Montag, 19. Februar 2018

„Gefühl ist die gefährlichste Schmuggelware“: Euphorien vom 17. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (Zweiter Teil)

Samstag, 6. Januar, ca. 15.00 Uhr

Der „triste Überraschungsfilm“

Vorfilm
MÄDCHEN IN DER SAUNA
Regie: Gunther Wolf
Bundesrepublik Deutschland 1967
Was ist denn das eigentlich, so eine Sauna? Eine deutsche Journalistin möchte das erfahren und auch ihren Lesern mitteilen können. Da heißt es: Bücher wälzen – und in das Ursprungsland der Sauna, Finnland, reisen, um sie dort live auszuprobieren.
MÄDCHEN IN DER SAUNA – das ist erst einmal ein vielversprechender Titel, und gerne würde ich mal den passenden Jess-Franco-Film dazu sehen. Tatsächlich ist MÄDCHEN IN DER SAUNA aber ein kurzer Dokumentarfilm, der als kulturell wertvoller Film vor dem Hauptprogramm gezeigt wurde, damit ein Kino auf diese Weise Vergnügungssteuern einsparen konnte. Er hätte also durchaus vor Wishmans absolut schamlosen FKK-Exploiter THE PRINCE AND THE NATURE GIRL laufen können (Chronologie mal außer Acht gelassen). Wer also nackte Schauwerte und triefenden Schmier erwartet, ist hier an der falschen Adresse... oder doch nicht?
Auch wenn ich die volle Bedeutung von „trist“ im Hofbauer-Kommando-Jargon noch nicht völlig durchschaut habe: als Journalistin stellt sich die Protagonistin tatsächlich sehr „trist“ an, wie sie da etwas unmotiviert Sachen in ihre heimische Schreibmaschine eintippt und dann total begeistert darüber ist, dass sie ja schon wenigstens einen Titel für ihren Artikel hat (ein Titel, der etwa so sexy wie eine total verkohlte Saunawurst war... zu letzterer gleich mehr). Dann baut der Film einen Moment nervenzerfetzender Spannung ein: wird unsere tapfere Journalistin von ihrer Redaktion die Genehmigung bekommen, zusammen mit einem satten Spesenkonto nach Finnland zu fliegen?
Ja, bekommt sie! So geht es nach Finnland. Es beginnt eine investigative Reise an dampfend-heiße Orte, an denen sich ausschließlich nackte Menschen tummeln. Und zwischendurch wird MÄDCHEN IN DER SAUNA auch zu einem relativ informationsgesättigten Bericht: über finnische Bräuche und Sitten, über die Bauweise von Saunen, über die Steinsorten, die für den Aufguss verwendet werden, die genutzten Holzarten, über die gesundheitsfördernde Wirkung des Saunierens, die steigende Zahl an Saunen in finnischen Privatwohnungen. Ganz wichtig (und unvergesslich) ist die Saunawurst, die nach dem Saunieren auf einem Stöckchen aufgespießt und über dem Kaminfeuer gebraten wird. Zu genießen ist diese übrigens mit einem Bier, um dem Flüssigkeitsverlust des Körpers etwas entgegen zu setzen. Schwitzen, Wurst und Bier – die wichtigsten Zutaten für einen gesunden Lebensstil! Die ganzen Ausführungen werden von passenden Bildern begleitet und die vielen nackten Menschen, die man sieht, dienen selbstverständlich nur der Aufklärung und der Visualisierung des Erklärten.
Fast bin ich dazu geneigt, dem Film einen fast radikaldemokratischen, humanistischen Impetus zuzusprechen, zumal MÄDCHEN IN DER SAUNA über weite Strecken trotz der nackten Tatsachen sehr „unschuldig“ daherkommt und in seinen Erklärungen über nicht-deutsche Bräuche erstaunlich nüchtern, nicht-exotisierend und ohne jegliche Überheblichkeit ist. Wie aus heiterem Himmel bricht der Voice-Over der Protagonistin allerdings plötzlich in eine hämische Tirade gegen eine Co-Saunabesucherin aus, die sinngemäß als fett und deshalb als Beleidigung für die Welt beschimpft wird (die Worte lauten in etwa „[...] manche Gäste offenbar etwas zu sehr dem Essen zusprechen“). Das wiederholt sie kurz danach wieder. Die zwei Frauen (oder war es ein und dieselbe?), die dazu eingeblendet werden, sind natürlich nackt: man sieht also, dass sie vollkommen normal proportioniert sind und man schon ein schwer gestörtes Körperbild, vor allem aber einen sehr bösen Willen an den Tag legen muss, um sie als fett zu bezeichnen. Ein böser Wille, der ein sehr unschönes Weltbild offenbart: aus der demokratischen Sauna wird plötzlich ein Ort, an dem nur „schöne“ Menschen zu sehen sein sollen. Das ist schon ein ziemlich verstörender, Mondofilm-artiger Einschub in einem ansonsten eigentlich putzigen Film.


THE PRINCE AND THE NATURE GIRL („Nackt im Sommerwind“)
Regie: Doris Wishman
USA 1965
Ein leitender Angestellter in einer New Yorker Firma bekommt zwei neue Sekretärinnen – beide kürzlich vom Land zugezogene Zwillingsschwestern. Die extrovertiertere Blonde verbringt ihre Wochenenden in einem FKK-Camp, an dem auch der „charmante Prinz“ seine Freizeit verbringt, so dass sie sich dort auch treffen und miteinander anzubandeln beginnen. Die eher introvertierte Brünette verliebt sich hingegen still in ihren Chef. Als ihre Schwester an einem Wochenende anderweitig wegfahren muss, färbt sie sich die Haare und nimmt ihren Platz im Camp und an der Seite des „Prinzen“ ein...
Christoph versprach in seiner Ansage einen tiefentspannten Hauptfilm, und er sollte recht behalten. Auch wenn ich meine Samstagabende bevorzugt gerne mit knüppelharter Exploitation garniere: irgendwie wäre THE PRINCE AND THE NATURE GIRL ein perfekter Samstagabend- bzw. Samstagnachtfilm. Bei so viel Entspannung bestünde natürlich die Gefahr, einzuschlafen. Wenn man wieder zwischendrin aufwacht, würden einen vielleicht die haargenau selben Bilder wie vor dem Einschlafen begrüßen... oder sollte ich sagen: sanft wach küssen.
Wishmans Film bietet eine recht interessante Mischung aus No-Budget-Charme, einer sanft angedeuteten Screwball-Komödie, unschuldiger Nacktheit, einer erstaunlichen Ökonomie der Inszenierung und vor allem leiser Poesie. Die beiden Schwestern werden nicht von Zwillingsschwestern (das hätte die Gage verdoppelt), sondern von nur einer Darstellerin gespielt und es brauchte bei einigen Zuschauern (z. B. mir selbst) längere Zeit, das zu merken, weil sich die beiden Figuren oft im selben Raum befinden. Im ganzen Film gibt es aber nur zwei Trick-Sequenzen, in der sich die Darstellerin mit sich selbst ein Bild teilt (den Split im Film sieht man zwar, wenn man genau hinschaut, aber es ist schon recht gut gemacht). Die restliche Zeit wird das Material so geschnitten und arrangiert, dass beide Schwestern nicht gleichzeitig zu sehen sind: eine verlässt mal den Bildausschnitt, geht in einen anderen Raum, während die andere „reinkommt“. 
So „ökonomisch“ geht Wishman auch mit ihrem Material um, wenn sie die Aktivitäten im FKK-Camp zeigt. Immer wieder sind bei den Montagen die gleichen Bilder zu sehen – in einer anderen Reihenfolge gebracht. Einige Motive sind drei bis vier Mal im knapp einstündigen Film zu sehen. Das dürften manche als Tiefpunkt des Amateurhaften sehen, aber ich finde, das hat was Beruhigendes: guck mal, das Flugzeug fliegt heute wieder durch den Himmel; ach schön, die Enten watscheln ja immer noch gemütlich am Rand des Teichs. Das ist auf ganz eigene Weise poetisch. Am schönsten natürlich, als der „Prinz“ und die „Prinzessin“ (ich weiß nicht mehr, welche der beiden) spazieren gehen: hier folgt eine ganz besonders lange Montage mit Camp-Bildern, so lange, dass es auffällt. „Lassen wir doch die beiden in Ruhe spazieren und gucken uns währenddessen doch mal ganz in Ruhe an, was im Camp so läuft...“ – scheint uns der Film zu sagen. Warum nicht? Gerne!
Die nackten Schauwerte halten sich, trotzdem der Film größtenteils im FKK-Camp spielt, sehr in Grenzen: meist über der Gürtellinie, von hinten gefilmt, und manchmal scheint sich der eine oder andere Komparse in eine leicht unbequeme Position zu quälen, damit keine Sachen passieren wie in DER ZWEITE FRÜHLING. Der Gipfel ist natürlich, dass der „Prinz“ selbst immer in Badehose zu sehen ist und dabei unfreiwillig wie ein perverser Spanner aussieht. Man kann sich darüber allerdings keine allzu große Gedanken machen, denn viel irritierender ist noch die Tatsache, dass der „Prince“-Darsteller wie eine junge Ausgabe von Steve Carell aussieht.
Was soll ich eigentlich sagen: Darsteller, Schauspieler, Komparse, Figurant? Zum ungewöhnlichen Charme von THE PRINCE AND THE NATURE GIRL trägt bei, dass das alles nicht so geschauspielert als vielmehr „entworfen“ aussieht. Als würden sie keine Bewegungen spielen, sondern nur abstrahierte Entwürfe von Bewegungen skizzieren. Ja ein wenig so, als wären nicht erste, zweite, dritte etc. Takes, sondern jeweils nur der Probe-Take genutzt worden (das allerdings äußerst konsequent).
Was noch? Es gibt eine wunderschöne Fahrt in einem Auto, wo Wishman sogar die Rückprojektion eingespart hat – wahrscheinlich haben nur zwei bis drei Helfer am Rand gerüttelt, damit es aussieht, als ob unsere zwei Turteltauben wirklich fahren. Der Arbeitstag des „Prinzen“ ist ein absoluter Traum: das schwerste besteht wohl darin, sich zwischendurch eine Zigarette anzuzünden und ein bisschen von seiner blonden Sekretärin zu schwärmen. Die blonde Prinzessin dreht sich zwischendurch wie ein kleines Kind auf ihrem Bürostuhl. Einfach so. Das Bild eines Mannes, vielleicht aus einer Zeitschrift ausgerissen, hängt am Rand eines Regals in ihrem Büro. Warum auch immer – und warum nicht? Enten watscheln am Rand eines Teiches – das habe ich schon erwähnt, aber ich mache es einfach wie der Film selbst: zwei mal kann nicht schaden! Der tiefenentspannte Latin-Lounge-Score macht dabei die ganze Zeit Lust, sich ein kühles Bier aufzumachen.
Ja, der entspannteste Film des Kongresses. Und einer der poetischsten.

Auf andere Weise sehr poetisch, allerdings in einem ganz anderen Universum, was den Härtegrad betrifft:

ca. 17.00 Uhr

TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI („Angel Guts: Red Vertigo“)
Regie: Ishii Takashi
Japan 1988
Eine Krankenschwester wird von Patienten fast gruppenvergewaltigt und flieht. Ein Mann mit hohen Schulden bei dubiosen Typen flieht. Beide treffen sich zufällig. Er entführt sie, vergewaltigt sie, hält sie in einem verlassenen Gebäude fest. Aus zwei kaputten Leben, Reue, Vergebung, Verzweiflung (und ein bisschen Stockholm-Syndrom) erwächst eine schwierige Liebe.
So sehr ich mich nach TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU auch auf den nächsten „Angel Guts“-Film freute – so gut wie der erste konnte der doch nie werden, dachte ich mir. Und in der Tat: TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI war nicht so gut, sondern sogar noch besser!
Die Geschichte einer Frau, die sich in ihren eigenen Entführer und Vergewaltiger verliebt, ist natürlich nicht ganz unproblematisch, wenn man TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI „at face value“ nimmt. Wie der erste „Angel Guts“-Film des Kongresses ist aber auch dieser unter seiner krassen, erbarmungslos harten und teils abscheulichen Hülle ein herzzerreissender Liebesfilm über kaputte Menschen in einer kaputten (urbanen) Welt. Das Spannende ist, dass er das ganze mit größtenteils komplett anderen filmischen Mitteln macht: „Red Vertigo“ nutzt sehr viel mehr Handkamera und Bewegungen als „Red Classroom“, ist weniger abstrakt und zwar erzählerisch noch lange kein Schema-F-Drehbuchraschler, aber doch geradliniger. Die Position, die er einnimmt, scheint mir auch involvierter als beim kühl-distanzierten „Red Classroom“.
Der Moment, in dem ich mich definitiv in diesen Film verliebt habe: beide befinden sich im verlassenen Lagerhaus, sie muss pinkeln, deshalb bindet er sie kurz los und beide errichten gleichzeitig ihr Geschäft in unterschiedlichen Ecken. Er und sie sind räumlich getrennt, aber ihre Urin-Rinnsäle fließen dank des abschüssigen Bodens trotzdem zueinander und vermischen sich schließlich. Ein unfassbares Bild zum Verlieben, eine wunderbare Visualisierung der schicksalshaften Verbindung zweier Menschen. 
Das Geschehen verlagert sich danach für längere Zeit in ein Hotelzimmer, das fast schon eine eigene gleichberechtigte Filmfigur ist: ein relativ dunkles Schlafzimmer, das durch eine Glastrennwand den Blick freigibt auf ein Bad in Orange – wobei optional Lamellenjalousien herunter- bzw. zugezogen werden können.
Es ist schon etwas merkwürdig, zumal TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI nach DER ZWEITE FRÜHLING wohl mein liebster Film des Kongresses war, aber an viele Details kann ich mich nicht mehr so richtig erinnern, weil der ganze Film so traumartig wirkte. Zwischendurch (oder war das am Ende?) geht die Handlung wieder zurück in die verlassene Lagerhalle, wo sie im Lichte eines rot-orangenen Sonnenuntergangs zu einem melancholischen Lied alleine tanzt. Und natürlich ist da diese absolut fantastische, mystisch angehauchte POV-Reise einer Seele, die ihren Körper verlassen hat und zum geliebten Menschen über ein Stück Straße hinschwebt...

