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Montag, 16. Juni 2014

(Post-)koloniale Stillleben mit Akt und andere Vergnüglichkeiten


TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X
Österreich/Belgien 1964
Regie: Ernst Hofbauer
Darsteller: Adrian Hoven (Tim Frazer), Paul Löwinger (Inspektor Stoffels), Corny Collins (Janine), Ady Berber (Lode van Dijk), Mady Rahl (Rosalie), Hector Camerlynck (Jeroom), Ellen Schwiers (Farida), Sieghardt Rupp (Jack van Druten), Marcel Hendrickx (anatolischer Konsul)




Eine Mordserie im Hafen Antwerpens versetzt die Stadt und besonders die Hafenarbeiter in Angst und Schrecken. Die belgische Polizei lädt den britischen Polizisten Tim Frazer ein, damit er zusammen mit Inspektor Stoffels an der Aufklärung des Falls mitwirkt. Die Morde werden stets mit einem Stilett durchgeführt, und ein Fingerabdruck führt zum Kleinkriminellen Jack van Druten, der verhaftet wird. Doch die Mordserie endet damit nicht, auch nicht als Lode van Dijk, der Bruder des letzten Opfers, sich als Köder anbietet. Die Regelmäßigkeit der Mordserie – alle zehn Tage – deutet auf einen Zusammenhang mit dem Schifffahrplan hin und ein Joint bei einem der Opfer lässt als Hintergrund eine Drogenschmuggel-Affäre vermuten. Deren Spur führt Frazer und Stoffels in zwei „einschlägige“ Etablissements, die miteinander Geschäfte machen und deren Besitzerinnen Rosalie und Farida sich gegenseitig Schutz bieten: eine zwielichtige Arbeiter-Bar (die „Sansibar“) und ein gehobeneres Tanzlokal mit Bordellbetrieb im ersten Stock (die „Madison“). In letzterem verkehrt auch der anatolische Konsul, der etwas mit dem Schmuggel zu tun haben könnte, jedoch später ermordet wird. Mordanschläge gibt es auch gegen Frazer: einmal versucht ihn ein Handlanger zu töten, der kurz nach gescheitertem Attentat von seinen Auftraggebern ermordet wird, und einmal macht Frazer Bekanntschaft mit einer Autobombe. Derweil möchte Janine, Frazers Verlobte, diesem bei der Verbrechersuche helfen und schleust sich ohne dessen Wissen als Kellnerin in Rosalies „Sansibar“ ein, wird aber enttarnt. Frazer, Stoffels und Lode treten zum Showdown an...

Falls das alles nach einer überkomplizierten, überstrapazierten und überkonstruierten Räuberpistole klingt, hängt das damit zusammen, dass dies lediglich eine verkürzte Plot-Zusammenfassung ist und das, was „dazwischen“ passiert, wesentlich reizvoller ist. TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X nutzt seine Räuberpistole gewissermaßen als Hülle, als Gefäß für eine prall gefüllte Wundertüte an skurrilen, lustigen, befremdlichen, reißerischen, irritierenden, experimentellen Ideen. In seinen Details, seinen kleinen Einfällen ist der Film fast schon besessen. So entwickelt der Film zwar keine narrative Konsistenz, aber eine Konsistenz der Bemühung, möglichst jede Szene interessant zu machen.

Wie TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X unter der Oberfläche funktioniert, sieht man am deutlichsten an einer Szene, die man vielleicht am besten „(Post)koloniales Stillleben mit Akt und Rotweinflasche“ betiteln könnte. Jack van Druten, ein ehemaliger Falschspieler, ist gerade verhaftet worden und wird Stoffels und Frazer zwecks Verhör vorgeführt. Sein Fingerabdruck befand sich auf der letzten Mordwaffe (später wird klar, dass er völlig unbeteiligt ist und sein Fingerabdruck ohne sein Wissen in Stempelform nachgeahmt wurde). Wie so üblich bei solchen Befragungen wird van Druten nach seinem Alibi befragt. Wer nicht nur hinhört, sondern genau hinsieht, wird im Hintergrund zwei merkwürdige Elemente sehen: an der Wand eine Karte von Belgisch-Kongo und auf einem kleinen Beistelltisch eine halbvolle (oder halbleere) Flasche Rotwein: Beides Elemente, die in einer Polizeistation im Belgien des Jahres 1963/64 (nichts weist darauf hin, dass Film in der Vergangenheit spielt) eigentlich ziemlich deplatziert wirken. Gänzlich absurd wird das Ganze dann, als van Druten sich vor dieser Szenerie ausziehen soll, um zu zeigen, dass er keinerlei Kratzspuren am Körper hat (das letzte Mordopfer hatte Hautpartikeln unter seinen Fingernägeln). – So einfach lässt sich eine etwas geschwätzige Verhörszene auflockern. Später wird das Stillleben übrigens einer Entziehungskur unterzogen: die Belgisch-Kongo-Karte ist immer noch im Hintergrund zu sehen, doch wo einst die Weinflasche stand, steht nun eine Thermoskanne. Vielleicht wurde aber einfach nur der Rotwein in ein diskreteres Gefäß umgefüllt?

