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Samstag, 23. Juni 2012

Nieder mit Goethe, lang lebe Murnau! Ein (un)typischer Stummfilm-Abend in Weimar

FAUST: EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE
D 1926
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau
Darsteller: Emil Jannings (Mephisto), Gösta Ekman (Faust), Camilla Horn (Gretchen), Hanna Ralph (Herzogin von Parma) u.a.
„Murnau hat Goethe aber ganz schön gefickt!“ lautete das Fazit einer meiner Kompagnons zu Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm-Interpretation des Faust-Stoffes. Solch bildhafte Worte würde ich selbst natürlich niemals verwenden. Jedoch stimme ich dem dahinterstehenden Gedanken im Grunde zu, wenngleich aus anderen Gründen als mein höchst Faust-affiner Kollege. Dieser verstand diese Worte als negative Kritik an einer seiner Meinung nach zwar bildgewaltigen, aber doch etwas zu „freien“ Adaptation von Goethes Werk. Ich hingegen sehe ich sie als Ausdruck der absoluten Genialität von Murnaus letztem deutschen Film und als Bestätigung meiner persönlichen Meinung, dass das Kino als Kunstform dem Theater bei weitem überlegen ist, und dass Murnau in meinem Kulturkanon immer eine größere Rolle spielen wird als der Wahlweimarer aus Frankfurt.

Aber erst einmal alles der Reihe nach. Mein Verhältnis zu „Faust“ kann man als grundsätzlich konflikthaft bezeichnen. Wie Abertausende Schüler in Deutschland wurde selbstverständlich auch ich in meinem – zumal Weimarer! – Deutschkurs mit Goethes „Faust“ gequält und regelrecht geprügelt. Der Besuch einer Vorstellung im Deutschen Nationaltheater Weimar hat meine Abneigung gegen „Faust“ nicht nur nicht zerstreut, sondern sogleich auch noch meine Grundskepsis gegenüber Theater überhaupt noch erhöht. Dies erklärt auch, warum „künstlerische Freiheiten“ bei der Anpassung des Stoffes für das Kino nicht unbedingt meine Empörung hervorrufen werden...
Interessanterweise hat meine Annäherung an Murnau fast ebenso schlecht begonnen, nämlich mit „Nosferatu“. Die erste Sichtung im Fernsehen hat mich abgeschreckt, was vielleicht nicht zuletzt am dämlichen und fürchterlichen Elektrolärm lag, der als „musikalische“ Begleitung diente. Das mittlerweile vierte „Nosferatu“-Erlebnis vor wenigen Wochen hat meine Meinung lediglich weiter verstärkt: der ultimative Stummfilm, um Stummfilm-Anfänger zu verscheuchen! Die große Freude, Murnaus Meisterwerke „Der letzte Mann“ und „Sunrise“ zu sehen, hat mir erlaubt, „Nosferatu“ besser einzuordnen. So kann man in diesem Horror-Film im Lichte der späteren Werke die amateurhafte Fingerübung eines Regisseurs auf der Suche nach visuellen Gestaltungsmöglichkeiten erkennen.
Dies sind also die groben Voraussetzungen für den titelgebenden Stummfilm-Abend im Weimarer Lichthaus-Kino. Eine andere ist eher nicht-kultureller Art. Wenn das tonlose Zelluloid zur Begleitung von Richard Siedhoffs Klavier ins Rollen gebracht wird, dann platzt üblicherweise Kinosaal 1 aus allen Nähten. Da zur gleichen Zeit aber in der Hauptstadt Galiziens 22 geistig minderbemittelte Männer einem ins Rollen gebrachten Ball hinterherrannten, um drauf zu treten und 11 dieser Männer – oder besser gesagt die Bildschirme, die sie zeigten – bei dieser irgendwie ziemlich sinnlosen Beschäftigung mit atavistischem „Schland“-Gebrülle angefeuert wurden, war an diesem Abend die Zuschauerzahl ausnahmsweise übersichtlich.