Essenszeit! Inhaber einer Dauerkarte (das waren tatsächlich schätzungsweise über drei Dutzend Leute) wurden am Samstag Abend wie im Programm angekündigt zum Abendessen eingeladen. Geführt wurden sie im Gebäude des Filmhauses in einen Art Empfangssaal, wo ein tolles, dreigängiges Menü auf sie wartete: Suppe, Hauptgang mit großer Büffetauswahl, Dessert. Ein Traum.
Hiermit an dieser Stelle einen ganz, ganz, ganz, ganz, ganz großen Dank an das Team, das dieses Essen organisiert, gekocht und serviert hat. Es hat großartig geschmeckt. Es war viel mehr, als ich und sicherlich auch die meisten anderen Dauerkarten-Besitzer erwartet hatten und bestimmt mehr, als wir eigentlich verdient haben. Da werden wir schon mit großartigen Filmen verwöhnt, und dann kommt noch so etwas Schönes zusätzlich hinzu!


ca. 21.00 Uhr

CARMEN, BABY
Regie: Radley Metzger
Bundesrepublik Deutschland / Jugoslawien 1967
In einer Kleinstadt an der Adria verführt eine Prostituierte einen jungen Polizisten und zieht ihn in einen kriminellen, zunehmend gewalttätigen Strudel hinein.
„Carmen“, gespielt in einem jugoslawischen 60er-Jahre-Setting, das hat erst einmal seinen Charme. Wenn man weiter denken möchte, könnte man CARMEN, BABY auch als quasi-feministische 1968er-Version des Stoffs bezeichnen. Natürlich ist er auch ein Softerotikfilm mit hohen Schmierwerten – letztere explodieren geradezu, wenn Carmen bei einer wilden Party eine Art Limbotanz auf einem Tisch vollführt, bei dem sie nicht unter einer Stange tanzt, sondern ihren Körper langsam in Richtung einer besonders langhalsigen Flasche auf der Tischplatte bewegt. Am Anfang wirkt es schon ziemlich gemein, wie sie den Polizisten José erst aufheizt, dann wieder abblitzen lässt und ihn dann immer mehr in ihre Schandtaten hineinzieht. Nach und nach kann man aber sehen, dass sie auch irgendwo ein Freiheitsideal verkörpert. Und er wirkt mit zunehmender Laufzeit immer mehr wie ein verblendeter, selbstgefälliger, autoritärer, fast schon faschistischer Macho: das einzige, was er Carmen verspricht, ist ein Leben, in dem es für sie außer ihn selbst nichts anderes geben soll. Das ist nicht besonders viel. Das ist ziemlich genau das, was Fox-Jürgens seiner Ehefrau in DER ZWEITE FRÜHLING verspricht, und José (Claus Ringer) hat noch nicht einmal halb so viel Charisma. Wenn er sie nicht „exklusiv“ haben kann, soll sie gar nichts haben. Es ist ein unglaublich bestialischer Akt, als er sie in der Morgendämmerung auf einem verlassenen Parkplatz beiläufig ersticht...
Leider ist es für mich persönlich interessanter, über CARMEN, BABY nachzudenken und zu schreiben als es war, ihn tatsächlich zu sehen. Die erste Hälfte fand ich sehr einnehmend, da spielt sich vieles auf den Straßen einer jugoslawischen Küstenstadt ab und das wirkt auch sehr lebendig, trotzdem da eigentlich nichts passiert (oder vielleicht gerade deswegen?). Später verlagert sich das Geschehen immer mehr in Innenräume und trotz einiger guter Ideen – ein Popsänger, mit dem Carmen anbandelt und der den Spitznamen „Baby [Irgendetwas]“ trägt, trinkt seine Cocktails aus Säuglingsfläschchen – erschien mir alles zunehmend beliebiger, zumal eine Wendung die nächste jagte. Auch hier: kein Film, den ich als schlecht bezeichnen könnte, aber in Sachen exzentrische „Carmen“-Adaptionen bleibe ich lieber bei dem Italo-Western L‘UOMO, L‘ORGOGLIO, LA VENDETTA aus dem gleichen Jahr.


ca. 23.30 Uhr

LEFT-HANDED
Regie: Jack Deveau
USA 1972 (DVD-Projektion)
Ein New Yorker beginnt mit einem kürzlich zugezogenen, heterosexuell gebundenen Mann vom Land eine leidenschaftliche Affäre.
Miles Davis schrieb in seiner Autobiografie über Prince (den er sehr bewunderte), dass dieser ganz bestimmt nicht zu europäischer klassischer Musik, sondern zu wilder afrikanischer Trommelmusik Sex habe. Nun... in LEFT-HANDED gibt es reichlich Sex zu sehen, und sehr wenig klassische Musik zu hören (an einer Stelle zumindest „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss). Die großartigste Sexszene spielt sich in der Dusche ab. Schwalle heißen Wassers, nasse Haare, erigierte Penisse, streichelnde Hände, gierige Münder, beschlagene Duschwände und dichter Wasserdampf verbinden sich – um jetzt zu Miles‘ Aussage zurückzukommen – mit einer hypnotisierenden, perkussiven, elektronischen Musik (die nebst Jazz-Rockigem einen nicht unbeachtlichen Teil des Scores ausmacht). Trance-artig. Jenseitig. Großartig.
LEFT-HANDED ist nicht nur ein schwuler Porno, sondern auch ein Werk, das grenzwertig nah am puren Experimentalfilm ist (tatsächlich der wohl „experimentellste“ Kongressfilm), und implizit auch ein politisches Manifest. Ein kleines bisschen New-York-Film ist er auch.
Das „Golden Age of Porn“ wird bisweilen mit „Pornos, die wirklich ein Drehbuch haben und eine Geschichte erzählen“, assoziiert. Wer so etwas bei LEFT-HANDED erwartet, dürfte kaum mit dem Film zurecht kommen. Deveau ist an Erzählung, Handlung, Psychologisierung so gut wie nicht interessiert: eine Handlung wird nur sehr rudimentär durch Telefon-Dialoge entworfen, die man als Voice-Over hört – konventionelle Dialoge hat der Film kaum. LEFT-HANDED ist im wörtlichen Sinne ein Aktionsfilm, ein fast puristisch körperlicher Film. Das betrifft nicht nur den Sex. Im letzten Drittel rasiert sich der vollbärtige Protagonist: stutzt sich zuerst den Bart mit einer Schere zurecht, schäumt sich gründlich das Gesicht ein und bearbeitet dann seinen Bart minutiös mit dem Rasierer. Trotzdem auch diese Szene, soweit ich mich erinnere, mit Jumpcuts arbeitet, wird diese alltägliche Handlung viel länger ausgedehnt, als man sie in einem klassischen Erzählfilm zeigen würde (in THE FUGITIVE gibt es so etwas ähnliches – da aber als rasche Montage). Deveaus präziser Blick ist obsessiv, zärtlich, impressionistisch. Denn auch hier sieht der Film nicht „dokumentarisch“ aus. Wir beobachten nicht nur einen Mann, der sich rasiert, sondern eine Existenz, die sich transformiert – genauso wie wir bei den meisten Sexszenen nicht nur Männer sehen, die handfest, teils sehr hart ficken, sondern meist auch pure Lust, Freude, Exaltiertheit. Mit purer Körperlichkeit pure Emotion spürbar machen. Deveau erscheint mir nicht als Realist, sondern eher als eine Art transzendentaler Impressionist, wenn man das so sagen kann.
Das zeigt sich auch in dem langen Spaziergang der beiden Liebhaber durch die Natur vor den Toren der Metropole. Das passiert an einem eher grauen Wintertag, aber trotzdem ist das wunderschön: durch Wiesen laufen, am Rand eines Bächleins ein bisschen kuscheln, zwischendurch ein kleiner Handjob, eine vorbeilaufende Katze wird dann ein bisschen geknuddelt. Eigentlich total banal – und doch pures Glück. Robert Aldrich, und ich meine damit nicht den Filmregisseur, sondern den australischen Historiker (Spezialist für französische Kolonialgeschichte und Sozialgeschichte der Homosexualität), sagte einmal sinngemäß, dass das subversivste, was Homosexuelle zu bieten hätten, nicht der schwule Sex sei, sondern das Ausleben von Liebesglück.
Zwei Männer, die spazieren gehen, als politisch subversives Statement? Als implizite Aussage kann man sicherlich auch den Sex zwischen dem jungen Mann vom Land und seiner Freundin sehen: ihre Sexszene ist nicht wesentlich kürzer als die schwulen Sexszenen, und wird nicht wirklich viel anders gefilmt (vielleicht allenfalls konventioneller). Ich kenne mich im US-amerikanischen Pornofilm der 1970er Jahre zu wenig aus, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass besonders viele „Mainstream“-Pornos auf derartig beiläufige Weise ausgedehnte, schwule Sexszenen einbauten.



ca. 01.30 Uhr

Spezialprogramm Scopitones

Bevor es mit Erwin C. Dietrichs HINTERHÖFE DER LIEBE weitergehen sollte, gab es ein Vorprogramm mit Scopitones. Die Scopitones waren kurze 16mm-Filme, die in den 1960er Jahren in speziellen Jukeboxes abgespielt wurden: statt eine Platte abgespielt wurde ein Film (heute würde man sagen: Musikclip) projiziert. Nach einer kurzen Belehrung, dass das Tanzen vor der Leinwand nur erlaubt sei, wenn man sich vorher ausziehe, ging es los...
Getanzt hat zwar niemand (also: nicht solange ich dort war), aber die Stimmung im Saal war Bombe. Natürlich gab es nicht nur einige ziemlich fetzige Musikstücke, sondern auch Filme, deren Siegel „approved by Hofbauer-Kommando“ hohe Schmierwerte garantierten. Da war natürlich dieser Auftritt der älteren Herrschaften, die angezogen waren wie der Rentner-Fanclub von DAS TRAUMSCHIFF und vor einer kitschigen, maritimen Sonnenuntergangskulisse völlig begeistert von den Reizen einer Prostituierten in einem fernöstlichen Bordell sangen (es war zwar von einem „Mädchen“ die Rede, nicht von einer Prostituierten, aber es war trotzdem leicht zu verstehen). Dann gab es noch ein Samba- bzw. Latin-angehauchtes Cover von Herbie Hancocks „Watermelon Man“. Das Setting: ein afrikanischer Dschungel. Dramatis personae: ein halbnackter „Ureinwohner“, der auf einer Trommel trommelt; mehrere Frauen im Bikini, die so aussehen und sich verhalten, als hätten sie gerade ziemlich starkes Gras geraucht oder noch etwas stärkeres genommen und sich dann in Hängematten flätzen; natürlich braucht es in diesem Kontext unbedingt auch einen... sturzbetrunkenen Schotten. Handlung: der „Ureinwohner“ trommelt, die Bikinifrauen flätzen sich, der Schotte torkelt betrunken. Dazu dudelt eine Latin-Bastard-Fassung von „Watermelon Man“...
DER ZWEITE FRÜHLING und CARMEN, BABY wurden unter anderem zur Ehrung ihrer kürzlich verstorbenen Regisseure Ulli Lommel und Radley Metzger gezeigt. Wie nett, dass also auch ein Scopitone mit dem kürzlich verstorbenen Johnny Hallyday gezeigt wurde... als plötzlich die Projektion abbrach, das Licht auf maximaler Stufe anging und eine ohrenbetäubende Sirene ertönte.
FEUERALARM! Ein echter Stimmungskiller. Ein paar Meter weiter auf der Etage lief eine Tanzparty, wo vermutlich irgendjemand den Alarm ausgelöst hat. Die Zuschauerschaft versammelte sich also vor dem Saal und ging dann aus dem Gebäude. Meine Moral war am Boden zerstört. Meine physische Kondition auch. Es war schon halb drei Uhr morgens und Erwin C. Dietrich war mir bislang als Produzent eh lieber denn als Regisseur. Resigniert und müde lief ich zu meiner Unterkunft. Der Feuerwehrwagen mit der Sirene fuhr, als ich schon gut zehn Minuten Weg hinter mir hatte, vorbei.
Am nächsten Tag erfuhr ich, dass das ganze wie vermutet ein Falschalarm war. Es ging dann weiter mit dem Programm. Über HINTERHÖFE DER LIEBE hörte ich eher gemischte Meinungen...



