Sonntag, 5. September 2010

251 Erinnerungsfetzen

Auge in Auge - Eine deutsche Filmgeschichte
(Deutschland 2008)

Regie:  Michael Althen, Hans Helmut Prinzler

“Geschichte” - ein diffuser Begriff, der  in unserer schnelllebigen Zeit oft nur wenig mit dem pedantischen Aufarbeiten eines Ereignisses aus der Vergangenheit oder einer in die Gegenwart hineinreichenden Entwicklung, wie wir es von der Schule her kennen, zu tun hat. So mag es denn auch nicht erstaunen, dass eine Dokumentation, die über hundert Jahre deutsches Kino in 106 Filmminuten verpackt, als “eine Geschichte” bezeichnet wird. Was aber hat uns diese “Geschichte” zu bieten?

In erster Linie sind es einmal Erinnerungsfetzen aus sage und schreibe 251 Filmen, die einander gelegentlich vielsagend gegenübergestellt  (Leni Riefenstahl, die derart viel Zeit hinter der Kamera verbrachte, dass sie von allem nichts merken wollte, dem Schauspieler Joachim Gottschalk, der sich zusammen mit seiner jüdischen Frau 1941 für den Freitod entschied), manchmal aber auch zu Motivblöcken zusammengefügt werden, die den Eindruck erwecken, man wolle dem “deutschen Wesen”, das es natürlich nicht gibt, auf die Spur kommen (die Blicke der Männer, deren “teutonische Andersartigkeit” lediglich der Schminktechnik zuzuschreiben ist, das Rauchen, Küssen, Telefonieren etc. im deutschen Film, das sich kaum von dem in Filmen anderer Länder unterscheiden dürfte). Und oft stehen diese Fetzen auch wenig begründet nebeneinander.

Spannend wird es, wenn einzelne Themenbereiche oder geschichtliche Epochen dann doch anhand von Filmausschnitten näher beleuchtet werden: die Zeit des Nationalsozialismus mit ihrem Repertoire, das von musikalischer Unterhaltung über Veit Harlans Rührstücke - er liess seine Frau Kristina Söderbaum bekanntlich auf alle erdenklichen Weisen sterben - bis hin zu den schändlichen Propagandastreifen reichte, für deren schlimmsten, “Jud Süss”, 1940, auch Harlan als Regisseur verantwortlich war; die Geschichte der Berliner Mauer von ihrem Bau bis zum Fall und der diesen Fall verschlafenden Mutter in “Good Bye, Lenin” (2003) - oder die “Geschichte” eines Deutschlands auf der Strasse. - Leider wird wenig über den Film der DDR gesagt; man beschränkt sich neben einer etwas eingehenderen Besprechung von “Solo Sunny” (1980) vor allem auf von der Parteileitung verbotene Werke - während zumindest ich auch gerne Ausschnitte aus jenen Ablenkungsmusicals gesehen hätte, die offenbar als eine Art Pendant zu den Heintje- oder Roy Black-Glücklichmachern des Westens zu betrachten sein dürften.

Diesen Erinnerungsfetzen werden zehn Filmschaffende zugesellt, die sich kurz über einen ihrer Lieblingsfilme - auf oft sehr persönliche Art - äussern dürfen. Hier stört die höchst unterschiedliche Qualität der Besprechungen ein wenig: Man dürstet regelrecht nach einer neuen Sichtung von Helmut Käutners “Unter den Brücken” (1944), wenn man Christian Petzolds Analyse einer einzigen Szene aus diesem “Desertionsfilm” (das Wegblasen einer in die Stirn fallenden Locke) gesehen hat; wird von Hanns Zischler an die zutiefst beeindruckende Kälte in Alexander Kluges “Abschied von gestern” (1966), einem frühen “Neuen Deutschen Film”, erinnert - oder gar von Dominik Graf auf ein geradezu vergessenes Werk aufmerksam gemacht: Klaus Lemkes “Rocker” (1971), dessen lange zurückliegende Ausstrahlung im Fernsehen mir plötzlich wieder lebhaft vor Augen stand. - Wenig ergiebig, gelegentlich lediglich selbstgefällig hingegen etwa  Tom Tykwers Bemerkungen zu Murnaus “Nosferatu” (1921) oder die von Doris Dörrie, die über “Alice in den Städten” (1974) einen neuen Blick auf Deutschland gefunden haben will. Auch das wohl grösste deutsche Filmereignis der Nachkriegszeit, Edgar Reitz’ “Heimat” (1984), dem man sich gerne wieder einmal in Form eines “Kino-Marathons” aussetzen würde, wird nicht seiner Bedeutung entsprechend gewürdigt. --- Geradezu peinlich: die immer wieder eingeschobenen Assoziationszwänge, denen die Filmschaffenden unterworfen wurden - und über deren Sinn der Zuschauer im Dunkeln gelassen wird.

“Auge in Auge” macht deutlich, dass es nicht DIE Geschichte des deutschen Films ist, sondern lediglich “eine” von vielen möglichen. Nun, meine ist es nicht. So mühsam das Zusammensuchen von Filmausschnitten gewesen sein mag, es kam doch in erster Linie ein Ratespiel (aus welchem Film stammt dieser Ausschnitt doch gleich?) dabei heraus, im besten Fall eine kleine Aufforderung, sich gewisse - oft beliebig herausgepickte - Streifen doch mal wieder anzusehen. - Mir wäre jedoch eine pedantisch aufgearbeitete Geschichte des deutschen Films - möge sie auch 251 Stunden in Anspruch nehmen! - lieber; oder etwa eine Dokumentation, die sich auf spannende Weise (eine Epoche erhellend) eines einzigen Streifens annimmt. - Wem es ähnlich erging wie mir, sei etwa “Das Leben geht weiter” (2002), die äusserst beeindruckend aufgearbeitete Geschichte des letzten nationalsozialistischen Propagandafilms, der nie ins Kino kam und heute als verschollen gilt, ans Herz gelegt.


Dienstag, 31. August 2010

Endlich Polanski!

Ich lästere zwar ungern über meine Blogger-Freunde; aber "fincher" (Blockbuster Entertainment) ist ein raffinierter kleiner Erpresser! Kaum erwähnt man ihm gegenüber den Titel eines Films oder den Namen eines Regisseurs,  schon  folgt die hinterhältige Bemerkung, er würde sich über eine Besprechung freuen. Und da er meine Sanftmut und Nachgiebigkeit kennt, nutzt er mich schamlos aus. - Also, "fincher", this one is especially for you:

Der Tod und das Mädchen
(Death and the Maiden, USA/Grossbritannien/Frankreich 1994)

Regie: Roman Polanski
Darsteller: Sigourney Weaver, Ben Kingsley, Stuart Wilson

Roman Polanski wurde am 12. Juli aus seinem Hausarrest in Gstaad entlassen, und niemand wird mir unterstellen können, ich verpasse ihm den endgültigen Todesstoss, wenn ich eingestehe, zu seinen Filmen ein “zwiespältiges” Verhältnis zu haben. - Es ist durchaus nichts Aussergewöhnliches, dass sich Filmfreunde an “Macken”, an als Schwächen empfundenen Eigentümlichkeiten bedeutender Regisseure stören. So wurde etwa Howard Hawks wegen seiner “Kamera auf Augenhöhe” immer wieder kritisiert, während Brian de Palma mit dem in Rezensionen  ständig vorgebrachten Vorwurf, er sei lediglich ein Hitchcock-Epigone, leben muss. Die Liste liesse sich beliebig verlängern.

Was ich Polanski vorwerfe: Sein mangelndes Gespür für “Tempowechsel”.  Diese wohl nur von mir als Schwäche empfundene Eigenart hängt direkt mit seinem unbändigen Perfektionismus zusammen, der jede Szene gleichwertig neben der anderen stehen lassen, sozusagen Höhepunkt an Höhepunkt reihen will und gelegentlich - den für eine Geschichte nötigen Spannungsbogen missachtend -  schlicht Langweile anstelle intelligenter Unterhaltung erzeugt. Einige üblicherweise gelobte Filme, die meines Erachtens besonders unter diesem Mangel an “Tempovariationen” leiden: “The Fearless Vampire Killers” (1967), ein Film, der überwältigende Bilder, jedoch keine überzeugende Entwicklung zu einem Höhepunkt hin bietet (allein schon die Solonummer des sich als Schauspieler gebärdenden Regisseurs in der Gruft scheint eine Ewigkeit zu währen), von dessen letzter Fassung sich Polanski allerdings auch ausdrücklich distanzierte; die äusserst detailgetreue Thomas Hardy-Verfilmung “Tess” (1979), von der man sagen kann, sie vergöttere die Kinski in jeder Aufnahme, erzähle deshalb jedoch in Überlänge keine zusammenhängende Geschichte vom Niedergang einer “pure woman” mehr, vermöge von Episode zu Episode keine Verbindung zu schaffen (es handelt sich vermutlich um die Adaption eines Hardy-Romans, der ich jedoch aus dem erwähnten Grund eine später zu besprechende vorziehe); und letztlich - dies mag Verehrern des Regisseurs als Blasphemie erscheinen! - der als Hommage an Hitchcock gedachte “Frantic” (1988), der nicht  nur wegen seiner überraschungsarmen Story und einem geradezu peinlichen MacGuffin, sondern auch “dank” seines gleichmässigen Vor-Sich-Hinplätscherns, seiner Unfähigkeit, Spannung aufzubauen, nichts von alledem zu bieten hat, was einen Thriller ausmacht.


Wenn Polanski jedoch eine Vorlage zur Verfügung stand, die es ihm erlaubte, sich seinem Streben nach Perfektionismus hinzugeben, eine sich langsam entwickelnde Geschichte - vielleicht mit spätem und unerwartet eintretendem Umschlag - zu erzählen, vermochte er tatsächlich meisterhaftes Kino zu schaffen. Dies traf mit Sicherheit auf den Film zu, der ihm zu Weltruhm verhalf: "Rosemary’s Baby” (1968). Man kann sich des - selbstverständlich irreführenden - Eindrucks nicht erwehren, Ira Levin habe seinen Roman dem Regisseur geradezu auf den Leib geschrieben, ihm die vielen Details einer scheinbar nur unter den Schmerzen ihrer Schwangerschaft leidenden Frau, die möglicherweise gegen Ende einer Hysterie verfällt, förmlich angeboten. - Und ich bin der Ansicht, dem chilenischen Bühnenautor Ariel Dorfman sei mit “Death and the Maiden” eine für Polanski filmisch nicht minder grandios umzusetzende Vorlage geglückt, mag auch das 1994 entstandene verstörende Meisterwerk  - es knüpft in vielerlei Hinsicht an die ersten Filme an! - leider nicht zu dessen bekanntesten Arbeiten gehören:


Fünf Jahre nach dem Ende einer faschistischen Militärdiktatur  in einem namentlich nicht genannten südamerikanischen Land (man nimmt an, Dorfman habe damit das Chile unter Pinochet gemeint) leben der Rechtsanawalt Gerardo Escobar und seine Frau Paulina in einem abgelegenen Strandhaus, von wo aus sie die neue, mildere Regierung zu unterstützen versuchen (Gerardo darf sich Hoffnungen auf einen Posten machen, der es ihm ermöglicht, ehemaligen Menschenrechtsverletzungen nachzugehen, zwangsläufig aber auch einige der schlimmsten Verbrecher laufen lassen zu müssen). Paulina, die selber zwei Monate lang inhaftiert war, jedoch das während dieser Zeit Durchlittene  nie vollständig zu erzählen vermochte, ist eine schwer traumatisierte Frau, die an einem stürmischen, von einem Stromausfall begleiteten Abend ungeduldig auf ihren Mann wartet und - von der Vergangenheit geprägt - ihr Essen auf dem Boden einer Vorratskammer, in die sie sich eingeschlossen hat, einnimmt. Als Escobar nach einer Reifenpanne endlich eintrifft, bringt er den hilfsbereiten Arzt Dr. Miranda mit, in dem Paulina augenblicklich jenen Mann wieder zu erkennen glaubt, der sie während ihrer Gefangenschaft (vor rund 15 Jahren!) mehrfach folterte und vergewaltigte. Während sich die beiden Männer bereits freundschaftlich unterhalten, entwendet sie das Auto des Arztes und sucht in ihm nach einem Beweis für ihren Verdacht - den sie in Form eines Tapes mit Schuberts Streichquartett “Der Tod und das Mädchen” auch rasch zu finden glaubt; denn ihr Peiniger, den sie nie wirklich zu sehen bekam, liess während seiner “Besuche” regelmässig dieses Stück laufen (was für ein Symbol, ist doch der “Knochen-Mann” im Gedicht von Matthias Claudius, von dem sich Schubert inspirieren liess, sowohl Liebhaber als auch “schlafbringender” Tod, der das “Noli me tangere!”-Motiv der ersten Strophe wegzuwischen versucht). - Dies ist der Anfang einer langen, von einem heftigen Gewitter und der Brandung der Steilklippen begleiteten Nacht, in der es sicher in mehrfacher Hinsicht um die “Wahrheit”, vor allem aber um Existenzen und die Frage geht, was sich ereignet, wenn jemand (sei es eine Gesellschaft oder ein Einzelner) Macht über eine hilflose Person erhält, in der aus einem ehemaligen Opfer ein Peiniger wird - und die in einen Morgen mündet, an dem ein seltsames Geständnis abgelegt wird, von dem vermutlich nicht einmal die involvierten Figuren  wissen, was davon der Wahrheit entspricht und welche Bedeutung ihm zukommt. 

