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Samstag, 25. Februar 2017

Ein Franzose in New York

DEUX HOMMES DANS MANHATTAN
Frankreich 1959
Regie: Jean-Pierre Melville
Darsteller: Jean-Pierre Melville (Moreau), Pierre Grasset (Delmas)


Zwei Preisfragen:
1. Wer macht die besten US-amerikanischen Genrefilme?
2. Wo ist die nouvelle vague geboren?



Die Antworten:
1. Natürlich die Franzosen!
2. In New York!


Zu der ersten Preisfrage: Nicht erst seit Luc Bessons Action-Krachern, den TRANSPORTER- und TAKEN-Franchises (wo Besson auch involviert war) ist klar, dass Franzosen ein Faible für amerikanisch gefärbte Genrefilme haben, die US-amerikanischen Vorbildern an Dynamik in Nichts nachstehen müssen. Jean-Paul Belmondo und Alain Delon (mit Regisseuren wie Jacques Deray, Georges Lautner und Henri Verneuil) sorgten in den 1970er und 1980er Jahren für volle Kinosäle mit Cop-, Gangster- und Hitmen-Actionern, die durchaus „amerikanisch“ wirkten (dabei aber genuin französisch blieben). Die nouvelle vague entstand vorher in direkter Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Kino, wie ihn sich die jungen Wilden als Filmkritiker einst vorgestellt haben (wobei Truffaut und Godard die wohl amerikanophilsten der Gruppe waren). Der französische Gangsterfilm der 1950er Jahre war dem US-amerikanischen (noir‘ischen) Gangsterfilm nicht unähnlich. Kein französischer Filmemacher lebte seine Amerikanophilie mit einer dermaßen obsessiven Inbrunst aus wie Jean-Pierre Melville, den seine Biografin Ginette Vincendeau als „Amerikaner in Paris“ bezeichnete.
Seine späten Filme spielen in einem Fantasie-Land, das äußerlich ein bisschen wie Frankreich aussieht, jedoch von Figuren bevölkert wird, die sich wie amerikanische Gangster benehmen, wie diese Trenchcoats und Fedoras tragen, amerikanische Limousinen fahren, meist anglo- oder italoamerikanische Namen haben, amerikanischen Jazz hören. Diese französisch-amerikanische Mischung ist keine wirklich greifbare Figuren-Ort-Konstellation als eher ein Limbo-Zustand zwischen Leben und Tod (letzterem allerdings näher). Vor LE DEUXIÈME SOUFFLE, LE SAMOURAÏ, LE CERCLE ROUGE, UN FLIC (L‘ARMÉE DES OMBRES nimmt eine Sonderstellung ein, weil er – mit Abstrichen – eher in eine gesellschaftlich-historische Realität eingebunden ist), die allesamt extrem bedrückende, hermetische Filme sind, drehte Melville einen verhältnismäßig leichtfüßigen Film mit „echten“ französischen Figuren in einem „echten“ New York, DEUX HOMMES DANS MANHATTAN. Seine Amerikaobsession hat bereits hier schon fast fetischistische Züge, wird allerdings in quicklebendigen location-shots in der US-Metropole ausgelebt...

(ein Hinweis: das Columbia-Logo am Anfang dieses Textes ist das erste Bild von DEUX HOMMES DANS MANHATTAN. Offenbar war tatsächlich die französische Niederlassung von Columbia der Kinoverleiher des unabhängig und rein französisch produzierten Films in Frankreich. Das klingt leider fast schon zu prosaisch: auf den ersten Moment dachte ich, dass Melville das Columbia-Logo geklaut hatte, um seinen Film als echten Amerikaner zu „branden“. Wie großartig wäre das gewesen! In den USA selbst kam der Film übrigens nicht in den regulären Kinoverleih. Die äußerst groben Verstöße gegen den noch geltenden production code – es gibt unter anderem ein offen lesbisches Liebespaar, eine barbusige Frau, die auch noch heimlich fotografiert wird, eine Andeutung von Prostitution zwischen asiatischen Frauen und weißen Freiern – wären, abgesehen von den möglicherweise ausschlaggebenden kommerziellen Erwägungen, sicherlich ein großes Hindernis gewesen).

...was uns zu der zweiten Preisfrage bringt: nach DEUX HOMMES DANS MANHATTAN kann sich das Gefühl einschleichen, die nouvelle vague wäre in New York entstanden. Nicht unbedingt im „echten“ New York, sondern in Melvilles New York.
Melville in New York / Melvilles New York – das geht so: in der Stadt in den späten 1950er Jahren... Auf der UN-Versammlung fehlt der französische Delegierte Fèvre-Berthier und niemand weiß, wo er sich aufhält. Der französische afp-Korrespondent Moreau wird von seinem Chef beauftragt, den Verschwundenen zu finden und daraus vielleicht eine Story zu machen. Moreau zieht mit dem Alkoholiker und sensationsgeilen Fotojournalisten Delmas los und sucht in ganz New York die Liebhaberinnen des vermissten Delegierten auf, um sie nach seinem Verbleib zu befragen. Die beiden finden heraus, dass Fèvre-Berthier eines natürlichen Todes (vermutlich Herzversagen) in der Wohnung einer seiner Liebhaberinnen verstorben ist. Delmas fotografiert den Toten und will für viel Geld die pietätslosen Aufnahmen verkaufen. Daran versucht ihn Moreau zu hindern. Bei einem finalen Streit prügelt Moreau Delmas nieder, ohne an die Aufnahmen kommen zu können. Alleine zurückgelassen versenkt Delmas dann die Filmrollen in den nächsten Abfluss.

Klingt nicht nach viel, selbst für einen Film von 85 Minuten? Das ist es auch nicht, denn die Suche nach dem verschwundenen französischen Diplomaten ist vor allem eins: eine gute Gelegenheit, um durch das nächtliche New York on location zu fahren und dabei ganz tief in ein mythologisiertes Bild der Stadt (und der USA) zu tauchen. So wird DEUX HOMMES DANS MANHATTAN zu einem kleinen Road-Movie durch das New York der späten 1950er Jahre – dem wohl ultimativen Sehnsuchtsort eines jeden Amerikanophilen.