Sonntag, 7. Januar, ca. 15.00 Uhr

LE BELLISSIME GAMBE DI SABRINA („Mädchen mit hübschen Beinen“)
Regie: Camillo Mastrocinque
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1958
Eine Diebesbande begeht einen Juwelenraub. Der einzige sachdienliche Hinweis: eine Dame mit einem markanten Muster von Muttermalen am Oberschenkel war beteiligt. Währenddessen ruft ein Strumpfhersteller einen Fotowettbewerb aus: die schönsten fotografierten Beine sollen prämiert werden und für die Präsentation einer neuen Kollektion eingesetzt werden. Ein Fotograf findet die schönsten Beine bei Sabrina (Mamie Van Doren) – die natürlich zur Diebesbande gehört und nicht „erkannt“ werden möchte.
...oder so ähnlich. Jedenfalls will er sie (die Beine) fotografieren – sie möchte nicht. Natürlich verlieben sich die beiden ineinander, und einen großen Teil des Films besteht darin, wie diese Liebe die „versteckten“ Motive der beiden – er will das Gewinnerbild haben, sie will nicht als Räuberin enttarnt werden – nach und nach überlagert. Dass Sabrina die metaphorischen Hosen anhat, kann zu keinem Zeitpunkt bezweifelt werden. In der schönsten Szene des Films lädt er sie zu sich ein, um sie mit Champagner betrunken zu machen, damit sie endlich den Vertrag unterschreibt (zur Abtretung der Rechte am Foto ihrer Beine, das er ohne ihre Einwilligung geschossen hat – glaube ich). Das ganze geht auf herrlich fürchterliche Art schief. Natürlich sieht sie sofort, dass er seinen Champagner in die Blumenvase oder aus dem Fenster (auf den Kopf eines Kollegen, der draußen die Szene belauschen möchte – was für ein toller Lacher!) kippt, dreht den Spieß um, bis er schließlich in kurzer Zeit so betrunken ist, dass er kaum noch gerade stehen kann und schließlich völlig hinüber auf das Sofa sinkt. Ach... wie schön!
LE BELLISSIME GAMBE DI SABRINA fühlt sich weniger wie eine Proto-commedia-sexy an als vielmehr sehr amerikanisch – sozusagen eine Screwball-Komödie all‘italiana. Er ist von A bis Z ein wunderbar kurzweiliger, witziger, lustiger, entspannter und entspannender Film. Er nimmt sich auch viel Zeit, um kleine Nebenwege zu beschreiten (selbst in der gezeigten gekürzten deutschen Kinofassung, die um fast 25 Minuten geschnitten ist, war das zu spüren). Da ist ein Kollege des Protagonisten (gespielt von Adrian Hoven), der in seinem Studio eine zugeknöpfte Dame fotografiert und sie unbedingt nackt oder halbnackt bekommen möchte: jeden weiteren Tag lässt er sie einen weiteren Knopf aufmachen (bis sie am Ende dann tatsächlich in Dessous zu sehen ist) – könnte man das im Jargon des Hofbauer-Kongresses möglicherweise „Peripher-Schmier“ nennen? Dann gibt es natürlich das Miteinander zwischen den beiden anderen Mitgliedern der Diebesbande: Sabrinas Vater / Onkel / Opa / Großcousin (was auch immer), der zugleich Kopf der Bande ist, und James, der in erster Linie als Butler des älteren Herren und Sabrinas dient. Dass Sabrina durch ihre Liebe zum Fotografen vom „rechten Weg“ des Verbrecherberufs abkommt, nehmen die beiden Herren sehr gelassen. Gefühl sei eben die gefährlichste Schmuggelware...
Weniger entspannt als der Film dürfte es der Vorführer gehabt haben: die Kopie war durch das Essigsyndrom fast vollkommen hinüber, das Material so gewölbt, dass die Schärfe sich zumindest in einem Akt fast im Sekundentakt verschob und nachgestellt werden musste. Über den Hofbauer-Kongress wird ab und zu auch geschrieben, dass man hier Filmkopien beim Sterben sehen kann: das war bei diesem Film definitiv der Fall. Einer der zwei Wege in bzw. aus dem Kinosaal führt an dem Projektionsraum direkt vorbei. Im Anschluss an die Vorführung konnte man kurz am Vorführraum vorbeigehen und den absolut bestialischen Essiggeruch riechen. Großen Respekt an den Vorführer, der das anderthalb Stunden durchhalten musste!
Für die Nachwelt gänzlich verloren ist LE BELLISSIME GAMBE DI SABRINA glücklicherweise nicht: es gibt eine italienische DVD des Films (da nur mit italienischen Untertiteln allerdings nur für Zuschauer mit Grundkenntnissen der italienischen Sprache geeignet).


ca. 17.00 Uhr

MÄN KAN INTE VÅLDTAS („Wie vergewaltige ich einen Mann?“)
Regie: Jörn Donner
Finnland / Schweden 1978
Die Bibliothekarin Eva wird am Tag vor ihrem 40. Geburtstag von einer flüchtigen Bekanntschaft vergewaltigt. Nachdem der erste Schock vorbei ist, beginnt sie, den Mann (der biedere Autoverkäufer und erfolgreiche Vereinsbowler Martin) in Tarnkleidung zu stalken.
Wenn man Filme mit Fleischgerichten bzw. Fleischspezialitäten vergleicht, dann wäre MÄN KAN INTE VÅLDTAS über weite Strecken so etwas wie Beef Jerky: Trockenfleisch, ohne jeglichen Saft, hochkonzentriert, etwas zäh und spröde. Als Liebhaber von Beef Jerky meine ich das erst einmal als großes Kompliment!
MÄN KAN INTE VÅLDTAS beginnt mit der Protokollierung einer Aussage bei der Polizei, bzw. erst einmal mit der Aufnahme der persönlichen Daten Evas. Kahler Raum, frostige Atmosphäre, Zigarettenrauch, höfliche Tonlage, aber verschlossen-kalte Gesichter. Es fällt auf, dass der Polizist die Daten des Ex-Mannes vor ihren eigenen Daten erfragt, ohne dass irgendetwas mit dem Zeigefinger darauf hinweisen würde. (Später kommt heraus, dass dies nicht Evas Aussage zu ihrer eigenen Vergewaltigung ist, sondern die Selbstanzeige für ihren Racheakt.)
Der Verlauf des schicksalhaften Abends hin zu Evas Vergewaltigung ist keineswegs geradlinig, dabe aber doch erschreckend „banal“. Am Vorabend ihres Geburtstags geht Eva mit ihrer besten Freundin schick essen. Im Nebenraum des Restaurants gibt es eine Vereinsfeier. Ein Gast kommt herüber, setzt sich etwas aufdringlich zu ihnen. Als die beste Freundin geht, weil ihr Ehemann nach ihr ruft, findet sich Eva alleine mit Martin. Geht mit zu ihm. Als er sich ranmacht, macht sie erst mit, wehrt dann ab – er nimmt sie dann mit Gewalt. Eine Zufallsbekanntschaft, aber doch kein anonymer Mann, der aus dem Gebüsch springt.
Das Symbolbild der Vergewaltigung ist eine zu Ende gespielte Platte, die immer weiter auf der Stelle dreht. Danach ist es, abgesehen von Martins fragmentarischen Rechtfertigungsversuchen (es habe ihm auch keinen Spaß gemacht!), weiterhin erschreckend still. Eva verlässt sang- und klanglos die Wohnung, setzt sich zwischendurch auf die Treppe. Ein vorbeigehender Mann sagt ihr – ihren Zustand musternd, aber wohl nicht verstehend – wo draußen im Hof ein Wasserhahn zu finden sei. Draußen „wacht“ Eva ein wenig auf, weil sie bei jedem kleinsten Geräusch zusammenzuckt und um sich schaut. Schließlich gelangt sie nach Hause und fällt in den Schlaf. Das ganze ist schon sehr gut gemacht, weil die Bilder und Töne keinen Thrill suchen, sondern einen Schwebezustand des Schocks rekonstruieren.
Eva wird sich danach nicht an die Polizei wenden und auch sonst niemandem ein Wörtchen über ihre Vergewaltigung sagen, sondern sich auf die Suche nach ihrem Vergewaltiger begeben, ihn finden und in Verkleidung (mit dunkler Perücke und großer Sonnenbrille) beobachten – bis er sie bemerkt. Dann zieht sie die Schraube an, und beginnt ihn regelrecht zu schikanieren: veranstaltet im Autohaus, wo er arbeitet, einen kleinen Skandal, gibt sich ihm in den unangenehmsten Momenten zu erkennen, beobachtet sein Vereinsspiel (was ihn so nervös macht, dass er zur Überraschung seiner Kollegen mehrere Runden verpatzt). Da hat sich eine Frau in sein Leben gemischt, auf eine Weise, über die er überhaupt keine Kontrolle hat
So weit, so gut. Wer in MÄN KAN INTE VÅLDTAS Thrills erwartet, ist wie gesagt an der falschen Stelle. „Den Schritt zur Exploitation wagt er nicht, da ist zu ängstlich, will zu sehr ernstzunehmender Autorenfilm bleiben!“ – so ein Co-Zuschauer sinngemäß im Nachgang. Ja und nein. Es ist denke ich kein Problem, dass MÄN KAN INTE VÅLDTAS sich nicht wie ein Exploitationfilm entwickelt. Problematischer ist es, dass er sich an die selbstverschriebene Mager-Diät, wenn man so will, nicht hält. Alles, was der Film über männliche Selbstermächtigungen, strukturelle Benachteiligungen von Frauen etc. implizit andeutet, ist prinzipiell richtig. Doch zwischendurch stoppt er einfach, um alles noch einmal ganz explizit zu sagen. In dieser Hinsicht am qualvollsten ist eine Sitzung zur Vorbereitung eines Team-Events in der Bibliothek, wo Eva arbeitet: der Direktor erklärt ausführlich, warum Frauen eigentlich keinen Sport treiben können, einige weibliche Mitarbeiterinnen legen dagegen Einspruch, und fragen dann gleich noch, warum sie weniger gut bezahlt werden. Alles richtig, aber in diesen Momenten verwandelt sich ein recht außergewöhnlicher Rape-and-Revenge-Film plötzlich in eine pflichtbewusste Lektüre aus einem Soziologiebuch, in eine Art Reenactment-Einspieler für eine gebührenfinanzierte Primetime-Talkshow – als müsste den dümmsten anzunehmenden Zuschauern noch mal genau und explizit erklärt werden, worum es eigentlich geht.
Noch schlimmer ist es mit Evas bester Freundin, die weniger eigenständige Figur als reine Drehbuchfunktion ist. Ständig erklärt sie in krachledernen Expositionszeilen ganz explizit, was ihr Mann von ihr erwartet. Wenn sie schließlich Eva verkündet, dass sie Brustkrebs hat, fühlt man sich plötzlich wie in einer wirklich schlechten Soap und hört den Film vor lauter Drehbuchrascheln nicht mehr.
Um das Symbol des Jerky wieder aufzugreifen: das ist, als würde man zwischendurch aus Versehen kein Fleischfetzen, sondern dieses Tütchen mit den sauerstoff-entziehenden Kügelchen nehmen und reinbeissen (ist mir nie passiert, da ist die Verwechslungsgefahr zu gering – unangenehm dürfte das trotzdem sein). Oder jemand die Jerky-Stücke vorher in einen Käse-Nacho-Dip tunkt...
Ich bin gespalten. Einerseits liegen die Qualitäten von MÄN KAN INTE VÅLDTAS deutlich auf der Hand. Andererseits war es zum Verzweifeln, einen Film zu sehen, der sich ständig selbst sabotiert. MÄN KAN INTE VÅLDTAS hat keine Angst davor, ein Exploitationfilm zu sein. Er hat Angst davor, seinen selbstverordneten, ultra-spröden und trockenen Stil mit aller Konsequenz durchzuziehen. Angst hemmt...
„Wie vergewaltige ich einen Mann?“ Auf diese Frage gibt Donners Film keine explizite Antwort. Aber eine andere Sache erfuhren die Kongressteilnehmer: nämlich, dass skandinavische Saunawurst offenbar auch aus Hase hergestellt werden kann. Auf dem Weg zu einem Wochenendhäuschen mit eigener Sauna überfährt ein guter Freund Evas einen Hasen. Unschön, aber das passiert eben: deshalb wird der tote Hase zwecks Verspeisen mitgenommen. Querverbindungen zwischen Filmen, die man in nur wenigen Tagen konzentriert hintereinander schaut, tun sich manchmal an den merkwürdigsten Stellen auf...
P. S.: Im Nachgang scheint es mir, dass der auf eine ganz eigene Weise nicht weniger trockene und spröde DAY OF THE WOMAN (aka I SPIT ON YOUR GRAVE) aus dem selben Jahr möglicherweise eine innere Konsequenz an den Tag legt, die MÄN KAN INTE VÅLDTAS vermissen lässt.
ca. 21.00 Uhr

THE FIREWORKS WOMAN
Regie: Wes Craven
USA 1975
Angela und Peter lieben sich sehr. Dass sie Geschwister sind, steht ihrer Liebe allerdings in den Augen der Gesellschaft (und Gottes) im Weg. Deshalb wird er Priester und verstößt Angela, die sich in einer Reihe erotischer Abenteuer und Fantasien nach ihrem geliebten Bruder fast verzehrt.
Wes Craven ist bestimmt kein cinéaste maudit, aber THE FIREWORKS WOMAN ist sein film maudit: der Pornofilm aus seiner Filmographie, den selbst die Cinémathèque Française bei einer stark auf Vollständigkeit bedachten Retrospektive ausließ. Beim Hofbauer-Kongress bekam der Film seine Chance und entpuppte sich als echter Gewinner! Wie LEFT-HANDED, wenn auch auf ganz andere Weise, ist es ein sehr impressionistischer Film und war nur einen kleinen Hauch weniger experimentell. Durch die fast strahlenden, leicht überbeleuchteten Bilder, die fast ineinander verschwimmen, die elliptische Montage und die fiebertraumähnliche Atmosphäre entsteht eine sehr unmittelbare Faszination.
Wie mehrere andere Filme auf dem Hofbauer-Kongress ist auch THE FIREWORKS WOMAN ein leidenschaftlicher Liebesfilm, eine visuelle Ode an eine problematische Liebe. Von den vielen unterschiedlichen und faszinierenden Frauenfiguren, die während der vier Tage zu sehen waren, war Angela die wohl einzige Frau, die tatsächlich zufrieden wäre, einfach nur mit dem Mann, den sie liebt, zusammen zu leben – und nichts weiter. Und ausgerechnet er verzichtet. Zieht sich an der Schwelle zum Erwachsenwerden von ihr aus Scham und Reue zurück und flüchtet in das Dasein als Priester. Sie fleht ihn zwar an, steckt ihre zarten Finger durch das Gitter des Beichtstuhls zu ihm, aber er zieht die Trennwand einfach zu, schneidet ihr symbolisch fast die Finger ab: eines der großartigsten Bilder eines Films, der ohnehin toll aussieht. THE FIREWORKS WOMAN ist auffällig „high-key“ fotografiert, so dass alles unnatürlich strahlend aussieht, wie in einer Art Traum oder Trance. Das passt perfekt, da im Mittelteil vieles von dem, was man sieht, sich nur wahrscheinlich nur in Angelas Fantasie und Fieberträumen abspielt.
Craven deckt in THE FIREWORKS WOMAN eine sehr große Bandbreite an Atmosphären in den Sexszenen ab. Zwischen Angela und Peter ist die Stimmung fast schon sakral: gefilmt werden sie meist vor einem strahlend Hintergrund aus weißen Tüchern, und der Film macht hier ganz klar, dass zwei Menschen hier nicht „nur“ Sex haben, sondern wahrhaftig Liebe machen. Sex als Gottesdienst der Liebe? So zärtlich gehen allerdings nicht alle Charaktere mit Angela um. Als Peter die Priesterweihe empfängt, „schiebt“ er Angela als Dienstmädchen zu einem steinreichen Paar „ab“. Der Mann und die Frau machen sich gleich über Angela her, demütigen und missbrauchen sie sexuell. Diese Momente sind dezidiert unsexy, sehr unangenehm, beklemmend. Wer Spuren des Horrorfilmregisseurs Craven in THE FIREWORKS WOMAN sucht, wird wahrscheinlich hier fündig. Noch unsexier ist die schroffe Vergewaltigung durch einen Fischer, der Angela zuerst vor einem übergriffigen Kollegen rettet (aber dann nur, um sie für sich zu haben). Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, das ganze spielt sich zudem auch auf einem riesigen Berg toter Fische ab, was das ganze noch abstoßender macht. Eine ganz andere Nummer ist wiederum das, was man als den „zärtlichen Dreier in der Scheune“ bezeichnen könnte. Angela, nachdem sie von den beiden übergriffigen Reichen geflohen ist, besteigt ein Boot, driftet ins offene Meer ab, verbleibt dort Tage unter der prallen Sonne und wird kurz vor ihrem Tod zufällig von einem Segler-Paar gerettet. Mit ihren beiden Rettern geht sie dann ein Stück mit und hat Sex in einem Heuschober. Der „zärtliche Dreier“ war der vielleicht „realistischste“ Moment im ganzen Film, weil er nicht überleuchtet-strahlend gefilmt war – und doch bin ich bei keiner anderen Szene so dermaßen sicher, dass das nur in der Fantasie Angelas passiert. Jedenfalls ein sehr schöner Moment: der einzige, in dem sie auch ohne Peter wirkliche Freude hat.
Nachdem sie fast dehydriert auf dem Boot stirbt, stellt sich überhaupt die Frage, ob der ganze Film vielleicht der Fiebertraum einer sterbenden Frau ist. Immer wieder begegnet sie auf ihrer Reise einem mysteriösen Mann mit Zylinder und Zigarre im Mund. Ein Todesengel? Jedenfalls ein schönes Cameo des Regisseurs höchstpersönlich.
Gezeigt wurde übrigens eine 35mm-Kopie der italienischen Kinofassung. THE FIREWORKS WOMAN lief also auf Italienisch mit selbst erstellten Untertiteln, die sich an der englischen Originalversion orientierten. Der italienische Verleih „zensierte“ den Film, in dem aus den zwei Geschwistern in den Dialogen zwei Cousins gemacht wurden. Außerdem wurde der Film nicht gekürzt, sondern sogar verlängert! An mehreren Stellen werden auf äußerst grobe Weise Rückblenden eingefügt mit zwei Kindern, die Angela und Peter im Kindesalter spielen sollen. Auch wenn einige Kongressbesucher anderer Meinung waren: ich finde, diese Zusätze passen ganz und gar nicht in den Film, weil sie erstens die rudimentäre Handlung des eher impressionistischen als wirklich geradlinig-narrativen Films auf relativ plumpe Weise zu psychologisieren versuchen, zweitens den bei allem Impressionismus sehr präzisen Schnittrhythmus des Films komplett durcheinander bringen, drittens atmosphärisch überhaupt nicht passen, weil plötzlich in einem Film, der in New-England spielt, Szenen einfließen, die offenbar in der Toskana oder der Emiglia-Romagna spielen (wohl, weil sie wahrscheinlich tatsächlich dort gedreht wurden). Kopfschütteln meinerseits. Vollkommen unverständlich, aber fast schon dadaistisch anmutend, ist die Einfügung von etwa fünf Minuten, in der eine Motorradgang in einer wiederum gänzlich anderen Landschaft (ich schätze Texas oder Nevada, jedenfalls am Rand einer Wüste) eine Tankstelle angreifen, bis diese schließlich in die Luft geht... Warum nur?