Ben Kingsley, ein Schauspieler, der jeden Film an sich zu reissen vermag (selbst wenn er nur - wie in “Maurice”, 1987,  als Hypnotiseur  - in einer Nebenrolle auftritt), war klug genug, sich als Dr. Miranda nicht unnötig in den Vordergrund zu drängen (sein grosser Auftritt sollte ohnehin in den letzten Minuten erfolgen), sondern neben dem über weite Strecken hinweg die Position des Zuschauers einnehmenden Stuart Wilson insbesondere einer hervorragend agierenden Sigourney Weaver, deren geschundene und sich jetzt oft rätselhaft aufführende Paulina in dieser nach Rache dürstenden Nacht den Ton angibt, genügend Raum zu gewähren. Paulina ist, dies zeigt sich schon zu Beginn, nicht nur eine ungeduldige, sondern auch eine übermässig misstrauische Frau geworden, die ihren spät zurückgekehrten Mann einer regelrechten Inquisition unterzieht und nach einer unbefriedigenden Reaktion sein Essen in den Mülleimer schmeisst. Der Zuschauer fragt sich nach dieser “Szene einer keineswegs unproblematischen Ehe” deshalb unweigerlich: Bietet Dr. Miranda, ein anfangs höflicher, vielleicht unschuldiger Mann, den sie lediglich an seiner Stimme und seinem Geruch zu erkennen glaubt, ihr einfach Gelegenheit, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Manche ihrer Reaktionen (etwa wenn sie dem Gefesselten ihren getragenen Slip in den Mund stopft oder ihn geradezu gierig beschnuppert) wirken beinahe, als wolle sie die unerträgliche sado-masochistische Erotik der Vergangenheit wieder aufleben lassen. Escobar wiederum wird zunehmend faszinierter Zeuge eines Schauprozesses, der durch Quälereien (Paulina besteht darauf, Mirandas Glied während eines Gangs zur Toilette zu halten) unterbrochen wird, auch wenn er weiterhin nicht weiss, ob er nicht dem nach einiger Zeit ebenfalls zu handfesten Ausdrücken (“Cunt!”) neigenden Dr. Miranda, der möglicherweise ein Alibi für die Zeit, in der seine Frau gefoltert wurde, vorweisen kann, glauben soll.



All dies spielt sich von wenigen Ausnahmen abgesehen in einem einzigen Raum ab, was Polanski den Vorwurf einbrachte, sein Film sei “abgefilmtes Theater”, obwohl doch gerade die kammerspielartige Inszenierung eine einzigartige klaustrophobische Stimmung, wie sie für mehrere Filme des Regisseurs  bezeichnend ist, zu erzeugen vermag, in der es den Figuren nach einer längeren Exposition gelingt, sich  in quälende und gequälte Ungeheuer zu verwandeln. - Ein solch gnadenloser Film über Schuld, Leid und Rache ist sicher nichts für Zuschauer, die sich lieber leicht verdaulicher Kost hingeben. - Wer sich jedoch auf “Death and the Maiden” einlässt, bemerkt rasch, welche Bedeutung der Film für Polanski hatte, vermochte er in ihm doch indirekt auch Erinnerungen an seine Kindheit im Krakauer Ghetto aufzuarbeiten. Das von der Kritik meist nur mit Einschränkungen gelobte Meisterwerk hätte grössere Anerkennung verdient. Es gibt ausser dem frühen “Cul-de-Sac” (1965), dem die Verfilmung von Dorfman’s Stück die deutlich ausgesprochene politische Komponente hinzufügt,  nämlich wohl keine vergleichbare Arbeit in der Geschichte des neueren Films, die mit nur drei Figuren eine derart unerträgliche Spannung zu erzeugen vermag. - Interessantes Detail: Am Anfang und am Ende von “Death and the Maiden” sieht man Paulina und Escobar in einem Konzertsaal sitzen und Schuberts Streichquartett lauschen. Am Schluss kreuzen sich ihre Blicke mit dem von Miranda, der zusammen mit seiner Familie weiter oben sitzt. Selbst dieser Schluss - und das macht Polanskis Film so faszinierend - ist interpretationsbedürftig.

Donnerstag, 26. August 2010

Fernsehtipp mit Bild des Blog-Autors

Ich habe mir neulich die Freiheit genommen, den Film “Goodbye Again” (1961) von Anatole Litvak zu besprechen. Die wenigen Leser/innen, die in der Lage waren, den ellenlangen Text durchzustehen, erfuhren vielleicht noch matten Auges, dass wir es mit der Verfilmung eines Romans der französischen Skandalautorin Françoise Sagan (1935-2004) zu tun hatten. Zufällig habe ich heute bemerkt, dass “ARTE” am Freitag (27.August) die rund dreistündige Fernsehfassung eines Biopics mit dem Titel “Bonjour Sagan” aus dem Jahre 2008 ausstrahlt, in dem eine hervorragend agierende Sylvie Testud die Schriftstellerin spielt, die nach weiteren erfolgreichen Büchern (ich werde es immer bedauern, dass “Le garde du coeur” nie verfilmt wurde, da die Geschichte Anthony Perkins eine Paraderolle beschert hätte) zunehmend zum Opfer ihres exzessiven Lebensstils wurde und in den 90ern nur noch wegen Drogendelikten und Steuerhinterziehungsstrafen für Aufsehen sorgte. - Obwohl ich sonst nicht gerne mit Fernsehtipps aufwarte, möchte ich euch das bewegende Frauenporträt ans Herz legen.

Und da ihr mich ohnehin nur wegen der Screenshots anklickt, gibts zu diesem Tipp noch ein Bild vom Blog-Autor, für das er in etwa die gleiche Menge Weichzeichner benutzte wie Robert Redford in “The Horse Whisperer” (1998).

Dienstag, 24. August 2010

Her mit der deutschen DVD! - die Vierte

Das Glas Wasser
(Das Glas Wasser, Deutschland 1960)

Regie: Helmut Käutner
Darsteller: Gustaf Gründgens, Liselotte Pulver, Hilde Krahl, Sabine Sinjen, Horst Janson, Rudolf Forster, u.a.


Ob man nun Klaus Manns 1936 erschienenen Roman “Mephisto” gelesen hat oder nicht: Gustaf Gründgens wird wohl für immer die zweifelhaft schillernde Gestalt bleiben, die um ihrer Karriere willen in einem schicksalsträchtigen Jahrhundert jeweils unverbindlich mit der Bewegung liebäugelte, von der sie glaubte, ihr gehöre die Zukunft - und die sich dann doch an den Beelezebub verkaufen musste, um nicht ganz in die Klauen des Teufels zu geraten. Was er als Intendant des Preussischen Staatstheaters, der vom Teufel dann doch zu Rollen in Propagandafilmen (“Ohm Krüger”, 1941) beordert wurde, heimlich an Menschlichem vollbracht haben mag - wir wissen es nicht. Denn das Deutschland der Nachkriegsjahre verzieh und vergass. - Ich kann als ehemaliger Germanist und Filmfreund die recht wenigen Filme des Schauspielers nicht ohne “Hintergedanken” geniessen: Hinter dem Schränker in Fritz Langs “M - Eine Stadt sucht einen Mörder” (1931) verbirgt sich für mich der Salonkommunist, der abends in den Kabaretts seine schlüpfrigen Chansons zum Besten gab, sein “Friedemann Bach” (1941) ist der - vergebliche - Versuch, schlimmeren Filmproduktionen zu entkommen. Vor allem aber muss ich ständig daran denken, dass Klaus Mann seinem Hendrik Höfgen nur in beschränktem Masse schauspielerische Fähigkeiten zugestand: Er sei der Mephisto gewesen, daneben habe er sich als Causeur in französischen Komödien glänzend gemacht; gerade “teutonische” Rolleninterpretationen (etwa sein Hamlet, den der wirkliche Gründgens ja 1959 tatsächlich an den jungen Maximilian Schell abgab) seien jedoch nicht sein Ding gewesen. 

“Das Glas Wasser”, der letzte Film, in dem Gründgens neben der filmischen Adaption seiner Faust-Inszenierung nach langer Zeit wieder mitspielte, beruht auf einer solchen französischen Komödie von Eugène Scribe (1791-1861) und ist ein herrlich-flauschiges Nichts, in dem der zweifellos grosse Schauspieler noch einmal zeigen konnte, wie er mit seinem “aasigen Lächeln” (Klaus Mann) einer an sich belanglosen Geschichte den Hauch des Schlüpfrigen zu verleihen vermochte. - Das bewusst in fragmentarischen Dekors (einzelne Rückblenden werden in Schwarzweiss auf einem Hintergrund dargestellt) gedrehte Filmmusical zeigt vor allem eines: dass selbst die grössten politischen Krisen den Liebeswirren unterlegen sind und sich durch ein raffiniertes Ränkespiel in Wohlgefallen auflösen. Während des Spanischen Erbfolgekriegs im 18. Jahrhundert wird England von der willensschwachen Köigin Anna regiert. Sie steht ganz unter dem Enfluss der Herzogin von Marlborough, die den Krieg unbedingt fortsetzen will, damit sie ihren Gatten vom Hofe fernhalten und ungestört ihren amourösen Interessen nachgehen kann. Sir Henry St. John, Herausgeber einer Zeitung, ist der grösste Gegner der Herzogin. Er, der ebenso begnadete wie narzisstische Redner, entdeckt schon bald, dass weder Queen noch Herzogin dem ungelenken Charme eines jungen Fähnrichs widerstehen können - und schleust die stellenlose Abigail, die natürlich auch in den Fähnrich verliebt ist, als Hofdame bei der Königin ein; sie soll ihm dazu verhelfen, die Macht der Herzogin zu untergraben und Anna auf seine Seite zu bringen. Am Ende ist es tatsächlich ein Glas Wasser, das die Entscheidung herbeiführt...

Helmut Käutner, einer der wenigen bereits im Dritten Reich tätigen Regisseure, die ohne dunkle Flecken wegkamen (selbst der grosse Wolfgang Staudte hatte - sicher nicht freiwillig - in Harlans “Jud Süss", 1940, mitgespielt), inszenierte “Das Glas Wasser” wesentlich süffiger, unbeschwerter als etwa Kurt Hoffmann seine biederen Musicals (“Feuerwerk”, 1954, “Das Wirtshaus im Spessart”, 1957). Die herrlich vorgetragenen Chansons (“Es muss an Arthur selber liegen”, “Schöne Queen, arme Queen”, “Ich wäre gerne ehrlich”, “Das Sprichwort sagt, wer wagt, gewinnt”) haben etwas regelrecht Frivoles, sind tendenziell eher spitz als süsslich - und nehmen, wenn auch bloss dezent, Bezug auf die 60er Jahre. - Der bislang leider nicht auf DVD erschienene Film ist ein Genuss, der den Zuschauer beinahe vergessen lässt, dass er es hier nicht bloss - immanent - mit einem höchst gelungenen komödiantischen Streich zu tun hat, sondern - problemgeschichtlich - auch mit dem wohl eigenartigsten Aufeinandertreffen zweier Generationen in der Geschichte des deutschen Films. Ähnliches war zwar früher schon vorgekommen; aber hier trafen der zwielichtige Gründgens und Hilde Krahl, die ihre Karriere als Dunja im Film “Der Postmeister” (1940) richtig begründet hatte, auf Schauspieler wie Sabine Sinjen und Horst Janson. Man müsste aus heutiger Sicht annehmen, dieses Treffen sei nicht ohne Fragen (“wie war es damals wirklich?”) abgegangen. Dabei vergisst man jedoch leicht, dass man beim Film einfach für kurze Zeit zusammen arbeitet - und man vergisst vor allem jenen ungeschriebenen Generationenvertrag, der erst von den 68ern durchbrochen wurde. Ein für den heutigen Zuschauer beinahe makabres Aufeinandertreffen, wie es in dieser Form später gar nicht wieder vorkommen konnte: Gustaf Gründgens starb 1963 in Manila an einer Überdosis Schlaftabletten; ihm blieb wie Rühmann das Schicksal eines senil vor sich hin schwärmenden Johannes Heesters erspart. Und vielleicht sollte man ihn einfach mit jenem Ausruf ziehen lassen, den Klaus Mann seinem Hendrik Höfgen - zwar im spöttischen Sinn - in den Mund legte: “Ich bin doch nur ein Schauspieler!”