Später im Film gibt es keine Verhör- und Befragungsszenen mehr, sondern nur noch im Keim erstickte Ansätze von solchen. Als Frazer und Stoffels jeweils in der „Madison“ und in der „Sansibar“ zur Morgenzeit Befragungen durchführen wollen, kommt es zu denkwürdigen Begegnungen. In der leeren „Sansibar“ versucht sich Inspektor Stoffels zunächst erfolglos am Spielautomaten, bevor er von der im Pyjama gekleideten Besitzerin Rosalie munter mit „Na Dicker, jetzt schon saufen? Ist das nicht ein bisschen früh?“ begrüßt wird. Eher schroff und lustlos antwortet sie auf die Fragen des Inspektors. Ihr Lebensgefährte und Gehilfe Jeroom kommt dazu. Beide Wirte beide haben Kratzer an Hals und Armen und amüsieren sich darüber, dass sie sich gestritten haben – und sich nun wieder vertragen: „Sehr lustig mit ihr. Na inzwischen haben wir uns ja versöhnt. Und die Versöhnung war nicht ohne. Was, Schatzi?“, so Jeroom. Nach dem Wust an Ehestreitereien, Versöhnungssex und der Bereitschaft zu noch einer Runde Versöhnungssex, der ihm unter die Nase gerieben wird, entfernt sich Inspektor Stoffels mürrisch, nicht ohne vorher zu meckern, dass der Spielautomat nicht funktioniert.

Derweilen unterhält sich auch Frazer bestens im „Madison“. Er wird von einer nicht mehr frisch aussehenden Dame empfangen, die – große Schlücke direkt aus der Flasche trinkend – die Treppen herunterstolpert, zur Jukebox torkelt, eine Nummer wählt und anfängt zu tanzen. „Empfangen“ ist zu viel gesagt, da die Dame Frazer aufgrund ihres hohen Blutalkoholspiegels wohl nicht wahrnimmt. Die Herrin des Hauses Farida taucht aber doch noch auf (wie Rosalie im Lokal gleich gegenüber ebenfalls mit Pyjama gekleidet, aber drapiert in einem Pelzmantel) und scheucht ihre Mitarbeiterin weg. Wirklich viele Fragen wird sie Frazer nicht beantworten, bevor sie ihn wieder hinausbittet, nachdem ein grimmig aussehender Handlanger aufgetaucht ist.
Auch hier überwiegt wieder der Wunsch von Regisseur und Autor Ernst Hofbauer, eine potentielle „talking-head“-Szene mit Skurrilem aufzulockern, der Wunsch, mehr über Atmosphäre und Aktion als über Dialog zu erzählen. Ein Versuch, der zu zwei herrlich witzigen Szenen in Parallelmontage führt.

Nachdem nun nach und nach die ganzen Bande an Verdächtigen eingeführt worden ist (Farida, ihr Handlanger, Rosalie, Jeroom, der anatolische Konsul), werden die Karten an einem Abend in der „Madison“ wieder neu gemischt. Frazer und Stoffels haben durch einen anonymen Anruf erfahren, dass dort der nunmehr sechste Mord stattfinden soll. Am Höhepunkt des Abends, als eine Sängerin ein Lied mit dem Titel „J‘ai péché“ (Ich habe gesündigt) zum Besten gibt, versuchen Stoffels und Frazer den Überblick über die anwesenden Personen im Raum zu behalten – vergeblich: der anatolische Konsul stürzt beim Applaus mit einem Stilett im Rücken nieder. Es ist eine bemerkenswerte Szene, die ein auflockerndes musikalisches Intermezzo mit einem Moment der Hochspannung  und einem Hauch schwarzem Humor verknüpft.

TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X wartet im letzten Drittel auch gleich mit zwei fantastischen Verfolgungsjagden auf. In der ersten verfolgt Lode Jeroom durch das Hinterzimmer der „Sansibar“, die verschlungenen Gassen Antwerpens, einen riesigen Parkplatz und den Hafen der Stadt. Das Ganze endet schließlich an einer Klappbrücke, die gerade hochgeklappt wird, und an der die beiden Männer noch hochklettern.

Wenig später findet das Showdown statt, in dem der Film seinen Titel einlöst: Frazer jagt den geheimnisvollen Mr. X, und die Verfolgungsjagd endet in einem unterirdischen Tunnelsystem (ob es sich um die U-Bahn handelt oder um ein Unterführungssystem, kann ich leider nicht sagen). Eine Actionszene mit großer Lust an der Bewegung und am atmosphärischen Setting, der einengend (in Höhe und Breite) und zugleich unendlich (in Länge) erscheint.

Neben diesen „großen“ Momenten glänzt TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X auch mit vielen „kleinen“ Momenten, einige so kurz, dass man sie leicht übersehen kann. So erscheint es deplatziert, dass Tim Frazer in Stoffels Büro wie aus heiterem Himmel kurz in der Nase popelt. Scheinbar zufällig spaziert später eine schwarze Katze (die bekanntlich Unglück bringt) über den Bürgersteig, als Frazer sein Hotel verlässt, um mit einem Mietwagen weg zu fahren – den er jedoch mit Sprengstoff präpariert vorfindet. Des weiteren erfreut ein visuell unglaublicher Moment das Auge, als Lode durch den nächtlichen Hafen an einem Holzlattengitter vorbeiläuft. Die Kamera filmt durch das Gitter und folgt ihm in seinem entschiedenen Schritt. Die Gitter haben nur eine klar beleuchtete Kante, und so verschwimmt das ganze Bild für mehrere Sekunden zu einem wilden Stroboskop-Effekt.

Meine Ausführungen sind möglicherweise etwas disparat ausgefallen. Ohne richtigen roten Faden. Es fällt aber auch schwer, die Faszination dieses Films zu erklären. Diese vielen kleinen Einzelteile sind für sich genommen toll, aber passen oft irgendwie nicht zusammen, und ergeben meistens keinen Sinn. Oder vielleicht eben doch?
Aus welchen Gründen auch immer hat TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X bei mir eine Assoziation an ein Zitat des US-amerikanischen Drehbuchautors A. I. Bezzerides erinnert, der über seine Arbeit zu KISS ME DEADLY folgendes sagte: „People ask me about the hidden meanings in the script, about the A-bomb, about McCarthyism, what does the poetry mean, and so on. And I can only say that I didn't think about it when I wrote it ... I was having fun with it. I wanted to make every scene, every character, interesting.“ TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X ist nicht so grotesk, expressionistisch, gewalttätig, erotisch und explosiv wie KISS ME DEADLY, aber er ist auch in Film, in dem jede Szene, jeder Moment interessant gemacht wird. Natürlich bieten sich assoziativ auch andere Anknüpfungspunkte: die Autobombe, die bizarren Nonsense-Begegnungen.
Und die Tatsache, dass auch Tim Frazer eine gegen den Strich gelesene bzw. umgedeutete literarische Figur war. Frazer war die Erfindung des britischen Schriftstellers und Hörspielautors Francis Durbridge. Die Krimis des Briten waren in der Bundesrepublik sowieso sehr populär und wurden auch für Fernsehen und Kino adaptiert. Auch der Reihe um die Figur Tim Frazer wurde eine sechsteilige , eponyme Fernsehserie gewidmet, die der WDR Anfang 1963 ausstrahlte. TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X orientierte sich allerdings weder an den Romanen und Hörspielen Durbridges, noch an seinem Stil: Tim Frazer ist nur der Name für einen komplett unabhängigen Film – der gleichwohl offensichtlich an den überwältigenden Erfolg der TV-Serie anknüpfen wollte. Das ging freilich nach hinten los: die Zuschauer erwarteten etwas anderes und der Film wurde dafür gerügt, dass er mit dem „echten“ Tim Frazer nichts zu tun habe.

TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MR. X war der erste, eigene, abendfüllende Film des gebürtigen Wieners Ernst Hofbauer als Regisseur. In den späten 1940er und in den 1950er Jahren hatte er erste Erfahrungen im Kinogeschäft als Produktionsdesigner und Regieassistent bei österreichischen und bundesdeutschen Filmen gesammelt. In WIENER LUFT (1958) und AUCH MÄNNER SIND KEINE ENGEL (1959) teilte er sich die Regie-Credits mit Karl Leiter (der seine Filmkarriere 1920 begonnen hatte) und Walter Kolm-Veltée. Ein breites Publikum erreichte Hofbauer zunächst im Fernsehen, als Regisseur der ersten beiden Staffeln der äußerst populären Serie PERCY STUART im Jahre 1969. Ein Jahr drehte Hofbauer SCHULMÄDCHEN-REPORT: WAS ELTERN NICHT FÜR MÖGLICH HALTEN: nach Zuschauerzahlen noch 43 Jahre später der fünfterfolgreichste deutsche Film in deutschen Kinos. Der Erfolg führte in den nächsten zehn Jahren zu zwölf Fortsetzungen, die mehrheitlich ebenfalls vom Österreicher inszeniert wurden. Hofbauer blieb dem Sexfilm-Genre weitestgehend treu, drehte aber auch als Co-Regisseur Action- und Abenteuerfilme in der Türkei und in Hong Kong. Nur wenige Wochen nach der Premiere von RASPUTIN: ORGIEN AM ZAREN HOF starb Hofbauer mit nur 58 Jahren in München. Trotzdem er wie erwähnt Regisseur eines der fünf erfolgreichsten deutschen Filme überhaupt war, dürfte er den meisten deutschen Zuschauern unbekannt sein. In der deutschen Blogsphäre ist Hofbauer aber nicht unbekannt, hat ihn doch schließlich eine Untergruppe der Eskalierenden Träumer zu ihrem Heiligen Schutzpatron erklärt. Über den „Edgar G. Ulmer des deutschen Erotikfilms“ und seine Werke kann man bei „Eskalierende Träume“ mehr lesen.

Eine vielleicht noch schillerndere und abwechslungsreiche Karriere hatte Hauptdarsteller Adrian Hoven. In den 1950er Jahren war er sehr beliebt als „romantic lead“ in Komödien und Heimatfilmen. Bevor er in den 1970er Jahren wiederkehrend Nebenrollen in Fassbinder-Filmen spielte (WELT AM DRAHT, MARTHA, FAUSTRECHT DER FREIHEIT, MUTTER KÜSTERS‘ FAHRT ZUM HIMMEL, SATANSBRATEN, LILI MARLEEN etc.) begann er ab den mittleren 1960er Jahren, sich als Produzent und Regisseur zu betätigen. Sein erster Film DER MÖRDER MIT DEM SEIDENSCHAL, der film noir, Polizeikrimi, Gangstermilieu-Film und poetischen Kindheitsfilm mischt, floppte (leider) bei Publikum und Kritik. Manche sehen darin den Grund, dass sich Hoven danach ausschließlich Exploitation-Stoffen zuwandte. Als Produzent wirkte er an drei Filmen Jess Francos (NECRONOMICON – GETRÄUMTE SÜNDEN, ROTE LIPPEN SADISTEROTICA und KÜSS MICH MONSTER) mit, in denen er auch als Schauspieler auftrat. Als Regisseur drehte er die berühmt-berüchtigten Witchploitation-Filme HEXEN BIS AUFS BLUT GEQUÄLT und HEXEN – GESCHÄNDET UND ZU TODE GEQUÄLT. Ersterer schwankt übrigens in Deutschland zwischen Beschlagnahmungen und Liste-B-Indizierungen, während ihm in Österreich das Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien eine internationale Konferenz widmet. Wie Hofbauer starb auch Hoven viel zu jung mit 58 Jahren.

Aufgrund seiner schieren körperlichen Präsenz erwähnenswert ist auch Ady Berber, der Lode van Dijk spielt. Dass der gebürtige Wiener Freistilringer war und dazu auch noch mehrfacher Europa- und Weltmeister, nimmt nicht gerade Wunder, wenn man den Mann sieht: 1,95 m (nach anderen Quellen gar 2,00 m) groß, 150 kg schwer. Er spielte nicht nur Nebenrollen in Edgar-Wallace-Filmen, und später auch in Hovens DER MÖRDER MIT DEM SEIDENSCHAL, sondern auch in Filmen wie BEN HUR und LOLA MONTÈS. In TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X verknüpft er auf interessante Weise den Typus des sanften Riesen mit dem eines energischen Mannes, der bei der Aufklärung des Mordes an seinem Bruder mithelfen möchte und dabei auch Schläge austeilen kann, wenn man ihm in die Quere kommt.




TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X ist als DVD beim Label „filmjuwelen“ erhältlich. Bild- und Tonqualität sind nicht überragend, aber okay.