Im Vorspann: nachts mit dem Auto durch die Stadt / UN-Hauptquartier
Straßenimpressionen in der Weihnachtszeit / Ein Panorama in der Dämmerung
Auch später im Film: immer wieder "autonome" New Yorker Impressionen

Es gibt in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN drei verschiedene New Yorks, die zusammen eine Einheit bilden. Es gibt das „echte“ New York, das aus einer rein „dokumentarischen“ Perspektive gefilmt ist, oder vielleicht besser gesagt: in dem weder dramaturgisch Relevantes noch die Hauptfiguren zu sehen sind. Es gibt das „echte“ New York aus der Perspektive der Hauptfiguren: Moreau und Delmas laufen durch die Straßen der Stadt. Und es gibt das „falsche“ bzw. eher das „imaginierte“ New York – das sind die Innenaufnahmen, gefilmt in einem französischen Filmstudio, in denen die Fantasien eines New Yorks der Nachtclubs, der Jazz-Aufnahmestudios, der Edelbordelle, der Manhattaner Hochhauswohnungen, der Eck-Bistros und der Afterhours-Jazzclubs inszeniert wurden.
Drei Wochen Ende des Jahres 1958 (Weihnachtsdekorationen sind prominent zu sehen) drehte Melville mit einer winzigen Crew und seinem Schauspielpartner Pierre Grasset in den Straßen der Stadt. Das ganze verlief eher turbulent, da es keine Drehgenehmigung gab, und es wurde viel improvisiert. Beim Dreh der „dokumentarischen“ Szenen wirkte der Regisseur und Hauptdarsteller an vordester Front dabei. Für DEUX HOMMES DANS MANHATTAN reiste Melville zum ersten Mal in die USA, hatte sich zuvor aber gründlich vorbereitet, indem er detaillierte Straßenpläne der Stadt auswendig gelernt und ausführlich Literatur zu den einzelnen Bezirken studiert hatte. So konnte er sich relativ sicher und schnell durch die Metropole bewegen. Alle Innenszenen wurden danach im Februar 1959 in den studios de Billancourt bei Paris gedreht.
Die Übergänge zwischen den „realen“ und den „nachgedrehten“ New Yorks sind fließend, aber es gibt doch eine gewisse Entwicklung. Das „rein“ dokumentarische New York, das in den ersten 15-20 Minuten dominiert, macht nach und nach Platz für das New York aus der Perspektive der Hauptfiguren und das Fantasie-New-York nimmt in der zweiten Hälfte zunehmend mehr Raum ein.
Dies ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass sich DEUX HOMMES DANS MANHATTAN letztlich doch den Zwängen des klassischen narrativen Kinos beugt. Melville konnte eben keinen Film machen, in dem in abendfüllender Laufzeit einfach nur die Stadt gezeigt wird – und wollte das wohl auch nicht. Ohne Zweifel war Melville von der Stadt völlig fasziniert: wie Bilder, die normalerweise nur kurz gezeigt werden, um die Geschichte in einem kurzen Augenblick geografisch zu verorten, in die Länge gedehnt werden, das offenbart einen fast fetischistischen Blick auf die Stadt. Doch ebenso sehr interessierte sich Melville für die Mythologie der Stadt – gewissermaßen für persönliche Bilder, die mit dem Realen nicht zwangsläufig zusammenhängen müssen. Das mythologische Amerika, mehr als das reale Amerika, ist schließlich das, was ihn in seinen letzten Filmen angezogen hat.

(Hier eine interessante kontrafaktische Gedankenspielerei: was, wenn Melville tatsächlich in die USA gegangen wäre, um in oder um Hollywood als semi- oder komplett unabhängiger Autor-Produzent-Regisseur seine Filme zu drehen? Das wären bestimmt tolle Filme geworden! Michael Winners THE MECHANIC und DEATH WISH geben meiner Meinung nach eine Vorstellung davon, wie das ungefähr wohl ausgesehen hätte).

Die „rein dokumentarischen“ Szenen ergeben zusammen etwas, was man wohl als New Yorker Stadtsinfonie à la Melville bezeichnen kann. Die opening credits sind aus der Rückscheibe eines fahrenden Autos in den nächtlichen New Yorker Straßen gefilmt: eine Fahrt durch eine glitzenrnde Welt voller Neonleuchten und mit einem tiefschwarzen Himmel. Danach folgen, zusammen mit dem einleitenden Voice-Over (gesprochen von Melville selbst), einige Außenaufnahmen bei Dämmerung des UN-Hauptquartiers (der im selben Jahr in Hitchcocks NORTH BY NORTHWEST ebenfalls prominent zu sehen war). Nach einigen Bildern mit Stock-Footage zur UN-Versammlung kehrt der Film dann wieder auf die Straßen in der Dämmerung zurück, und zeigt Schlittschuhläufer auf einer open-air-Bahn und Soldaten der Heilsarmee bei einer Weihnachtsaktion.

Melvilles "lange Wege"
Erst dann kommen wir ins Büro der AFP und zur Figur Moreaus. Bis dieser zu Delmas gelangt, der ein Auto hat, folgen wir ihm, wie er zu Fuß oder mit der U-Bahn seine Wege geht. Das nimmt einige Zeit in Anspruch und bietet nicht nur mehr New York, sondern auch ein Wiedererkennungszeichen Melvilles: sein großes Interesse daran, Leute bei der Fortbewegung von A nach B zu zeigen, über weite Strecken in Echtzeit, auf jeden Fall immer viel länger als dramaturgisch bzw. expositorisch notwendig. Figuren, die durch die Straßen laufen, oder aber in ihren schicken amerikanischen Limousinen durch die Gegend fahren: Melvilles letzte Filme sind gewissermaßen immer auch Reisen vom letzten Coup (bzw. dem letzten Widerstandsakt) in den Tod, und Figuren auf dem Weg zu zeigen, ist da nur konsequent. In DEUX HOMMES DANS MANHATTAN hat dieses Herumlaufen und Herumfahren allerdings noch eine gewisse Leichtigkeit, eine nouvelle-vague-artige Nonchalance. Improvisiert und manchmal (absichtlich?) etwas unsauber geschnitten wirkt das ganze: an mindestens zwei Stellen sieht man eindeutig, dass Melville (der Schauspieler) steht und erst anfängt loszulaufen, als die Kamera startet.
Es gibt von den „langen Wegen“ auch eine kleine Variation, als Moreau und Delmas zusammen in einen Fahrstuhl steigen und bis zum achten Stock fahren. Von der Erzählökonomie her wäre es sinnvoll zu zeigen, wie beide in den Fahrstuhl steigen, dann ein Schnitt, dann steigen sie in einem anderen Dekor aus dem Fahrstuhl aus. Hier wird die ganze Fahrt gezeigt: beide stehen starren etwas gelangweilt vor sich hin, zwischendurch nimmt Delmas einen Schluck aus seinem Flachmann, Zeit verstreicht, die beiden stehen weiter herum.