Donnerstag, 19. August 2010

Eine banale Dreiecksgeschichte?

Wer mit dieser Besprechung nicht zufrieden ist, möge sich bei "mono.micha" (Schneeland) beschweren: er hat mir die DVD geschenkt. Sollte mein Geschwätz jedoch unerwartet Anklang finden, nehme ich gern weitere Filme entgegen. Mit etwas Glück werden auch sie hier besprochen. 


Lieben Sie Brahms?
(Goodbye Again,  Frankreich/USA 1961)

Regie: Anatole Litvak
Darsteller: Ingrid Bergman, Anthony Perkins, Yves Montand, Jessie Royce Landis, Pierre Dux, Jocelyn Lane, Jean Clarke, Michèle Mercier, Uta Taeger u.a.

Böse Zungen könnten “Goodbye Again” als  Dreiecksgeschichte mit Überlänge bezeichnen, in der grosse Schauspieler in eleganten Dekors meist um den heissen Brei herumreden und in der sich im Grunde genommen gar nichts von Bedeutung ereigne. Die Herausgeber der deutschen DVD leisten einer solchen Betrachtungsweise sogar noch Vorschub, indem sie den nicht gerade schmeichelhaften Kommentar des “Lexikons des internationalen Films” zitieren: “Elegant inszenierte, in der Auslotung der Konflikte jedoch an der Oberfläche bleibende Verfilmung eines Romans von Françoise Sagan, die sich in erster Linie auf das bemerkenswerte Spiel der Hauptdarsteller stützt.”

Ganz so belanglos kann der Film, der zu Beginn der 60er in den Vereinigten Staaten sogar für einen kleinen Skandal sorgte, jedoch nicht sein, mag er heute - leider! - auch eher zu den vergessenen Ingrid Bergman-Streifen gehören. Er beschäftigt sich nämlich mit einem Problembereich, der in den prüden 50er Jahren völlig ausgeblendet worden war, dessen Thematisierung um 1960 offenbar aber förmlich in der Luft lag: dem der Liebesbeziehung einer reiferen Frau zu einem jungen Mann. - 1959 liess der britische Regisseur Jack Clayton in einem der grossen Filme des Free Cinema, “Room at the Top”, eine unglücklich verheiratete Französin (Simone Signoret) einem zehn Jahre jüngeren Mann verfallen, der mit ihr erste - erstaunlich realistisch dargestellte - sexuelle Erfahrungen sammelte. 1962 durfte sich Lilli Palmer in “Julia, du bist zauberhaft”, der unterschätzten Adaption einer Erzählung von W. Somerset Maugham, als alternde Schauspielerin für eine Weile einem jungen Steuerberater hingeben - und zur Erkenntnis gelangen, dass ein Beefsteak und Bratkartoffeln der Liebe letztlich überlegen seien. 


Der insbesondere in den 40er Jahren erfolgreiche Regisseur Anatole Litvak (er hatte sich schon in “The Snake Pit”, 1948, des Tabuthemas “Psychiatriekliniken in den USA” angenommen) bemüht sich in seinem Film um einen Mittelweg zwischen dem düsteren Meisterwerk von Clayton (die von Signoret gespielte Figur nimmt sich das Leben) und der Leichtigkeit, die den Palmer-Film durchzieht. Dies hat unweigerlich zur Folge, dass im gepflegten Pariser Milieu (wir bekommen im Schwarzweissfilm tatsächlich  eine “Stadt der Lichter” geboten) mit seinen luxuriösen Wohnungen und edlen Bars vieles nur zwischen den Zeilen ausgesprochen wird, ja gelegentlich oberflächlich erscheint.  In Wirklichkeit führt uns diese “Oberflächlichkeit” jedoch direkt in den Konflikt der im Mittelpunkt stehenden, von Bergman gespielten Figur hinein, lässt erkennen, was sie, die Alternde, Tag für Tag unausgesprochen hinunterschlucken muss. Und sie vermag jenen Moment, in dem sich eine völlig aufgelöste Bergman nicht mehr hinter ihrer Fassade verstecken kann, umso intensiver wirken zu lassen.

Die 40-jährige Innenarchitektin Paula ist seit fünf Jahren  mit dem Landmaschinenhändler Roger liiert. Da dieser zur - lächerlichen - Bestätigung seiner scheinbaren Jugend regelmässige Affären mit jungen Damen, die er der Einfachheit halber grundsätzlich Maisie nennt, benötigt, haben sich die beiden auf eine “moderne” Form der Beziehung geeinigt, die jedem beliebige Freiheiten einräumt. Für Paula, die Roger eigentlich gerne heiraten möchte, bedeutet dies vor allem das unwidersprochene Hinnehmen einsamer Abende und  mit Arbeit ausgefüllter Wochenenden, weil ihr Freund anderweitig “beschäftigt” ist. - Eines Tages begegnet sie im Haus einer Kundin dem wesentlich jüngeren Jura-Assessor  Philip, der gleich mit reichlich kindischem Verhalten ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versucht (er spielt ihr eine kleine Behinderung vor, erscheint völlig betrunken in einem Tanzlokal, in dem sie sich mit Roger aufhält - und führt ihr bei einem gemeinsamen Essen hochdramatisch den Unterschied zwischen einer amerikanischen und einer französischen Gerichtsverhandlung vor). Paula, der es bis anhin gelungen ist, mit einem eleganten Lächeln von ihrem Alter abzulenken,  muss jedoch bald erkennen, dass sie, auch wenn er es nicht richtig zu zeigen vermag, Philips erste grosse Leidenschaft ist, dass er, der beruflich Unambitionierte, ihr regelrecht zu verfallen droht und Tag und Nacht für sie da sein will. Geschmeichelt nimmt sie Philips Einladung zu einem Brahms-Konzert an und denkt, während der junge Mann ihre Hand zu halten versucht, an ihre erste Begegnung mit Roger zurück...

Befand sich Paula zu Beginn in der für sie schier unerträglichen Situation, gegenüber Roger ihren Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit nicht aussprechen zu dürfen, so wird sie durch das ekstatische Werben des viel jüngeren Mannes erst recht in eine Zwickmühle getrieben. Und sie weiss: wofür sie sich auch immer entscheiden mag, sie wird nur  unwürdig altern. Der Film führt diesen Alterungsprozess im Verlauf eines misslingenden Emanzipationsversuchs auch hintergründig vor und lässt ihn in jene Szene münden, in der eine hilflose Frau dem die Treppe hinuntereilenden Liebhaber auf Zeit nachruft: “Philip, try to unterstand! I am old. I am old.”

Mag das Geschehen zumindest auf der Leinwand (!) heute auch etwas überholt wirken, so gelang es Litvak doch, drei überzeugende Figuren zu zeichnen,  deren verbergendes Wesen  den Zuschauer zu packen vermag. Dies zeigt bereits der Beginn des Films, der sie uns unabhängig voneinander am Ende eines Tages vorführt: Die von der Arbeit erschöpfte, sich aber noch immer elegant gebende Bergman verlässt ihren Laden und sucht nach einem Taxi, der alternde Montand  starrt auffällig zwei jungen Frauen nach - und der offensichtlich verwöhnte, letztlich kindisch-unfähige Sohn einer reichen Mutter, Anthony Perkins, fährt in seinem modernen Wagen (man benötigt beinahe einen Schuhlöffel, um in ihn einsteigen zu können) durch Paris. - Später lassen diese Figuren zunehmend erkennen, inwieweit sie überhaupt zu Entwicklungen, Veränderungen fähig oder bereit sind. Roger wird wohl für immer der ölige Aufreisser bleiben, der sich nach dem “Beweis” für seine  Jugendlichkeit die Krawatte bindet und zu Paula zurückkehrt. Paula wird, leidend alternd, die Fassade der oberflächlichen Eleganz noch eine Weile aufrechtzuerhalten versuchen - und Philip bleibt das Rätsel in dieser Dreiecksgeschichte, die doch nicht so kitschig und banal ist, wie es auf den ersten Blick scheint: War Paula tatsächlich die grosse Liebe, die er der Sekretärin seines Chefs als “a woman -- warm -- charming -- and yet sad” beschrieb? Oder kommt er bald über sie hinweg?    

Die darstellerischen Leistungen dürfen, wie selbst das "Lexikon der internationalen Films" zugeben muss, als herausragend bezeichnet werden. Ingrid Bergman, die wegen ihrer Beziehung zu Roberto Rossellini in Hollywood eine Zeitlang als “persona non grata” gegolten hatte und dank Anatole Litvak für “Anastasia” (1956) zu ihrem zweiten Academy Award gekommen war, nahm die durchaus gewagte Rolle der Paula mit Begeisterung an, obwohl man - absurd! - der 46-jährigen Schauspielerin später vorwarf, sie sähe für eine 40-Jährige viel zu jung aus; Perkins, der nicht nur als Norman Bates für Aufsehen gesorgt, sondern etwa auch eine ernste Rolle in Stanley Kramers “On the Beach” (1959) bewältigt hatte, verwandelt sich unerwartet glaubwürdig in einen unreifen Bengel, dem vielleicht doch die Verletzung seines Lebens zugefügt wird; und Yves Montand gefällt sich als alternder Schürzenjäger offensichtlich. Als besonderer, wenigstens für eine Prise Humor sorgender Leckerbissen gesellt sich noch Jessie Royce Landis als dümmliche, aber reiche Mutter von Philip zu diesem Trio. - Anthony Perkins scheint Litvak, für den "Goodbye Again" wohl die letzte wirklich bedeutende Arbeit sein sollte, übrigens derart überzeugt zu haben, dass er ihn 1962 in "La troisième Decade" auch noch an der Seite der Loren spielen liess.



Françoise Sagan, die die Romanvorlage für “Goodbye Again” geliefert hatte, galt zu jener Zeit als Skandalautorin. Sie hatte bereits als Achtzehnjährige mit dem 1958 von Otto Preminger verfilmten  Erstlingswerk “Bonjour Tristesse”, in dem ein junges Mädchen seine Sexualität hemmungslos auslebt, für Furore gesorgt  und vermochte  auch mit “Aimez-vous Brahms?” ein drängendesThema aufzugreifen, handelte der Roman doch nicht nur von der Liebe einer reiferen Frau zu einem jungen Mann, sondern zeigte auf, wie undenkbar es selbst für eine Frau im “gehobenen Milieu” war, sich der Fesseln der Konvention zu entledigen. - Interessanterweise nahmen sich über die folgenden Jahrzehnte hinweg  immer wieder Filme des Problembereichs "Beziehung zwischen einer Frau und einem (wesentlich) jüngeren Mann" auf unterschiedliche Weise an. Es scheint, als hofften Produzenten und Regisseure, mithilfe ihres Mediums festgefahrene Haltungen verändern zu können. Einige bekannte Beispiele: "Harold and Maude" (1971), Rainer Werner Fassbinders "Angst essen Seele auf" (1974), ein mutiger Film, der die Liebesgeschichte zwischen einer älteren Frau und einem Mann aus der Türkei erzählt, "How Stella Got Her Groove Back" (1998), "Something's Gotta Give" (2003) oder "Chéri" (2009) von Stephen Frears. - Allerdings erreichten die Filmemacher gerade mit diesem speziellen Plädoyer für eine Liebe mit Altersunterschied wenig, wird doch oft selbst in "fortschrittlichen" Kreisen ein alter Mann, der sich eine junge Frau angelt, mit leicht bewunderndem Unterton noch immer als "geiler Hengst" bezeichnet, während man über eine Frau mit jüngerem Lebenspartner ("Wie ungehörig!")  heimlich die Nase rümpft.