ca. 23.30 Uhr

DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN
Regie: Rolf Olsen
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1967
Das Gaunerpärchen Bob und Betty wird bei einem Raubüberfall erwischt. Er kann entkommen, sie kommt in den Frauenknast, wo sie erst erfolgreich die sexuellen Übergriffe der Direktorin Nipple abwehrt, und dann mit vier neuen Partnerinnen-in-Crime entflieht. Mit ihnen bahnt sich Betty auf blutige Weise einen Weg zu einem abgelegenen Landgasthaus, wo Bob auf sie wartet. Intrigen zwischen den grausamen Puppen, im falschen Moment vorbeikommende Komparsen, die schnell mal als Leiche im Essensraum enden, viel Alkohol, ein fürchterlich verpatzter Entführungsplan und die Polizei auf den Fersen sorgen für Freude beim Zuschauer und einen hohen body count unter den Filmfiguren.
Wer den Kongress bis dahin durchgehalten hat (einige Zuschauer reisten früh Abends leider wieder ab), wurde mit dem größten Exploitation-Kracher der vier Tage belohnt. DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN schlüpft vom Heist-gone-wrong-Szenario zum sadistisch-schmierigen Women-in-Prison-Exploiter, dann zum nägelbeissenden Flucht-Thriller, bevor wir uns dann unnachgiebig in etwas begeben, was man wohl als ultraschwarze Slapstick-Komödie am Rande des Nervenzusammenbruchs bezeichnen könnte – und all das in nur knapp 95 Minuten!
Ja, DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN war der dichteste Film des Kongresses, vollgepackt mit eigensinnigen Figuren, kinnladerunterklappenden Situationen, teuflischen Intrigen, urkomischen Versteckspielen mit herumliegenden Leichen, herzzerreissender Tragik, blutgefrierenden Morden, überlebensgroßem Melodrama und fetzigen Frau-zu-Frau- sowie Frau-zu-Mann-Kämpfen. Vieles davon einfach aufzusummieren ist an sich nicht so schwierig, aber Rolf Olsen, dessen BLUTIGER FREITAG letztes Jahr eine restaurierte Auferstehung erlebte (und von vielen als Meisterwerk des „unterschlagenen“ deutschen Films gefeiert wurde – meine Sichtung steht noch aus), schafft es, all diese disparaten Elemente zu einer untrennbaren Einheit zusammenzubringen. So wie ich es eben beschrieben habe, klingt DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN möglicherweise wie eine reine Nummern-Revue: er ist es nicht, sondern wesentlich mehr – ein von A bis Z perfekt durchkomponierter Film. Perfekt, ohne konstruiert zu wirken, sondern sehr organisch. Wie eine wilde Achterbahnfahrt, die zwischendurch wirkt, als wären eben sämtliche Schutz- und Sicherheitssysteme durchgebrannt (während im Hintergrund der Fahrgeschäft-Leiter Olsen alle Hebel sicher in der Hand hat).
DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN ist voll mit kleinen Leckerbissen, die das Herz des Exploitationfreundes höher schlagen lassen. In den knapp zehn bis fünfzehn Minuten, die im Gefängnis spielen, gibt es lesbische Anzüglichkeiten satt, eine Folterung mit heißem Wasser und nicht zuletzt eine Direktorin namens Nipple (sic!), die in S&M-mäßiger Aufmachung dominant herumstolziert... Später, im Rasthaus, veranstalten die grausamen Puppen, angezogen in ihren besten Négligés, eine wilde, alkoholgeschwängerte Feier, während die Leiche des ermordeten Rasthausbesitzers unter dem Tisch bereits langsam abkühlt.
Wie sehr Olsen alle Register zu ziehen weiß, zeigt sich aber nicht zuletzt in den zahlreichen Nebenfiguren, die den Film bevölkern. Dazu gehören eine alte, neugierige Frau aus dem naheliegenden Dorf mit einem kleinen, recht aufdringlichen Hund und ein Übernachtungsgast, der sich als spießiger Geizhals entpuppt – eigentlich grobe Klischees, mit dicken Pinselstrichen gezeichnet, aber in der Art, wie sie dargestellt und gezeigt werden doch hochlebendige Charaktere. Gänzlich unerwartet war aber die Figur der Millionärin Oland, die die grausamen Puppen entführen wollen, um von ihrem Ehemann Lösegeld zu erpressen. Es wird angedeutet, dass die gute Frau (herausragend gespielt von Margot Trooger) geistig leicht verwirrt ist. Tatsächlich scheint sie unter Gedächtnisstörungen und einem schweren Verlust des Realitätssinns zu leiden. Wie leicht wäre es gewesen, sie zu einer Witznummer zu machen. Bei einer ihrer täglichen Besorgungen geht sie zum Friedhof, und besucht das Grab ihres Sohnes, der mit sieben oder acht Jahren starb. Hier wird schmerzlich klar, dass das keine „Neurose“ ist, sondern dass die gute Frau es nicht geschafft hat, mit ihrer Trauer umzugehen. Wenn sie mit dem Grabstein spricht und ihm zum Geburtstag ein schönes Fahrrad verspricht, erreicht DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN eine gänzlich unerwartete Tragik und ein tiefes Verständnis für eine Frau, die mit inneren Dämonen kämpft. Lachen, Jubilieren, Freude über die exploitativen Schauwerte, Thrills, existentielle Tragik und Zärtlichkeit (wenn sich die entflohenen grausamen Puppen etwa in einem geschlossenen Kaufhaus nächtens ihrer Häftlingskleidung entledigen und sich wieder schön machen) gehen Hand in Hand. Das Lachen, das im Hals stecken bleibt. Schockierende Grausamkeit, gefolgt von einem harmlosen kleinen Witz. Wie Olsen spielend leicht mit Atmosphären jongliert erinnerte mich ein bisschen an die späten Filme Robert Aldrichs.
Ungeachtet von Olsens Talent für eine punktgenaue Regie – ohne Essy Perssons unbändige Energie würde der Film wohl nicht so gut funktionieren. Sie, die Betty verkörpert, die grausamste aller Puppen, mit einem leicht irren Blick, einem zu allem entschlossenen Ausdruck im Gesicht, einer fast berstenden körperlichen Anspannung...
Die Besucher des Hofbauer-Kongresses hatten das rare Privileg, DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN in der originalen, ungekürzten Kinofassung zu sehen, in einer übrigens wunderschönen Kopie. Der Film fiel später Schnitten zum Opfer, die heute erhältliche DVD enthält nur eine geschnittene Fassung, die wohl auch im Fernsehen läuft. Mit anderen Worten: eine Kampagne à la „Rettet die grausamen Puppen“ wäre nicht verkehrt, und wäre sich zumindest meiner Unterstützung sicher (und der zahlreicher anderer HK-Besucher bestimmt auch).


Epilog: Holt uns der Tod doch ein?

Bevor die Projektion von DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN begann, gab es eine längere Ankündigung. Der Hofbauer-Kommandant Christoph, auch Hauptorganisator und gute Seele dieser großartigen Veranstaltung, kündigte an, dass die Zukunft des Hofbauer-Kongresses in der jetzigen Form gefährdet sei. Das liege zum einen daran, dass das eine ehrenamtliche Veranstaltung ist, organisiert unter selbstloser Selbstausbeutung ehrenamtlicher Organisatoren, die natürlich auch an ihre Grenzen kommen. Das liegt aber wohl vor allem auch daran, dass 35mm-Kopien durch ihre zunehmende Musealisierung immer schwieriger zu besorgen sind, Filmarchive die Filme immer seltener herausgeben (vielleicht gerade auch für nicht-offiziöse Veranstaltungen?).
Im Anschluss sprach Konstantin von Forgotten Film Entertainment (das Label, das JEUNESSE PERDUE aka DER PERSER UND DIE SCHWEDIN herausbrachte – Manfred berichtete) und erzählte von der Idee, dass man Filmrestaurationen für vergessene, unterschlagene Filme vielleicht durch eine Art Abonnement-Modell finanzieren könne. Wie das konkret aussehen könnte, könnte man noch schauen. Er empfahl, regelmäßig mal auf der Website von Forgotten Film Entertainment zu schauen. Ich finde die Idee prinzipiell gut, würde das entsprechend meinen Möglichkeiten sicherlich unterstützen und bin mir relativ sicher, dass viele andere Besucher des Hofbauer-Kongresses das ähnlich sehen.
Nun ja... vielleicht wird das 35mm-Kino sterben. Und mit ihm auch zahlreiche großartige, wunderbare, wahnsinnige, unglaubliche Filme. Aber es wird auf jeden Fall Menschen geben, die das ernsthaft betrauern werden...

Bevor das allerdings geschieht: ein riesiger Dank an die Organisatoren, für die tollen Filme, für die unermüdliche Begeisterung, für die logistische Meisterleistung, so viele schöne Filmkopien zusammen zu bringen – und sie mit weiteren Filmnarren zu teilen. Ihr seid großartig und wir lieben euch!

Freitag, 2. Februar 2018

Unterstützt Terza Visione, das Festival des italienischen Genrefilms!

Vom 26. bis 29. Juli findet im Frankfurter Filmmuseum das 5. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms statt.

Die Veranstaltung ist in Deutschland in vielerlei Hinsicht einzigartig, weil sie einen Bereich der Filmgeschichte erschließt, der entweder sehr beschränkt wahrgenommen (allenfalls Sergio Leones Westerns und die Hill-Spencer-Filme) oder nicht ernst genommen wird oder vielleicht mal peripher in einem Quentin-Tarantino-Interview überlesen wird – und diese Erschließung konsequent im mittlerweile historischen Medium des 35mm-Films betreibt.
Ganz simpel gesagt (und das wage ich nach nur einem Besuch so zu schreiben): Terza Visione ist einfach absolut großartig. Das Programm ist extrem gut kuratiert und abwechslungsreich. Ein kleines italienisches Filmparadies am Main für vier Tage. Ein echtes Festival für Filmleidenschaftliche – von Filmleidenschaftlichen organisiert.
Und genau da stößt die Veranstaltung auch auf ihre Grenzen: sie wird mit wenig Budget von Ehrenamtlichen organisiert, die das „nebenbei“, unter sehr stressigen, weil personell unterbesetzten und finanziell begrenzten Bedingungen machen. Damit das Festival die Ressourcen bekommt, die es verdient, braucht es natürlich ein größeres Budget, und deshalb hat sich das Orga-Team für die kulturMut-Kampagne für Kulturprojekte im Rhein-Main-Gebiet beworben. Es ist eine Kulturförderung, die mit Crowdfunding verknüpft wird. Wenn genug zahlungswillige Unterstützer für das Projekt zusammen kommen, wird es von kulturMut gefördert.

Wenn ihr, werte Leser, Terza Visione finanziell unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier tun:
Es gibt acht verschiedene Unterstützungsoptionen. Wer das Festival sowieso gerne besuchen würde, sollte gleich eine Dauerkarte auf der Seite bestellen.

Teilt den Link fleißig mit euren film- oder auch italienbegeisterten Freunden.
Teilt den facebook-Post des Festivals zu der Sache: https://www.facebook.com/terzavisione/posts/699070940481411

Wer noch zweifelt, den kann der Mitbegründer und Co-Chef des Festivals vielleicht besser überzeugen:



Wer mehr über das Terza Visione erfahren möchte, findet auf der oben genannten startnext-Seite beim Punkt „Worum geht es in dem Projekt?“ einige Links zu Besprechungen vergangener Ausgaben (darunter meinen Text zur vierten Ausgabe). Besprechungen zu einzelnen Filmen gibt es noch hier bei „Remember it for later“. Auf „Hard Sensations“ wurde gar jede bisherige Ausgabe des Festivals besprochen (No 1, No 2, No 3, No 4).

