zukunft.

XIAO CHENG ZHI CHUN / SPRING IN A SMALL TOWN gilt als lange Zeit verschollene Perle des chinesischen Kinos. Er ist, so Noah Cowan, ein Höhepunkt im „Goldenen Zeitalters“ des chinesischen Films der 1930er und 1940er Jahre und verbindet dieses zugleich mit dem chinesischen Autorenkino der 1990er und 2000er Jahre, als maßgeblicher und erklärter Einfluss für Filmemacher wie Zhang Yimou, Wong Kar-wai und Stanley Kwan. Über Jahrzehnte war XIAO CHENG ZHI CHUN in China verschmäht und vergessen. Der Film entstand ein Jahr vor der Ausrufung der Volksrepublik und Regisseur Fei Mu gehörte nicht zu den Gewinnern des politischen Umbruchs. Fei, geboren 1906 in Shanghai, aufgewachsen in Peking, war in den 1920er Jahren Filmkritiker und wurde später auch Herausgeber einer Filmzeitschrift. Seinen ersten eigenen Film (der heute verschollen ist), drehte er 1935. Der gebürtige Shanghaier, der seinen Schulabschluss in einer französischsprachigen Schule gemacht hatte, war ein echter Kosmopolit und sprach wohl nicht nur fließend Französisch, sondern auch Deutsch, Englisch, Italienisch und Russisch – offenbar der richtige Mann, um als Ko-Regiseur mit den Emigranten Jacob und Luise Fleck den Film SÖHNE UND TÖCHTER DER DER WELT (Originaltitel) zu drehen: die erste Koproduktion zwischen österreichischen und chinesischen Filmkünstlern. Mit der Opernverfilmung SHENG SI HEN („Remorse at Death“) drehte Fei 1948 den ersten chinesischen Farbfilm. XIAO CHENG ZHI CHUN aus dem selben Jahr blieb Feis letzter Film. Nach dem Sieg der Kommunisten floh er nach Hongkong. Der Regisseur, der lebenslang an chronischen Gesundheitsproblemen litt, starb dort 1951 mit nur 44 Jahren. Von den Kommunisten wurde XIAO CHENG ZHI CHUN jahrelang als bourgeois verurteilt und unter Verschluss gehalten. Erst in den 1980er Jahren änderte sich diese Haltung, und das Pekinger Filmarchiv brachte eine neue Kopie des Films im Umlauf. XIAO CHENG ZHI CHUN gewann rasch eine große Popularität in China, Hongkong sowie international und brachte auch seinen Regisseur wieder ins Gespräch. Tian Zhuangzhuang drehte 2001 ein Remake des Films mit dem gleichen Titel (und dies war paradoxerweise nach mehreren Jahren Exil sein „Rückkehrfilm“).

David Bordwell schreibt, dass XIAO CHENG ZHI CHUN mit seiner langsamen Entwicklung einer erotischen Geschichte in karger Umgebung Michelangelo Antonioni vorwegnimmt. Die flüssigen Kamerabewegungen und die gekonnte Nutzung der Raumtiefe, die bereits in Feis Filmen der 1930er Jahre sichtbar seien, erinnern Bordwell an Jean Renoir. Ganz anders inszenierte Fei sein Konfuzius-Biopic KONG FUZI von 1940, der größtenteils in statischen Tableaus mit stilisierten, dezidiert artifiziellen und gemalten Bühnenbildern gefilmt ist, was Bordwell als sehr modern wertet. Der Hongkonger Filmkritiker Wong Ain-ling vergleicht Feis Konfuzius-Biopic mit Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D‘ARC sowie mit Eric Rohmers über 35 Jahre später gedrehten PERCEVAL LE GALLOIS (der als der experimentellste Film des nouvelle-vague-Filmemachers gilt).

Antonioni, Renoir, Rohmer, Dreyer – ich selbst werde gleich noch Fritz Lang und sogar Jean-Pierre Melville dazu holen: dass so viele Vergleiche bei der Bewertung von Feis Filmen herangezogen werden (müssen), weist sicherlich darauf hin, dass er als eigener Name (noch) nicht etabliert ist und zugleich dass da offenbar sehr vieles Interessantes zu entdecken ist. Nun also zu „Frühling in einer kleinen Stadt“. Sicherlich würde „Frühling in einem kleinen Haus“ besser als Titel passen, weil es zwar in Feis Film einen Frühling gibt, allerdings keine „kleine Stadt“. Im gesamten Film sind tatsächlich nur 5 Figuren zu sehen, und „Stadt“ taucht als geografisches Konzept nur sehr peripher auf (wir erfahren, dass Yuwen in der kleinen Stadt einkaufen geht, sehen sie aber nicht), als soziales Konzept überhaupt nicht. Der zentrale Ort des Films ist das semi-zerstörte Haus, in dem die Familie mit ihrem Gast wohnt. Das trägt dazu bei, dass XIAO CHENG ZHI CHUN wie ein extrem konzentriertes und intimes Kammerspiel wirkt, eher von Charakteren als von Plot getrieben. Diese Abgeschiedenheit verleiht dem Film aber auch einen Hauch verzweifelter Weltabgewandtheit – was mich etwas an Jean-Pierre Melville erinnert hat, minus die Gangsterfiguren und die Gewalt.