Mittwoch, 28. Juli 2010

Doo Wop - Der Film zum Kontext für Frustrierte

Heerscharen von Lesern (es waren zwei, um genau zu sein) haben sich bei mir beklagt, weil ich meinem Kontext ohne Film Truffaut anstelle des von ihnen erhofften Doo Wop-Spektakels folgen liess. Ich möchte  ihre Enttäuschng wenigstens ein wenig mildern und widme mich vor der Sommerpause noch

Cry-Baby
(Cry-Baby, USA 1990)

Regie: John Waters
Darsteller: Johnny Depp, Amy Locaine, Susan Tyrrell, Polly Bergen, Iggy Pop, Ricki Lane, Traci Lords, Joe Dallesandro, Patricia Hearst u.a.

Es gäbe sicher Gründe für eine eher zurückhaltende Würdigung von “Cry-Baby”: Zum einen entfernte sich John Waters in seinem ersten Studiofilm  noch weiter von seinem Image als unangefochtenem König des schlechten Geschmacks als in “Hairspray” (1988) - und Dietrich Kuhlbrodt war wohl nicht der einzige Kritiker, der die “Verschnulzung” des Trash-Kult-Renommees bedauerte; zum anderen könnten sich Doo Wop-Fans wegen des schlechten Abschneidens der von ihnen vergötterten Musikrichtung, die erst noch durch zwei beinahe zu oft recycelte Titel (“Sh-Boom” und einem im Nachthemd und mit Schlafmütze wenigstens ironisch spiesserhaft vorgetragenen “Mr. Sandman”) vertreten war, sogar regelrecht diskriminiert vorkommen.

Aber: Auch John Waters dürfte bemerkt haben,  dass seine Umwertungen herkömmlicher Vorstellungen (etwa durch das Propagieren  des Genusses von Hundekot) mit der Zeit ihren provokativen Charakter verloren hatten, dass er dabei war, sich ungewollt vom Underground-Filmer zum gesellschaftlich akzeptierten, wenn nicht gar verhätschelten kleinen “Bürgerschreck” zu entwickeln. Weshalb also nicht nach dem Tanzfilm über die 60er gleich noch eine augenzwinkernde Verbeugung vor den 50er Jahren, die zugleich eine leicht boshafte Erinnerung  an seine Jugend in Baltimore war und beinahe unweigerlich die Form eines Musicals (viele Kritiker sprechen von einem “Grease” mit Grips) annehmen musste? Und kam er bei dieser Gelegenheit darum herum,  die Wahrheit über die musikalische Entwicklung  in jenen Jahren zur Sprache zu bringen? Der Doo Wop, der mit seinen Nonsense-Silben in den 40ern noch ganz den Afroamerikanern (“The Clovers”, “The Five Keys” etc.) gehört hatte, zog Mitte der 50er Jahre zunehmend weisse Jugendliche in seinen Bann und mauserte sich (erste ausschliesslich aus weissen Mitgliedern bestehende Gruppen waren entstanden) zur Musik, deren harmlose Liebestexte sich die Mädchen aus gutem Hause im Gegensatz  zum “den Charakter verderbenden”   Rock‘n’Roll einer aufbegehrenden Jugend anhören durften. - Gleichzeitig wies Waters, um dessen Drehbuch sich die Studios gerissen haben sollen, darauf hin, wie nahe sich Doo Wop und Rock‘n’Roll im Grunde genommen doch standen: Waren die jungen Rebellen erst einmal verliebt, fielen sie (dies sollte später auch Elvis Presley beweisen) rasch einmal dem unumgänglichen mehrstimmigen Gesangsarrangement zum Opfer und stimmten im Kitchen zusammen mit den anderen Häftlingen  ein schnulziges “Teardrops Are Falling” an...

In einem Punkt blieb John Waters seinem “Enfant terrible“-Image treu:  Da man ihm nach dem unerwarteten Erfolg von “Hairspray” freie Hand bei der Wahl der Darsteller gelassen hatte, fügte er seiner bewährten Truppe (Ricki Lane, Kim Webb, Alan J. Wendl) eine Schauspielerriege hinzu, wie sie aus unterschiedlicheren Winkeln nicht hätte zusammengesucht werden können: So traf Ex-Porno-Star Traci Lords auf die einst für einen Golden Globe nominierte Polly Bergen, das ehemalige Entführungsopfer Patricia Hearst begegnete dem “Godfather of Punk” Iggy Pop, der als nackt in einem Blecheimer badender Uncle Belvedere seinen Leuten ein “Woo-Wee, you caught me in my birthday suit, butt-naked!” entgegenrief - und der eher aus Fernsehserien bekannte “brave Amerikaner” David Nelson durfte sich am Neuling Kim McGuire erfreuen, die als Hatchet Face, der Frau mit dem schönsten Gesicht, das je auf der Leinwand zu bewundern war (“There’s nothing the matter with my face. I got character!”), ihr Messerchen zeigte und den Leuten ein “GET CUT!” zu-“flüsterte”. Sie alle arbeiteten mehr oder weniger talentiert auf eine herrliche Weise zusammen, betrieben gnadenlos das, was als “Overacting” bezeichnet wird - und verliehen so dem Film doch jene grellen, anarchischen Trash-Züge, die man sich von einem Meister des “Camp” erhofft (man soll auch hinter der Kulisse zusammengehalten haben: in einer kritischen Situation erzählten alle einander, weshalb sie selber schon - wenn vielleicht auch nur für eine Nacht - “gesessen” hatten). - Waters’ eigentliches As im Ärmel war jedoch ein bildhübscher, unwiderstehlichen Bad Boy-Charme versprühender Bengel, den man hierzulande für einen Sänger hielt (dass Johnny Depp in “Cry-Baby” gar nicht selber singen durfte, erfuhr man erst später, auch über seinen bereits vollzogenen Karrierestart als Schauspieler in den USA war kaum etwas bekannt ) und von dem man mit Bedauern annahm, er werde wohl nie wieder in einem Film zu sehen sein. Welch ein Irrtum!


Die Geschichte, die “Cry-Baby” erzählt, ist eigentlich banal und nimmt jenes Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Weltanschauungen, das Waters von “Pink Flamingos” (1972) bis zum wieder nicht mehr so gesellschaftsfähigen “A Dirty Shame” (2004) beinahe durchgehend beschäftigte, zum Ausgangspunkt für eine “Romeo und Julia”-Variation. Im Baltimore des Jahres 1954 bekämpfen sich zwei Gruppen: die langweiligen “Squares” aus gutem Hause, deren Anstandswauwau Mrs. Vernon-Williams, Leiterin einer Benimmschule, wo natürlich dem Doo Wop gehuldigt wird, ist, und die rebellischen “Drapes” mit ihrem unsittlichen Haarschnitt und Gesang. Ausgerechnet Mrs. Vernon-Williams’ jungfräuliche Enkelin Allison hat es satt, mit ihrem Freund Baldwin, einem Pat Boone-Verschnitt, rumzuhängen und schliesst sich dem “Drape” Cry-Baby Walker und seiner aus herrlichen Freaks bestehenden Truppe, die eben im “falschen” Quartier haust, an. Dort, im Turkey Point, wird aus Allison ein richtiger “Drape” gemacht, und beim gemeinsamen Singen von “King Cry-Baby” verlieben sich die beiden jungen Leute, die sich schon beim Impfen in der Schule schmachtende Blicke zugeworfen hatten,  endgültig ineinander - wobei Allison nicht nur erfährt, dass Zungenküsse keine Mononukleose verursachen, sondern auch, dass Cry-Baby wie sie ein Waisenkind ist (sein Vater war der Alphabetbomber, den man auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet hatte). - Das sich anbahnende Glück passt Baldwin und seinen gar nicht so braven “Squares” natürlich nicht in den Kram, und sie zetteln eine Schlägerei an, die vor dem Richter endet - der ausgerechnet den unschuldigen Cry-Baby in eine Jugendstrafanstalt verbannt, wo er sich schon bald eine Träne unter sein Auge eintätowieren lässt.

Wie sich das Schicksal nicht nur der beiden Liebenden trotz kleiner Komplikationen zum Guten wendet, soll hier nicht verraten werden, lebt doch der Film gerade von all diesen gelegentlich durchaus konventionell-witzigen, dem Mainstream  entgegenkommenden, manchmal aber immer noch an frühere Geschmacklosigkeiten erinnernden Details (wenn etwa Allison ein mit Tränen gefülltes Glas austrinkt oder  die berüchtigte Zungenkuss-Szene beinahe in eine “Schlacht der Zungen” ausartet). - All diese Details, die auch den Nebenfiguren in Erinnerung bleibende Auftritte ermöglichen (ich denke an frömmelnd-fundamentalistische Eltern, die ihren Kindern Kreuze entgegenstrecken und  vor Gericht "in Zungen" zu sprechen beginnen, an das von Traci Lords gespielte Flittchen Wanda, das als Austauschschülerin nach Schweden verfrachtet werden soll und lieber in den Wagen eines stadtbekannten Spanners steigt - oder an die fröhlich schwangere Schülerin Pepper, die ihre ersten beiden Kinder in einer irrwitzigen Aktion aus dem Waisenhaus befreien muss), machen “Cry-Baby” natürlich nicht zum kleinen Klassiker, vielleicht nicht einmal zu Kult. Sie gewährleisten jedoch jedem einen unterhaltsamen (Sommer-)Abend, der sich dem Spektakel nicht mit festgefahrenen Erwartungen an einen Waters-Film annähert . Hinzu kommen die Musiknummern, die gelegentlich den 50ern alle Ehre machen (“Doin’ Time for Bein’ Young”  ist eine wunderschöne Hommage an den jungen Presley), im Falle des von Allison auf einer Kühlerhaube stehend gesungenen und von den “Drapes” begleiteten “Please, Mr. Jailer” sogar die Protestsongs der Vietnam-Generation vorwegzunehmen scheinen. --- Und wir begegnen einem Schauspieler  in einer seiner frühen Rollen, dem es später vergönnt sein sollte, in herausragenden Filmen wie “What’s Eating Gilbert Grape” (1993), “Ed Wood” (1994) oder “Dead Man” (1995) mitzuwirken - der sich jedoch gelegentlich auch für Projekte zur Verfügung stellte, über die ich mich hier lieber nicht auslassen möchte, da es mir nur Ärger einbrächte, würde ich mich zu weit aus dem “Secret Window” hinauslehnen.

“Cry-Baby” wurde übrigens nicht zum von den Studios erwarteten Erfolg und spielte in den Kinos der USA die Produktionskosten nicht ein. Erst TV-Ausstrahlungen und die Veröffentlichung auf DVD verhalfen dem Film zu Anerkennung und einer Fangemeinde. Diese erkannte auch, dass Johnny Depp der weitaus  bessere John Travolta war.

So! Damit verabschiedet sich ein völlig ausgebrannter Whoknows  für drei, vier Wochen von seinem Blog und begibt sich mit rund 700 Doo Wop-Titeln und nicht viel weniger Filmen in die hoffentlich verdiente





Freitag, 23. Juli 2010

Kleiner Sprachkurs für deutsche Touristen

Der Schweizer Franken ist stark; ausser Ölscheichs und deutschen Film-Bloggern kann sich niemand  mehr Ferien im Land leisten, das mit "Heidi", feiner Schokolade, dem Fujiyama (oder so) und  der Kuckucksuhr, die in Wirklichkeit aus dem Schwarzwald kommt, aufzutrumpfen vermag. Also nutzt eure Chance, bevölkert die sauteuren Hotels, besteigt unsere Berge und käuflichen Damen,  deckt euch mit Ricola-Kräuterzucker ein, bedenkt aber eine Kleinigkeit: Wenn ihr mit eurem gewohnten Deutsch antrabt, werden euch die Schweizer ihren berüchtigten "Sch**** Ausländer!"-Blick entgegenschleudern. - Deshalb hier ein paar Hinweise:

Eignet euch ein perfektes Schweizerdeutsch an! Wobei hinzugefügt werden muss: der Dialekt der Basler wird  (wie die Menschen) von den Zürchern nicht geschätzt (und umgekehrt), ein Dialekt aus der Ostschweiz führt in der restlichen deutschsprachigen Schweiz unweigerlich zur höhnischen Bemerkung "Der kommt aus Mostindien...", Innerschweizer haben ein hoffnungslos veraltetes Sprach- und Weltbild - und das arme Wesen aus dem Wallis (ein Yeti?) wird überhaupt von niemandem verstanden. - Komplizierte Verhältnisse, nicht wahr? Es gibt allerdings einen Dialekt, mit dem ihr euch überall im Blocherland - pardon! - in der Schweiz nur Freunde schafft: das Berndeutsch! Und noch liebevoller wird man euch behandeln, wenn ihr euch für die Emmentaler-Variante des Berndeutschs entscheidet.