(Dass die Vorliebe für ereignislose „lange Fahrten“ und endlose Fortbewegungen noch wesentlich radikaler sein kann, demonstriert seit über zwei Jahrzehnten der große Melville-Fan Jim Jarmusch – in keinem Film so drastisch wie in THE LIMITS OF CONTROL, der fast nur einer endlosen Fortbewegung gewidmet ist, die nur unterbrochen wird, wenn die Figur stehen bleibt und auf etwas wartet.)

Die Übergänge zwischen den „reinen“ New-York-Bildern, den New-York-Bildern aus der Perspektive der Protagonisten, und dem „imaginierten“ New York sind fließend. Zwei Momente stechen dabei besonders hervor, weil sie in nur einem Bild Moreau, Delmas und die Stadt in einem ikonischen, extrem stilisierten Bild zusammen vereinen. Kurz, bevor die beiden zusammen ein Edelbordell aufsuchen, um dort nach dem verschwundenen Diplomaten nachzufragen, gehen sie durch eine belebte Straße, die offenbar eine kleine Kinomeile ist. Vor dem Eingang eines Kinos bleiben sie stehen und tauschen noch ein paar Bonmots über Prostitution aus – im Hintergrund der belebte Gehweg, Neon-Reklamen und ein Kino-Marquee, der anzeigt, dass hier gerade SEPARATE TABLES gespielt wird.
Später, in der Wohnung der Freundin Fèvre-Berthiers, wo sie den Leichnam des Diplomaten finden, steigen Moreau und Delmas auf das Dach und haben da ein Streitgespräch über Delmas‘ pietätslose Aufnahmen. Dieser Moment dampft noch mal den ganzen Film auf ein ikonisches Bild zusammen: zwei Männer und die Skyline von Manhattan. Letztere ist wahrscheinlich eine Rückprojektion, das Bild ist also nicht im engeren Sinne „authentisch“. Aber das macht nichts: nicht nur, weil es verdammt gut aussieht, sondern weil in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN das „imaginierte“ New York gleichwertig ist mit dem „echten“.

Die zwei Protagonisten und die Stadt

Die erste, lange „imaginierte“ New-York-Sequenz im Film spielt auch intradiegetisch in einem Studio, nämlich in einer Tonkabine des Jazz-Labels Capitol Records. Eine der Liebhaberinnen von Fèvre-Berthier ist Jazz-Sängerin; Moreau und Delmas besuchen sie während einer Aufnahmesession. Sie haben es zwar eilig, können aber schlecht die Aufnahme unterbrechen, also schauen sie durch eines der Fenster und hören zu – mit sichtlich viel Genuss. Die ganze Szene mit der ununterbrochenen Musikummer ist in einer eleganten Plansequenz so gefilmt, dass sie auch für den Zuschauer ein wahrer Genuss ist. Mit nur einem Kameraschwenk weckt hier DEUX HOMMES DANS MANHATTAN ein Universum an Assoziationen an New York als die ultimative Stadt des Jazz (New Orleans hin und her: die Ostküsten-Metropole ist das Wahrzeichen des Jazz seit den 1920er Jahren).
Am Ende des Films, kurz vor der Dämmerung, finden Moreau und Fèvre-Berthiers Tochter den geflüchteten Delmas in einer Kneipe, in der einige Jazzmusiker noch eine Afterhours-Jamsession halten. Delmas sieht sie nur verschwommen und in schräger Perspektive. Die Combo darf wesentlich länger spielen, als es die Erzählökonomie verlangt. Warum nicht? Es ist schließlich ein Film über die Mythologie einer Stadt – und am frühen Morgen halbbetrunken in einer Jazzkneipe zu sitzen gehört bestimmt dazu. Ganz dramaturgisch irrelevant sind die drei Musiker dann doch nicht: sie sind Beobachter der letzten Auseinandersetzung zwischen Moreau und Delmas. Nachdem Delmas niedergeschlagen wird und zunächst einmal benebelt auf dem Boden sitzt, kommt der Trompeter auf ihn zu und spielt dann in seine Richtung. Ist es Spott für den Verlierer des Faustkampfes? Ich halte es eher für den Versuch eines Trostes. Wem es in New York schlecht geht, dem wird eine Jazz-Ballade zumindest ein wenig den Schmerz lindern. Das ist hoffnungsvoller als in Melvilles letzten Filmen, wo die melancholischen Jazz-Klänge den bedrückenden Fatalismus eher noch unterstreichen.

New York, die große Jazz-Metropole (1): zu Besuch bei Capitol Records

New York, die große Jazz-Metropole (2): besoffen – und schließlich verprügelt – bei einer Afterhours-Jamsession