In der Ausstattung wirkt XIAO CHENG ZHI CHUN recht karg und minimalistisch, dabei ist er sehr konzise inszeniert. In seinen ersten Bildern schwenkt eine Kamera mit verblüffend hoher Geschwindigkeit über provinzielle Landschaften, und der Rest des Films ist von flüssigen, eleganten Kamerabewegungen und tatsächlich einer meisterhaften Nutzung der Raumtiefe gekennzeichnet – der Film führt etwa den Hausherrn ein, indem die Kamera durch den Garten und eine löcherige Mauer nach ihn „sucht“. Die Bildkompositionen sind wie die Bewegungen der Kamera auf unaufdringliche Weise elegant. Es gibt nur wenige Nahaufnahmen, die dann umso auffälliger sind: etwa auf die Gesichter Zhichens und Yuwans, als sie sich wieder erkennen, oder – besonders hervorgehoben – eine Nahaufnahme einer Pflanze, die Yuwen Zhichen schenkt.

Sehr auffällig ist, dass Fei immer wieder Überblendungen einsetzt, und zwar nicht, um das Ende einer Szene mit dem Beginn der nächsten zu verbinden (das manchmal auch), und auch nicht in „Montage-Impressionen“ (wie am Anfang von CITIZEN KANE), sondern mitten in normalen Szenen – statt eines Schnitts. Das wirkt leicht desorientierend, weil nebenbei oft die 180-Grad-Regel gebrochen wird und einmal die Figuren zugleich ihre Position im Raum auf „falsche“ Weise ändern. Fast wie ein jump-cut, nur eben mit den Mitteln einer Überblendung. Wäre der Film bekannter, könnte man letzteres bestimmt schon beim IMDb-Eintrag in den Goofs zu lesen. Ich sehe darin keinen „Fehler“, sondern vielmehr ein faszinierendes Stilelement, das dem Film eine leicht träumerische, schwelgerische und fließende Note gibt und ihn zwischendurch ungemein modern aussehen lässt.

Experimentelle Überblendungen in einem eigentlich klassischen Melodrama
Vielleicht noch faszinierender ist die Nutzung des Tons, oder besser gesagt der Stille. Zwei Mal während des Films „fällt“ der Ton „aus“. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass das tatsächlich mit der überlieferten Kopie des Films zu tun hat, also damit, dass an diesen Stellen die Tonspur verschollen oder teils verschollen ist, aber das glaube ich nicht. Der erste Tonausfall erfolgt, als die beiden Ex-Liebhaber zusammen alleine spazieren gehen. Auf der Stadtmauer sprechen die beiden darüber, wie sie sich über die Jahre geändert haben. Als sie zusammen waren, soll Yuwen wohl immer einer Meinung mit Zhichen gewesen sein. „Wenn ich dich bitte, mit mir wegzugehen, würdest du dann immer noch sagen ‚Was du auch immer sagst‘?“, fragt Zhichen seine ehemalige Geliebte. „Meinst du das ernsthaft?“, erwidert Yuwen. Hier fällt der Ton aus, beide gehen ein Stück weiter, Zhichen wirft einen Ziegelstein in den nahegelegenen Fluss (das Geräusch hört man folglich nicht), und dann gehen die beiden auf einem kleinen Waldweg spazieren: während Yuwen und Zhichen zusammen gehen, sich immer mehr von der fixen Kamera entfernen und schließlich übermütig zusammen ein Stückchen rennen, herrscht vollkommene Stille. Diese knapp 50 Sekunden lange, statische Einstellung ist ein entscheidender Moment, denn hier wird eine Art Harmonie zwischen den beiden gezeigt, die keiner Erklärung (und auch keines Tons) mehr bedarf.


Der zweite Tonausfall begleitet die leidenschaftlichste und emotionalste Szene von XIAO CHENG ZHI CHUN – also der Moment, als Yuwen zu Zhichen ins Zimmer geht mit der unsicheren Absicht, ihn zu verführen. Nachdem sie sich zu ihm geschlichen hat, tauschen sie wenige Worte aus, dann herrscht vollkommene Stille, während sie zunächst ein Licht anzündet, er es wieder ausmacht, beide sich umarmen, er sie in die Arme hebt, sie dann wieder hinstellt, schnell rausgeht und sie einsperrt, damit sie ihm nicht folgt. Mit wenigen Schlägen zerschlägt sie das Türglas – das Zerschmettern des Glases und ihr leiser Schmerzensschrei sind kurz zu hören. Er eilt zu ihr, verbindet ihre Verletzung und fängt dann an, leidenschaftlich ihre Hand zu küssen. Sie hat sich wieder gefangen, erhebt sich, und durchbricht wieder die Stille mit einem schroffen und kalten „Danke“.  Wie gesagt handelt es sich um die emotionalste Szene in XIAO CHENG ZHI CHUN. Wo sich in den meisten Filmen klassischerweise die schweren Orchesterklängen überstürzen würden, herrscht hier in dieser wundervoll „low key“ fotografierten Sequenz totale, nur punktuell durchbrochene Stille. Ihre emotionale Wirkung ist dadurch vielleicht noch stärker.
Diese Nutzung des Tons erinnert an eines der großen Pionierwerke in Sachen experimenteller Tonmontage, nämlich Fritz Langs M, in dem immer wieder totale Stille eingesetzt wird. In Feis Film belebt dieses Verfahren keine Polizeiprozeduren, keine Verbrechen und keine urbanen Milieus, sondern Momente intimer Leidenschaft. Großes „drama“ ohne „melos“.