Aus diesem Grund möchte ich euch Gelegenheit geben, euch mit diesem Emmentaler-Deutsch anhand eines Trailers vertraut zu machen. Es handelt sich um einen Trailer zum Film "Die Herbstzeitlosen" (2006), der von ein paar älteren Damen handelt, die in einem Emmentaler-Dorf eine Lingerie-Boutique eröffnen. Ich will der 90-jährigen Hauptdarstellerin Stephanie Glaser, die immer noch munter Filme dreht, eine Besprechung nicht antun. Nur dies: Einige Schweizer waren tatsächlich beleidigt, weil "Die Herbstzeitlosen" es nicht in die engere Auswahl für den Oscar  (bester fremdsprachiger Film)  schafften. - Aber uns gehts ja um den Wert der Sache für einen angenehmen Aufenthalt in der Schweiz:



Mich werdet ihr Sch**** Ausländer (noch ein Pardon, ist mir nur so rausgerutscht!) allerdings nicht treffen, wenn euch die Bedienung als vermeintlichen Emmentalern mit einem Lächeln und der freundlichen Bemerkung "U hie heit dr de no euri Merängge!" den Teller auf den Tisch stellt; denn auch ich werde - womit ich schon dezent auf die nahende Sommerpause des Blogs hinweisen möchte - in die Ferien gehen. Sie führen  mich dieses Jahr durch die Halbinsel Balkonien, wo man mir zwar die üblichen fiesen Kommentare in eure Blogs, jedoch keine Einträge in meinen gestattet. Vorher gibts aber sicher noch einen Film. - Und was meinen Sprachkurs anbelangt: Nichts zu danken!

Sonntag, 18. Juli 2010

Über den gezielten Einsatz des Oberflächlichen


Videocracy
(Videocracy, Schweden/Dänemark/Grossbritannien/Finnland 2009)
Regie: Erik Gandini

Italiens Langzeit-Ministerpräsident Silvio Berlusconi wird von vielen Filmemachern seines Landes als ihr persönlicher Feind wahrgenommen, als ein Diktator, der ihnen vorzuschreiben versucht, mit welchen Illusionen sie ihr Publikum von der Wirklichkeit abzulenken haben Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie ihn immer wieder angreifen und seine Machtmechanismen aufzudecken versuchen.  Nach Nanni Morettis “Il Caimano” (2006) sorgte vor allem der Dokumentarfilm “Videocracy” des Italo-Schweden Erik Gandini, der sich gleich der “unheiligen” Verbindung zwischen dem italienischen Fernsehen und der Regierung annimmt, für Aufsehen, scheint er doch ins Herz jenes eigenartigen Systems vorzudringen, das von den Italienern verführend Besitz ergriff und dem sie sich nur allzu willig auslieferten. Gelegentlich wurde Gandinis Darstellung eines Medienfaschismus “made in Italy” Oberflächlichkeit vorgeworfen, weil sie aus einzelnen Figuren Repräsentanten für eine These mache, unzulässig verallgemeinere. Mir stellte sich nach der Sichtung eher die Frage: Wie soll der Zuschauer auf einen Film reagieren, der ihn auf unangenehme Weise daran erinnert, dass die angeschnittenen Themen wohl nicht nur für Italien - wenn dort auch besonders ausgeprägt - gültig sind?

Es begann vor rund dreissig Jahren, als der erste kommerzielle Lokalsender des Landes (im Besitz von Berlusconi) auf die Idee kam, eine Late-Night-Quiz-Show mit Strip-Einlagen für die Unterschicht attraktiver zu gestalten: Wann immer eine Frage richtig beantwortet wurde, entschloss sich eine durchschnittliche Hausfrau im billig zusammengeschusterten Studio, sich eines Kleidungsstücks zu entledigen. Dies war die Geburtsstunde des Präsidentenfernsehens, der Beginn einer “kulturellen” Revolution. Denn heute bevölkern auf nahezu allen Sendern zur Prime Time halbnackte Frauen seichte Shows, locken die Massen vor die Fernsehgeräte und gaukeln ihnen eine stets sonnige Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen vor. - Und die Zuschauer träumen davon, eines Tages selber im Fernsehen, das zu ihrer Realität geworden ist, auftreten zu dürfen. Sie sind sowohl Opfer als auch Teilnehmer in diesem riesigen Imperium, über das Silvio Berlusconi, gleichzeitig Ministerpräsident und Medienmogul (ihm gehören die drei grössten Privatsender, und er hat das Sagen über das staatliche Fernsehen), waltet.


Da ist zum Beispiel Ricky, Mitte zwanzig und noch bei Mutti wohnend. Er ist von Beruf Mechaniker, möchte jedoch als eine Mischung aus Jean-Claude van Damme und Ricky Martin (kurzlebigen) Ruhm erlangen. Er nimmt als kickboxender Sänger an Talent Castings teil, sitzt in den Shows in den vordersten Reihen - und weiss genau, was seiner Karriere im Weg steht: Die wunderschönen vollbusigen Mädchen, die die Blicke der Zuschauer auf sich ziehen und nur dürftig bekleidet als “veline” vom meist in die Jahre gekommenen, widerlich grinsenden Moderator ablenken. - Sie sind es, nach denen Berlusconis Unterhaltungsmaschinerie sucht, und ihnen kommt eine verantwortungsvolle Aufgabe zu: zu lächeln, nichts zu sagen und gut auszusehen. Sie dürfen sich überdies mit einem “eigenen” 30 Sekunden dauernden Tanz (einem Stacchetto) Aufmerksamkeit verschaffen. Und ein solcher Job kann durchaus Folgen haben: Berlusconi ernannte eine frühere “velina” zur Ministerin für Gleichberechtigung. Ist es da nicht verständlich, dass viele junge Frauen alles dafür täten, um eine “velina” zu werden?


Lele Mora ist einer jener einflussreichen Agenten, durch dessen Bett  die Karrieren vieler weiblicher und vermutlich die der meisten männlichen Fernseh-Berühmtheiten geführt haben dürften. Er brüstet sich damit, seine Villa an der Costa Smeralda in Sardinien, wo sich die “Glanzvollen” tummeln, vollkommen in Weiss eingerichtet zu haben; und er erweckt den Eindruck eines kleinen selbstgefälligen Jungen, wenn er einem der muskulösen Männer, die  um seinen Pool herumlungern, einen Klaps gibt oder stolz darauf hinweist, ein persönlicher Freund Berlusconis und ein Bewunderer von Mussolini zu sein (Berlusconi ist für ihn ein Mann, der zwar nicht ganz an die “Methoden” des Duce anzuknüpfen vermag, aber dennoch als grosser “Führer” gelten darf).

Mora weist auch auf die Parties hin, die im Milliardärsclub an der Costa Smeralda Nacht für Nacht geschmissen werden und die eher den Eindruck von Orgien erwecken. Geile alte Böcke starren auf tanzende Mädchen, von denen sich jedes einen Job als Wetterfee für zwei Wochen in einem Sender von Berlusconi erhofft. - Auf diesen Parties trifft man die Fotografin Morella, die zwar mit Leuten wie Mora nichts zu tun haben will, als Nachbarin von Berlusconi den Ministerpräsidenten aber für authentisch, weil natürlich, hält (er ist ein Mann, der Spass haben will und ihn sich eben “kaufen“ kann). Sie bietet die Bilder, die sie von den Prominenten an den Parties macht, im Internet zum Kauf an. Diese Bilder zeigen italienische Promis, deren lachende Mäuler über mindestens 64 Zähne zu verfügen scheinen - und plötzlich sieht man auch Zähne, die nicht zu einem Italiener gehören, sondern zu Tony Blair. - Spätestens in dem Moment fragt sich der Zuschauer: Haben wir es überhaupt mit einem rein italienischen Phänomen zu tun?  Trifft sich hier nicht alles, was sich für die “Elite” der Welt hält? Und  erhält man vielleicht nur Einblick in eine der vielen Vergnügungsveranstaltungen jener “Supermenschen”, die über wahrhafte Macht verfügen? -  Man mag vielleicht den Pauschalisierungen eines Filmemachers auf den Leim gegangen sein; aber es  könnte  hinter den Kulissen einer scheinbar braven Bambi-Verleihung  ähnlich zugehen wie auf den Parties an der Costa Smeralda. Und womöglich zeigen uns unsere Illustrierten  auch nur das, was Berlusconis Illustrierten den Italienern zeigen.


Sogar die scheinbare Opposition, die Berlusconi in Form der Paparazzi erwächst, unterliegt dem System. Die Leute von  Fabrizio Corona sorgen zwar für Schnappschüsse von Prominenten in misslichen Situationen, verkaufen diese jedoch anschliessend wiederum den Opfern oder dem Ministerpräsidenten, der sie nach Lust und Laune in den Zeitungen, die er kontrolliert, veröffentlicht.  Corona selber, der “Chef” der Paparazzi, ein eitler Macho, der dem Zuschauer  minutenlang vorführt, wie er sich zwischen den Beinen eincremt, will auch nur eines: möglichst oft im Fernsehen auftreten. Selbst seine Entlassung aus dem Gefängnis (man hatte ihn wegen Erpressung zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt) inszeniert er vor den Reportern als Ereignis, das unweigerlich zu einer Einladung in eine Talk Show führen muss.  Er selber betrachtet sich als modernen Robin Hood, der das Geld von den Reichen nimmt und  für sich behält. - Was er dabei akzeptiert: dass er es von Berlusconi nimmt, der es versteht, auch seine Gegenspieler zu integrieren.

Wie intensiv der Ministerpräsident das Fernsehen für den Ausbau seines "Vierten Reiches" benutzt, zeigt etwa eine Hymne auf ihn, die im Hinblick auf seine Wahl mit Untertiteln zum Mitsingen ständig ausgestrahlt wird. Will er eine politische Ansprache auf einem Sender halten, muss die Show auf einem anderen Sender entsprechend früher beendet werden. Alles um ihn herum ist Werbung, Effekthascherei und Ablenkung.   Die Macht bestimmt, was gezeigt werden darf und was nicht. Es versteht sich von selber, dass im italienischen Fernsehen für “Videocracy” nicht geworben werden durfte. - Man fühlt sich an dunkelste Zeiten erinnert.

Und dennoch: Möchte man die in “Videocracy” angeschnittenen Themen, nicht augenblicklich  auch auf die USA übertragen? Hatten wir zu Beginn des Privatfernsehens (Leo Kirchs Sat.1, RTL, das mit Hugo Egon Balders Nackedei-Show “Tutti Frutti“ konterte) nicht Ähnliches zu befürchten? Und können wir uns so sicher sein, dass wir von einem von den “Mächtigen” gelenkten  Fernsehen nicht auch bis zu einem gewissen Grad am Gängelband geführt werden, bloss naiverweise an die gelobte Pressefreiheit glauben? - Dies waren in etwa die früher gekonnt verdrängten Fragen, die mich während der Sichtung des teilweise tatsächlich pauschalisierenden und polemischen Films, dem eine Prise beissende Satire gut getan hätte, beschäftigten; und sie sorgten dafür, dass mir stellenweise beinahe übel wurde, als ich Einblick in den gezielten Einsatz der wackelnden Brüste und Ärsche, der primitiven Unterhaltung, schlicht des Oberflächlichen erhielt. Ich möchte mir “Videocracy” nicht noch einmal ansehen, bin jedoch froh, mich ihm ausgesetzt zu haben, als ihn der ORF, was ich dem Sender hoch anrechne, ausstrahlte.

Die DVD ist ab September in Deutschland erhältlich. Man sollte sich “Videocracy” - im wahrsten Sinne des Wortes - antun!

Mittwoch, 14. Juli 2010

Es gibt eine deutsche DVD!!!

Ich widmete eine Besprechung dieses Films schon an anderer Stelle Alex ("Hypnosemaschinen"), damit er als "Master of Horror" auch mal wieder über ein paar Gespenster so richtig lachen kann. Diese Widmung soll selbstverständlich  hier wiederholt werden.

Zwei Engel ohne Flügel (Alternativtitel: Topper - Das blonde Gespenst)
(Topper, USA 1937)
Regie: Norman Z. McLeod
Darsteller: Constance Bennett, Cary Grant, Roland Young, Billie Burke, Alan Mowbray, Eugene Pallette, Arthur Lake, Hedda Hopper u.a.