Und der Film begann. Überraschend und sehr untypisch war, dass er dies ohne die üblichen einleitenden Worte des Pianisten Richard Siedhoff tat, der ansonsten über die historische Bedeutung des jeweiligen Films oder über die Erhaltung, Länge und Qualität der Filmkopie kurz referiert. Vielleicht gar nicht so unpassend. Wenngleich Murnau nach „Der letzte Mann“ nun doch wieder Zwischentitel nutzte, so sind Worte doch gewissermaßen überflüssig bei einem Werk, das solch pures Kino, reines Bild und schlichte visuelle Poesie ist.
Beginnen wir zunächst mit dem, wofür „Faust: Eine deutsche Volkssage“ am berühmtesten wurde: seine Spezialeffekte. Diese bilden noch bis heute den offensichtlichsten Schauwert des Films. Durch Doppel- und Mehrfachbelichtungen, gekoppelt mit stilisierten Setdesigns und raffinierten Attrappen-Arrangements lässt Murnau den Zuschauer in eine komplexe, surreale und (alp)traumhafte Parallel-Welt eintauchen. So breitet zu Beginn des Films Mephisto seine riesigen Flügel über die Stadt und bringt ihren Bewohnern die Pest. Eines der ikonischsten Bilder des Films, und trotz der offensichtlichen Nutzung einer Miniatur-Attrappe noch heutzutage ein ergreifender Filmmoment. Die Anrufung Mephistos erinnert selbstverständlich an einen anderen großen „Kassenschlager“ der Ufa. Die über Fausts Körper schwebenden Feuer-Ringe konnten ein Jahr später in Fritz Langs „Metropolis“ als Licht-Ringe bewundert werden, namentlich in der Szene, in welcher der Maschinenmensch geschaffen wird. Auch Emil Jannings Mephisto verschwindet und taucht dank Mehrfachbelichtungen überall und an den unmöglichsten Stellen auf, um seine teuflischen Spiele zu treiben.
Metropolis
Remineszenz an die Anrufung Mephistos
Solcherlei Spezialeffekte setzt Murnau auch ein, um die inneren Gemütszustände der Figuren zu externalisieren – wie könnte es in einem expressionistischen Film auch anders sein. Fausts Sehnsüchte und Ängste, die aus seinem Pakt mit Mephisto heraus gezwungenermaßen entstehen, breiten sich im wörtlichen Sinne vor seinen Augen aus. Mephisto verführt Faust letztlich mit Sex! Mit fliegendem Mantel führt er ihn zur Hochzeit der Herzogin von Parma, bringt dort gleich ihren Bräutigam um und sorgt für ein deutsch-italienisches Techtelmechtel. Bevor es richtig zur Sache geht, zerrt Mephisto Faust aus dem Bett und verkündet das Ende des Pakt-Probetages. Dem „jungen“ Faust wird durch diesen „coitus interruptus“ das Schreckensbild seiner eigenen Impotenz bzw. seines wahren Alters vorgeführt, und er ist für seine Jugend nun bereit, Mephisto für ewig verfallen zu sein. Eine ziemlich einfache, aber sehr effiziente Szene.
Doch Faust merkt, dass adelige Damen zu besteigen nicht automatisch selig macht und sehr schnell hockt er dann trübsinnig auf einem kargen Felsbrocken und schwärmt seinem düsteren Kumpanen von der Idylle der Heimat vor. Hier verwandelt sich der rauchig-düstere Hintergrund in Fausts Phantasie eben jener Idylle von Haus, Hof und Familie. Die Projizierung der Gemütszustände auf den Hintergrund würde Murnau in „Sunrise“ noch auf die Spitze treiben.