Sonntag, 28. Januar 2018

„Gefühl ist die gefährlichste Schmuggelware“: Euphorien vom 17. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (Erster Teil)

Vorwort

„Du solltest unbedingt mal zu einem Hofbauer-Kongress kommen!“ – sagte mir ein Eskalierender Träumer im Sommer 2017 während des Terza Visione. Viel hatte ich über diese ominöse Veranstaltung gelesen, ich war mir nicht so sicher, ob das wirklich etwas für mich ist, aber meist schwankten die Eindrücke von Menschen, die darüber schrieben, irgendwo zwischen Euphorie und Ekstase. So ging es also für mich gegen Ende meines verlängerten Weihnachts- und Neujahr-Urlaubs in Richtung Nürnberg.
Um es vorweg zu nehmen: Ich kam, sah und jubilierte...


Prolog: „Morituri te salutant!“

Der Hofbauer-Kongress in seiner jetzigen Form widmet sich nicht nur dem abseitigen, unterschlagenen, verfemten Kino, sondern auch einem todgeweihten Modus der Filmvorführung, nämlich der 35mm-Projektion. Statt eines längeren Vortrags über den Tod des analogen Kinos gab es...

Donnerstag, 4. Januar, ca. 14.30 Uhr

CINEMA FUTURES
Regie: Michael Palm
Österreich / Indien / Norwegen / USA 2016 (DCP)
Das analoge Kino stirbt – oder wird es gestorben? Eine assoziative Spurensuche, unter anderem im Gespräch mit Filmemachern und Restaurateuren.
Am 14. August 2012 sah ich TED von Seth MacFarlane im Weimarer CineStar in einer 35mm-Kopie. Das war wahrscheinlich der letzte, aktuell gestartete Film, den ich in einem Multiplex-Kino auf echtem Film sah. Beim Programm-Kino dauerte das Verschwinden einen kleinen Tick länger: Danny Boyles TRANCE lief am 1. September 2013 im Weimarer Lichthaus noch in einer wunderschönen Kopie durch einen Filmprojektor. Das sind jetzt knapp über fünf bzw. vier Jahre her. Das ist eigentlich nichts, aber oft fühlt es sich wie vier bis fünf Jahrhunderte an.
CINEMA FUTURES erforscht unter anderem, was in diesem „halben Jahrtausend“ passiert ist. Als aggressiv-polemisch kann man seinen Duktus kaum bezeichnen, aber es ist schwer, nach der Sichtung des Films die Digitalisierung des Kinos nicht als Generalangriff großer Hollywood-Studios zu sehen, die ihre eigene Monopolstellung noch nachhaltiger festigen wollen (wobei „nachhaltig“ hier im Grunde das falsche Wort ist). Fünf „Jahrhunderte“ später müssen wir feststellen, dass Vielfalt in der Kinolandschaft verloren gegangen ist. Multiplexe werden immer mehr zu reinen Event-Veranstaltungen, Programmkinos immer mehr zu einem Ort, wo für Filme außerhalb des „Arthouse-Mainstreams“ kein Platz mehr ist. Die Bastionen, die gegen die Alles-oder-Nichts-Digitalisierung kämpfen, sind eher Ausnahmen zur Regel: Christopher Nolan, einer der Interviewpartner im Film, wehrt sich lautstark gegen das Verschwinden des Films. Er sei nicht gegen das digitale Kino, sondern für die Wahlfreiheit (mit seiner Prominenz kann er es sich natürlich „leisten“, seine Werke auf Film zu drehen).
Und dann das Sterben. Wir sehen in CINEMA FUTURES Eindrücke aus einem Restaurationswerk der Eastman Kodak Company. Manche Filme, die dorthin gelangen, werden „Pucks“ (wie die Dinger beim Hockeyspiel) genannt: man nimmt sie aus der Dose, kann mit einem Hammer draufschlagen, wie man möchte – sie bleiben fest, weil sie zu einer ultrakompakten Masse geworden sind. Bei einer anderen Dose zerfällt der Film hingegen schon nur beim Draufgucken. Der Restaurateur kippt die Brösel aus der Dose, wischt sie von der Tischkante nonchalant auf die Hand und dann ab damit in eine große blaue Tonne. Das sei eben Original-Negativ von Georges Méliès‘ LE JUIF ERRANT gewesen, erklärt er beiläufig. Auch das ein Teil seiner Arbeit: feststellen, dass ein Film unwiderruflich tot ist, und ihn dann sang- und klanglos „beerdigen“. Hinzu kommt dann noch ein großes moralisches Dilemma: jede Entscheidung zur Restaurierung eines Films sei zugleich auch ein Todesurteil für drei bis vier andere Filme.
Und dann der Verlust: die digitale Restaurierung ist auch stets eine ganz bestimmte Interpretation eines Films. Jeden „Dreck“ beseitigen? Was ist, wenn einiges vom „Dreck“ Teil des Negativs ist. „Saubermachen“ ohne Verluste? Ein kleiner Bildausschnitt mit Vorher-Nachher-Vergleich bei TAXI DRIVER zeigte, was eine übergründliche digitale Restauration auch anstellen kann: die Konturen des Taxis verschwinden, Robert De Niros Gesicht wird hinter der Windschutzscheibe unkenntlich.
(No) CINEMA FUTURES? Der Film stimmt auf jeden Fall pessimistisch. In den kommenden Jahren müssen wir befürchten, dass unzählige Filme sterben werden. Ganz gleich, ob sie analog sind (und aufgrund der „Jahrhunderte alten“ Technik nicht mehr angefasst werden) oder digital – und dann nicht mehr lesbar sind, weil digitale Technik für Standardisierungsprobleme anfällig ist und Aberdutzende Updates am laufenden Band (pun slightly intended) braucht.
Beim Hofbauer-Kongress wie auch bei anderen Festivals zeigt sich: 35mm-Kino stirbt nicht aus. Nicht komplett. Zumindest noch nicht. Das ist positiv und doch bleibt ein bitterer Nachgeschmack: mehrere Dutzende Leute treffen sich in Nürnberg, um verfemtes Kino in mehr oder minder glanzvollen 35mm-Kopien zu schauen. Das geht gleichzeitig Hunderttausenden, ja gar Millionen – mit Verlaub – vollkommen am Arsch vorbei. Millionen, die sich nicht dafür interessieren, dass die Vielfalt des Kinos verloren geht, für die Filmgeschichte bis THE LORD OF THE RINGS reicht (wenn überhaupt!) und für die die „Zukunft des Films“ bedeutet, die nächste Staffel von THE WALKING DEAD oder von GAMES OF THRONES zu schauen oder die supertolle neue „Qualitätsserie“, die nächste Woche bei Netflix oder Amazon Prime anläuft – wobei nach „Gebrauch“ das Gesehene „gespoilt“, also verdorben ist und daher weggeworfen gehört. Was man mit „Restaurierung/Bewahrung/Pflege alter Filme“, meint, dürfte ein imaginärer Außerirdischer oftmals sogar besser verstehen als manch ein Mitmensch.
Ein Film lebt erst dann, wenn er Zuschauer hat – so eine französische Befragte im Film (war es Nicole Brenez?). Für die Dauer des Hofbauer-Kongresses wurde der bittere Nachgeschmack von CINEMA FUTURES jedenfalls von einer ungeheuren Lebendigkeit, von einer frischen (wenn auch manchmal leider essig-aromatischen) Brise analogen Kinos weggeweht.



Ernst Hofbauer und seine wackeren Gefährten


ca. 17.30 Uhr

DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN
Regie: Ernst Hofbauer
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1965
CIA-Agent Mike Scott (Stewart Granger) ermittelt in Hongkong im Fall eines ermordeten Kontaktagenten und soll dabei auch noch eine Schmugglerbande um Pierre Milot (Sieghardt Rupp) auffliegen lassen. Mehr oder weniger behilflich sind ihm dabei die Agentin Carol (ausgesprochen: Kähroll – Rosanna Schiaffino) und der trinkfreudige Smoky (Harald Juhnke). Doch Achtung! Ein äußerst tödlicher Killer mit stets gut angefeuchteter linker Geheimratsecke (Horst Frank) ist Mike auf den Fersen.
Eine große Ansammlung vieler kleiner Freuden kann sehr viel Glück bereiten! Im Programmheft wurde DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN als eher untypischer Hofbauer-Film angekündigt. Wer bin ich, um den Hofbauer-Kommandanten zu widersprechen – mir ist aber dennoch eine starke strukturelle Ähnlichkeit aufgefallen zu seinem früheren TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X (den ich hier schon besprochen habe): das fadenscheinige Drehbuch nutzt Hofbauer als Grundlage für eine detailverliebte Ode an kleine Verrücktheiten. Pure Kinofreude! Noch jede so triviale Szene wird mit einem kleinen Einfall, einer schönen Idee, einem hingereimten Witz, einer verblüffenden Irritation, einer poetischen visuellen Komposition angereichert. In anderen Filmen stehen Figuren klotzig herum und wickeln einen Expositionsdialog nach dem anderen ab und im Gespräch mit anderen Zuschauern erfuhr ich später, dass deutsche Hongkong-Filme teils nervenzerfetzende (oder im Kongress-Jargon: stählerne) Geduldsproben sein können. Hier gibt es allerdings in jeder Szene, in praktisch jedem Bild irgendetwas Denkwürdiges.
Wie viele Agentenhelden werden beim völlig selbstvergessenen Spiel mit einer Modelleisenbahn in den Film eingeführt? Stewart Granger, mit Zigarettenspitze im Mund, im Bademantel, rangiert zwei Züge aus verschiedenen Richtungen in seinen Zielbahnhof – der eine trägt ein Whisky-Fläschchen, der andere eine kleine Flasche Sodawasser in einem Waggon. Als er sich gerade seinen Drink daraus mixt, wird er unterbrochen von einem Anruf und ist davon sichtlich nicht begeistert. Mike Scott ist im Urlaub, muss diesen abbrechen und sein Unmut darüber zieht sich durch den ganzen Film: immer wieder merkt man ihm an, dass er gerade keine Lust auf seine Arbeit hat und sich lieber an der Figur seiner Agenten-Kollegin Carol oder an einem steifen Drink ergötzen möchte. „Und was machen Sie eigentlich in der Zwischenzeit?“ fragt Smoky den CIA-Agenten, als dieser ihn mit einem Auftrag wegschickt. Er müsse sich erst einmal erholen und sich danach auf das nächste Anstehende vorbereiten... Alles klar!
Mike Scott und Smoky... Im Grunde das schönste Pärchen im ganzen Film. Smoky erfährt eine ebenso denkwürdige Einführung wie Mike: er sitzt bei einem Open-Air-Friseur und lässt sich gerade das Haar schamponieren. Als Mike ihn trifft und sogleich zum Partner-in-Anti-Crime machen möchte, fackelt Smoky nicht lange rum. Das Haar wird gar nicht erst ausgewaschen, sondern notdürftig mit einem Handtuch abgewedelt und mit schaumiger Igelfrisur chauffiert er Mike erst mal wohin. Mike und Smoky – aus dem Zwischenspiel der beiden zaubert Hofbauer eine Art kleine Sub-Screwball-Komödie innerhalb der Agentengeschichte. Da fliegen die One-Liner wie Pingpongbälle hin und her. Da entwickelt sich nach und nach eine beidseitige platonische Liebe. Als Smoky einmal draußen Schmiere steht und Carol in der Höhle des Löwen Mike ganz eindeutige Angebote macht, entscheidet sich der ergraute CIA-Agent dazu, Smoky warten zu lassen und sich die schöne Zeit mit Carol zu gönnen – allerdings musste er sich das erst einmal ganz gründlich überlegen. Mike und Smoky – Stewart Granger und Harald Juhnke zusammen zu bringen war aber auch echt ein toller Besetzungscoup!
DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN explodiert vor Freude an lauter Kleinigkeiten. Ein Scherge, der sich als blinder Bettler tarnt und dann kurz vor dem Attentat eine Pistole aus seinem Blindenstock holt. Milot, der im Gespräch mit seinem Killer Nummer 1 ein Flaschenbier in der Hand hält und die Flasche hört einfach nicht auf, Schaum zu sprudeln, so sehr Sieghardt Rupp ihn auch immer wieder irritiert wegwischt. Horst Frank, so brutal charismatisch wie eh und je, der immer wieder einen Finger anleckt und sich dann die linke Geheimratsecke kurz massiert. In einer Nachtsequenz ist er einmal nur als tiefschwarze  Silhouette zu sehen – aufmerksame Zuschauer erkennen in den sich bewegenden Umrissen, dass er sich gerade wieder die Geheimratsecke anfeuchtet.
Natürlich ist DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN ein James-Bond-Film-Abklatsch, mit einem leicht altherrenschmierigen Granger als 007-Verschnitt (er ist 26 Jahre älter als seine Filmpartnerin – den Altersunterschied und die Altherrenschmierigkeit hat Roger Moore später bei seinem letzten 007-Auftritt in A VIEW TO A KILL allerdings noch getoppt). Manchmal ist der Abklatsch, die Kopie, der Verschnitt oder wie man es auch nennen möchte, besser als das zeitgenössische Original. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass ich die Bond-Filme Terence Youngs sehr mäßig bis unerträglich finde, sondern auch damit, dass DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN einfach rasanter, unterhaltsamer, überraschender, verblüffender und lustiger ist. Und im Grunde mit seiner stets sicheren, flüssigen und eleganten Kameraführung auch besser aussieht. Mit Riz Ortolani als Komponisten gibt es dabei auch immer etwas schönes für die Ohren.