Das Lokal am Ende heißt übrigens „Pike Slip Inn“. Eine grobe google-Recherche ergibt keine weiterführenden Treffer. Wurde der Name speziell für diesen Film erfunden? Schwer zu sagen. In Nähe der Manhattan Bridge gibt es jedenfalls eine kleine Straße namens „Pike Slip“ (eine Verlängerung der Pike Street). Dass es dort ein Inn gibt bzw. gab, ist nicht unwahrscheinlich. 1971 gab es das jedenfalls noch (oder vielleicht auch: wieder?): in einem Nebensatz in einem anderen großen New-York-Film, nämlich William Friedkins THE FRENCH CONNECTION, erwähnt eine Figur den Pike Slip Inn. Das geschieht wirklich nur in einem Nebensatz und ist mir nur aufgefallen, weil ich ihn kürzlich mit DEUX HOMMES DANS MANHATTAN im Hinterkopf sah.
In THE FRENCH CONNECTION holt Russo (Roy Scheider) am Anfang eines Dienstbeginns seinen Kollegen Doyle (Gene Hackman) in dessen Wohnung ab. Doyle ist schwer verkatert und nach einer Nacht mit einer Gelegenheitsbekanntschaft wortwörtlich ans Bett gefesselt. Russo nimmt das ganze relativ nonchalant hin. Eine ähnliche Szene gibt es zu Beginn von DEUX HOMMES DANS MANHATTAN, als Moreau Delmas in dessen Wohnung abholt (auch er liegt mit einer Gelegenheitsbekanntschaft im Bett). Die Kamerafahrten durch die unordentlich in der Wohnung verteilten Kleidungsstücke sind in beiden Filmen frappierend ähnlich. Vielleicht ist das aber auch nur ein Zufall, auch wenn Friedkin zu den vielen bekennenden Melville-Liebhabern unter den international bekannten Regisseuren gehört.

Wir waren aber eigentlich bei Melvilles „imaginiertem“ New York stehen geblieben. Die allererste solche Sequenz spielt im Mercury Theatre (wo eine der Liebhaberinnen Fèvre-Berthiers schauspielert) – also beim unabhängigen New Yorker Theater, das Orson Welles und John Houseman Ende der 1930er Jahre gründeten. Diese Sequenz ist allerdings recht schnell abgehakt (nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Antwortbereitschaft der aufgesuchten Dame) und meiner Meinung nach nicht besonders erinnerungswürdig.
Erinnerungswürdiger ist später der Besuch Moreaus und Delmas‘ in einem Burlesk-Theater in Brooklyn (der Film spielt also nicht komplett in Manhattan): ein schummeriger Nachtclub, besucht und wahrscheinlich auch betrieben von zwielichtigen Gestalten, in das garantiert nicht eine Spur von Tageslicht je eindringt, in dem die Besucher etwas zombiehaft bei einem Drink den dargebotenen Tanzspektakeln zusehen (am Ende erwachen zumindest zwei der Besucher und prügeln sich, nachdem Moreau und Delmas das Lokal schon verlassen haben) – die Sorte Nachtclub, die es später in LE DOULOS oder LE CERCLE ROUGE noch wesentlich ausführlicher zu sehen gab, in einem Setting, das nominell Frankreich war.

New York, das ist jetzt bisher klar geworden, ist für Melville eine unglaublich großartige Stadt, die er mit seinen großen, melancholischen Augen gierig verschlingt. Die Menschen, die diese Stadt und ihre Mythologie bevölkern, tauchen nur relativ sporadisch, ziemlich kurz und am Rand auf. An einer Stelle entfernt sich Melville von seinen beiden Protagonisten. In einem Eck-Bistro, wo beide einen Club-Soda trinken (Delmas kippt sich einen großzügigen Schluck aus seinem Flachmann rein), schweift der Film kurz ab. Auf einem der Barhocker sitzt ein großer, starker Mann, der überaus sichtbar einen Pistolengurt um die Hüfte trägt. Auf einem anderen Barhocker schwankt ein schwer betrunkener Mann, der offenbar noch nicht einmal mehr richtig sitzen kann. Auf einem anderen hat sich ein älterer Herr, der wohl ein Rabbiner ist, niedergelassen und verspeist gerade ein Essen. Dann steht der Bewaffnete auf und zieht seinen Mantel an: eine Polizeiuniform. Etwa zeitgleich torkelt der Betrunkene los. Man erwartet, dass der Polizist ihn gleich mehr oder weniger rüde maßregeln wird – doch es kommt ganz anders: der Beamte hindert den Mann lediglich daran zu stolpern, weist ihm sanft den Weg aus der Tür und gibt freundlich den Rat, Acht zu geben. Keine Spur von den skrupellosen, brutalen, teils grausamen Polizisten in Melvilles späten Filmen (etwa in LE DEUXIÈME SOUFFLE, wo die Gesetzeshüter die Gangster sogar foltern). An einer anderen Stelle fragen die beiden Protagonisten auf der Straße einen anderen Streifenpolizisten nach dem Weg, den diese dann höflich und freundlich gewiesen bekommen. New York ist in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN so toll, dass hier auch die Polizisten dufte Kerle sind.

DEUX HOMMES DANS MANHATTAN ist trotz der umgekehrten Personen-Ort-Konstellation („echtes“ Amerika mit „echten“ Franzosen statt „amerikanisiertes“ Frankreich mit „amerikanisch“-französischen Gangstern) durch und durch ein Melville-Film. Gerade auch in den Unterschieden findet man paradoxerweise Gemeinsamkeiten mit dem restlichen Werk: die kriminelle Unterwelt bzw. Parallelwelt und der Zweite Weltkrieg, Melvilles zwei Ur-Themen, sind auch hier mindestens implizit präsent.
Als Moreau und Delmas den verschwundenen französischen Delegierten in der Wohnung einer seiner Liebhaberinnen finden (sie wissen gleichwohl vorher, dass der Leichnam dort ist), sitzt er – offenbar starb er auf den Schlag – auf dem Wohnzimmersofa. Von dort transportiert ihn Delmas ins Schlafzimmer und drapiert ihn ins Bett seiner Geliebten, damit das anrüchiger aussieht und sich die Fotos teurer verkaufen. Delmas empört sich, tut aber nicht groß etwas dagegen und ruft seinen Chef herbei, um die delikate Situation zu bewältigen. Dieser kommt vorbei und erklärt den beiden zunächst, wer Fèvre-Berthier wirklich war: nicht nur ein renommierter Diplomat, sondern ein französischer Nationalheld, ein Résistant der ersten Stunde, der ohne zu zögern Leib und Leben im Kampf gegen die Nazis riskierte und dies mit Folterungen durch die Gestapo und einen längeren Aufenthalt im Konzentrationslager bezahlte. Es käme also gar nicht in Frage, dass Fèvre-Berthier in der Wohnung seiner Liebhaberin gefunden werde: deshalb wird der Leichnam, nachdem er bereits vom Schlafzimmer zurück auf das Sofa gebracht wurde, nun aus der Wohnung in ein leerstehendes Auto auf der Straße gebracht.
Der Zweite Weltkrieg, die Besatzung Frankreich, der Kampf gegen die Nazis – diese wiederkehrenden Themen verarbeitete der ehemalige Résistant und gebürtige Jean-Pierre Grumbach (Melville war sein amerikanophiler Deckname während des Kriegs) zentral in mehreren seiner Filme, im ersten abendfüllenden Werk LE SILENCE DE LA MER, in LÉON MORIN, PRÊTRE und in seinem magnum opus L‘ARMÉE DES OMBRES. In DEUX HOMMES DANS MANHATTAN, wo man diese Thematik am wenigsten erwarten würde, bringt Melville sie in der dialoggetriebensten Szene. Diese wirkt auf den ersten Blick deplatziert: DEUX HOMMES DANS MANHATTAN ist für Melvilles Verhältnisse ein recht „geschwätziger“ Film. Die Erklärungen des New Yorker afp-Chefs stoppen den Film jedoch für einige Minuten komplett. In Kenntnis von Melvilles restlichem Werk wirkt das aber geradezu zwingend: sein „amerikanischer Traum“ kann nicht unabhängig von der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg existieren.