1934 wurde der so genannte “Hays Code”, den die “Catholic League of Decency” gefordert hatte, für Hollywood-Produktionen verpflichtend. Er sollte dafür sorgen, dass Filme im Hinblick auf “Obszönität”, Vulgarität und Gewaltverherrlichung rigide überprüft und notfalls einer Zensur unterworfen würden. Der Kodex blieb bis in die 60er Jahre hinein in Kraft und wurde mal mehr, mal weniger streng angewandt. --- Die Moralapostel, die nach ihrem “Erfolg” vielleicht ernsthaft mit einer Überfülle an sittlichen und dem Seelenheil des Zuschauers bekömmlichen Filme gerechnet hatten, unterschätzten freilich den Erfindungsreichtum der verärgerten Regisseure und Produzenten. Diese sorgten dafür, dass gerade die - oft von raffiniert versteckten Freizügigkeiten wimmelnde - Hollywood-Komödie ab Mitte der 30er Jahre bis Mitte der 40er ihre Glanzzeit erlebte. Was vorher recht offen ausgesprochen worden war, wirkte als Anspielung in den Screwball Comedies, deren Erfindung je nach Vorliebe Howard Hawks oder Frank Capra (rückblickend gelegentlich auch Ernst Lubitsch) zugeschrieben wird, noch viel anzüglicher - was nicht zuletzt mit dem rasanten Tempo und dem Wortwitz dieses sich an der Grenze zur Farce bewegenden Subgenres zu tun hatte, in dem sich die Geschlechter einen unerbittlichen Kampf lieferten, der nicht selten mit einem Sieg der Frau und einem Kater am Morgen danach endete.

Als der komödienerprobte Regisseur Norman Z. McLeod (er hatte die Marx Brothers-Filme “Monkey Business”, 1931, und “Horse Feathers”, 1932, gedreht) 1937 von Hal Roach für die Verfilmung eines Romans von Thorne Smith eingesetzt wurde, bot ihm dies die Möglichkeit, die klassische Screwball Comedy auf interessante Weise zu variieren, indem er sie um die Komponente des Übernatürlichen erweiterte, sie also zum witzigen Gespensterfilm machte. - Marion und George Kerby sind ein äusserst lebenslustiges junges Ehepaar, das nicht nur fahrlässig mit seinem sportlichen Buick in der Gegend herumrast, sondern auch in den ersten zehn Minuten des Films mehr säuft als Nick und Nora Charles in der ganzen “Thin Man”-Reihe. Die beiden Turteltauben befinden sich auf dem Weg zur Bank, über die der langweilig-penible und von einer dominanten Gattin überwachte Cosmo Topper waltet - und vor der sie zuerst einmal vor den Augen der staunenden Passanten den halben Morgen verschlafen, bevor George als Mehrheitsaktionär an einer Aufsichtsratssitzung teilnimmt und diese mit seinem Benehmen sabotiert. Kurz darauf geschieht das Unausweichliche: George baut einen Unfall, und das Paar erhebt sich seltsam durchsichtig, um die eigenen leblosen Körper, die vor ihm auf dem Boden liegen, zu diskutieren. Die Erkenntnis folgt bald: Marion und George müssen tot sein, befinden sich aber noch nicht im Himmel. Also beschliessen sie, die zwar keine grossen Sünder, aber doch etwas gar frivol waren, eine gute Tat zu vollbringen - und als Opfer suchen sie sich ausgerechnet den biederen, bierernsten Toppy (wie ihn Marion liebevoll nennt) aus. Empfand dieser das freizügige Paar jedoch schon zu dessen Lebzeiten als Landplage, fühlt er sich von den sich nach Belieben sichtbar oder unsichtbar machenden “Engeln” erst recht in den Wahnsinn getrieben. Eine Katastrophe voller Gags bahnt sich an...


“Topper” ist tricktechnisch alles andere als auf dem damals aktuellen Stand; die “Gespensterszenen” werden jedoch derart genussvoll in den Film eingebettet (etwa wenn Cosmo Topper nach einer Schlägerei vor dem Richter von einer unsichtbaren Marion zurecht gemacht oder ein Liftboy veräppelt wird), dass dies keine Rolle spielt. Besonders herrlich ist ein Radwechsel, den der nicht mehr unter den Lebenden weilende George Kerby auf Geheiss seiner Frau vornehmen muss. Er brummt: “All right, I’ll change the tire ... But I’ll be darned if I’ll waste any ectoplasm doing it!” - worauf er sich unsichtbar macht und vor den Augen des staunenden Cosmo die leidige Angelegenheit hinter sich bringt.

Für Constance Bennett, die als einst bestgekleidete Frau der Welt ihre grosse Zeit bereits hinter sich hatte, erwies sich “Topper” als kleines Comeback, Cary Grant konnte als Lebemann genau das Gegenteil jenes Männertyps spielen, den er ein Jahr später in Hawks’ “Bringing Up Baby” verkörpern sollte - und Roland Young erhielt eine Oscar-Nominierung als bester männlicher Nebendarsteller. Ebenfalls erwähnenswert: Billie Burke (sie sollte 1939 in Victor Flemings “The Wizard of Oz” die Glinda spielen) als vom eigenartigen Benehmen ihres von Geistern besessenen Gatten aus dem Alltag gerissene Mrs. Topper und Alan Mowbray als Butler der Familie (“Can’t you even look like a human being?” - “I don’t know, sir, I’ve never tried.”). Sogar Hedda Hopper, eine der grossen Klatschtanten Hollywoods, darf einen Kurzauftritt hinlegen.

Die von einem jazzigen, ebenfalls für einen Oscar nominierten Soundtrack untermalte Geistergeschichte erwies sich als derart erfolgreich, dass sie zwei Fortsetzungen nach sich zog und später auch zu einer Fernsehserie verarbeitet wurde. In “Topper Takes a Trip" (1938) kehrt Marion noch einmal auf die Erde zurück, um ihrem Toppy, dessen Frau nun plötzlich die Scheidung will, beizustehen. Cary Grant ist in diesem mehr auf Situationskomik als auf Wortwitz setzenden Film bloss noch in der Eingangssequenz zu sehen, was ich den Machern nie verzeihen werde. “Topper Returns” (1941) lässt Roland Young ohne Constance Bennett, aber mit Joan Blondell als Gespenst in einem unheimlichen Haus einen Mordfall aufklären. Dieser dritte - enttäuschende - Teil zeigt, dass aus der Topper-Geschichte eigentlich schon alles herausgeholt war.

“Topper” war einer der ersten Filme, die nachträglich eingefärbt erneut ins Kino kamen, ein Versuch, der insbesondere im Zusammenhang mit Curtiz’ “Casablanca” erbitterte Diskussionen auslöste. Der kleine Klassiker “Zwei Engel ohne Flügel” war im deutschsprachigen Raum lange Zeit nur als VHS-Kassette erhältlich, was Fans ausserordentlich bedauerten; denn das Original lebt nicht zuletzt von seinem Wortwitz, der sich nicht ohne weiteres in andere Sprachen übersetzen lässt. Jetzt ist endlich eine "Topper Edition" mit allen drei Filmen erhältlich, die es dem Zuschauer ermöglicht,  zwischen der deutschen und der englischsprachigen Fassung zu wählen.

Und zum Schluss: Für 2010 ist ein Remake des Films mit Steve Martin als Cosmo Topper angekündigt. Diese Drohung dürfte sich in absehbarer Zeit bewahrheiten, was mich (der Kerl verhunzte schon den mir lieben Film “Cheaper by the Dozen”, 1950, mit Clifton Webb und Myrna Loy, aus dem er ein Pseudo-Remake machte!) zu einem Amoklauf veranlassen wird. Ich hoffe, die wenigen Leser dieses Beitrags werden sich mir anschliessen. Könnte lustig werden...

Montag, 12. Juli 2010

Kleine Zwischenbemerkung

Roman Polanski ist frei!!! Die Schweizer Behörden haben entschieden, ihn nicht an die USA auszuliefern, und er befindet sich seit heute Mittag auf freiem Fuss. - Endlich kann ich mich auch als Schweizer rücksichtslos über seine Filme hermachen.

Donnerstag, 8. Juli 2010

Der Film zum Kontext

Nicht nur Dion & The Belmonts taten sich schwer mit der Einsicht, dass ein Mond  lediglich aus Papier gemacht sein könnte; auch der  Fimfreund möchte manchmal vergessen, dass er sich voller Inbrunst   Illusionen hingibt. Dabei vermag doch das Kino weit mehr als einen Papiermond wie einen echten Erdtrabanten aussehen zu lassen; es verwandelt sogar am Tag gedrehte Szenen mittels eines technischen Verfahrens auf wundersame Weise in  Nacht. Man bezeichnet dieses Verfahren bekanntlich als "Day-for-Night" oder

Die amerikanische Nacht
(La nuit américaine, Frankreich 1973)
Regie: François Truffaut
Darsteller: Jean-Pierre Léaud, Jacqueline Bisset, Valentina Cortese, Jean-Pierre Aumont, François Truffaut, Dani, Nathalie Baye, Alexandra Stewart, Graham Greene u.a.

Auf dem Platz herrscht reges Treiben. Ein grüner Bus fährt vorbei, man  beobachtet  eine Frau in einer roten Jacke, die sich eine Illustrierte kauft und  die Treppe zur U-Bahn-Station hinabgeht. Wenige Sekunden später taucht von unten ein junger Mann auf. Er überquert den Platz, geht langsam auf einen älteren Mann zu und verpasst ihm vor den Augen der Menge eine Ohrfeige. - Plötzlich erscheint in Grossaufnahme das Gesicht eines Regisseurs, der durch ein Megaphon sein schrilles  “Cut!” brüllt und zu bemängeln beginnt, was alles nicht nach seinen Plänen lief. Scheinwerfer tauchen auf, man sieht eine Kamera und vom Schauspieler bis zum Scriptgirl versammeln sich alle auf jenem “Platz”, der offensichtlich nichts weiter als eine Attrappe in einem Filmstudio im Süden Frankreichs ist. Selten zuvor wurde der Zuschauer aus einer perfekten Illusion derart überraschend in die banale Realität des Filmemachens geworfen.

Dies die Eingangssequenz von Truffauts “La nuit américaine”, der 1974 mit dem “Auslandsoscar” ausgezeichnet und im Folgejahr für weitere Oscars nominiert worden war, heute aber eher zu den vergessenen Filmen des Regisseurs gehört. Die Geschichte ist denkbar einfach: Eine Filmequippe ist mit den Dreharbeiten zu einem  unbedeutenden Melodram mit dem Titel “Je vous présente Pamela” (es handelt von einer jungen Frau, die sich mit dem Vater ihres Gatten in eine Affäre einlässt)  beschäftigt, das von den Hauptdarstellern bis zur Assistentin des Scriptgirls während der hektischen Wochen als zukünftiges Meisterwerk und Sinn ihres Daseins betrachtet werden muss und dessen Herstellung ein Privatleben nur in fragmentarischer Form zulässt, weil das Einbringen  persönlicher Probleme ein solches Projekt rasch gefährden könnte. Dennoch hat der Regisseur Ferrand, der derart für den Film lebt, dass er ausser in seinen Träumen gar nicht mehr als  Wesen mit menschlichen Regungen wahrgenommen wird, rasch einmal mit mehr als den üblichen technischen Pannen (eine wichtige Szene wird im Kopierwerk zerstört) und der Auswahl  von passenden Perücken und Pistolen zu kämpfen. Denn seine Mitarbeiter teilen die Devise, wonach der Film wichtiger sei als das Leben, nur in der Theorie...

Am meisten zweifelt man an der Zuverlässigkeit des noch nicht  im Studio angekommenen Hollywood-Stars Julie Baker, die erst kürzlich einen Nervenzusammenbruch erlitt. Doch da gibt es auch ihren neurotischen Co-Star Alphonse, (warum wohl wurde die Rolle mit Jean-Pierre Léaud, der als Truffauts “alter ego” galt, besetzt?), der seine neueste Geliebte Liliane als Assistentin des Scriptgirls anheuern liess, damit er ständig die Bewegungen ihres Hintern beobachten und sämtliche Männer am Set mit der Frage belästigen kann, ob Frauen magisch seien.  Die alternde Schauspielerin Severine wiederum sucht Trost im Alkohol und kann ihren Text nicht mehr behalten, weshalb sie sich erkundigt, ob sie stattdessen nicht einfach wie bei Fellini Zahlen vor sich her sagen dürfe. Es bleibt noch Alexandre, einst wohl halbwegs ein Star, der seinen jungen Liebhaber als Sohn adoptieren möchte. - Wundert es da noch, dass der von Truffaut selber gespielte und nur von seiner Assistentin Joelle bedingungslos unterstützte Regisseur das Drehen eines Films mit einer Kutschenfahrt im Wilden Westen vergleicht: am Anfang freue man sich auf eine schöne Reise, später hoffe man sie zu überleben?