Der emotionalste Moment des ganzen Films...
...fast komplett ohne Ton gefilmt.
Weitaus weniger experimentell und interessant, sondern manchmal etwas entnervend, wirkt der leicht penetrante Voice-Over Yuwens, die nicht nur knappe Expositionen gibt, sondern teils fast schon pedantisch übererklärt – und manchmal sogar triviale Handlungen „doppelt“, die der Zuschauer eigentlich in den Bildern sieht. „Wir fahren dann Boot auf dem Fluss. Xiu singt ein Lied.“ – während der Zuschauer sieht, dass die Gruppe Boot fährt und Xiu ein Lied anstimmt. Im weiteren Verlauf des Films könnte man vielleicht denken, dass Yuwen ständig über Selbstverständlichkeiten und Trivialitäten spricht, damit sie nicht über den Kern der Dinge reden muss, aber so richtig davon überzeugt bin ich nicht.

Das bleibt aber mein vielleicht einziger größerer Kritikpunkt an diesem schönen ländlichen Melodrama, das nicht nur in der Kameraführung ein wenig an Renoir erinnert. Fei ist wie sein berühmterer Kollege ein klassischer humanistischer Erzähler, der keine Guten oder Bösen präsentiert, sondern nur Figuren, die „ihre Gründe haben“. Des weiteren fühlt sich XIAO CHENG ZHI CHUN sehr universell an – nicht nur wegen der sehr „europäisch“ wirkenden Inszenierung, sondern weil die gleiche Geschichte sich ebenso gut in Italien, Deutschland, Frankreich oder den USA abspielen könnte.

Ein hoffnungsvolles Ende


XIAO CHENG ZHI CHUN ist als „Spring In A Small Town“ in einer schönen DVD-Edition des British Film Institute erschienen, und dies ist wohl die einzige Edition mit der restaurierten Filmfassung – bei anderen DVD-Editionen soll die Sichtung wohl aufgrund der scheusslichen Bild- und Tonqualität eine recht anstrengende Herausforderung sein. 1A ist die Qualität auch bei der BFI-Edition nicht, und besonders der Ton ist immer wieder etwas scheppernd: das Bild wurde anhand des 35mm-Original-Nitratnegativs restauriert, das offenbar aber keinen Ton hatte; der Ton wurde von einer 35mm-Kopie transferiert.
Die BFI-Edition enthält zwei Bonus-Filme. Nein, leider keine weiteren Filme von Fei Mu, sondern zwei britische Filme aus dem Archivfundus des British Film Institute. A SMALL TOWN IN CHINA von 1933 ist ein neunminütiger, stummer Kurzfilm eines namentlich nicht bekannten Amateur-Filmers der Methodist Missionary Society, der in einer ungenannten chinesischen Stadt Straßenszenen filmt und später Alltagsmomente in offenbar methodistischen Schulen und Krankenhäusern auf Film festhält. Der Film hat eigentlich keinen Titel: er bekam ihn lediglich bei der Katalogisierung in den 1990er Jahren, wie im Booklet der DVD zu erfahren ist. Dieser bezeichnet A SMALL TOWN IN CHINA als „home movie“, und tatsächlich wirkt er wie ein frühes Heimvideo, das damals wahrscheinlich die Schüler, Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte und Patienten zu sehen bekamen, die darin gezeigt werden.
THIS IS CHINA von 1946 ist ein 8-minütiger Dokumentarfilm, der vom britischen Informationsministerium produziert wurde. Dafür wurde kein Originalmaterial gedreht, sondern bereits gefilmtes „stock footage“ montiert und mit einem narrativen Kommentar versehen. Einen nominellen Regisseur hat der Film nicht, das Booklet nennt den Schnittmeister John Krish als entscheidende kreative Kraft des Films – Krish drehte später als Regisseur vor allem Dokumentarfilme. THIS IS CHINA zeichnet China als rückständiges Land, das eine Tausende Jahre alte Geschichte nun mit westlicher Technologie in Richtung Moderne bringt. Der Unterton des Narrativs ist stellenweise latent eurozentrisch und orientalistisch, die Agenda des Films aber (dem Einführungstext des Booklets würde ich da zustimmen) durchaus nicht antihumanistisch: „westlicher“ Fortschritt soll nicht sich selbst, sondern schlussendlich dem Wohl der Chinesen selbst nützen. So ambivalent der Inhalt, so dynamisch ist die Form dieses schnell geschnittenen Kurzfilms, der aus nicht selbst gedrehtem Material durch die Montage viel rausholt.