Wie die Erklärungen des afp-Chefs ohne Kontext etwas verwirrend wirken, so würden die Bilder in diesen Momenten des Films ohne narrativen Kontext aussehen, als entstammten sie einem knüppelharten Gangsterfilm, einem pechschwarzen noir, oder eben einem späteren Melville-Film: Delmas, Moreau und der afp-Chef transportieren mehrmals einen Leichnam hin und her, und die Bilder sehen (rein visuell) so aus, als würde hier eine Bande von Gangstern die Leiche ihres Mordopfers zu beseitigen versuchen. Das könnte man leicht übersehen, weil der Film über weite Strecken ohnehin extrem low-key, mit vielen Schatten und viel dunklem Schwarz, fotografiert ist.
Die lange Rede über die Résistance-Vergangenheit Fèvre-Berthiers dient dem apf-Chef und Moreau letztlich auch als Rechtfertigung, um den Leichnam hinauszuschaffen und in einem verlassenen Auto zu deponieren. Man könnte die beiden also durchaus der Doppelmoral anklagen: Fèvre-Berthier auf dem Bett seiner Liebhaberin zu drapieren, sei unmoralisch – ihn aus der Wohnung rauszuschaffen hingegen moralisch richtig? Letzterem stimmt schließlich Fèvre-Berthiers Tochter zu, zugegebenermaßen aus Rücksicht auf ihre Mutter bzw. Fèvre-Berthiers Ehefrau, die wohl nichts von den Affären ihres Mannes wußte.
Diese moralische Zwickmühle thematisiert der Film jedenfalls nicht explizit, sondern überlässt die Bewertung voll und ganz dem Zuschauer. Als Delmas am Ende seine Filmrollen wegwirft, beginnt er zu lachen. Delmas, der schmierige Alkoholiker, der sensationslüsterne Käseblatt-Fotograf – ein moralischer Sieger in der Geschichte? Schwer zu sagen. Der moralische Konflikt ist aber natürlich auch banal im Vergleich zu dem, was Melville später in L‘ARMÉE DES OMBRES auffuhr.

Gangster-Ikonographie ohne Gangster

Zum Schluss noch einige Bemerkungen zu Jean-Pierre Melville als Schauspieler. Immer wieder finden sich Anmerkungen, die sein Schauspiel als hölzern und erkennbar nicht-professionell kritisieren. Dem kann ich mich nicht anschließen. Melville hat ein natürliches Charisma, zwei große melancholische Augen, ein außergewöhnliches und markantes Gesicht und eine wunderschöne Stimme. Wer ihm vorwirft, radebrechendes Englisch mit schwerem Akzent zu sprechen (die Kommunikation zwischen dem Protagonisten-Duo und den New Yorker Bewohnern läuft komplett auf Englisch), ist kleinlich – zumal seine Figur eben ein Franzose in New York ist. Dass er sich zwischendurch beim Englischen leicht verhaspelt, gibt dem Ganzen gar eine unglaublich lebensnahe Note. Am ehesten könnte man Melville vorwerfen, dass er überhaupt nicht schauspielert, sondern tatsächlich nur Melville ist und das Selbstdarstellerische, den er in seinem Kurzauftritt in À BOUT DE SOUFFLE oder etwa bei Fernsehinterviews (mit Fliegersonnenbrille und Cowboy-Hut ausstaffiert; manieriert, langsam und mit dramatischen Pausen sprechend) gerne mal an den Tag legte und das zugegeben sehr unterhaltsam war, hier völlig fehlt. Die nüchterne Moreau-Figur tut dem Film ganz gut, da Delmas schon „dramatisch“ genug ist – und es ja in erster Linie um New York geht.

Wo ich wiederum Melville widersprechen werde, ist die Bewertung des Films, den der Regisseur selbst als „unwichtig“ und misslungen ansah. Wo kämen wir aber hin, wenn wir auf die Selbstkritik von Regisseuren hören würden? DEUX HOMMES DANS MANHATTAN jedenfalls war ein Kinoflop in Frankreich: offenbar wollte niemand in Frankreich einen „New Yorker“ Film ohne Stars sehen. Es wurde der letzte Film, den Melville ohne Stars als Hauptdarsteller drehte.


DEUX HOMMES DANS MANHATTAN ist auf DVD in Frankreich bei „Gaumont à la demande“ erschienen. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich „on demand“-DVDs sind, weil ich auf diese Edition gebraucht und als Gelegenheitsschnäppchen gestoßen bin. Die Edition ist auf jedenfalls in einer dieser sehr dünnen DVD-Hüllen, in einer recht schnörkellosen, wenngleich nicht völlig billigen Aufmachung. Eine Texttafel der DVD warnt, dass der Film nicht digital restauriert wurde. Dafür ist die Bild-/Tonqualität aber trotzdem recht gut. Untertitel gibt es allerdings nur auf Französisch. Von „Gaumont à la demande“ gibt es den Film auch in einer Box zusammen mit LE SILENCE DE LA MER und dem mir bislang völlig unbekannten QUAND TU LIRAS CETTE LETTRE (von 1953). In Frankreich ist DEUX HOMMES DANS MANHATTAN auch auf blu-ray erschienen. Es gibt auch eine italienische DVD-Edition (der Film heißt dort übersetzt „Die Hyänen der vierten Macht“). In den USA gibt es den Film auch auf DVD und blu-ray.