Die „entfesselte Kamera“, die Murnau in „Der letzte Mann“ bereits sehr eindrucksvoll von der ersten Minute an demonstriert hatte, nutzte er in „Faust“ seltener wenngleich nicht weniger eindrucksvoll. Einige Kamera-Schwenks über etwas, das man mühelos als Miniatur-Modell von Städten, Wiesen, Wäldern, Gebirgen und Meeresküste ausmachen kann, werden zum phantastisch-teuflischen Flug auf Mephistos Mantel: Der Atem stockte, die Augen waren weit aufgerissen und der restliche Körper war angespannt angesichts dieses atemberaubenden Kinoaugenblicks, und hier hat tatsächlich niemand aus der Versammlung hämisch gelacht. Der phantastische Flug endet damit, dass man sich einem Gebäude aus anscheinend hunderten Metern Entfernung fliegend annähert und in die offene Terrasse hineinstürzt – solche Kamerafahrten von extremen Exterieur-Totalen ins Innere eines Gebäudes werden heute immer noch gerne gemacht, jedoch meist mit CGI. Danach folgt noch ein direktes Zitat aus „Der letzte Mann“, wenn wir aus der Turmspitze des Gebäudes in die prunkvolle Hochzeitsgesellschaft der Herzogin von Parma wie in einem Fahrstuhl „herunterfahren“.
Die Spezialeffekte sind bewundernswert. Einigen merkt man sicherlich an, dass sie 85 Jahre auf dem Buckel haben und gewissermaßen den alten bärtigen Faust als Jungspund vormachen mussten. Dies mag das immer wieder auftauchende latent höhnische Gelächter während der Filmvorführung erklären – wenngleich selbstverständlich nicht entschuldigen. Denn die Spezialeffekte sind nur ein (und vielleicht gar nicht unbedingt das wichtigste) von mehreren Elementen, die „Faust“ zu einem zutiefst modernen Film machen; und zwar damals wie auch heute.

Da wir gerade so schön da sind, bleiben wir gleich bei dieser Hochzeitsgesellschaft: im Vordergrund der innere Kreis der Gesellschaft, eine Treppe tiefer weiter hinten eine Tänzerinnen-Gruppe, und ganz weit hinten die Gebäude der Stadt. Alle drei Elemente sind, zumindest auf großer Leinwand, gestochen scharf zu sehen. Durch kleinere Wechsel der Kameraposition und der Beleuchtung wird in den folgenden Momenten ihr Anteil am und ihr Gewicht im Gesamtbild immer wieder leicht geändert. Worauf ich eigentlich hinauskommen will: vielleicht noch beeindruckender als die Spezialeffekte ist die fast permanente extrem plastische Räumlichkeit der Bilder! Durch scheinbar einfache Elemente wie Bildkomposition und Tiefenschärfe taumeln die Figuren nicht vor zufälligen Kulissen, sondern bewegen sich durch einen fühlbaren Raum.
     
Gerade der zweite Teil des Films, wo es um die Annäherungen Faustens und Gretchens geht, wird in Foren gerne mal als schwach, ja gar langweilig im Vergleich zur vorangehenden tour de force belächelt. Das stimmt nicht! Denn gerade die Szenen in Gretchens Haus sind Mini-Kunstwerke plastischer Rauminszenierung. Hier wird deutlich, dass Orson Welles‘ „Citizen Kane“ nicht aus dem Himmel fiel, sondern im Grunde Techniken des expressionistischen Stummfilms für den Tonfilm adaptierte, modernisierte, zuspitzte und radikalisierte. 15 Jahre, bevor Charles Kane und seinen Redaktionskollegen die Zimmerdecke regelrecht auf den Kopf knallte, tat sie das schon bei Gretchen, ihrer Mutter, ihrem Bruder und Mephisto. Mit Tiefenschärfe, einem geeigneten Setdesign und vor allen Dingen auch einer relativ niedrigen Kameraposition ist die Decke fast permanent zu sehen. Das erzeugt nicht nur eine bedrückende und klaustrophobische Stimmung. Wenn die drei Ebenen Wand 1, Wand 2 und Zimmerdecke in einer Ecke sichtbar zusammentreffen, dann entstehen besonders bei handlungsarmen Momenten aus potentiell relativ drögen flächigen Bildern ein Reigen dreidimensionaler kleiner Kunstwerke.