ca. 21.00 Uhr

IMMER WENN ES NACHT WIRD
Regie: Hans D. Bove
Bundesrepublik Deutschland 1961
Bobby (Jan Hendriks), der Sohn eines renommierten Arztes, führt ein ausschweifendes Leben voller rauschhafter Partynächte. Dabei steckt er sich mit Syphilis an und reicht die Krankheit prompt weiter, unter anderem an die Gelegenheitsprostituierte Elke (Hannelore Elsner) sowie an die feierwütige Kitty. Das Melodrama zieht immer mehr Kreise und involviert schließlich den Assistenzarzt Harald (der am Anfang auch Kittys Verlobter ist) und die Assistenzärztin Karin.
„Ein miserabler Film, dilettantisch in seiner Machart“ – so urteilt das immer wieder im negativen Sinne zuverlässige Lexikon des internationalen Films. Das ist natürlich vollkommener Humbug, denn auch wenn IMMER WENN ES NACHT WIRD mich nicht zu Begeisterungsstürmen animiert hat, so ist er doch ganz offensichtlich ein extrem minutiös inszenierter Film mit einem meisterhaft umgesetzten Drehbuch.
Die Inhaltsangabe eben ist wesentlich geradliniger, als der Film es eigentlich hergibt. Es gibt so gut wie kaum Exposition: jede Figur wird in media res präsentiert, und zwar wirklich immer genau da, wo sie sich befindet. Wir sehen die Menschen zuerst, und während der Film läuft, lernen wir sie, ihren sozialen Stand, ihre Beziehungen, ihre Probleme, ihre Gefühlswelt nach und nach kennen. Anzeichen von Wirkungen werden gezeigt, bevor man sich Ursachen überhaupt irgendwie zusammenreimen kann. So wirkt IMMER WENN ES NACHT WIRD unglaublich dicht und konzentriert, obwohl er dabei keiner konventionellen Erzähldramaturgie folgt (und im Grunde auch keine Hauptfigur hat).
Bobby ist, mit Verlaub, ein schmieriges, niederträchtiges Arschloch, der Frauen verführt und dann wegwirft. Er will natürlich die respektable Assistenzärztin Karin verführen, fährt sie nach einer der vielen Parties nach Hause und fingiert zwischendurch eine kleine Übelkeit am Steuer – so dass sie ihn zu seiner Wohnung fahren muss. Ein billiger Trick, bis wir schließlich merken, dass ihm tatsächlich übel ist (und das ist auch das erste Anzeichen dafür, dass er ernsthaft krank ist – ein gutes Drittel des Films ist da soweit ich mich erinnere schon vorbei). Aus dem Schmierbatzen wird so plötzlich ein bemitleidenswerter Mensch, der sich ehrlich in Karin verliebt hat und sich nach und nach nicht nur als verantwortungsloser Nichtsnutz, sondern auch als Opfer seiner Obsessionen und seines sozialen Standes erweist. Karin ist es schließlich, die Bobby allen Erwartungen widersprechend Avancen macht, aber er muss gewaltsam verzichten. Der aufrechte, ehrliche Harald, der zu Beginn als schwer arbeitender Assistenzarzt präsentiert wird, der im Gegensatz zu Bobby und seinen Party-Kumpanen mangels gut betuchten Elternhauses ein asketisches Leben führen muss, bekommt gleich zu Beginn Hörner von seiner Verlobten aufgesetzt. Ein klassischer Saubermann – der sich nach und nach als Heuchler erweist, mit einem ungeheuer aggressiven und sehr abstoßenden Besitzanspruch gegenüber Frauen: sei es seine Verlobte und dann Ex-Verlobte Kitty, sei es Karin, die er rasch für eine „Alternativ-Verlobung“ auserkoren hat. Die Avancen der jungen, sexuell vollkommen ausgehungerten Ehefrau seines Chefs ignoriert er aber... IMMER WENN ES NACHT WIRD ist ein schwieriger Film voller schwieriger Menschen.
Es ist auch ein Film über eine junge Frau, die der Enge ihres unterprivilegierten Elternhauses entflieht, sich durch Gelegenheitsprostitution ein kleines Zubrot gewinnen möchte, von einem desinteressierten Freier angesteckt wird und schließlich in ein Irrenhaus gesteckt wird, wo Frauen mit Geschlechtskrankheiten in der glänzend wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik entsorgt werden, um schließlich nach einem Selbstmordversuch elendig zu sterben. Elke ist nicht die Hauptfigur von IMMER WENN ES NACHT WIRD (der Film hat sowieso keine), aber sie ist vielleicht der Anker (?) des Geschehens. 15 Jahre nach Ende des Dritten Reichs jung sein, eine Frau sein, arm sein und dadurch zu einem nicht-respektablen „Lebenswandel“ gezwungen zu werden, das war nicht zum Feiern... Dabei wird in IMMER WENN ES NACHT WIRD viel gefeiert. Peer Tellmann, Sohn eines reichen Wurstfabrikanten (der nach dem Krieg sein Wurstimperium als Schmuggler und Schieber aufgebaut hat, wie man in einem kurzen Nebensatz erfährt) richtet regelmäßig große Parties, die zu später Stunde gerne zu Orgien werden, aus, zu denen möglichst viele hübsche Mädchen eingeladen werden, denen er dann beim Feiern stets auf etwas doppeldeutige Weise „Tellmann-Würstchen“ anbietet – die Buffetverköstigung besteht aus Bergen, gar riesigen Eimern von Würsten aus Papas Wurstfabrik.
IMMER WENN ES NACHT WIRD hat meine Wahrnehmung dessen, was ein Matching Cut sein und tun kann, für immer und ewig geändert. Während Elke nach einem Selbstmordversuch operiert wird, gibt es wieder eine Feier, für die Tellmann die Verköstigung arrangiert hat. Beide Stränge werden verschlungen. Die Operation wird immer dramatischer, die Feier immer ausgelassener und wilder. Schließlich sehen wir einen Eimer am Boden des Operationssaals, in den der Arzt blutige Tupfer hineinwirft. Schnitt zur Party, auf einen Eimer, aus dem die Würste herausquellen. Einer der härtesten Magenschläge, die es beim Kongress zu bekommen gab. Die absolut göttliche Geschmacklosigkeit dieses Schnitts steht außer Frage, seine Wirkung schmettert direkt in Leib und Seele. Das Abfeiern der gutbetuchten Wirtschaftswunder-Gewinner und das elendige Sterben der sozio-ökonomischen Außenseiter, die nicht dazu gehören – zusammengefasst in einer simplen Zusammenführung zweier unvergesslicher Bilder...

Hannelore Elsner war übrigens ein oder zwei Tage später im Nürnberger Filmhaus zu Gast, anlässlich der Edgar-Reitz-Retrospektive, die parallel zum Kongress lief. Letzteres war immer wieder ein Quell von kleinen Witzen unter den Kongressniki: ob vielleicht der eine oder andere Reitz-Zuschauer sich in den falschen Saal verirren würde, zu einem japanischen Erotikfilm, einem New Yorker Schwulenporno, Ulli Lommels delirierenden Altherren-Alpträumen? Zugleich sah das eine Plakat der Retro, nämlich zu CARDILLAC (siehe hier) aus, als würde der Film zum Hofbauer-Kongress gehören. Hinzu kamen, wenn wir vor einem Saal aufgrund der Programmverzögerungen der Retrospektive warteten, kleine Wortwitze hinzu („Da überreitzt jemand die Zeit“).
Ein Co-Kongress-Besucher kam mit Hannelore Elsner dann auch ins Gespräch, aber darüber kann er selbst natürlich besser berichten.


ca. 23.30 Uhr

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU („Angel Guts: Red Classroom“)
Regie: Sone Chusei
Japan 1979
Der Pornograf Tetsuro verliebt sich bei der Sichtung eines Vergewaltigungspornos in Nami, die „Hauptdarstellerin“ des Films (der tatsächlich nicht gespielt ist). Als er sie schließlich trifft, beginnt eine schwierige Liebe.
Der japanische Erotikfilm ist nichts, womit ich mich gut auskenne. Einige Blogger-Kollegen und Filmautoren schwärmen immer wieder von einem Genre, das gerade auch innerhalb der großen Filmstudios Platz bereit hielt für bilderstürmerischen Wahnsinn und eine völlig entfesselte Experimentierlust. Bei bislang zwei „klassischen“ Vertretern des Genres spürte ich nichts davon – bei TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU umso mehr.
Bereits der Anfang legt im Grunde alles vor, was den Film im weiteren Verlauf auszeichnen wird. Eine Frau wird in einem hässlichen, kalten Gebäude von Männern verfolgt, schließlich vergewaltigt. Das ganze ist in einem frostigen Blau gehalten, untermalt von einer kakophonischen elektronischen Musik. Dann plötzlich wird klar, dass das ein Film im Film ist: Männer sitzen in einem improvisierten, ungemütlichen Kinosaal und gucken sich, je nach Gesicht aufgegeilt oder völlig hypnotisiert, einen Vergewaltigungsporno an... TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU ist voll von Männern, die auf fotografische oder filmische Aufnahmen von Frauen schauen; er spielt in einer kalten, abstoßenden, abwechselnd zugemüllten oder gähnend leeren Stadt; der Sex ist gewalttätig, chaotisch, roh, grotesk, oft dezidiert unsexy; die Gefühlsachterbahn wird von einer jeweilig passenden Farbdramaturgie und aufrüttelnden Bild- und Ton-Montage begleitet.
Einige unvergessliche Bilder... Die beiden liebenden Protagonisten unterhalten sich in einer langen, langen, unendlich langen statischen Sequenz über ihre Beziehung und das Leben. Sie sind als winzige Figürchen in einer Stadtlandschaft zu sehen, deren Lärm aus Straßenverkehr ihre Worte fast verschluckt.
Oder nachdem Tetsuro sein Date mit ihr verpasst, weil er verhaftet wurde und Nami nach Monaten Suche endlich in einer schäbigen Bar wiederfindet. Betrunken torkelt er hinein, versucht mit ihr zu reden, aber das hat keinen Sinn. Ton und Bild setzen immer wieder in kurzen, alles verzerrenden Reissschwenks aus. Communication Breakdown. (hier zu sehen).
Und natürlich diese furchterregende, qualvoll lange Sexszene. Nami, schwer enttäuscht, dass Tetsuro sie versetzt hat (nicht wissend, dass er verhaftet wurde), bandelt in einer Bar mit dem Erstbesten an. Es handelt sich offenbar um einen biederen, unangenehm betrunkenen Geschäftsmann und beide nehmen sich gleich ein Hotelzimmer. Einen Teil der ersten Sex-Runde zeigt der Film in horizontal rotierenden Spiegeln verzerrt. Das sieht auf der großen Leinwand, zumal TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU auch ein grandioser Cinemascope-Film ist, absolut verblüffend aus. Ein wenig später sehen wir einen vollkommen verzerrten POV von ihr auf ihren One-Night-Stand: es handelte sich wohl um Namis von Wahnsinn verzerrte Perspektive. Nach Vollzug ist der biedere Geschäftsmann erst mal müde, doch sie lässt nicht von ihm ab, zerrt ihn, der nach jeder weiteren Runde zunehmend erbarmungswürdiger versucht, wegzukriechen, immer wieder zurück. Groteske Bilder, bei denen das Lachen immer wieder im Hals stecken bleibt.
Und schlussendlich diese absolut niederschmetternde Erkenntnis bei Tetsuro und beim Zuschauer, als klar wird, dass Nami wohl den Verstand verloren hat: Tetsuro verspricht ihr ein neues Treffen, aber wozu braucht sie ein neues Treffen – sie wartet nach eigener Aussage immer noch auf ihn... Im Kern ist TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU ein rührendes Melodrama, eine herzzerreissende Romanze über zwei kaputte Menschen. Ein ganz großer, tragischer Liebesfilm.
Einen ziemlich guten Amateur-Trailer zu dem Film gibt es hier zu sehen.

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU war der beste Film des Tages und eigentlich ein idealer Abschluss für einen ersten Festivaltag. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit und einer sogar noch weiter fortgeschrittenen Müdigkeit ließ ich das darauf folgende „Überraschungsprogramm“ sausen. Das sollte ich sehr schwer bereuen, denn erstens konnte ich in meiner Unterkunft weit über zwei Stunden lang nicht einschlafen, zweitens gab es als Überraschung wohl eine digitalisierte VHS-Fassung des italienisch-türkischen Mafiafilm QUEI PARACUL... PI DI JOLANDO E MARGHERITO zu sehen, über den einige Kongressniki sich am nächsten Tag recht begeistert äußerten.


Freitag, 5. Januar, ca. 15.00 Uhr

Der zweite Tag beginnt mit dem traditionellen „StÜF“, dem „stählernen Überraschungsfilm“. Das italienische Genre-Kino, so Christoph in seiner wunderbaren Einführung, habe nur wenige Subgenres hervorgebracht, die derartig extrem waren wie...



... die Militärkomödie!

Mein Sitznachbar, im Gegensatz zu mir wahrscheinlich kein Hofbauer-Kongress-Neuling und sicherlich auch ein besserer Kenner dieses Subgenres, bricht stöhnend fast komplett zusammen, als er das hört, bleibt aber dennoch tapfer sitzen.
In der zweiten Reihe weiter vorne wird ein kleiner Glas-Flachmann zwecks Einölung des Humorzentrums im Gehirn rumgereicht, ein Zuschauer mit militärischem Amt lockert seine Uniform. Feuer frei für...


IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE („Der Divisionstrottel“)
Regie: Mariano Laurenti
Italien 1975
Feldwebel Pfeifenwichs (auf Italienisch „Rompiglioni“ – eine Abwandlung von „rompicoglioni, also in etwa: „Geht-auf-die-Eier“) erscheint eines schönen Morgens in einer NATO-Kaserne. Mit seinem fröhlich-grimassierenden Gemüt, seinem begnadeten Spürsinn zur Enttarnung von Spionen und seinem unverwechselbaren Talent, in jeder Situation stets die perfekten Worte zu finden, wird er bald zum großen „Liebling“ des Stützpunktes.
Nun ja... auf eine gewisse Weise muss man sich auf diesen Film einlassen. Wenn man die ersten zehn Minuten mit ihrem ultragroben, dämlichen Klamauk erst einmal so halbwegs überstanden hat – tja, dann kommt erst der richtige Härtetest in Form des Protagonisten Pfeifenwichs und der extremen Gesichtseskalationen seines Darstellers Franco Franchi (aus dem berühmten Komiker-Duo Franco & Ciccio – hier ohne Ciccio). Ab hier wird der Klamauk noch härter, erklimmt Gipfelstürme des Irrsinns. Da wird aus Versehen „Suppe“ aus dem Topf zum Auskochen der Bodenwischlappen probiert. Soldaten werden außerhalb des Stützpunktes bei Dates oder Schäferstündchen mit anderen (weiblichen) Soldaten verfolgt – und entpuppen sich dann als Vorgesetzte. Natürlich fliegen schlussendlich auch Torten in Gesichter und in einem chinesischen Restaurant bricht eine große Kungfu-Keilerei aus. Und zwischendrin Pfeifenwichs / Rompiglioni, der so schwer grimassierend wie auch vollkommen absolut überzeugt von sich selbst eine Katastrophe nach der anderen baut.
Am Ende haben die anderen Soldaten nicht nur die Schnauze, sondern auch noch wortwörtlich die Hose voll von Pfeifenwichs. Aus Versehen aktiviert der tollpatschige Feldwebel eine geheime Superwaffe, die der verrückte Wissenschaftler des Stützpunkts gebaut hat: eine Kanone, die hochgradig abführend wirkende Gasladungen abfeuert. Ob Mann oder Frau, General oder simpler Soldat, ob Italiener, Deutscher, Brite, Amerikaner oder Chinese: alle rennen wie um ihr Leben, um möglichst rasch irgendwo scheißen zu gehen... Das bringt das Faß zum Überlaufen, und Pfeifenwichs wird nach seiner Degradierung dann auch vom Stützpunkt verjagt.
IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE verbirgt durchaus, wie ich finde, eine dunkle Seite. Pfeifenwichs ist auf eine unangenehme Art ein Alltagsfaschist. Er ist ein Kriecher, ein Heuchler, ein bornierter Spießer, der keine Gelegenheit verstreichen lässt, um Personen, die in seinen Augen minderwertig sind (also hauptsächlich Frauen und rangniedrigere Soldaten), zu demütigen, belästigen, schikanieren und denunzieren. Bei einem seiner Angriffe gegen den Koch lässt er dessen Radio von zwei Militärpolizisten zerstören: sie beugen sich über den großen Gartopf, in dem das Gerät versteckt ist und schlagen es mit ihren Gewehrkolben kaputt. Der Aufbau der ganzen Szene ist witzig und grotesk, doch der Zerstörungsakt wirkt trotzdem bauchmäßig sehr unangenehm, fast ein wenig verstörend... Wäre IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE keine Komödie, läge eine vage Assoziation zum ersten Teil von FULL METAL JACKET in der Luft. Die zutiefst unsympathische Hauptfigur gibt Laurentis Film auch etwas unterschwellig Hartes.
Pfeifenwichs ist zudem auf völlig verblendete Art von seiner eigenen Überlegenheit überzeugt. Er lebt in einer kleinen Blase „alternativer Fakten“, die er selbst erschafft. Aber auf eine gewisse Weise ist IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE auch eine wunderschöne Utopie, weil Pfeifenwichs aus praktisch jeglicher Situation stets als totaler Depp hervorgeht.
Stählern? Ein bisschen vielleicht im letzten Drittel, aber möglicherweise lag das an der Müdigkeit. Doch irgendwie mochte ich IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE auch. Die Frage, ob beim nächsten Terza Visione vielleicht auch eine Militärkomödie laufen wird, stelle ich mir fast ein wenig hoffnungsvoll – ich weiß bloß nicht, ob die Betonung auf „fast“ oder „hoffnungsvoll“ liegt...


ca. 17.30 Uhr

SANTA („Santa – Sklavin des Lasters“)
Regie: Norman Foster, Alfredo Gómez de la Vega
Mexiko 1943
Die junge Santa verliebt sich in einen Soldaten, der sie schwanger stehen lässt. Der darauf folgende Abstieg führt sie geradewegs in ein Bordell, wo der blinde Hauspianist sich in sie verliebt. Santa härtet sich ab, nimmt sich reiche Freier, bis sie schließlich mit einem beliebten Stierkämpfer anbandelt. Ihr sozialer Aufstieg ist perfekt – aber natürlich doch fragil...
Wenn man mich fragt: SANTA war weniger überraschend, dafür aber stählerner als IL SERGENTA ROMPIGLIONI DIVENTE... CAPORALE. Es hat nicht geholfen, dass die deutsche Synchro kaum weniger selbst-vertrashend als beim vorherigen Film war, was bei einem schmachtenden Melodrama noch weniger passt als bei einer Klamaukkomödie.
Mein Lieblingsmoment ist das Kennenlernen zwischen Santa und dem Stierkämpfer. Das Set ist ziemlich interessant aufgebaut, mit Logen im ersten Stock für die Edlen und einer Art Bankett im Erdgeschoss, für die Anhänger des Matadors. Santa diniert gerade mit ihrem reichen Freier, während man im unteren Hintergrund die Feierlichkeiten um den Stierkämpfer sieht. Dann steigt sie herab, so dass man ab jetzt die edlen Logen im oberen Hintergrund sieht. Nachdem sie sich zu dem feiernden Bankett hinzugesetzt hat, folgt dieser fast schon obszöne Austausch von Blicken zwischen ihr und dem Stierkämpfer. Eine Leidenschaftsbande, geknüpft durch zwei Paar gierige Augen.
SANTA ist gespickt mit brutalen Ellipsen, die erst einmal verblüffend sind, fast Ozu‘esk. Allerdings hängt das sicherlich damit zusammen, dass die deutsche Kinofassung, die gezeigt wurde, um über 15 Minuten gekürzt war. So wirkte SANTA ziemlich „ruckelig“, auf nicht immer angenehme Weise. Auch die ausgedehnten, schmalzigen Gebetsszenen, die immer wieder saudämlichen Dialoge (aber auch hier wieder: Synchonfassung), die mäßig begeisternde Hauptdarstellerin machten es mir schwer, in den Film reinzukommen.  SANTA ist definitiv der Kongress-Film, der mir am wenigsten gegeben hat. Als schlecht könnte ich ihn guten Gewissens nicht bezeichnen. Vielleicht muss ich ihm mal eine zweite Chance geben – in einer vollständigeren Fassung.

Es gibt wohl nichts, was mich auf den kommenden Film irgendwie hätte vorbereiten können...

ca. 21.00 Uhr

DER ZWEITE FRÜHLING
Regie: Ulli Lommel
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1975
Der Boulevard-Journalist Fox (Curd Jürgens) heiratet überstürzt die wesentlich jüngere Krankenschwester Gertrud (Irmgard Schönberg). Statt eines ersehnten „zweiten Frühlings“ wird die Ehe für beide Partner zunehmend zur Hölle.
Wahnsinn... Wahnsinn! WAHNSINN!!!
DER ZWEITE FRÜHLING ist einer der verrücktesten, verblüffendsten, poetischsten, schwierigsten und schmierigsten und schönsten Filme, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Die unglaubliche visuelle Kreativität, die schambefreite Lust an der Provokation, das „Beflecken“ des Melodramas mit bizarren, grotesken Störfaktoren, die ehrliche Offenheit für das Peinliche, das Unschöne, das Perfide, das Verdrängte (wobei vieles davon im Grunde alltäglich ist): das alles lässt DER ZWEITE FRÜHLING wie von einem anderen Planeten erscheinen, auch wenn es sich eigentlich „nur“ um ein Melodrama über eine entfremdete Ehe handelt.
Schon in den ersten Bildern ist ein leichtes, unbehagliches Vibrieren, das einen ungewöhnlichen Film ankündigt: eine geheime Hochzeit auf einem Hügel vor Rom, im Hintergrund ein Panorama der Ewigen Stadt und der Petersdom. Und schon hier ein Störfaktor: Bekannte des Bräutigams stoßen, sichtbar zu dessen großen Unmut, dazu. Nach der sexlosen und bettgetrennten Hochzeitsnacht besucht dann eine Ex-Geliebte Fox‘, Maria, das Ehepaar und steigt wenig später zu Getrud in die Badewanne, streichelt sich und dann auch die Braut nonchalant, spricht über Selbstbefriedigung. Als hätte der Film einen kleinen Sprung und wir wären gerade im falschen Film gelandet. Eine Täuschung: DER ZWEITE FRÜHLING ist der richtige Film.
Wer daran zweifelt, wird spätestens dann eines Besseren belehrt, wenn wir völlig ohne Vorwarnung die Sauna besuchen. Das Bild: Curd Jürgens liegt entspannt auf einer Sitzbank neben einem Freund, mit dem er sich unterhält. Er hat die Beine locker übereinander geschlagen und sein Handtuch ist etwas zu kurz: wahrscheinlich haben nur wenige internationale Schauspiel-Stars ein so derartig freies Sichtfeld auf ihren Damm präsentiert. Ein bisschen weiter saunieren eine junge Dame und zwei junge Herren. Sie wird bald ihr Handtuch lüften, einem der beiden einen blasen und dann mit diesem oder dem anderen in aller Öffentlichkeit Sex haben. Fox‘ Freund erregt dieser Anblick in jeglicher Hinsicht. Er ist gleichermaßen geil und empört, äußert seinen Wunsch, der jungen Dame mal hinten einen reinzustecken. Leicht genervt hat sich Fox wieder in eine Sitzposition gebracht, antwortet sinngemäß „Dann geh doch hin und sag ihr das!“. Und dann kratzt er sich die Eier – mehr als ein Jucken scheint das eher eine totale Gleichgültigkeit auszudrücken. Da sein Freund den Rat nicht beherzigen will, geht Fox eben selbst als Bote zu der jungen Frau und sagt ihr in paraphrasierten Worten den Wunsch seines Freundes. „Warum nicht, aber erst will ich seinen Schwanz sehen!“. Gleichgültig kehrt Fox zu seinem Platz zurück – währenddessen ist sein kurzes Handtuch wieder etwas hochgerutscht und nonchalant kratzt er sich am entblössten Hintern. Dass die Dame bei einer zufrieden stellenden Gliedbetrachtung eventuell bereit wäre, seinen Wunsch zu erfüllen, glaubt der Freund gar nicht. „Vielleicht ein paar Scheine...“ – aber nein, das fände er sehr verwerflich, dafür zu bezahlen. Fox blickt die ganze Zeit so, als müsse er sich weiter irgendwo kratzen. Gegen geballte Heuchelei kann ein Kratzen an manchen Stellen mehr Erleichterung verschaffen als es jegliche moralische Predigt könnte...
Fox sitzt dabei aber eigentlich auch selbst im Glashaus. So verzichtsvoll die Hochzeitsnacht, so sehr tobt sich der sich selbst für geläutert haltende Don Juan mit seinem Überraschungsbesuch Maria aus. Das geschieht in Abwesenheit seiner Gattin, doch beide treiben es im Wohnzimmer so wild, dass sie irgendwann vor Müdigkeit wegnicken. Als Getrud nach Hause kommt, findet sie beide schlafend in, na ja, eindeutiger Position wieder: beide splitternackt auf einem Sofa, er über die Armlehne geknickt, mit seinem Kopf zwischen Marias Beinen (dieses unvergessliche Tableau gibt es – allerdings nicht in glorreichem Cinemascope – hier zu sehen). Schon nur für die Mischung aus Mut, Entschlossenheit und einer totalen Gleichgültigkeit gegenüber seinem „guten Ruf“ als Weltstar, die Curd Jürgens in DER ZWEITE FRÜHLING an den Tag legt, sollte man ehrfürchtig auf die Knie fallen. Ganz nach dem Motto: was Marlon Brando kann, kann ich besser und härter.
Das sind natürlich die ganz großen Schmier-Highlights des Films (na gut: ein Partnertausch, der ziemlich in die Hose geht, kommt gegen Ende noch dazu), aber DER ZWEITE FRÜHLING ist noch viel, viel großartiger: randvoll mit kleinen Irritationen und tollen Einfällen. Das extrem auffällige Kreuz, das Curd Jürgens an einer etwas zu langen Kette trägt (welches Kreuz muss Fox denn tragen?). Das Foyer oder Wohnzimmer mit dem riesigen Gemälde „großer“ Männer in Kampfrüstung, vor das sich Fox wahlweise alleine oder mit seiner riesigen Tigerdogge platziert (ich habe leider auf die Schnelle nicht erkennt, ob da reelle Persönlichkeiten portraitiert sind). Oder das Ende eines Gesprächs zwischen den beiden entfremdeten Eheleuten, gefilmt durch ein Aquarium: Jürgens geht eine Treppe hinunter, die parallel zum Aquarium steht und so sieht es aus, als würde er nach und nach in den Boden des Aquariums versinken – und dann schwimmt noch ein Fisch durch das Bild und Schönbergs Busen. Eine Jagd auf dem Land: Gertrud, die beim Anblick eines kleinen Schnitts im Finger vorher noch ohnmächtig wurde, knallt mit einem gezielten Schuss gnadenlos einen Fasan ab (LA RÈGLE DU JEU lässt grüßen). Fox, der in seinem schnittigen Cabrio nach Hause kommt, das Zellophan von einem Rosenstrauss abwickelt, kurz zögert und dann auf die Rückbank legt (im Gegensatz zum Zuschauer nicht ahnend, dass seine Frau gerade seinen lieben Hund kaltblütig ermordet hat). Fox, mittlerweile aus seiner Villa ausgezogen und in einem Herbergszimmer, einer „Künstlerbude“ wohnend, im Gespräch mit seiner Noch-Ehefrau – und plötzlich wird das Fenster durch den Wind aufgestoßen, und der Wind bläst einen Kerzenleuchter aus: das Feuer dieser Ehe ist definitiv ausgegangen...
DER ZWEITE FRÜHLING thematisiert unterschwellig wie auch manch anderer Kongressfilm, wie Beziehungen zwischen Mann und Frau an unterschiedlichen Erwartungen scheitern, ja zum Scheitern verurteilt sind. Fox will eigentlich überhaupt keinen „zweiten Frühling“: was er möchte, ist im Grunde ein „letzter Herbst“. In Rente gehen, das, was er früher mal gemacht hat, nämlich literarisch zu schreiben, als Hobby betreiben: seine Frau soll dazu nur eine Zeugin sein. Immer wieder verspricht er ihr, dass sie bald Rom verlassen und nach Amerika gehen werden, wo er dann seine ganze Zeit ihr widmen kann. Das erscheint ihm als eine derartig großartige Idee, dass ihm gar nicht auffällt, wie Gertruds Gesicht sich bei diesem vergifteten „Versprechen“ jedes Mal verdunkelt. Sie erwartet etwas anderes vom Leben, als nur die stumme und selbstgenügsame Zeugin eines Rentners zu sein. Mal wirklich miteinander sprechen, diese Gelegenheit lassen bei einer unvergesslichen Bootstour auf sein Bestreben hin verstreichen. Am Ende des Films, wenn Getrud auf einer langen Treppe steht, im Hintergrund eine von Eddie Constantine angeführte Band, tanzende Bekannte auf den Stufen, der Blick frei auf ein Stadtpanorama – da gehört der „zweite Frühling“ nach einem missglückten „Herbst“ vielleicht endlich ihr...