Montag, 28. Januar 2013

Ode an eine lächerliche Existenz: Von der Radikalisierung des „Melville-Touch“


LE DEUXIÈME SOUFFLE (DER ZWEITE ATEM)
Frankreich 1966
Regie: Jean-Pierre Melville
Darsteller: Lino Ventura (Gustave Minda, dit „Gu“), Paul Meurisse (Commissaire Blot), Christine Fabréga (Simone, dite „Manouche“), Michel Constantin (Alban), Marcel Bozuffi (Jo Ricci), Pierre Zimmer (Orloff), Raymond Pellegrin (Paul Ricci), Paul Frankeur (Inspecteur Fardiano)

„Bei seiner Geburt erhält der Mensch nur ein einziges Recht: die Wahl seines Todes. Wenn aber diese Wahl durch Ekel vor seinem Leben diktiert wird, so wird seine Existenz eine reine Lächerlichkeit gewesen sein...“

Drei Männer versuchen, aus einem Gefängnis auszubrechen. Einer von ihnen springt etwas zu weit, verfehlt das Seil und stürzt in die Tiefe. Die beiden anderen stellen emotionslos seinen Tod fest und fliehen durch den Wald. Sie springen in einen Güterzug und nach kurzer Zeit verabschiedet sich einer der Männer und geht seinen eigenen Weg. So beginnt LE DEUXIÈME SOUFFLE, der zu recht als transitorisches Werk der Stiländerung in Jean-Pierre Melvilles Schaffen gedeutet wird. Diese ersten fünf Minuten des Films konzentrieren (dialog- und musiklos) alle Themen, die das Spätwerk des französischen Regie-Exzentrikers prägen: Flucht, Ausbruch, Tod, die Unterdrückung von bzw. der Unwillen zu Emotionen, Einsamkeit, die Vergänglichkeit von Kameraderie und Loyalität, Verrat, und die Ambivalenz zwischen hyperrealistisch-naturalistischer und künstlich-stilisierter Welt (das Einsteigen in den fahrenden Güterwagon wird in „Echtzeit“ inklusive Anlaufnehmen, Stolpern, erneutes Anlaufnehmen, Raufklettern, Fast-Fallen, erneutes Raufklettern gefilmt, während der vorangegangene Ausbruch als Kletteraktion über eine eindeutig als artifiziell erkennbare Kulisse inszeniert wird).

Der Flüchtling, dem wir für den Rest des Films folgen, ist Gustave Minda, genannt „Gu“: ein Gangster, der gerade eine lebenslängliche Strafe wegen eines Raubüberfalls mit Mord absaß. Zuflucht findet er bei seiner Geliebten Manouche und bei seinem besten Kumpel, dem Scharfschützen Alban. Beide befinden sich gerade in einer Art Bandenkrieg mit dem Mobster und Nachtclub-Besitzer Jo Ricci. Dessen beiden Handlanger, die Manouche und Alban aus dem Weg räumen sollen, werden von Gu überwältigt und wenig später hingerichtet. Der flüchtige Gangster macht sich nach Wochen des Verstecks in den Süden auf, um seine Überfahrt nach Italien vorzubereiten, doch der Kommissar Blot, ein intimer Kenner des „Milieus“, ist ihm schon nahe an den Fersen. Um im Ausland untertauchen zu können, braucht Gu aber vorher Geld. Der Profi-Räuber Orloff bietet ihm die Teilnahme an einem Projekt Paul Riccis an (Jos Bruder): ein Raubüberfall auf einen Platin-Konvoi, bei dem die Tötung zweier Wächter schon fest eingeplant ist...

LE DEUXIÈME SOUFFLE basiert auf einem Roman des Schriftstellers und späteren Regisseurs José Giovanni, erschienen in der série-noire-Reihe des Verlags Gallimard. Hier wurden nicht nur Übersetzungen US-amerikanischer hard-boiled-Romane, sondern auch von ihnen inspirierte französische Werke publiziert. Überaus amerikanisch geprägt ist also der Stoff von LE DEUXIÈME SOUFFLE, was bei einem Film Jean-Pierre Melvilles ohnehin nicht wunderlich ist. Wie vier Jahre zuvor in LE DOULOS frönte der „American in Paris“ (Ginette Vincendeau) erneut hemmungslos seinem Trenchcoat-Fedora-Gangster-Cool-Fetischismus. Auch sonst enthält LE DEUXIÈME SOUFFLE viele Elemente des film noir, nicht zuletzt eine expressive Schwarzweiß-Fotografie – effizient lotete Melville deren Möglichkeiten aus, bevor er für seine letzten vier Filme definitiv auf Farbe umstieg (oder zumindest auf farbähnliche Monochromie).

Das noir-Feeling entsteht auch aus der fast unübersichtlichen Zahl an Figuren, die teilweise nur als namentliche Erwähnungen die Bühne betreten, oder die Allianzen wechseln, oder schnell eines gewaltsamen Todes sterben. Auch eine noir-typische moralisch-existentielle Unsicherheit zieht sich durch den ganzen Film. Als völlig bedeutungslos erscheinen die Grenzen zwischen Gangster und Polizisten: nur die Dienstmarke unterscheidet sie. Kommissar Blot kennt alle Leute des milieu ganz genau, wie intime Freunde. Er duzt die Gangster hinter den Kulissen, trinkt mit ihnen bedenkenlos Cognac, fragt nach Befinden von Frau und Kind, warnt vor rachesüchtigen Rivalen... Hinter dieser höflichen Freundlichkeit steckt auch eine Kaltblütigkeit, die jener der mordenden Gangster in nichts nachsteht. Als es Blot zusammen mit dem Marseiller Inspektor Fardiano gelingt, Gu und Paul Ricci zu verhaften, versuchen die Polizisten aus den Inhaftierten mittels Folter Geständnisse und die Nennung von Namen zu erpressen. Nebst dumpfen Prügeln wird auch eine primitive Form des waterboarding zumindest angedeutet (die explizitere, komplette Szene entfernte Melville auf Druck der Zensur). Einen monolithischen Block bildet die Polizei dennoch nicht: Die Missgunst und Verachtung, die zwischen dem Pariser Kommissar Blot und dem Inspektor Fardiano aus Marseilles in der Luft hängt, ist geradezu mit dem Messer zu schneiden. Ihre erbitterte Rivalität um Kompetenzen inklusive aller Schläge unter die Gürtellinie ist letztlich ein Spiegelbild der Streitigkeiten zwischen den Verbrechern. Den ungehemmten Polizei-Brutalitäten stehen Gus eiskalte Morde an meist unbewaffneten Personen gegenüber. Von beiden distanziert sich Melville explizit in einer einleitenden Texttafel.