Julie Baker, die mit ihrem neuen Gatten, einem Arzt, eintrifft, erweist sich entgegen der Erwartungen als professionell und äusserst teamfähig, was die Arbeit  zu erleichtern scheint - Hingegen begleiten während der ganzen Zeit  lästige Journalisten die Dreharbeiten und verlangen von jedem, der ihnen über den Weg läuft, Auskünfte über den Film. Die Antworten von Schauspielern und Crew zeigen, wie unterschiedlich man dem Projekt gegenübersteht, wie oberflächlich man sich mit dem Drehbuch auseinandergesetzt hat - und auch, wie wenig man an der Aufgabe anderer und persönlichen Tragödien interessiert ist. Einzig Julie Baker geht mit ihrem Bedürfnis, Menschlickeit in eine letztlich egozentrische Arbeitsgemeinschaft auf Zeit einzubringen, ungewollt zu weit:  Als sich die Geliebte von Alphonse mit einem Stuntman aus dem Staub macht, verbringt sie aus lauter Mitgefühl sogar  die Nacht mit dem Flegel, der ihre Ehe aufs Spiel setzt und  lauthals verkündet, er werde nie wieder in einem Film mitspielen. Dann soll auch noch der tödliche Autounfall eines Darstellers unerwartete Probleme mit sich bringen und kurzfristige Drehbuchänderungen nötig machen...

Als Truffaut “La nuit américaine” drehte, hatte der ehemalige Kritiker beim Kinomagazin "Les Cahiers du cinéma" schon mehr als ein Jahrzehnt praktische Erfahrung als Filmemacher gesammelt, und es ist deshalb nicht verwunderlich, dass er neben Hommagen an von ihm bewunderte Regisseure (der ständige Knopf im Ohr will zum Beispiel als Verbeugung vor Luis Buñuel verstanden werden) auch  "Erinnerungen" an eigene Arbeiten in den Film einbringt: So scheint eine Szene, in der eine Katze ständig von einem  Tablett  wegläuft (sie sollte sich hinter die Milch machen), auf “La peau douce” (1964) zu verweisen, in dem ebenfalls ein Tablett vor die Türe gestellt wird. Und Jacqueline Bissets Nebenjob als Übersetzerin für den Stuntman, der kein Französisch versteht, entspricht zweifellos der Aufgabe von Julie Christie während der Dreharbeiten zu “Fahrenheit 451” (1966): Truffaut, der des Englischen kaum mächtig war, hatte sich gezwungen gesehen, den Film in einem englischen Studio zu drehen und nahm Julie’s Hilfe dankbar an, weil sich Oskar Werner, gerade für einen Academy Award nominiert aus Hollywood zurückgekehrt, nur noch über den Regisseur, mit dem er einst erfolgreich zusammengearbeitet hatte, lustig machte. - Letztlich sind Ferrands nächtliche Träume (die Träume eines ganz dem Film Verfallenen, der schon als Kind nachts zu einem Kino schlich, um Bilder von “Citizen Kane“ zu stehlen)  natürlich  “Les quatre cents coups” (1959), dem ersten Teil des Doinel-Zyklus, entnommen. --- Es erstaunt auch nicht, dass sich ausgerechnet Truffaut an ein kleines Subgenre wagte, das schon andere “besessene” Regisseure angelockt hatte und weiterhin anlocken sollte: das des Films über das Filmemachen (als berühmte Beispiele seien genannt: “Le mépris”, 1963, von Jean-Luc Godard, “Otto e mezzo”, 1963, von Federico Fellini, “Stardust Memories”, 1980, von Woody Allen).

Es ist denn auch gerade die Beschäftigung mit dem Herstellungsprozess, die “La nuit américaine” zu einem sehenswerten Ereignis macht, welches das Mysterium “Film” dennoch nicht zerstört, da Truffaut, wie er selber sagte, nur Teile der Wahrheit, nicht die Wahrheit zeigt: das Füllen eines ganzen Platzes mit künstlichem Schnee, der nicht “zu weiss” aussehen darf, eine von der Kamera begleitete und von Scheinwerfern beleuchtete Autofahrt, Jacqueline Bisset, die eine Leiter hinauf zur  minimalen Andeutung eines Fensters klettern muss, damit in einer Szene der Eindruck entsteht, sie wohne ihren “Schwiegereltern” direkt gegenüber. Und neben diesen Aufsehen erregenden Dingen werden wir Zeuge von Details wie dem Arrangieren der Hände der Hauptdarstellerin, den Problemen mit der Aufnahme eines Doubles oder dem Versuch, eine Türe für die in Rage geratene Severine zu markieren, die in einer Szene fälschlicherweise ständig den Schrank öffnet, wenn sie das Zimmer verlassen will. - Allein aus solchen Elementen hätte sich ein wunderschöner abendfüllender Film, der dem von Truffaut angepeilten Dokumentarischen gerecht geworden wäre, machen lassen. Was jedoch stört: die Überfülle an persönlichen Problemen, an Bettgeschichten, kleinen privaten Episoden am Rande. Diese vielen “menschelnden” Bestandteile dürften den Film gerade beim amerikanischen Publikum seinerzeit so beliebt gemacht haben, greifen sie doch alle Klischees auf, mit denen die Regenbogenpresse ihre Leserinnen bedient (eine Schauspielerin wird während des Drehs schwanger,  ein Mitarbeiter ständig von seiner eifersüchtigen Frau gegängelt, auf Severine wird Rücksicht genommen, weil ihr Sohn - was freilich nicht ausgesprochen werden darf! - krank ist etc.); sie sind  unnötig, zum Teil regelrecht peinlich, und lassen den Film, von dem eigenartigerweise immer wieder gesagt wurde,  er zeichne sich durch eine melancholisch-heitere Grundstimmung aus, stellenweise lediglich  hektisch wirken, erwecken beim heutigen Zuschauer den Eindruck er schaue sich eine “Daily Soap” an, in der die Figuren auch während einer einzigen Folge mehr durchleben als jeder normale Mensch in einem Jahr. Man erinnert sich nach einer Sichtung gar nicht mehr an alle  Kleinigkeiten, weiss deshalb auch nicht mehr, was nun eigentlich als relevant eingestuft werden soll. - Dabei geht es doch - dies deutet auch die wunderschöne Musik von Georges Delerue immer wieder an - einzig um den Triumph des Filmemachens über alles, sogar über das fertige Produkt. Hätte man sich da einiges an Trivialitäten nicht ersparen können?

Die schauspielerischen Leistungen sind durchwegs beachtlich: Valentina Cortese stiehlt als dem  Hochprozentigen zugeneigte Diva der alten Schule natürlich allen die Show, aber auch Jean-Pierre Léaud verleiht seinem unreifen Bengel, der sicher beim Film bleiben wird, ein herrlich trotziges Gesicht (manche glauben, er habe als Alphonse die Rolle seines Lebens gefunden) - und Jacqueline Bisset zeigt, dass sie eine der sinnlichsten Schauspielerinnen ist, die je auf der Leinwand zu bewundern waren (ich frage mich immer wieder, weshalb sie nie zum Superstar aufstieg und sich in den 80er und 90er Jahren sogar für Machwerke wie “Rich and Famous”, 1981, und “Wild Orchid”, 1990, hergeben musste). --- Wenn ich “La nuit américaine” trotzdem als verpasste Chance, ein Meisterwerk über das Filmemachen zu drehen, betrachte, tröste ich mich mit dem Gedanken, dass der Film besonders in Frankreich zum Teil wegen  seiner unkritischen Begeisterung und dem mangelnden Interesse an der politischen  Dimension des Themas wesentlich heftiger kritisiert wurde. Die Beziehung Truffauts zu seinem langjährigen Weggefährten Godard ging damals sogar endgültig in die Brüche. - Es scheint mir, Truffaut habe im von manchen für überschätzt gehaltenen “Le dernier métro” (1980) zu jener Ökonomie gefunden, die auch “La nuit américaine” gut angestanden hätte: Es geht in diesem Film unter anderem auch um eine Dreiecksgeschichte, unverrückbar im Mittelpunkt steht dort jedoch diese nicht zu stillende Leidenschaft für das Theater in einer schweren Zeit.

Samstag, 3. Juli 2010

Kontext ohne Film?

Ach, was soll in Sommernächten
Ich zu Liebesfilmen schmächten - äh - schmachten, 
Wenn am hohen Himmelszelt
Etwas leuchtet, was gefällt?

Schon diese frühe Fassung eines heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Gedichts - "Füllest wieder Busch und Tal" - von Goethe (der 1764 seiner Geliebten Charlotte von Stein gewidmete Versuch wurde erst kürzlich in ihrer Nachttischschublade entdeckt) zeigt, dass der hysterisch dreinblickende Typ weder fürs  Reimen noch fürs Dichten im Speziellen gemacht war. Immerhin muss man ihm zugestehen, ein Motiv entdeckt zu haben, auf das meine Doo Wop-Götter auch immer wieder zurückkamen, wenn sie in herrlichen Tönen die Liebe besangen: den Mond!


So nahmen etwa The Capris die Anwesenheit des Leuchtkörpers gerührt zur Kenntnis (There's a Moon Out Tonight") und wussten auch, was  in solchen Nächten alles anzufangen wäre, während The Chaperones gleich zu einem Cruise to the Moon ansetzten. Die offenbar farbenblinden The Marcels stellten ihn sich blau vor und schafften es mit "Blue Moon" sogar in einen John Landis-Klassiker, was The Enchanters nicht davon abhielt, "Spellbound by the Moon" zu sein. The Del Vikings hielten es für nötig, sich das Ding freundlich zu stimmen ("Friendly Moon"), und Frankie Love erhob es gleich zum Moon of Love. - Ist es da noch verwunderlich, dass The Olympics sogar zu einem Dance by the Light of the Moon einluden? --- Die ernüchternde Feststellung, dass auch ein Mond nur aus Papier sein könne ("It's Only a Paper Moon"), blieb jedoch ausgerechnet dem Mädchenschwarm Dion vorbehalten, der in den frühen 60er Jahren zusammen mit seinen  Belmonts noch einmal alle grossen Doo Wop-Titel recyceln sollte:



Was nun - wird sich der geneigte Viertel-Leser, der mir noch geblieben ist, fragen - will uns der Film-Blogger damit verkünden? Geht es ihm einfach darum, uns zu sommerlicher Stunde von den schrecklichen RomComs (Romantic Comedies) abzuhalten, mit denen Hollywood seit einigen Jahren die Video-Läden füllt (das erste Jahrzehnt dieses Milleniums kündete bekanntlich mit Fetzen wie "Rumor Has It", 2005, oder "Must Love Dogs", 2005,  den Untergang der RomCom an!)? Bietet er uns die hehre - nächtliche - Natur als Alternative an --- und möchte uns dort eventuell vernaschen? - Oder sollte der Doo Wop lediglich als Vorwand für seine Liebe zur Malerei herhalten?  Will er uns etwa mit Caspar David Friedrich vergraulen?

Oh, lieber Viertel-Leser! Kannst du dir nicht vorstellen, dass diesem Kontext sehr wohl noch ein Film folgen wird, dass ich dich lediglich ein wenig auf die Folter spannen möchte, nachdem ich mich nun mutig als alter Doo Wop-Freak geoutet habe? - Lass dir doch einfach ein paar Möglichkeiten durch den Kopf gehen, während ich die lauen Sommerabende geniesse! Vielleicht finde ich endlich den Mut, "American Graffiti" (1973) zu besprechen; eventuell lasse ich mich auch zum Science Fiction-Klassiker "Le Voyage dans la Lune" (1902) von Georges Méliès hinreissen oder trabe boshaft mit "The Man in the Moon" (1991) an? Und welche Freude würde dir gar Aufgewärmtes zu "An American Werewolf in London" (1981) bereiten? Sollte ich in ein paar Tagen Chabrols "Die Wahlverwandtschaften" (1981) lobpreisen, zu denen das Dichterlein selber das Drehbuch schreiben wollte (zum Glück liess man den alten Knacker, der ohnehin nach "Mehr Licht!" verlangte, gar nicht erst ran)?