Citizen Kane
Ähnliche Mittel der Räumlichkeits-Inszenierung
Es scheint gar so, dass – ACHTUNG: KULTURPESSIMISMUS-MODUS AN – die heutige 3-D-Technik nicht nur die Geldbeutel von Verleihen, Produzenten, und Studios noch weiter auffüllen soll, sondern auch die Unfähigkeit manch eines Regisseurs, Räume und Räumlichkeit zu inszenieren, ausgleichen soll – ACHTUNG: KULTURPESSIMISMUS-MODUS AUS. Die kommende erste deutsche DVD-Edition hat also bestimmt keine 3-D-Digitalisierung gebraucht, denn „Faust“ wurde schon in der Originalversion in 3D gedreht. Wer meine Ausführungen zur Gestaltung von Räumlichkeit in Murnaus letzten deutschen Film für Quatsch hält und/oder mehr dazu wissen möchte und über erweiterte Französisch-Kenntnisse verfügt, kann die Darlegungen Eric Rohmers zum selben Thema lesen.
Was bleibt noch zur Machart des Films zu sagen? Augen und Gegenstände werden stellenweise zu blendendem Glitzern gebracht. Murnau beweist Mut zur völligen Bildabstraktion in Momenten, wo Feuer und Rauch eine gewisse Rolle spielen. Der Emil Jannings als pfiffiger Mephisto. Das irgendwie latent kitschige Ende...
Die Weimarer Aufführung vom 17. Juni 2012 war also ein voller Erfolg und Murnaus Meisterwerks durchaus würdig. Die Klavierbegleitung war typischer Siedhoff, nämlich individuell, ausdrucksstark, mit Mut zur Pause und einfach großartig. „Klavierbegleitung“ ist wortwörtlich zu nehmen: die Bilder werden tatsächlich „begleitet“, ihre visuelle Sprache unterstützt, aber sie werden niemals von der Musik ertränkt oder stranguliert! Gerade schlechte Musikbegleitungen haben die Tendenz, sich selbst wichtiger zu nehmen als der eigentliche Film und entwickeln sich – egal ob live, oder auf DVD oder im Fernsehen – zu „Konzerten mit Filmrollen-Begleitung“.
Der Film wurde anschließend in einer etwas kleineren Gruppe besprochen und gewürdigt bzw. kritisiert – in einer fast menschenleeren (da „public-muh-ing“-freie Kneipe). In der Hauptstadt Galiziens haben 11 der 22 Schwachköpfe das hirnrissige Tritt-auf-den-Ball-Spiel gewonnen. In der ehemaligen Kulturhauptstadt Europas hat an diesem Abend Murnau Goethe eine eklatante Niederlage beigefügt – je nach Standpunkt im guten (ich) oder im schlechten Sinne (mein Kollege). Sicher folgt Murnaus Faust nicht besonders treu der Goetheschen Version, zumal er explizit auch andere Faust-Quellen aufgenommen hat. Und ganz sicher fehlt seinem „Faust“ die narrative Tiefe und die grundlegende emotionale Involvierung, die vorher „Der letzte Mann“ und später „Sunrise“ ausmachten. Wer mit Goethes „Faust“ auf gutem Fusse steht, wird mit „Murnaus“ Faust nicht unbedingt sehr glücklich werden. Wer eine Geschichte erzählt bekommen will, wird hier wohl auch nicht auf seine Kosten kommen (gerade Menschen mit diesem Anspruch könnten andere Murnau-Filme dahingehend besser ertragen). Wer pures Kino erleben will, wird hier seine volle Dröhnung bekommen. Denn wie sagte Martin Scorsese: das einzige Mittel, um Filmsucht zu kurieren, ist noch mehr Film!