"Der Autor [Majuskel!] dieses Films hat nicht die Absicht, die „Moral“ GUSTAVE MINDAs mit der Moral [Majuskel!] gleichsetzen. Er möchte betonen, dass die Umstände, die Situationen und die Figuren dieser Geschichte keinerlei reale Grundlage haben und dass, folglich, ein Urteil über die Ermittlungsmethoden anhand dieses Werks der Fantasie auf Grundlage eines Romans außer Frage steht."


Und trotzdem LE DEUXIÈME SOUFFLE genau wie LE DOULOS in der traditionellen Welt des film noir verwurzelt ist, hat er doch auch eine ganz andere Qualität. Wie erwähnt wird er als Übergangs-Werk Melvilles gekennzeichnet: als Verknüpfung zwischen den noch durchaus Genre-verhafteten frühen Filmen Melvilles und dessen puristisch-abstrakten Film-Meditationen über den Tod, die das Spätwerk prägen. Er enthält vielleicht als erstes Werk des Regisseurs ganz explizit das, was man mangels anderer Begriffe wohl als den „Melville-Touch“ bezeichnen könnte. Es handelt sich zunächst darum, dass Zeit und das Verstreichen von Zeit spürbar gemacht werden. Im klassischen cinematographischen Sinne uninteressante Handlungen werden in scheinbar langatmigen Bilderfolgen geradezu zelebriert, und zwar in „Echtzeit“. Das Fahren zum Ort des Überfalls, das Parken, und dann das Warten auf den Platin-Transporter nimmt fünf ganze Filmminuten in Anspruch: qualvolles Warten... auf die Schuhe starren... die Ameisen in der Nähe beobachten... die vor Nervosität schweißnassen Hände mit einem Taschentuch abwischen... das Rumsitzen... das Warten auf den Platin-Konvoi am Horizont... unterbrochen lediglich von einer fast halluzinierenden Kamerafahrt von Paul zu Gustave, die einem Treppengeländer folgt... Die Nachbereitung des relativ raschen Überfalls wird ebenso minutiös eingefangen.

Genauso penibel wird auch die Vorbereitung auf ein Gangster-Treffen in einer leeren Dachgeschoss-Wohnung inszeniert. Der erste Gangster sucht sie auf, betritt sie, untersucht diese, sucht nach dem besten Ort, um eine Pistole zu verstecken, die in einem kritischen Moment schnell und überraschend gezogen werden kann, probiert verschiedene Stellen aus, hinterlegt die Waffe und geht. Es folgt der Gangster der gegnerischen Seite, der ebenfalls die Wohnung gründlich untersucht, sogar die vier für die Sitzung vorgesehenen Sessel ausprobiert und schließlich die versteckte Pistole (offenbar wenig überrascht) findet, einsteckt und geht... Eine erstaunliche fünf-minütige Sequenz komplett ohne Dialog oder Musik, in der eigentlich „nichts“ passiert, und dennoch so viel „gesagt“ wird. In diesen Momenten verletzt Melville sämtliche Regeln des klassischen dramatischen Spannungsaufbaus, um durch den langsamen bzw. punktuell verlangsamten Filmrhythmus seine ganz eigene, persönliche Form der Spannung aufzubauen. Die Filmdauer von 144 Minuten entsteht keineswegs durch episches Erzählen, sondern durch solche voll ausgekosteten Zeit-Verlangsamungen.


Auch als „Gu“ von Paris nach Marseille mit Regionalbussen flieht, wird dies in einer rhythmischen Montage von Bildern dargestellt, die ihn beim Warten auf den Bus, beim Hetzen zu einem startenden Bus, beim Einsteigen und beim sitzenden Nachdenken, Lesen und Schlafen zeigen. Aufgrund der Zeitraffung, die hier faktisch stattfindet, ist das zwar ein Grenzfall im Bezug auf die eben gemachten Ausführungen. Nichtsdestotrotz hebt Melville hier eine banale Handlung (Reisen) auf sehr ungewöhnliche Art sehr bewusst hervor. In LE CERCLE ROUGE wird dies noch radikalisiert, wenn man Alain Delon dabei zusieht, wie er minutenlang „nur“ in seinem schicken amerikanischen Auto durch die Gegend fährt.