Vielleicht aber - und auch das muss mal ernsthaft in Erwägung gezogen werden - habe ich  einfach keine Lust, dich während des ganzen Sommers alle fünf Tage mit einem ellenlangen Essay zu beliefern, derweil du mit deiner neuesten Eroberung auf einer Waldbank rumknutschst (was bei einem Viertel-Leser ohnehin reichlich komisch aussehen dürfte).  - Immerhin solltest du dem offensichtlichen Anachronismus in meinem kleinen Text auf die Spur gekommen sein: Goethe hatte als 15-Jähriger selbstverständlich noch keine Affäre mit der steinigen Charlotte! Vermutlich hatte er noch gar keine Haare am Pimmel und nahm wie eine grosse Figur des deutschen Films den Photoapparat mit ins Bett, wenn er gewisse Dinge - ausprobierte.

Montag, 28. Juni 2010

Zorniger junger Taugenichts


Samstagnacht bis Sonntagmorgen
(Saturday Night and Sunday Morning, Grossbritannien 1960)
Regie: Karel Reisz
Darsteller: Albert Finney, Shirley Ann Field, Rachel Roberts, Norman Hossington, Hylda Baker u.a.

Im Gegensatz zur noch immer heiss diskutierten und umstrittenen französischen "Nouvelle Vague" samt Ausläufern (François Truffaut scheint als Frühverstorbener wohl der einzige Regisseur dieser Stilrichtung zu sein, der allgemeine Anerkennung geniesst) ist das etwa zeitgleich entstandene britische "Free Cinema" ziemlich in Vergessenheit geraten - zu Unrecht, wie ich meine. Die Filme, die in den späten 50er und frühen 60er Jahren von jungen Regisseuren gedreht wurden, sind kaum mehr im Fernsehen zu sehen; nicht einmal Programmkinos kämen auf die Idee, eine Retrospektive auf die Beine zu stellen.

Man muss vielleicht zuerst betonen, dass das "Free Cinema" (dummerweise auch "New Wave" genannt) so gut wie nichts mit der "Nouvelle Vague" gemeinsam hat: Während sich die Franzosen gegen eine eingefahrene Bildsprache und einen vorhersehbaren Erzählfluss wandten, stattdessen dem Individualismus des schöpferischen Filmemachers huldigten, ging es den Briten um eine beinahe dokumentarische Nachzeichnung des Alltags (vor allem der Arbeiterklasse in Nordengland), welche  schon   die Literatur, die den Filmen oft zugrunde lag, vorweggenommen hatte. - Die englische Literatur der 50er Jahre hatte sich bewusst gegen einen internationalen Modernismus gewandt, der etwa mit dem späten Joyce und Pound an einem Endpunkt angelangt war. Sie tat dies durch Rückbesinnung auf traditionelle Formen, die die kleinen Menschen mit ihren aufbegehrenden Plänen und ihrem oft unausweichlichen Scheitern schildern sollten. Die Regisseure des "Free Cinema" erkannten in diesen Vorlagen eine Gelegenheit, sich endlich mit einem eigenen Profil gegen die biederen Ealing-Comedies und das übermächtige Hollywood zu behaupten, das es den Engländern schon wegen der fehlenden Sprachbarriere immer schwer gemacht hatte, ein eigenständiges Kino zu entwickeln. So entstanden in einem Zeitraum von wenigen Jahren meist in Schwarzweiss gedrehte Meisterwerke über das Banale, die Schilderung der sozialen Realität letztlich gestrandeter Existenzen, die an Originalschauplätzen gedreht wurden und sich durch ihre Umgangsprache auszeichneten. Es waren etwa Verfilmungen der Werke von Kingsley Amis, John Osborne oder Keith Waterhouse: "Lucky Jim" (John Boulding, 1957), "Look Back in Anger" (Tony Richardson, 1959), "Billy Liar" (John Schlesinger, 1963) - und vor allem "The Loneliness of the Long Distance Runner" (Tony Richardson, 1962) nach einer Erzählung des am 25. April dieses Jahres verstorbenen Alan Sillitoe.

Auch Karel Reisz’s “Saturday Night and Sunday Morning”, ein Film, der als eines der Schlüsselwerke des “Free Cinema” gilt, beruht auf einer Vorlage von Alan Sillitoe. Erzählt wird die Geschichte des jungen Arthur Seaton, der die Woche über in der Industriestadt Nottingham als Akkordarbeiter in einer Fahrradfabrik malocht und nur für das Wochenende lebt, das ihm Gelegenheit bietet, sein hart verdientes Geld im Pub zu versaufen oder für weibliche Eroberungen auszugeben. Arthur, der sich damit brüstet, im Gegensatz zu seinen Kollegen nicht vor den Vorgesetzten zu kuschen, hat ein Verhältnis mit Brenda, der Frau eines älteren Arbeiters. Gleichzeitig lernt er die ungebundene Doreen kennen, die sich jedoch nicht mit gelegentlichem Sex begnügt, sondern von Heirat und einem bürgerlichen Leben im Einfamilienhaus träumt. - Als Brenda von Arthur schwanger wird, will er sie zu einer Abtreibung überreden und schleppt sie sogar zu einer Tante, deren “Anweisungen” (eine halbe Flasche Gin in der mit warmem Wasser gefüllten Badewanne) allerdings auch nicht helfen.  Brendas Mann erfährt, was hinter seinem Rücken getrieben wird und lässt  Arthur von zwei Soldaten heftig verprügeln. Am Ende erleben wir den jungen Mann, der sich während eines Sonntagsspaziergangs mit Doreen über eine gemeinsame Zukunft unterhält. Ob man ihm eine echte Veränderung seiner Vorstellungen von der Zukunft abnehmen kann, bleibt ungewiss: Er selber reagiert auf die Bitte seiner Freundin, nicht mit Steinen auf ein Plakat zu werfen, mit einem “It won’t be the last one I throw”.

Der Film mag dem heutigen Zuschauer auf den ersten Blick “veraltet” vorkommen, da man alle diese Geschichten über Figuren aus der Arbeiterklasse mittlerweile zur Genüge kennt. Seinerzeit war er (er gilt  als eines der ersten “Kitchen-Sink”-Dramas)  eine ganz neue Erfahrung für die Kinogänger, beinahe ein Schock - und er rief wegen seiner angeblichen Freizügigkeit sogar die Zensurbehörden auf den Plan. Man war zwar diesen aufbegehrenden jungen Männern in Hollywood-Filmen der 50er Jahre schon begegnet (“The Wild One”, 1953, “Rebel Without a Cause”, 1955); ihre Darstellung war damals jedoch eher etwas sensationalistisch und fernab von der Realität angelegt gewesen.  Arthur Seaton  hingegen benahm sich alles andere als sensationalistisch: er schien vielmehr dem Leben direkt entsprungen zu sein, wirkte bisweilen vulgär, war ein unsympathischer Kerl mit grossen Sprüchen (“Don’t let the bastards grind you down!”, “All I want is a good time. The rest is propaganda”), der es, dies verriet Albert Finney mit jeder seinen Charakter entlarvenden Bewegung, seiner primitiven Gier, einem Überlegenheitsgehabe und dem Ausweichen, wenn es wirklich darauf ankam (etwa im Gespräch mit Brenda über ihre Schwangerschaft), nie weiterbringen würde als seine Eltern, von denen er behauptete: “They have a TV set and a packet of fags, but they’re both dead from the neck up.” - Also ein Mann, mit dem man sich kaum identifizieren wollte.




Was ist schuld an Arthur’s Situation? - Er selber führt sich zwar - etwa beim Angeln mit seinem besten Kumpel - als “Angry Young Man” auf und wälzt alles auf die Umgebung, die soziale Situation ab. Und tatsächlich: Wer die engen “terrace houses” sieht, in denen die Leute aufeinander wohnen, wer die Verhältnisse in der Fabrik (etwa den tyrannischen Vorgesetzten, der immer erzählt, früher sei alles viel schlimmer gewesen) miterlebt und darüber staunt, wie sich andere den tristen Umständen der Arbeiterklasse resigniert angepasst haben, wird schon ein gewisses Verständnis für den sich an allem Reibenden aufbringen. Was aber tut Arthur selber, um zu einem besseren Leben zu gelangen? - Er lässt sich vollaufen, bis er die Treppe hinunterstürzt, legt einer Arbeiterin eine tote Ratte vor die Nase - und verpasst mit seinem Luftgewehr einer fetten Tratschtante aus der Nachbarschaft eine Erinnerung in den Allerwertesten. Dies sind alles keine Heldentaten, auf die ein “Rebell” stolz sein kann - und der Prolet mit seinen kindischen Racheakten erweist sich sogar als vollendeter Feigling, als er auf einem Jahrmarkt die Flucht ergreift, nachdem Brendas Mann dem Verhältnis auf die Spur gekommen ist und seine Frau schlägt.

Albert Finney, der in “Saturday Night and Sunday Morning” seine erste Hauptrolle spielte und über Nacht zum Star wurde, verleiht seinem Arthur Seaton all jene trotzigen Züge, die die Figur zu einem lebensechten Antihelden machen, über den man sich oft regelrecht ärgert, weil er die Schuld an allem immer bei den anderen sucht und - dieser primitiv-“arrogante” Wesenszug ist ihm eigen - nicht den geringsten Versuch unternimmt, wirklich etwas zur Verbesserung seiner Situation beizutragen, weil sich die Situation seiner Meinung nach von selber ändern müsste. - Finney’s Darstellung allein (der Schauspieler sollte ja 1962 mit dem hierzulande zu Unrecht etwas in Vergessenheit geratenen Meisterwerk “Tom Jones” Weltruhm erlangen und zu einer grossen, bis heute andauernden Karriere ansetzen), die den “Angry Young Man” auf einen - freilich durch die “Umstände” geprägten -  leeren Phrasendrescher gegen das Establishment reduziert,  macht den Film noch heute zu einem aussergewöhnlichen Erlebnis. Hinzu kommen der bemerkenswerte Jazz Score von John Dankworth, der für das britische Kino neu gewesen sein dürfte und  jene die Geschichte durchziehende Zwiespältigkeit (soziale Situation / fehlender Wille, sich zu verbessern) unterstreicht. Dies alles wird ergänzt durch  die ungeschönten Aufnahmen von der Realität einer einstigen Industriestadt in den Midlands. - Mag vielleicht “Saturday Night and Sunday Morning” aus heutiger Sicht auch nicht ganz an Filme wie “The Loneliness of the Long Distance Runner” heranreichen: er ist mit  Sicherheit ein sensibles Alltagsprotokoll der 60er Jahre und prägte eine wichtige Figur des “Free Cinema” - jenen zornigen jungen Taugenichts, in dessen eigenen Händen es liegt, seine Zukunft zu gestalten.

Der gebürtige Tscheche Karel Reisz, dem nicht die Karriere eines John Schlesinger oder eines Tony Richardson vergönnt sein sollte, widmete sich auch in späteren Filmen, die von der Kritik gelobt wurden, aber an den Kinokassen scheiterten (“Morgan: A Suitable Case for Treatment”, 1967, “Isadora”, 1968, oder “The Gambler”, 1974), der Darstellung eines exzentrischen Individualismus. Mit der Verfilmung von John Fowles’ Roman “The French Lieutenant’s Woman” (1981) gelang ihm sein grösster Wurf. - Und ich komme als Fan der Country-Sängerin Patsy Cline natürlich nicht umhin, auf das von ihm gedrehte Biopic “Sweet Dreams” (1985) hinzuweisen...

Leider war das "Free Cinema" eine Sache, die Mitte der 60er Jahre recht schnell durch Grossproduktionen abgelöst wurde. Die Bewegung hatte jedoch einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf  Filme, wie sie seit den 80ern von Ken Loach oder Mike Leigh hervorgebracht werden. Man könnte - diesen Hinweis verdanke ich meinem Blogger-Freund "tschill" (Ockhams Axt)  - vielleicht behaupten, das mangelnde Interesse am "Free Cinema" ausserhalb Englands habe damit zu tun, dass die von ihm geprägten Formen erfolgreich tradiert wurden, während über die Vertreter der "Nouvelle Vague" zum Teil  Kübel der Häme ausgegossen werden. - Trotzdem wird jeder, der sich mit der Geschichte des englischen Films beschäftigt, auf kleine Perlen stossen, wenn er sich den vergessenen Vorläufern der heute aus Grossbritannien kommenden sozialrealistischen Filmen zuwendet.