Die Kopie, die ein Eskalierender Träumer durch Zufall bei einem Filmsammler gefunden hat, war wunderschön, in strahlenden Technicolor-Farben, original gepresst im Technicolor-Werk Rom, mit knackig scharfem Bild, in glorreichem Cinemascope, aber das wird leider nicht dauern: sie ist bereits in einem frühen Stadium des Essig-Syndroms. Da von dem Film, der wie so einige Filme beim Kongress ein waschechter „film maudit“ ist, wohl leider nicht an jeder Ecke eine Kopie lauert, kann ich nur sagen: wenn es eine Crowdfunding-Kampagne à la „Rettet Curd Jürgens‘ Arsch“ gäbe – ich würde sofort spenden. Ich war nicht der einzige Kongressnik, der diese Idee hatte...

Nach dem Ende des Films, die Credits sind, soweit ich mich richtig erinnere, eben weiß auf rotem Hintergrund zu Stelvio Ciprianis grandiosem Score hochgerollt, bin ich in einem völlig jenseitigen Zustand. Irgendwo zwischen vollkommen euphorie-besoffen, leicht high und so sehr wie noch nie bereit, die Welt zu erobern. Ich schwebe geradezu. Über den Highness-Grad der anderen Zuschauer müsste ich spekulieren. Ein Eskalierender Träumer, langjähriger Veteran des Hofbauer-Kongresses, nennt DER ZWEITE FRÜHLING bei einem Gespräch vor dem Kinosaal den zweitbesten aller bisherigen Kongress-Filme und spricht glaube ich auch von der Schwierigkeit, jetzt wieder „runterzukommen“. Nun denn... Zum Runterkommen gab es:


ca. 23.30 Uhr

KARUSSELL
Regie: Alwin Elling
Deutschland 1937
Erika liebt Fritz und Fritz liebt Erika (Marika Rökk). Einer Ehe steht also nichts im Weg? Doch: Theodor Huhn (Paul Henckels), seines Zeichens gleichermaßen Antiquar sowie Fritz‘ Onkel, Vorgesetzter und Erziehungsberechtigter, hält nichts von einer potentiellen ehelichen Verbindung seines Neffen. Während Fritz sich ergeben würde, heckt Erika einen Plan aus: mit anderen Männern flirten, bis Fritz aus Eifersucht erst recht heiraten will. Notfalls bandelt Erika sogar mit „Hühnchen“ höchstpersönlich an.
Nach DER ZWEITE FRÜHLING hatte es KARUSSELL zugegeben sehr, sehr schwer. Eine Screwball-Komödie, der es meiner Meinung nach in der Gesamtansicht etwas an Schwung und Spritzigkeit fehlte, auch wenn einzelne Momente durchaus schön waren. Mein Favorit war dann auch das Treiben einer eigentlich ziemlich unwichtigen Figur. Eines Abends hat Erika, wie man in Neudeutsch sagen würde, ein Date mit einem Kunden von der Tankstelle, bei der sie arbeitet. Ein eifersüchtiger Fritz und der Koch, der so gerne mit viel Liebe Pudding für Erika kocht, seine Arbeitsstelle direkt neben Erika hat und wohl offensichtlich ein bisschen in sie verliebt ist, folgen den Spuren Erikas vom Rummel bis zu der Wohnung ihres Dates. Der Koch sammelt zwischendurch eine Puppe auf – ich glaube es ist ein Gewinn bei einer Schießbude, aber ich bin mir da nicht mehr sicher. Jedenfalls schleppt er bei der groß angelegten Suche nach Erika die Puppe mit sich. Dabei ist er leicht betrunken, aber das macht ja auch nichts. Er und Fritz (und die Puppe) kommen bei dem schmierigen reichen Typen an, der Erika völlig selbstlos ein hübsches Abendkleid anbietet und sie dann heimlich fotografiert, während sie es anzieht. Dort läuft gerade eine große Feier, und später kommt es zu einer schicksalhaften Mantelverwechslung in der Garderobe – aber das interessiert den Koch überhaupt nicht, weil seine Gedanken und seine Hände bei der Puppe verweilen. Auf einem Stuhl in der Garderobe erblickt er einen Teddy-Bären, setzt dann prompt die Puppe dazu und versucht die beiden zu verkuppeln. Das läuft alles nebenher, während die „eigentliche“ Handlung weiterspielt (Mantelverwechslung, wo ist Erika etc.?). Irgendwann wird Fritz klar, dass Erika verschwunden ist und so müssen er und der Koch wieder aufbrechen. Der Koch zögert nicht, sondern klaut den Teddy-Bären einfach, oder poetischer ausgedrückt: er nimmt den neuen Geliebten seiner Puppe mit...
Sehr anregend anzusehen war auch die „Elektrobehandlung“, die Onkel „Hühnchen“ aus Versehen bekommt. Der Gag wird so aufgebaut, dass man ihn schon eine brutale Elektroschock-Tortur erhalten sieht. Statt des äußerst „nervösen“ Herrn wird das aufgeregte „Hühnchen“ in das Behandlungszimmer geführt und bevor er irgendetwas tun kann, bekommt er bereits eine anregende Elektro-Massage: kleine elektrische Strömungen breiten sich über seinen Körper aus und das ganze ist offensichtlich sehr entspannend und angenehm. So etwas sollte man bei Filmfestivals auch anbieten: das wäre ideal für Zuschauer, deren Muskeln vom langen Sitzen in eher beengten Sitzen schon ganz verkrampft sind...

Sehr müde. Aber nach meiner Erfahrung der letzten Nacht bleibe ich noch zum Überraschungsfilm. Falls es dazu käme: Filme schlafend zu „sehen“ gehört zum Leben eines echten Filmsüchtigen mit dazu und das wäre allemal besser als mich in meiner Unterkunft schlaflos zu wälzen. Zumal wurde dann auch über einen Film gemunkelt, in dem alle Darsteller Bodybuilder seien...


ca. 02.00 Uhr

KILLING AMERICAN STYLE
Regie: Amir Shervan
USA / Kanada 1988 (digitalisierte VHS-Kopie)
Ein paar stark durchtrainierte Herren begehen einen Raubüberfall, werden geschnappt, brechen wieder aus und verschanzen sich im Haus einer Familie mit einem stark durchtrainierten Oberhaupt.
Der von mir sehr geschätzte Oliver Nöding schrieb über zwei bestimmte Filme einmal, dass sie nicht „gemacht“ wirken, sondern vielmehr vielleicht schon immer da waren, nur von ihren Machern „geborgen“ wurden – über einen anderen schrieb er zu anderer Gelegenheit, er sei vielleicht in einer Paralleldimension gedreht worden und man könne sich nicht vorstellen, dass echte Menschen mit echten Leben oder gar einem Feierabend nach Dreh daran teilgenommen haben. Ausgehend von diesen Gedanken wäre KILLING AMERICAN STYLE, der so aussieht, als wäre er aus einer Paralleldimension geborgen worden, also irgendwo anzusiedeln zwischen RIO BRAVO, DIRTY HARRY und MUTANT HUNT. Mit dem ersten teilt er Grundzüge des Belagerungsszenarios, mit dem zweiten verbindet ihn die extralegale Lösung von Konflikten mithilfe großer Pistolen, mit dem dritten die Einblicke in visuellen Abgründe der 1980er Jahre.
Der gemeinsame Nenner dieser drei Filme dürfte zusätzlich auch sein, dass sie Vorstellungen davon, was ein „guter“ Film sei, völlig sprengen: RIO BRAVO und DIRTY HARRY sind in ihrer Großartigkeit völlig jenseits eines banalen Begriffs wie „gut“, MUTANT HUNT setzt denn Sinn jeglicher Kategorisierung mit Adjektiven ad absurdum. Auch KILLING AMERICAN STYLE ist kein „guter“ Film. Er, oder „es“ wirkt tatsächlich ein wenig wie aus einem Paralleluniversum: es gibt einen relativ geradlinigen Raubüberfall, und dann auch eine Fluchtszene und dann ein im Grunde archetypisches Belagerungsszenario. Alles vertraut und schon x-mal gesehen, und doch wirkt es irgendwie auch fremd.
Fremd durch die aufgepumpten Körper der Hauptdarsteller. Klar, Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger waren auch aufgepumpt – aber hier sind es gleich fünf Stück, ein Held und vier Antagonisten (einer davon allerdings verletzt und meist bettlägerig). Fremd durch die aufreizende Langsamkeit: lange Sexszenen, die extrem schmierig und durch die eher statische Inszenierung aber auch sehr trivial, banal wirken; oder auch diese merkwürdig langen Dialoge zwischen den Polizisten, die sich gegenseitig am Telefon grüßen und nachfragen, wie es eigentlich mit der Pferdezucht nach Feierabend so läuft (die Antwort: Pferdezucht ist out, die große Kohle gäbe es bei Hundezucht); und diese bis zum bitteren Ende durchexerzierte Befragung im Bordell, wo der seriöse Polizist so viele Fragen stellen kann, wie er nur möchte: er bekommt von den Damen nur weitere Anzüglichkeiten und erregende Doppeldeutigkeiten ins Ohr gehaucht. Fremd durch diese auffällige Ansammlung unfassbarer Modesünden: etwa diese nippelfreien Bodybuilder-Tanktops mit Spaghettiträgern, oder diese augenkrebsinduzierenden, lilafarbenen Ensembles aus Jogginghose mit Jacke und Goldkettchen – niemals zu vergessen sind auch diese unglaublichen Vokuhilas. Auch das ist KILLING AMERICAN STYLE: eine hymnische Ode an die ästhetisch zersetzende Kraft des Vokuhila in seinen grässlichsten und abgründigsten Formen. Der japanische Arzt, gespielt von einem Latino, kombiniert sein Exemplar mit einem pornösen Schnurrbart, doch den Vogel schießt ein junger Cop ab: wer so eine Frisur trägt, muss eine Dienstmarke und eine Knarre haben, sonst überlebt er nicht lange.
KILLING AMERICAN STYLE ist in seiner ganzen Laufzeit vollkommen frei von jeglicher Ironie: ein grimmiger Film, der es todernst meint. Er fährt seine Geschütze auf, als würde sich hier ein großes existenzielles Drama der Weltklasse abspielen, ein geniales Kammerspiel Shakespeare‘scher Dimension, und nicht ein No-Budget-Action-Shlock, in dem sich Bodybuilder mit merkwürdigen Frisuren und augenkrebserregenden Klamotten in gerade mal zwei bis drei Räumen und in spießigen Schrebergärtchen-Hinterhöfen gegenseitig die Rübe einschlagen. Diese Ironiefreiheit, dieser bitterer Ernst kommt ihm zugute. KILLING AMERICAN STYLE spielt auf eine erfrischende Art mit ehrlichen Karten.
Von „seriösen“ Zuschauern werden immer wieder schlechte Darsteller als Merkmal von solch „unseriösen“ Filmen erwähnt. Mit klassischer Schauspielerei hat das sicherlich überhaupt nichts zu tun, was Robert Z‘Dar, Harold Diamond und John Lynch hier abziehen, aber sie stehen wortwörtlich ihren Mann: Blöcke, wie aus Granit gehauen. Robert Z‘Dar ist natürlich eine Wucht. Z‘Dar litt an Cherubismus: eine Krankheit, die durch Auswucherungen des Kiefers das Gesicht verformt. Sein einzigartiges Gesicht ist auch der eigentliche Star des Films. Wer Z‘Dars natürliches Charisma verkennt, muss einfach bösartig sein – fast so bösartig wie die Figur Lynch, gespielt von John Lynch. Seine Muskeln sprechen für sich, aber sein Schnurrbart, sein fieses Lächeln und sein Tick, sich vor einer Vergewaltigung umständlich oberkörperfrei zu machen, treiben den Schmiergehalt von KILLING AMERICAN STYLE in ungeahnte Höhen: ein Mann, den man zu hassen liebt. Harold Diamond, der den belagerten Hausherren spielt, ist einem etwas breiteren Kreis von Filmliebhabern als Stockkampf-Gegner Rambos in RAMBO III bekannt. In KILLING AMERICAN STYLE ist seine Frisur genau so schmierig, seine Kleidung noch abscheulicher, aber er spielt eigentlich den „Guten“. Das wird zu einer echten Herausforderung, denn irgendwie fetzen Z‘Dar und Lynch mehr. Diamond – John Morgan (so der Filmname): der Mann, den man zu lieben hasst?
KILLING AMERICAN STYLE wurde als „Videoknüppel“ präsentiert: eine deutsche VHS, die für die Kinoprojektion so digitalisiert wurde, dass alle VHS-Artefakte „lebensecht“ zu sehen waren. Dem grindigen Charme des Films kam das zugute, aber die deutsche Synchro war aus rein technischer Sicht unter aller Kanone: wenn jemand sprach, wurde jeglicher Ambienteton sofort ausgeblendet, um dann wieder aufgeblendet zu werden, wenn geschwiegen wurde. Ich bezeichne deutsche Synchronisationfassungen ja gerne als „bebilderte Hörbücher“ – hier gingen Ton und Bild ganz besonders krass auseinander, wirkten manchmal so, als würden sie sich nicht im gleichen Kontext, nicht im gleichen Raum, nicht auf der gleichen Welt befinden. Der halluzinatorischen Wirkung des Films kam das irgendwie zugute, aber es machte ihn auch noch anstrengender. Die letzte halbe Stunde des Films war dann auch relativ hart durchzustehen, aber das hing auch damit zusammen, dass um 3.15 Uhr morgens meine Tagesform schon einen ganz massiven Schwund erlitten hatte... Nichtsdestotrotz: der zweitbeste Film des Tages!


Noch mehr Würste, noch mehr Engelsgedärme, noch mehr tragische Liebesgeschichten um kaputte Menschen, um Männer, die nicht mehr als ihre besitzergreifende Liebe zu vergeben haben und Frauen, die etwas mehr vom Leben erwarten, gab es auch in den zwei nächsten Tagen des Hofbauer-Kongresses. Mehr dazu hier in Kürze...