Dieses Spürbarmachen von Zeit ergänzt Melville mit einer zutiefst „asozialen“ Atmosphäre, im Sinne einer fast vollkommenen Abwesenheit von „Gesellschaft“. Ansätze davon waren bereits in früheren Filmen vorhanden, doch radikalisiert der Regisseur in LE DEUXIÈME SOUFFLE diese Tendenz zu einem integralen Bestandteil des „Melville-Touch“. Die Figuren handeln nicht aufgrund gesellschaftlicher Zwänge, die sie geformt haben, sondern in einem fast abstrakten Raum. Andere Menschen, etwa Passanten auf der Straße, wirken eher als Teil der Kulisse denn als soziale Einbettung der Handlung. Die „Parallel-Gesellschaft“ der abgebrühten Polizisten und Gangster, die Melville intensiv und dicht inszeniert, lebt im Grunde in einem „Parallel-Universum“. Es ist ein Leben in einem permanenten Ausnahmezustand, dem die Figuren nicht entkommen können (außer durch Tod). Sie können nicht in die „normale Welt“ entfliehen, weil es diese in den späten Melville-Filmen nicht gibt, und bewusst oder unterbewusst wissen sie das auch. Gu weiss dieses Faktum, als er dies seiner Geliebten Manouche bei einem Abendessen in der konspirativen Versteckwohnung beichtet: ein gemeinsames Leben kommt nicht in Frage, da es für ihn nur noch das Leben auf der Flucht gäbe. Melvilles Filmwelten sind also geschlossene Fantasiewelten, in denen normale gesellschaftliche und zivilisatorische Regeln, Wahrscheinlichkeit, Vernunft und Realismus wenig Geltung haben, dafür Pessimismus, Fatalismus und Desillusion umso schwerer wiegen. Diese hermetische Geschlossenheit der Atmosphäre führt zu einer erstickenden Klaustrophobie, die sich unabhängig vom Setting entwickelt. LE DEUXIÈME SOUFFLE spielt zwar folgerichtig größtenteils in beengten Wohnungen, Geheimunterkünften oder in den geschlossenen Räumen von Autos. Gerade deswegen ist es bezeichnend, dass die Raubüberall-Szene, die in einer luftigen und fast Western-artigen Gebirgspass-Landschaft spielt, keine Erleichterung bringt... weder für die Figuren, noch für den Zuschauer!


DVD
Jean-Pierre Melville wird in Deutschland ziemlich stiefmütterlich behandelt: Von den 13 seiner abendfüllenden Filme sind nur fünf auf DVD erhältlich (einer von ihnen in einer fürchterlichen Bildqualität und mit falschem Bildseitenformat). LE SAMOURAÏ, der immer wieder Melville-Top-Listen anführt und hierzulande nur stark geschnitten ausgestrahlt wird, gehört ebenso wenig dazu wie dazu wie LE DEUXIÈME SOUFFLE – der 1966 in einer um 33 Minuten (über ein Fünftel der Gesamtlänge!) gekürzten Fassung in die bundesdeutschen Kinos kam!
Daher sei hier für sehr gute Kenner der französischen Sprache die René-Chateau-Edition empfohlen: gute Bildqualität, Bonus-Material in Melville-typischer Art karg, keine Untertitel. Trotzdem Melville ein Regisseur ist, der den imdb-Tag „very little dialogue“ abonniert hat, ist LE DEUXIÈME SOUFFLE zwischendurch trotzdem recht gesprächig, so dass für Nichtkenner der französischen Sprache mit Untertitelbedarf die US-amerikanische Criterion-Edition wohl am geeignetsten ist.
Wer nach einer DVD von Melvilles LE DEUXIÈME SOUFFLE sucht, wird wahrscheinlich auch auf das Remake Alain Corneaus aus dem Jahre 2007 stoßen. Meine Grundskepsis nicht verbergend, kann ich mich über diese Version nicht qualifiziert äußern: trotzdem ist es traurig, dass wieder einmal die DVD-Ausgabe des Remakes einfacher und günstiger aufzutreiben ist, als jene des Originals.


Interview-Bonus
Hier an dieser Stelle sei auf einen zeitgenössischen Beitrag über LE DEUXIÈME SOUFFLE verwiesen, auf das ich gestoßen bin – hauptsächlich bestehend aus Interviews mit Jean-Pierre Melville und Lino Ventura. Der exzentrische Regisseur spricht hier in der Wohnung über seinem privaten Filmstudio (Studios Jenner), das ein Jahr später durch ein Feuer zerstört wurde. Man beachte, unabhängig von Französisch-Kenntnissen, seine theatralische Selbstdarstellung (mit Sonnenbrille, hier aber ohne Hut), seine klangvolle, tiefe Stimme und seine sehr ausgesuchte Wortwahl und Diktion!
Für Leser/Zuschauer mit Französisch-Defiziten fasse ich mal einige Leckerbissen kurz zusammen: Melville wurde des öfteren als „Vater der nouvelle vague“ bezeichnet. Das störte ihn nicht, bis er eines Tages in einem Magazin eine umfangreiche Liste mit Regisseuren und wichtigen Figuren der nouvelle vague entdeckte und erfuhr, dass er „182 uneheliche Kinder“ habe. Er wollte sie nicht alle adoptieren, und um keine Eifersüchteleien zu erzeugen, hat er entschieden, ihnen en bloc die Anerkennung zu verweigern. Von da an habe er sich sehr schnell alleine wiedergefunden – was er richtig gut mochte.
Melville erzählt auch, dass man ihm angeboten habe, WEEK-END À ZUYDCOOTE (Henry Verneuil, 1964) und LE JOURNAL D‘UNE FEMME DE CHAMBRE (Luis Buñuel, 1964) zu inszenieren, was er abgelehnt habe. Er begründet dies damit, dass er nur Filme dreht, für die er auch bereit ist, 70 Tage seines Lebens voll und ganz zu widmen.
Als die Kamera Bilder seiner seiner zwei, drei, vier (?) Katzen einfängt (die später wahrscheinlich einen Gastauftritt in LE CERCLE ROUGE hatten), sagt Melville vergnügt und stolz, dass er natürlich ein Misanthrop sei.
Das Interview mit Lino Ventura dreht sich vor allem um dessen Weigerung, sich selbst als Schauspieler zu bezeichnen. Der Italiener begründet dies mit seiner mangelnden Schauspieler-Ausbildung und damit, dass er gegebenenfalls unfähig wäre, eine Rolle zu spielen, auf die er keine Lust habe.
Gegen Ende des Beitrags erzählt Melville, dass er 1950 nach den vernichtenden Kritiken zu LES ENFANTS TERRIBLES entschieden habe, mit dem Kino aufzuhören. Fast bankrott ging er zusammen mit seiner Ehefrau zu einem Café an der Place des Ternes, um eine Cola (aufgrund pekuniärer Nöte wirklich nur ein Getränk für beide zusammen) zu trinken. Dort saßen Jacques Becker und Daniel Gélin, die gerade Melvilles Film im Kino zusammen geschaut hatten. Sie sprachen den Regisseur an und teilten ihm ihre schiere Begeisterung mit, woraufhin dieser seinen Entschluss revidierte... se non è vero, è ben trovato!